Stefan George: Poet’s Corner 15

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Stefan George: Poet’s Corner 15

George-Poet’s Corner 15

DER HERR DER INSEL

Die fischer überliefern dass im süden
Auf einer insel reich an zimmt und öl
Und edlen steinen die im sande glitzern
Ein vogel war der wenn am boden fussend
Mit seinem schnabel hoher stämme krone
Zerpflücken konnte · wenn er seine flügel
Gefärbt wie mit dem saft der Tyrer-schnecke
Zu schwerem niedrem flug erhoben: habe
Er einer dunklen wolke gleichgesehn.
Des tages sei er im gehölz verschwunden ·
Des abends aber an den strand gekommen ·
Im kühlen windeshauch von salz und tang
Die süsse stimme hebend dass delfine
Die freunde des gesanges näher schwammen
Im meer voll goldner federn goldner funken.
So habe er seit urbeginn gelebt ·
Gescheiterte nur hätten ihn erblickt.
Denn als zum erstenmal die weissen segel
Der menschen sich mit günstigem geleit
Dem eiland zugedreht sei er zum hügel
Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen ·
Verbreitet habe er die grossen schwingen
Verscheidend in gedämpften schmerzeslauten.

 

 

 

Nachwort

George war das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat.
Gottfried Benn

Die Säule, die sich dieser Heilige ausgesucht hat, ist mit zuviel Schlauheit ausgesucht, sie steht an einer zu volkreichen/wolkenreichen Stelle, sie bietet einen zu malerischen Anblick…
Bertolt Brecht

Die junge Leit wolle heit alleweil so gescheit sein.
Stefan George

Nein, ohne Witz war er nicht, dieser Zuchtmeister mit dem bäuerischen Profil, und seinen hessischen Dialekt hat er ebensowenig verleugnet wie J.W. Goethe. Ob er sich bei aller Maßlosigkeit als ,Ausstrahlungsphänomen‘ bezeichnet hätte, wage ich zu bezweifeln. Die oben zitierte Totenrede, die ihm der Dr. Benn nicht hatte halten dürfen, wohl weil sie dem Propagandaministerium zu sehr gegen den Strich ging, sie wäre bei George im günstigsten Falle auf Unbehagen gestoßen, war ihm doch alles, was nach Expressionismus auch nur im entferntesten roch, klang, schmeckte, verhaßt wie dem Voland der Weihwassertrog. „Die junge Leit“ haben ihm ja von Anbeginn zu schaffen gemacht. Der feinnervige Hofmannsthal, der sich dem gebieterischen Umworbensein durch aristokratische Indisposition und mittels väterlicher Intervention entzog, der schwärmerische Gundolf, der nach Jahrzehnten duldsamer Assistenz es wagte, sich zu verheiraten, der zum Gott erhobene Maximilian Kronsberger (Maximin), der mit 16 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, der schönkluge Max Kommerell, der dem Meister Vorlesungen über Hofmannsthal zumutete, und und und…
Eine schwule Biographie halt mit Enttäuschungen und Entsagungen, von den meisten Biographen freilich als Selbstzucht und Seelengröße verklärt. Ja, auch bei George überlagert das Anekdotische vielfach das Werk, mehr noch, gemessen an Rilke und Hofmannsthal ist der Stolzeste dieses ungleichen Dreigestirns kaum mehr im Bewußtsein des literarischen Publikums. Jemand, der garantiert als belesen, als künstlerisch sensibilisiert gelten kann, fragte mich ohne jeglichen Hintersinn:

Wer ist eigentlich dieser ,Schorch‘ auf deinem Schreibtisch?

