– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „bahnhof“ aus Wolfgang Hilbig: Werke Band 1 – Gedichte. –
WOLFGANG HILBIG
bahnhof
grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand
seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars
sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.
Im Nachhinein besitzt das 1979 veröffentlichte Gedicht „bahnhof“ geradezu prophetischen Charakter. Als zwanzig Jahre später Wolfgang Hilbigs kaum verschlüsselter autobiographischer Roman Das Provisorium erscheint, erinnern Passagen des Textes überdeutlich an das frühe Gedicht. Wolfgang Hilbig beschreibt in dem Roman, wie sein namenloses Alter Ego sich an Bahnhöfen trinkend in einen Zustand versetzt, der jenem ähnelt, in dem „der teufel kommt sprechen“.
Schon von Beginn an zeichnete sich der 2007 gestorbene Dichter, der nach seiner Einreise in die Bundesrepublik 1985 rasch sehr bekannt wurde, durch seine Fähigkeit aus, die komfortable, allgemein „realistisch“ genannte Wahrnehmung in ihre Einzelteilchen zu zerlegen, bis man in einen Abgrund blickt und sich fragt, was eben noch vor einem gewesen sein mag. Er tut das so leicht, als löse er eben schnell ein Puzzle auf. Gleichzeitig wirkt er dabei zerstörerisch: weil das Bild verloren ist und alles noch einmal völlig neu zusammengesetzt werden muss.
Das Gedicht in drei Strophen setzt ein mit solch einer anscheinend realistischen Zeile:
grau grau graues durcheinander.
Vermutlich ist damit der alte, riesige Leipziger Kopfbahnhof in der ehemaligen DDR gemeint, der inzwischen zur bunt glitzernden Einkaufsmeile umgerüstet wurde: Hilbig stammt aus der Nähe dieser Stadt, er wurde 1941 im thüringischen Meuselwitz geboren. Aber es ist müßig, darüber zu spekulieren, denn schon der Zeilensprung zur zweiten Zeile ist nicht weniger als eine beispielhafte Übung, wie der Übergang in die Sphären von Traum und Unwirklichkeit zu schaffen ist: Dieser Bahnhof ist einer, „von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe / sich schwarz zwischen die schienen setzt“. Statt eines großen Zuges also ein Rabe, ein Märchentier. Oder kann man dabei an eine dieser alten schwarzen Dampfloks denken? Der Leser befindet sich auf einer Zeitreise, in einem undatierten Albtraum. Und die waren Hilbigs Spezialität.
Im Gedicht „bahnhof“ verraten die vierte und fünfte Zeile, dass niemand schläft und es eiskalt ist. In der folgenden zweiten Strophe wird es noch unheimlicher: Das Personal des Textes, ein geheimnisvolles lyrisches „wir“, trinkt „gefangenschaft“ aus „schmutzigem glas“ und ist sich seiner Gruseligkeit sehr wohl bewusst: „seht unsre gesichter vom laster zerfetzt“. Mit Schauder und Faszination folgt der Leser der Wahrnehmung dieses Geisterbahnpersonals, taucht mit ihm in immer tiefere Schichten der Halluzination ein. In der zweiten Strophe ist bereits genug getrunken worden, dass „der teufel kommt sprechen“. Die Existenz und alle Menschlichkeit sind bedroht, wenn Zeit und Raum sich aufzulösen beginnen, die Sinne nicht mehr kontrollierbar:
sommer winter jahrhunderte kommen vorüber.
Das lyrische „wir“, das sind die Verlorenen der Städte, jene Gestrandeten, die an den Bahnhofstrinkhallen stehen, schwadronieren oder ganz stumm sind, die Dinge erlebt haben, gegen die ein paar Abschiede oder der Verlust eines Koffers, also alles, was den gesicherten Rushhour-Existenzen als Minidrama widerfährt, lächerlich wirken.
Es sind Dinge, mit denen ein gewöhnlicher Bahnhofspassant nichts zu tun haben möchte. Hilbig behauptet und beweist, dass man ihnen näher ist, als man denkt. Wie schnell man in die Unsicherheit fällt, ins Bodenlose. Einen Zug zu verpassen kann ein Leben entscheiden. Als Anlaufstelle bleiben dann Kioske, an denen Bier und Schnaps zu haben sind.
Bei all der Folgerichtigkeit des Textes erscheint Formales fast nebensächlich, etwa, dass das Gedicht ungereimt und durchweg kleingeschrieben ist – Letzteres wirkt heute längst nicht mehr so modern wie vielleicht noch in den Siebzigern, aber es unterstreicht das Drängende des Textes. Die Übergänge verwischen, und man hat den Eindruck, für den Schreiber wäre es auf diese Weise einfach schneller gegangen, die Zeilen loszuwerden. Am Ende des Gedichts wechseln dann „lachen“ und „weinen“ ab und die letzte Momentaufnahme erscheint fast schon als erlösende Idylle: Das ist, wenn „ein betrunkner / wie verrückt einen namen schreit.“ So findet man sich am Ende der Lektüre – immerhin – zumindest an einem „ganz normalen“ Bahnhof und in einer halbwegs bekannten, fast kanonisierten Tragödie wieder.
Silke Scheuermann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
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