– Zu Uwe Kolbes Gedicht „Sternsucher“ aus Uwe Kolbe: Vineta. –
UWE KOLBE
Sternsucher
Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht
und, seh ich, hoch in den Himmel schaut,
den, weiß ich, eine sehr gerne mal träfe,
doch, sagt sie, so wie es aussieht,
der, klagt sie, schaut doch immer nur hoch
und, denkt sie, niemals in mein Gesicht.
So, mein Freund, findest du nie deinen Stern.
Was haben wir hier? Ein kleines Liebesgedicht über eine verpasste Chance, so lapidar wie reizvoll. Erzählt wird von einem, der dauernd zu den Sternen guckt und dabei anscheinend gar nicht mitbekommt, wie er selbst, aus nächster Nähe und von einer sehr realen Person, angehimmelt wird. So weit, so schlüssig. Aber da ist die Tatsache, dass das ganze Dilemma aus einer merkwürdigen Perspektive heraus erzählt wird, weder vom Sterngucker selbst noch von der enttäuschten Frau, sondern von einem durchaus unheimlichen Dritten.
Dieses „lyrische Ich“, der Sprecher, schenkt ihm zugetragenen Gerüchten („Der, hör ich, nachts aus dem Haus geht“) über den Mann, der nach Sternen sucht, nicht nur Glauben, sondern macht sich auch die Mühe, diese zu überprüfen. Er zieht nachts los, um zu sehen, was genau im Dunkeln stattfindet. Sogleich beginnt er dann, das harmlose Tun des Sternsuchers zu kritisieren, „mein Freund“, versucht er sich kumpelhaft und klingt doch nur herablassend. Zuletzt sagt er dem armen Sternenfreund gar ewige Erfolglosigkeit voraus: als sei er es, der wüsste, was „in den Sternen steht“, sogar ohne hinzugucken. Wer ist dieser geheimnisvolle Spion?
Nun, das Gedicht stammt von Uwe Kolbe, dem 1957 in Ost-Berlin geborenen Lyriker, der 1986, sechs Jahre nach seinem Lyrikdebüt Hineingeboren, ein Dauervisum für die BRD erhielt und nach Hamburg übersiedelte.
„Sternsucher“ findet sich in Kolbes Band Vineta, der 1998 erschien. Vineta ist jene sagenumwobene Stadt an der Ostsee, die angeblich ob der Amoralität ihrer Bewohner untergehen musste. Für Kolbe bildet sie die mythische Folie für seine Beschäftigung mit dem Herkunftsland. „Die Stadt heißt Vineta, sie liegt weit im Osten Europas, die Glocken läuten zur gewohnten Zeit“, steht im gleichnamigen, dem Titelgedicht des Bandes. Auch wenn Kolbe heute ironisch mitteilt, er persönlich bedürfe „keiner gesellschaftlichen Utopie mehr“, loten seine Gedichte den poetischen Raum zwischen dem Machbaren und dem Denkbaren weiterhin aus, topographiert er „Heimat“ und ihre Fixpunkte wie aus einem inneren Zwang heraus wieder und wieder, von vielen Ländern und Kontinenten aus, immer neue Perspektiven nutzend.
Wer das im Auge behält, für den ergeben die Fragen nach dem spionierenden Erzähler plötzlich einen Sinn. Wer da Fakten sammelt und sie mit offensichtlichem Automatismus interpretiert, ohne das Geschehen je selbst zu hinterfragen, ist ein Bewohner dieses Landes. Der Spion ist ein Spitzel, das Sternsuchen ein Vergehen. Die dem Sternsucher dargelegte Tatsache, dass ihn eine Frau liebt, womöglich nur Erpressung. Niemand will schließlich auf sein Glück gestoßen werden. „Sternsucher“ lässt sich so als eine Art Ausweitung der Sehnsuchtszone lesen: Selbst die Sterne über dem Land sind verhandelbar, wenn Realitätsflucht und Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden. Sprachlich ist dieser Minitext – das macht seinen paradoxen Reiz aus – sehr schlicht, eine Protokollarbeit: „sagt sie (…) klagt sie (…) denkt sie“. Es ist der Rhythmus, der das Gedicht macht.
Es ist höchst riskant, den Sprecher eines Gedichts, dem der Leser sich gerne anvertrauen möchte und den er als sensibel und wahrheitsliebend zu kennen glaubt, zu einem unsicheren Genossen zu machen. Doch Kolbe richtet nicht. Womöglich erzählt da einer lediglich, was er selbst glaubt. „Womit anfangen? Mit Erfahrungen“, schreibt Kolbe in der Essaysammlung Vinetas Archive und gibt damit seinen unverhohlen perspektivischen Blick zu. Denn Erfahrungen, auch derselben Dinge und Aktionen, können unterschiedlich sein: „Man kann die Differenz von zwei Erfahrungen nicht diskutieren“, zitiert er Heiner Müller. Was dieses Gedicht angeht, müssen die Leser dem zustimmen und nachdenklich werden.
Was wir nicht erfahren, ist, wie es eigentlich dem Sterngucker selbst bei seinen nächtlichen Unternehmungen ergeht, was ihn zum Nachtwandeln bewegt, worauf seine Sehnsucht hinausläuft, was sie motiviert. Wir erfahren nicht, ob der Himmel bestirnt ist oder unbestirnt, bedrohlich oder versöhnlich. Gut oder böse. Wir können vielleicht ahnen, dass da jemand aus Vinetas Sternen lesen, die Zukunft kennen will. Für so ein Projekt kann selbst die liebende Frau keine Konkurrenz sein. Ob die Stasi ihm die Geliebte andient oder eine Art innere Staatssicherheit ihm die Liebe in „Vineta“ verböte, ist unmöglich zu sagen.
Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenunddreißigster Band, Insel Verlag, 2014
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