Mit dieser Frage ist die Wirkungsgeschichte des Georgeschen Werkes in aller Bitterkeit auf den Punkt gebracht. Man mag einräumen, daß das Werk zunächst ja darauf angelegt war, im kleinen ,erlauchten‘ Kreis rezipiert und rezitiert zu werden. Zehn Jahre lang, exakt bis ins Jahr 1897, kursierten Georges Gedichte, ästhetische Schriften und zeitgenössische Nachdichtungen des romanischen, englischen und skandinavischen Sprachraums nur als Privatdrucke oder in den handabgezogenen, von George selbst edierten Blättern für die Kunst, in einer Zeit, als die deutsche Lyrik von Namen wie Geibel, Dahn, Scheffel, Wildenbruch dominiert wurde und originäre Töne allenfalls bei Liliencron zu finden sind. Inmitten dieser Soße völkischer Heroendichtung und epigonalen Schwulstes mußte ein Lyriker, der sich zuerst Baudelaires Blumen des Bösen anverwandelt hatte, der der poesie pure eines Mallarmé, dem Symbolismus Verweys und Swinburnes huldigte und den Geist der Decadence Oscar Wildes oder Huysmans’ einsog, der professoralen deutschen Literaturklientel wie ein eiserner Besen erscheinen. Und in der Tat stoßen die ersten öffentlichen Ausgaben von Georges Texten und ,Umdichtungen‘ – zunächst noch im zeitgenössischen Jugendstilgerank Melchior Lechters, später dann in dessen verbindlicher Minuskel-Type – auf ein erschrockenes, nichtdestoweniger begeisterungsfähiges Publikum, das seit Novalis nichts Vergleichbares mehr in die Hände bekommen hatte. Zwar gab es zeitgleich die naturalistische Revolution auf deutschen Bühnen, allein in der Lyrik gebührt George, dem prononcierten Antipoden des Naturalismus, die Ehre, das Fanal für die literarische Moderne in Deutschland ausgelöst zu haben. Später mag man dann die Namen Däubler, Holz und R. Dehmel hinzufügen und noch später die der Expressionisten, von denen einer, den George um 20 Jahre überlebte, Georg Heym, jenen am nachhaltigsten beerbt hat, nicht ohne ihn dabei gehörig madig zu machen, wie es in solchen Fällen leider oft üblich ist.
Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges, den George eher distanziert aufnimmt, kann das Werk, was seinen reinigenden und stilprägenden Teil angeht, als abgeschlossen angesehen werden. Erst 1928 erscheint noch einmal eine Sammlung neuer Gedichte unter dem problematischen Titel Das neue Reich, aber darin überwiegt wie bereits in dem 1914 veröffentlichten Stern des Bundes lehrhafte Spruchdichtung, deren strenges Pathos nicht über eine Erstarrung und Redundanz hinwegtäuschen kann. George mag das intuitiv empfunden haben, wenn er eine Abteilung des „Neuen Reiches“ wie folgt einleitet:

Was ich noch sinne und was ich noch füge
Was ich noch liebe trägt die gleichen züge

Brechts salopp formulierte Einschätzung des von George inszenierten Kultes um seine Person trifft den Nerv, denn mittlerweile waren 20 Jahre deutscher Literaturgeschichte an George vorbei- oder über ihn hinweggegangen, ohne daß dieser je anders als in zorniger Ablehnung oder Ignoranz darauf reagiert hätte. Als die Nazis dem bereits Todgeweihten die Präsidentschaft der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtung, antrugen, lehnte George mit der Begründung ab, er „habe ein halbes Jahrhundert lang deutsche Dichtung und deutschen Geist ohne Akademie verwaltet“, allein mit diesem Anspruch stellte er sich außerhalb jeglichen Zusammenhangs und maßte sich eine Rolle an, die ihm selbst bei Aufzählung seiner sämtlichen Verdienste nicht zukam. Einer fairen Auseinandersetzung mit Dichtung und Person Georges stand die herrische Pose als Seher, Prophet und Künder eines „Neuen Reiches“ noch Jahrzehnte nach seinem Tode im Wege. Nicht zulässig ist es jedoch, George einen Wegbereiter des deutschen Faschismus zu nennen, wie z.T. nach sozialistischer Lesart geschehen. Nur das aus dem Zusammenhang gerissene Zitat ließ sich mißbrauchen, wie alles aus dem Kontext Herausgelöste. Gut zu wissen, daß einer, der an Georges Sarg Totenwache hielt, Claus Graf Schenk von Stauffenberg hieß, und daß Georges Vision vom „Geheimen Deutschland“ als Aufforderung zum Widerstand gegen die Hitler-Diktatur aufgefaßt wurde.
Die vorliegende Auswahl würdigt Georges Verdienst um eine Entschlackung und Verjüngung lyrischen Sprechens. Sie schließt einige Proben der „Umdichtungen“ zeitgenössischer Lyrik ein wie auch lyrische Prosastücke aus dem Band Tage und Taten und verzichtet weitgehend auf Belehrendes, auf Verkündigungsgedichte und Sprüche sowie auf die aus heutiger Sicht vernutzten Texte (etwa im Sinne von „Hehre Harfe“ usw.).

