Stanley Chapman / Felix Philipp Ingold: AproPOLLINAIRE

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Stanley Chapman / Felix Philipp Ingold: AproPOLLINAIRE

Chapman/Ingold-AproPOLLINAIRE

ARIE AN POLLI
für Marcel Troulay

Am Ende auf den Anfang neu gespannt
Power bringt was Pelz am Knochen hat
Ontologisch ist Elektro eine Art von Gicht
Licht das nicht mit Schwärze spart
Leuchtet es der Zukunft heim ins Pfefferland

Ikaros schwebt zwischen Fluglust und Verzicht

Nochmals blühn die Heiligen im Habitat
Arpeggio ist als Klangsatz königlich bekannt
Insider denen es an Kleingeld ach gebricht
Röcheln hingestreckt am Sofarand
Eh sie verklingeln unter dem Epidiktat

Septende 1968

 

 

 

Apollinapparat

– Editorische Hinweise und Stellenkommentare. –

Hinweise zum Originalwerk und zur deutschen Fassung

Das vorliegende Buch von Stanley Chapman, ein Meisterstück aus dem Pariser Werkkreis für potentielle Literatur (Oulipo), ist in einer Auflage von 60 numerierten Exemplaren als 98. Heft der Zeitschrift temps mêlés erschienen, einem Organ oulipotischer pataphysischer Literatur, das ab 1952 annähernd 150mal von Andre Blavier im belgischen Verviers verlegt wurde. Das Datum der Drucklegung ist im Kolophon ausgewiesen mit dem 1. Absolu 97, was nach pataphysischem Kalendarium dem 8. September 1969 entspricht.
Die zwei Gedichtfolgen, die Chapman in seiner 23seitigen, von ihm selbst illustrierten Broschüre entfaltet, wurden ursprünglich zum 50. Todestag des Dichters Guillaume Apollinaire verfasst und im November 1968 erstmals öffentlich präsentiert im Rahmen einer Gedenkausstellung des Londoner Instituts für zeitgenössische Kunst. Schon der Titel des Werks, onze mille verbes, cent virgules (Elf Tausend Verben / Ein Hundert Virgeln), lässt einen intertextuellen Bezug zu Apollinaire erkennen, nämlich zu dessen erotischem, 1907 anonym erschienenem Roman Onze mille verges (Elftausend Ruten); die im Titel ebenfalls genannten „hundert Kommata“ verweisen auf ein Portrait Apollinaires, das Chapman aus 10 mal 10 kommaförmigen Elementen für den Erstdruck komponiert hat und das in unsere Ausgaben aufgenommen wurde.
Die verbale Huldigung an Guillaume Apollinaire besteht darin, dass sein Vor- und Nachname als lettristische Vorgabe für eine ingeniöse Wortspielerei figurieren, aus der nach eigens gesetzten Regeln zwei Textsequenzen aus 9 beziehungsweise 11 Gedichten entwickelt werden. Eine erste Regel – jede Regel ist in oulipotischem Verständnis eine Einschränkung, die produktiv genutzt werden soll – betrifft das generelle Reimschema. Der Buchstabenfolge GUILLAUMEAPOLLINAIRE entspricht das Schema ABCABCABCDEFEDFFEDFDE, mithin ein äusserst anspruchsvolles Dispositiv, das weit über die gewohnten Reimpaarungen hinausgeht, indem es für die ersten 9 Gedichte (jeweils 3 mal 3, also 9 Verse, dazu eine ebenfalls gereimte Titelzeile ) drei verschiedene Reimqualitäten dreimal zur Anwendung bringt, also beispielsweise – im ersten Gedicht des ersten Volets – französisch connu::nues::velu (und dazu die Titelzeile mit tutus), Soho::maquereaux::chaud sowie bruyères::gruyère. Da dieses Reimschema nicht nur für ein je einzelnes Gedicht, sondern für alle 9 Gedichte – diese bilden einen in sich geschlossenen Makro- oder Hypertext – einzuhalten ist, muss notwendigerweise jede Reimqualität insgesamt 27mal eingesetzt werden, und zwar ohne dass es dabei zu Wiederholungen kommt. Ausserdem sind die 9 Titelzeilen zu berücksichtigen, denn sie müssen gesamthaft ebenfalls 3mal an das Schema des Tripelreims angeschlossen werden.
Für die zweite Folge (11 Gedichte mit jeweils 5 plus 1 plus 5, also 11 Versen) gilt die Reimsequenz ABCBA C BACAB, im Französischen also beispielsweise clopant::passa::symétrique::appas::enfant algébrique spa::palpitants::gymnastiques::revenant::acacias; die einzelnen Gedichttitel sind hier nicht in das Reinschema einbezogen, sondern bilden jeweils ein eigenständiges reguläres Anagramm auf den Namen Apollinaire.
Ein weiteres Regulativ – es betrifft beide Gedichtfolgen gleichermassen – besteht darin, dass sämtliche Versanfänge beziehungsweise die jeweils ersten Buchstaben der einzelnen Verse von oben nach unten als Akrosticha der Namen GUILLA-UME und APOLL-I-NAIRE zu lesen sein müssen. Ein waagrecht zu lesendes Akrostichon ergibt sich (für die erste Textsequenz) aus den Anfangsbuchstaben der 9 Titelzeilen, die sich wiederum zum Namen GUILLAUME formieren. – Eine weitere Einschränkung liegt bei Chapmans Unternehmen darin, dass alle 222 Verse (die Titelzeilen eingeschlossen) selbständige Einheiten bilden und infolgedessen – soweit es das Reimschema zulässt – austauschbar sein sollen. Der Autor selbst hat ausgerechnet, dass das permutative Arrangement der austauschbaren Verse für den