STATT KATASTROPHENFILM
auf den Teufelsberg steigen, auf dem sich Zeit,
aaaaasonntagmittags, ausdehnt
und im Gewicht des Hügels zu Distanz anwächst.
Hier spricht man nicht mehr in Sätzen. Sätze sind
aaaaaEchofäden, die sich
zurückziehen, in die Verzögerung, den Fallschirm, der
aaaaaüber dem Gras
anhebt, seine abstrakte, rote Form.
Der Wind ist maßgeblich, Masse. Scherben auf abgeriebenem Boden,
die Stadt nur noch Übersicht, die nicht zählt.
Die Reflexion etwa auf das Sprachmaterial von der poetischen Bewegung zu lösen, sie ins Verhältnis zu setzen, bedeutet, einen Teil ihrer Dynamik anzuwenden: Gehen und Bein, Hirn, Biegung zum Gehen, Bein, Bein. Der Text ist, vernommen, auf sich selbst zurückgespannt, im guten Fall reizbar, nicht domestiziert; was nicht heißen kann, dass er sich durchschaut… und Imagination bleibt ebenso präsent wie meine empfindliche Achsel, doch ohne ein Genre auszustaffieren: Jeder Ansatz ist im Voraus überformt… so verfährt man, wie die Klarheit es verlangt, rückt vor, spielend und materiell; steuert in Relationen, die Luzides generieren, Debris. Wie die Pfeile ins Öde gehen, triftig oder sediert. Die Nerven! Und der Schreck vor der Erstreckung bei gleichzeitiger Beschränktheit jetzt.
kookbooks, Ankündigung
ein „Kunstalmsee“, ein „Milchglas mit Gift“. „Schwanensee“, die „Akropolis“, „Snow White aus Amerika“. Es geht wild zu in Sonja vom Brockes erstem Gedichtband, der in diesem Frühjahr bei kookbooks erscheint – oder nein, falsch, genau anders herum: Wildheit wird hier äußerst kunstvoll inszeniert. Voll hehrer abendländischer Referenzfallen ist das ständig überraschende Vokabular dieser Verse und voll ekstatischem Spott über allen hehren Glauben an die reine Tradition. Als würde höchstes Bildungsgut lustvoll mit Autotune-Stimmverzerrer vorgetragen, ergibt sich immer wieder die Frage nach der synthetischen Gemachtheit aller Erfahrungen, die aus dem künstlich spiegelnden Venice-Venedig dieses Bandes heraus auch eine nach der Gemachtheit der Geschlechter ist. Echtes Begehren, gibt es sowas? Nun:
Ich hab Hunger. Mir wurden Bohnen versprochen. Ich setze die 3 D-Brille ab und bemerke, wie flach der Kopf meines Vorsitzers ist.
Wenn Gedichte immer mit ‚Möglichkeitsbällchen‘ spielen, wie Gertrude Stein einmal meinte, dann sind Sonja vom Brockes Gedichte wahre Spielparadiese. Die Gedichte holen die Sprache der digitalen Welt, der Ökonomie und der Politik in ihren Rhythmus und spielen sie neu durch. Das Überraschende an Sonja vom Brockes Gedichten ist die Selbstverständlichkeit, die ihre Sätze ausstrahlen. Keine raunende Gegenwartskritik, keine Tirade auf das ‚Alte‘ – und doch ist den Gedichten eine kritisch-sondierende Sicht auf die Phänomene eingezogen. Dieser Eindruck des Unaufdringlichen und zugleich Reflektierenden verdankt sich der Form, die sie für ihre Texte gefunden hat. Oder genauer: einem Changieren zwischen Form und Formlosigkeit. Es ist ein Verfahren der Überblendung, das die Texte bestimmt. Sie nehmen die Sprache der Gegenwart auf, drehen sie und stellen sie in neue Konstellationen und verstehen es zugleich, die Wörter und Sprechweisen beweglich zu halten, „ohne Umfahrung in Form von Begriffen“. Das beginnt bei den Wörtern selbst, die kleinen lautlichen Variationen unterzogen werden, auf dass sich Verschiebungen in der Bedeutung zeigen: das ‚Hineindrehen‘ wird zum ‚Hineinreden‘, die ‚Sucht‘ zur ‚Sicht‘, während die ‚Fiber‘ über das ‚Fieber‘ zum ‚Cyber‘ werden kann. Und es endet bei Figurationen aus Klängen, Rhythmen und metaphorischen Schichten, die eine ‚Chip-Zyste‘ ebenso kennen wie ein ‚Eihologramm‘:
Atme, Base, nippe ein bisschen am Manna. Rotiere, axial, öffne die Lavapümpchen, hinten, über den Gruben, wo einst die Fittiche, ja. Das ging fix.
Jan Kuhlbrodt: Klang und Bedeutung
fixpoetry.com, 10.6.2015
Präsentation der Lyrik-Empfehlungen 2015 auf der Leipziger Buchmesse.
Erster Teil: Die Lyrikerin Sonja vom Brocke liest und spricht mit dem Kritiker Florian Kessler.
Einführung: Holger Pils (Stiftung Lyrik Kabinett, München).
Tom Bresemann liest aus Venice singt von Sonja vom Brocke
Schreibe einen Kommentar