Thomas Böhme, Nachwort

 

statement zu Stephan Geohrgeich weiß nicht, wer Stephan Geohrge war. es kommt einem ja einiges zu Ohren, Legenden, auf…

Gepostet von Lyrikkritik am Montag, 16. Juli 2018

 

„Komm in den totgesagten park…“

– Anmerkungen zu Gestalt und Werk Stefan Georges. –

I
Keinen Dichter unseres Jahrhunderts umgibt wie ihn die Aura des Geheimnisvollen, Heiligmäßigen. Keinem hat man sie so entschieden streitig gemacht wie ihm. So schien das Geheimnisvolle an ihm für die, die ihn ablehnten, bloß affektiert; für Georg Heym war er ein „Hierophant“ und „Lorbeerträger ipso iure“, Ricarda Huch empfand ihn als Zumutung. Wenn man das Affektierte von seiner Grundbedeutung, vom „Affekt“ her versteht, einer Gemütsbewegung, einer Erregung, einem Angriff, wird vieles klarer. Von George ging ein bedeutender Affekt aus, der Affekt einer Provokation. Er verwarf die Kunst der Jahrhundertwende, vor allem den Naturalismus, begegnete einer vielfach großsprecherischen, überhitzten, markantil-gewinnsüchtigen Epoche gezielt mit Kälte und Distanz (scheinbar nichts vom „Tagesgeschehen“ wissend), verschwieg sie und schwieg sie tot – und beschwor gleichzeitig etwas schon fast Vergessenes herauf: die reine Kontemplation, den Raum der Seele, die sich in den Dingen wiedererkennt: „Komm in den totgesagten park und schau“ … Der totgesagte – eben nicht wirklich tote, nur verdrängte und verleugnete – Garten der Seele wird mit seinen unendlichen Bilderfluchten, Gestalt in einer Sprache von eigentümlicher Musikalität, Dichte und Kraft:

Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade ·
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Dort nimm das tiefe gelb · das weiche grau
Von birken und von buchs · der wind ist lau ·
Die späten rosen welkten noch nicht ganz ·
Erlese küsse sie und flicht den kranz.

Vergiss auch diese letzten astern nicht ·
Den purpur um die ranken wilder reben ·
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
(Werke Band I, S. 121)

Bereits das erste Wort des Gedichts (eines der berühmtesten, meistinterpretierten Georges) ist Lockruf ins bewußte Abseits – „Komm!“, – von verführerischer, sanfter Gewalt, wie die folgenden, als stimmungshafte, bezaubernde Faszinosa angelegten Bilder alle: Die Schimmer ferner Gestade, die reinen Wolken, zwischen denen der Blick in „unverhofftes“ Himmelsblau, in die Tiefe des Raumes, geht; die Weiher, die bunten Pfade, der laue Wind und die innigen, wiewohl verhaltenen Farben einer meisterhaft imaginierten Spätzeit. Dieses in Weite und Stille gesenkte Idyll – es hat, als Topos, die Züge des locus amoenus, aber nichts Zierliches oder gar Kitschiges – ist ein besonderer Bereich, in dem die Stimmung des Abschieds herrscht, – leise Trauer und Müdigkeit. Und doch wird das bewußte Abseits, werden Müdigkeit und Abschied als das Eigentliche behauptet, dem gegenüber alles andere – Außenwelt, Zeit, Alltag, Geschehen oder wie immer man es nennen mag – versinkt und unwesentlich wird. Man betritt die Bildwelt des Gedichts mit ähnlichem Empfinden wie das Innere eines Domes: Fällt das Tor hinter einem zu, so ist man für die Welt verloren. Es kommt, unter solchen Umständen, auf Selbsterfahrung, Selbstfindung an, nicht auf Genuß „schöner“ Natur, nicht auf ästhetische Schwelgerei; im Gegenteil: auf Bezwingung der Stimmung, auf Auseinandersetzung mit den Anforderungen eines vertieften Erlebens, eines Einsamseins; einer Hinwendung ad fontes. Verwandlung und Umsetzung des Wahrgenommenen in seelischen Besitz. So gesehen bleibt der beschworene Garten der Seele, in seinem Abseitssein, seiner Gefährdung, seinem traumbildhaft leichten Vergehen, immer kunsterzeugte Wirklichkeit, die sich von einer (auch schon stilisierten, gleichwohl naturseligeren) Poesie romantischer Prägung abhebt.
Das Gedicht geht über alle tradierten Vorstellungen der Park- und Gartenlyrik bewußt hinaus. Die hier evozierte Assoziation zur „Blauen Blume“ des Novalis, dem Inbild romantischer „Poetisierung“ der Welt, ist zugleich Gegensatz, Gegenbehauptung der andersartigen eigenen Schöpfung, die sinngemäß vielleicht auf dasselbe abzielt, aber die völlige Unabhängigkeit seelischen Selbstseins von allem Äußeren betont: Aus dem Leblosen heraus, nicht gebunden an naturgemäße Vorgaben und Verhältnisse, in einem verborgenen Bezirk gleichsam durch ästhetisches Kalkül treibhaushaft erzeugter zeitloser Mythik vollzieht sich, als reiner Willensakt, die dichterische Erfahrung, die neue Art einer Anti-Existenz. Sie ist Ausdruck des kreativen Anspruchs eines absoluten Ich und hat als solcher, imposant durch Unerbittlichkeit, Strenge und eine gewisse raffiniert erzeugte „einfache“ Entschiedenheit, doch etwas Düsteres, Gewalttätiges an sich. So faßt sie, in ihrer Ambivalenz, einen wesentlichen Eindruck zusammen, der von George ausgeht, und über den George selbst sich, in der Ahnung, unter anderen Umständen statt der Magie der Dichtung der des Verbrechens erlegen zu sein, andeutungsweise ausgesprochen hat. Sabine Lepsius (a.a.O., S. 39f.) spricht über einen Spaziergang mit George: „Eine plötzliche, unheimliche, ich möchte fast sagen böse Wirkung ging von ihm aus, die mich ihn als unmenschlich empfinden ließ […] Er gehörte nicht zu dieser idyllischen Natur […] Für ihn gab es kein Idyll“, der er „wie ein gefährlicher Dämon neben mir herging“.
Das Bezwingende, aber auch Zwanghafte, das sich mit der Wirkung Georges, seiner Person wie seines Werkes, verbindet, hat seine Wurzeln ebenso in der Persönlichkeitsstruktur wie in der künstlerischen Absicht des Dichters, der als Meister der Sprache und Erneuerer des Existenzbewußtseins durch Sprache auftrat und dieses Meister- und Neuerertum sendungsgewiß und kompromißlos mit einer selektierenden, zuweilen menschlich ächtenden Energie durchzusetzen wußte.