ersten Teil (GUILLAUME) insgesamt 729 Gedichte, für den zweiten Teil (APOLLINAIRE) 1111, also 3 Billionen 138 Milliarden 428 Millionen 376 Tausend 721 Gedichte generieren könnte. Damit wäre freilich die von Raymond Queneau gehaltene Rekordmarke von Ein Hundert Tausend Milliarden permutativ herstellbaren Sonetten (Cent Mille Milliards de Poèmes, 1961) noch bei weitem nicht erreicht und – ein Menschenleben wäre entschieden zu kurz für die Bewältigung (ob schreibend oder lesend) einer derartigen Textmenge. Übrigens hat Stanley Chapman das von Queneau konstruierte Muttersonett im Englischen nachgebaut (Erstdruck 1998) und somit noch einmal 100.000.000.000.000 Sonette in den virtuellen Raum der schönen Literatur gestellt. Die schulmathematische Berechnung der Permutationsvarianten beziehungsweise -möglichkeiten unter Berücksichtigung der jeweiligen Reimqualitäten ergibt allerdings, nach einer eigens von Emil A. Fellmann vorgenommenen Aufstellung, ganz andere, wesentlich tiefere Werte. Für die Textfolge nach GUILLAUME (9 Gedichte à 10 Verse in je 3 Strophen à 3 Verse plus 1 Einzelvers, der zugleich der Titel des jeweiligen Gedichts ist) mit der dreimaligen Reimfolge A ABC ABC ABC, B ABC ABC ABC, C ABC ABC ABC lautet die Rechnung 9 x 3 (41 : 21) + 2 x 31) = 27 (12 + 12) = 27 (24) = 648. Für die Sequenz nach APOLLINAIRE (11 Gedichte à 11 Verse in 2 Strophen à 5 Verse sowie einem Einzelvers dazwischen nach dem Schema DEFED F EDFDE bekommt man 11 x (41 + 41 + 31) = 11 x (2 x 41 + 31) = 11 x (48 + 6) = 11 x 54 = 594; insgesamt also 648 + 594 = 1242 Permutationsvarianten.
Die Originalausgabe von Elf Tausend Verben / Ein Hundert Virgeln enthält ausser den genannten 9 + 11 realen Gedichten (von den virtuellen nicht zu reden) mehrere selbständige Paratexte. Am Ende der Edition von temps mêlés steht als „scientische Explifikation“ ein knappes Nachwort, das die Textentstehung erläutert; den Einstieg bildet ein „kleines optisches Spektakel“, bestehend aus einem gereimten Gedicht (ABABAB) in zwei Fassungen, die zweite so gestaltet, dass als silbische Akrosticha die Namen Simon Watson Taylor (Freund und Kollege des Autors) sowie Guillaume Apollinaire zu lesen sind. Auf dieses Textspektakel folgt ein kurzer Gruss (Salut), ebenfalls in Gedichtform, diesmal mit dem Reimschema ABABA und dem Akrostichon GRUSS. Zwischen die beiden Gedichtfolgen hat Chapman nebst einer Zeichnung, die sein kleines Buch mit einzeln aufgeschnittenen Zeilen darstellt, noch ein Gedicht als Scharnier eingerückt (AABBCC), das in 6 raffiniert gefügten Zeilen auf GUILLAUME zurück- und auf APOLLINAIRE vorausweist.
Was Stanley Chapman unter soviel selbstgewählten Formzwängen und Zufallstreffern zu realisieren vermag, ist mehr als bemerkenswert; es ist – sozusagen! – ein Terraingewinn für die Poesie unter der Schirmherrschaft der Sprache. Um solchen Gewinn auch in der Zielsprache Deutsch zu ermöglichen, ihn augen- und ohrenfällig zu machen, musste für die Übersetzung eine klare Vorentscheidung getroffen werden. Diese bestand notwendigerweise, aber auch naturgemäss darin, dem poetischen Regelwerk (Akrosticha, Anagramme, Reimstruktur etc.) Priorität einzuräumen vor allen andern Eigenschaften und Funktionen des Originaltextes.
In einem ersten Schritt mussten Reimqualitäten festgelegt werden, die auch im Deutschen ohne allzu starkes Biegen und Brechen mehrfach eingesetzt werden können; sodann waren die invariablen Elemente vollumfänglich aus der Vorlage zu übernehmen (Strophenform; Anfangsbuchstaben der Verse, partiell auch der Titel; Widmungen); schliesslich war zu beachten, dass die zahlreichen Anspielungen Chapmans auf Namen und Fakten der ’Pataphysik in der Übersetzung möglichst vollständig bewahrt werden konnten. So dass zuletzt für die eigentliche zwischensprachliche Übersetzung nur mehr ein enger Manövrierbereich übrig blieb. Doch auch hier gilt, dass die extremen Einschränkungen (die bei der Arbeit in und an der Zielsprache vervielfacht auftreten) immer wieder gut sind für produktive Phantasielösungen; dass sie sprachliche Auswege oder Umwege erzwingen, die nicht selten zu originellen Assoziationen führen und in Einzelfällen sogar das Original übertreffen können. Manches aber – allzu vieles – bleibt der Übertragung grundsätzlich entzogen, darunter sämtliche Homophonien und damit eine ausschliesslich innersprachlich einsetzbare rhetorische Figur, die auf Gleichklang bei unterschiedlicher Bedeutung beruht, eine Figur, die in der oulipotischen Dichtung – und auch in Chapmans Elf Tausend Verben – häufig verwendet wird.

Felix Philipp Ingold, Nachwort

 

 

Fakten und Vermutungen zu Stanley Chapman

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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