Wer niemals am bruder den fleck für den dolchstoss bemass
Wie leicht ist sein leben und wie dünn das gedachte
Dem der von des schierlings betäubenden körnern nicht ass!
O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte!
(Werke Band I, S. 196)

Ein zu Kommerell getaner Ausspruch: Wenn ich mich rächen will, warte ich zehn Jahre und überlege es mir. Dann schlage ich zu – zeigt eine unerbittliche Willenskonsequenz, die verschleiert in vielen Gedichten aufklingt und die eines der Geheimnisse der besonderen Ausstrahlung ist, mit der George als geistige Führergestalt an sich zu binden wußte, zumal er feststellte, sein Leben nicht leben zu können, „es sei denn in der vollkommenen Oberherrlichkeit“ (zit. n. Winkler a.a.O., S. 234). Hierher gehört auch sein Angriff auf die Musik, „der er die bildende Kraft absprach trotz seines an Beethoven gerichteten Gedichtes über die Macht der Musik (Haus in Bonn, VII. Ring). Das Wort, die Sprache stellte er als das Höchste hin, das Einzige, das dem Propheten zum Werkzeug dienen könne“ (Lepsius, a.a.O., S. 63).

Nach Boehringer, dessen Buch (a.a.O.) ein einzigartiger Band mit George-Fotografien beigegeben ist, erkennt man den Dichter ebenso am Gesicht wie am Gedicht, – eine alte Spekulation der Lehre von der Physiognomie: Georges Gesicht, dieses – noch in der Totenmaske – „Antlitz unbeschreiblicher Hoheit“ hat zur Sammlungsbewegung um den Dichter beigetragen. Es zeigt den Ästheten, „durch und durch voller Zucht“, wie ihn Hofmannsthal stellvertretend für seine Epoche postuliert hat. Es ist das vollkommene Pendant zu Georges Gedichten.

II
In einem der besten Essays, die je über George geschrieben wurden, bemerkt Hofmannsthal, Georges Gedichte zeichneten sich durch einen eigenen Tonfall aus, „was in der Poesie das einzige ist, worauf es ankommt“. Durch dieses Einmalige, Unverwechselbare körperlicher und geistiger Physiognomie aber entstand jenes Kultische, das sich mit George untrennbar verbindet. Es scheint im Werk z.B. als Verachtung der Masse auf, als Trennung zwischen dem geistigen Einzelnen und einer ungeistigen Allgemeinheit. In den großen lyrischen Zyklen ist dieses Motiv immer präsent, ob im frühen „Teppich des Lebens“ (Weite menge siehst du rüstig traben / Laut ist ihr sich mühendes gewimmel“ – „Mit wenig brüdern flieht die lauten horden / Eh eure kraft verwelkt im kalten gift“), im „Jahr der Seele“ („Blöd trabt die menge drunten“ – „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“ – „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam“) oder im späten „Stern des Bundes“ („Mein blick ist abgewandt von diesem volk… / Siech ist der geist! tot ist die tat!“).
Heute mag die Strenge, die hieratische Haltung Georges befremden; der „engagierte“ Literat profiliert sich als Anwalt einer unterprivilegierten Mehrheit. – George war der Kopf einer geistig privilegierten Minderheit. Dieser Affekt, diese gezielte Provokation, die von ihm ausgeht, ist nach wie vor faszinierend. Das Kultische aber, das sich mit ihm verbindet, bleibt ebenso zwiespältig wie vielschichtig. Es wurde geschaffen und gepflegt nicht nur, weil es Georges Person, seinem Werk im Umfeld der Zeit entsprach; es hat Schutz- und Abwehrfunktion, beinahe Leidenscharakter. Der eben noch von der „vollkommenen Oberherrlichkeit“ gesprochen hatte, ergänzt dieses Wort unmittelbar folgend durch das Einbekenntnis der Notwendigkeit, eine fixierte Rolle als Vorbildfigur spielen zu müssen. Es schien ihm unumgänglich, jenen, denen er zum geistigen Führer geworden war, auch zur Inkarnation des Einmaligen und Unfehlbaren zu werden:

Mich so zu sehen, wie sie mich sehen, ist ihr stärkster Lebenstrost. So streit und duld und schweig ich für sie mit. (zit. n. Winkler, a.a.O., S. 234)

Zudem war der „Kreis“, war die Rolle, die George darin ausfüllte, für George eine psychische Stütze, Halt und Hilfe gegen Nervenkrisen und das Gefühl der Isolation; eine eigentliche menschliche „Heimat“. Nicht grundlos spricht er von den Mitgliedern des Kreises als von „mitglieder(n) einer familie“ (Brief an Hofmannsthal 9.7.1893, a.a.O., S. 67) und bekennt gegenüber Hofmannsthal, ohne den Kreis wäre er zusammengebrochen, an jener „wurzellosigkeit“ leidend, die auch Hofmannsthal kenne:

das ist eine meiner letzten weisheiten – das ist eins der geheimnisse! (Brief Juli 1902, ebd., S. 166)

George war, in Haltung, Eigenart, Geistigkeit und künstlerischer Leistung, für die zahlreichen sensiblen jungen Männer des Bildungsbürgertums, die sich ihm anschlossen und den (sich in verschiedene engere und nähere Zirkel gruppierenden) „Kreis“ bildeten, jene Persönlichkeit von wirkungsmächtigem Eigen-Sinn, als die George die Bekanntschaft des (irritierten und betroffenen) Gymnasiasten „Loris“-Hofmannsthal gesucht hatte.
Seine Gesamterscheinung bedeutete ein erregendes Novum; sein Lebensstil war seiner künstlerischen Aufgabe vollendet angepaßt und untergeordnet. In einer Zeit, die den geistigen Einzelnen mehr denn je mit Zwängen des Arbeitsalltages bedrohte existierte er finanziell durch hochmögende Gönner (beispielsweise den Keksfabrikanten Bahlsen) unterstützt, abseits von jenem „Industriepestgeruch der modernen Zivilisation“, über den sich schon Richard Wagner (nicht nur mit dieser Wortprägung) entrüstet und verächtlich geäußert hatte. George lebte in Freiheit und Bindungslosigkeit, ohne Haus, ohne Familienanhang (wie z.B. Hauptmann, Th. Mann oder Hesse); jederzeit konnte er reisen, wohin ihm beliebte, um Kontakte zu pflegen, Lesungen zu halten, künstlerische Aufgaben zu erfüllen. Nicht anders als ein mittelalterlicher Monarch von Pfalz zu Pfalz wechselte er, der als provisorischen Wohnsitz nur ein Zimmer im Bingener Elternhaus besaß, beständig den Ort, um bei Freunden, welche dem Kreis angehörten, in München, in Berlin, in Heidelberg, Quartier zu beziehen, gleichsam nach dem Rechten schauend, durch seine Anwesenheit die Versammelten mit dem Gefühl der Einheit und Sendung stärkend.
Dieser Lebensstil hatte etwas Mönchisches, zumindest auffallend Unbürgerliches an sich, das ihrer eigenen Herkunft gegenüber skeptische Bürgersöhne an ihn fesselte. Die eigentümliche Prägung und Struktur jenes Affekts geht auf diesen zentralen Zug der Persönlichkeit zurück. „Auch belehrte er mich“, berichtet Sabine Lepsius (a.a.O., S. 48f.), „daß der ,Bürger‘ abgelehnt werden muß, weil damit der Typus des Menschen gemeint ist, der weder für eine Idee, noch für Gott lebt, sondern nur für den Zweck und den Nestegoismus. George sprach gern von der ,Perversion des Bürgers‘ […]“ Er habe „eine angeborene Abneigung gegen großen Stil und Originalität, alle Sehnsucht nach dem Unerreichbaren […], sein enger Horizont“ mache ihn „unempfänglich für die größten menschlichen Werte, im besten Falle“ würdige „er die Kunst vergangener Zeiten, hingegen den lebenden Künstler“ hungere „er als einen Durchbrecher bürgerlicher Ordnung ohne weiteres aus.“ Zum Schluß dieses Gesprächs brach George mit der kühnen Behauptung hervor, „daß die großen Wirkungen in der Welt nur vom Wahnsinn (Mania) Einzelner ausgehen.“ Von hier aus wird die bezeugte Aversion Georges gegen Heiratsabsichten junger Mitglieder seines Kreises verständlich, ebenso natürlich auch, mit diesem Problem zusammenhängend, sein Bruch mit einem der ihm nahesten (und bedeutendsten) „Jünger“, Friedrich Gundolf.
Georges persönliche Ausstrahlung, die wohl kaum beschrieben, nur erlebt werden konnte, vermittelte eine bezwingende, durch den Ausdruck überlegener Geistigkeit zugleich natürliche Ruhe, die Gelassenheit des Zeithabens, der Kontemplation, Vorzug und Tugend wie im Altertum; Muße als „Höflichkeit der Seele“ (Zenta Maurina). Doch diese eigentümliche Ruhe und Feierlichkeit verband sich mit unverstellter Bodenständigkeit (gleichsam dem dialektsprachigen Erbe seiner bäuerlichen Ahnen). Im Gespräch vertieft ihn erwartende „Jünger“ hören ihn zu ihrem Erstaunen beim Eintreten sagen:

Isch hab’ mer ewe mei Schuh’ gesohlt!

So weckt er Verblüffung, Verehrung, Furcht, erregt Bewunderung; denn er vermag, was die versammelten Intellektuellen kaum vermögen; er kann seine Schuhe besohlen, sie können es nicht. Seine Ablehnung mondäner Menschen, seine Umgangssprache im Volkston (ebd., S. 54): Züge, die das Klischee vom Literaturpriester und Weltanschauungsmystagogen bestechend modifizieren. Solche Anekdoten, denen man, auch wenn sie, wie diese, verbürgt sind, mit Distanz begegnen muß, weisen auf die besondere Aura hin, die George und seinen Kreis umgibt. George, Meister der Faszination, der Suggestion, der Überredungskunst, über das gewissermaßen Erzieherische seines selbstgestellten Auftrages hinaus für Weltsicht und Lebensgefühl der sich ihm Anvertrauenden unbedingt maßgebend, hat Anekdoten nicht ohne Grund gezielt verhindert. Die geistige Haltung, die er zu schaffen sich bemühte (und die, vielfach bezeugt, in der Runde des „Kreises“, im hochkultivierten Gespräch, bewußtseinserweiternd und beglückend vorhanden war), sollte das einzige bleiben, das es nach außen zu thematisieren galt.
Nicht zuletzt dadurch provozierte er jenen Mythos um seine Person, die Gerüchte, Übertreibungen und falschen Einschätzungen, während er doch, ursprünglich, das Gegenteil hatte erreichen wollen, nämlich, im Absehen von seiner Person, die völlige Konzentration auf Gestalt und Ausdruck des in seiner Dichtung mitgeteilten Weltgefühls.
Das Unvergleichliche an George hingegen empfanden Zeitgenossen, so Eugen G. Winkler, ein sicherlich unbestechlicher Augenzeuge, gerade in der Übereinstimmung der privaten und öffentlichen Person. Das eigentliche geistig-künstlerische Wirken des Dichters, die Intention seiner Lebenshaltung wie seines Werkes, ist denn auch übereinstimmend von jener Kritik ausgenommen worden, die ihm nicht selten Pretiosität und Selbstbeweihräucherung vorwarf. Wie z.B. Winkler betont, war das Großartige, Beglückende und Neue an George die Gewißheit, er werde mit der jungen Generation, in unbedingtem Idealismus, den Geist wieder „tägliche sichtbare Lebensform“ werden lassen, in einer „derart formlos gewordenen Zeit“ (Winkler, a.a.O., S. 362). George wurde als derjenige gesehen, der in einer Zeit extremer „Dichtungsfeindschaft“, so Klages (Mensch und Erde. Ges. Abhandlungen. Stuttgart 1973), „in einer gesichts- und richtungslosen Zeit wieder maßgebende Bilder aufgerichtet“ hat (Winkler, a.a.O., S. 228), selbstherrlich zwar (ebd., S. 223), aber „auf der Flucht vor einer als entwertet angeschauten Welt“ (ebd., S. 232). Das Überzeugende, Befreiende, die ungemeine Vertiefung seelischer Selbst- und Welterfahrung durch den elitären Ästhetizismus Georges, der eine gewandelte Lebensauffassung weckte; das Erlebnis, einen Führer-Vater-Freund zu haben, der über die Verwickeltheiten und Niederungen des Alltags hinausführte, war ausschlaggebend für alle, die zu ihm fanden, für Klages, Wolfskehl und Gundolf nicht anders als für Vollmüller, Lepsius und Kantorowitz, Hellingrath, Böhringer oder noch Jüngere, die z.T. nicht mehr dem „Kreis“ angehören konnten, wie der (jüngst verstorbene) Komponist Gerhard Frommel, der, die Beziehung zur Lyrik Georges als die entscheidend prägende Kraft seiner Jugend bezeichnete.
Es ging darum, einen anderen, neuen, unverbrauchten Weg geistigen Erlebens zu finden. George zeigte ihn. Es ging, wie Aufsätze von Gundolf (Georgekreis, a.a.O., S. 78ff.) und Wolters (ebd., S. 82ff) zeigen, um „Gefolgschaft und Jüngertum“, um „Herrschaft und Dienst“, in einer uneingeschränkt positiven Deutung dieser Wendungen, die später durch einseitige Bindung an die Erfahrung des Nationalsozialismus, negativ „besetzt“ sind. Gegen den „Jammer einer knechtischen Gleichheit und leeren Freiheit“ (Wolters, ebd.) wurden Hölderlin und Shakespeare, Jean Paul, Goethe und Nietzsche ins Bewußtsein gehoben; aus dem „Kreis“ hervor ging die Orientierung am Bild des „großen geistigen Menschen“, der aristokratischen Herrscher- und Führernatur.
Hellingraths Hölderlin wird Antifigur zur umgebenden Gesellschaft, ein beinahe mythischer Geheimnisträger der Seele; Böhringer, über „Wirkungen des Gedichts“, lehrt, nach Georges Vorbild, das meditierende, kontemplative Sich-Versenken, den psalmodierenden Vortrag, ähnlich dem Responsorium im katholischen Ritus, – Hören, Lesen, Abschreiben, Auswendigkennen, Hersagen und Deuten von Lyrik.

III
Im Gegensatz zu anderen geistigen „Führerfiguren“ (etwa zu Wagner oder Rudolf Steiner) hat George zunächst an der Nichtöffentlichkeit seines Wirkens streng festgehalten, in einem Bereich jenseits von Popularität und Medienkultur. Noch in der Vorrede zum Stern des Bundes betont er, er habe sich nicht „auf das vordergründige geschehen eingelassen“ oder gar „ein brevier fast volksgültiger art“ geschaffen; er wünschte, daß dieses Buch „noch jahrelang ein geheimbuch hätte bleiben können“. George war keine Integrationsfigur des kulturellen Tagesgeschehens, keiner, der durch Verlautbarungen, Interviews, Vorträge und Zeitungsartikel wirkte. Dies wäre für ihn Anbiederung, Kompromiß, Unterwerfung gewesen. Er hat die Seinen aber auch nicht, wie es vergröbernd scheinen mag, hermetisch abgeschlossen. Von einer Nichtöffentlichkeit seines Wirkens generell kann man nicht sprechen, wenn auch die Blätter für die Kunst „Öffentlichkeit“ zunächst über eingeweihte Einzelne suchten. Ihr Charakter war von Anfang an streng exklusiv und schloß ein festes inhaltliches „Programm“ ebenso aus wie die üblichen Essays über zeitgenössische Kunst, nicht aber eingestreute subjektive Beurteilungen von Kunstwerken. So schreibt er, vor Gründung der Blätter, am 8.7.1892, zwar, es komme ihm nicht auf eine „Zeitung“, nicht auf Publizität an, sondern allein darauf, „mit dem naturgemäß engen kreise ähnlich suchender in berührung zu kommen und manches sonst unzugängliche verwandte kunstwerk kennen zu lernen“ (Briefwechsel, a.a.O., S. 24); doch korrigiert er Hofmannsthals allzu einseitigen Eindruck schon bald dahingehend:

Sie irren auch wenn Sie drauf anspielen dass ich kunstmeinungen verheimlichen will, der plan der zeitung beweist ja das gerade gegenteil. mir kommts aber auch hier aufs ,wie‘ an. (26.7.1892, ebd., S. 31)

George hat Rezensionen der Blätter, besonders im westlichen Ausland, schon früh bewußt gefördert und den exklusiven Charakter seiner Zeitschrift 1894/95 durch zwei Hefte der Allgemeinen Kunstchronik (die den Blättern zur Verfügung gestellt wurden) sowie 1898 mit den öffentlich bei Bondi erschienenen Auswahlbänden der Blätter sozusagen durchbrochen. Schon 1896 verfolgte George den Plan einer „erweiterung unsrer ,Blätter für die Kunst‘ um eine monatliche deutsche Rundschau“. „Allerdings treten wir dann an die masse heran“ (an Hofmannsthal, 11.9.1896, ebd., S. 109f.). Für die Schriftleitung dieses Projektes (das dann nicht zustande kam), versuchte er, einen Gelehrten und zwei Dichter, darunter Hofmannsthal, zu gewinnen, um ihn, den lange Umworbenen, doch noch für eine „gemeinsame laufbahn“ zu interessieren, die freilich besondere ästhetische Grundsätze zu beachten gehabt hätte (31.5.1897, ebd., S. 116f.). Georges Wille, kunstbildend, kunsterzieherisch zu wirken, durch den Kreis, aber zunehmend auch über ihn hinaus, war stark entwickelt. Mit Nachdruck, beinahe unerbittlich wirkte er diesbezüglich auf den zögernden, skeptischen, sensibel-zurückhaltenden Hofmannsthal ein, der die Stille einer träumerischen Zurückgezogenheit schützend vorschob, um Georges entschiedenem Standpunkt zu entgehen, welcher „eine sehr heilsame diktatur“ ins Auge gefaßt hatte (Mai 1902, ebd., S. 150f.). Wenn George, am 21.3.1896, aus Brüssel, über Belgien schreibt (ebd., S. 67), er liebe dieses Land sehr, da es „bereits so glücklich“ sei, „einen geistigen adel zu besitzen“, so gilt dieser Wunsch einschränkungslos als Ziel seiner eigenen, konsequent verfolgten Absicht, vom „Kreis“, von den Blättern ausgehend eine Elite zu bilden, die, nach entsprechender Vorbereitung, in genauem Austausch und unter überlegter Führung, sich schließlich immer mehr selbst tragen, aus sich selbst herauswachsend an Einfluß gewinnen sollte. Dieser Elitebegriff hat jenen natürlichen, positiven Sinn, der seit Humboldt und Schopenhauer kulturgeschichtlich selbstverständlich gewesen war. 1910–1912 leitete George eine neue Phase planmäßigen Wirkens in die Öffentlichkeit mit den Jahrbüchern für die Geistige Bewegung ein, aus denen dann die Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst (bei Bondi) und die Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst hervorgingen, die großen Monographien von Gundolf bis Kommerell, mit denen gewissermaßen die Universitäten erobert wurden, um den Zeitgeist zu beeinflussen.

IV
George verfocht einen absoluten Anspruch des Geistigen, den Willen zu Reinheit und Würde der Sprache, zur „aus Sensibilität erwachsenen Pflege der dichterischen Form“ (Kahler). Die Entwicklung seines Werkes steht in literarhistorischen Zusammenhängen, die eben den Literaturwissenschaftler angehen. George zu lesen aber verlangt, sich für eine spezifische Lebenshaltung zu entscheiden – oder gegen sie; zwingt, sich auf die Seite einer Minorität zu stellen; bedeutet, eine über das Tagesgeschehen hinaus autonome dichterische Welt zu bejahen, in der (mit Rilke zu sprechen) die „orphische“ Deutung der Erde zur eigentlichen Aufgabe des Dichters wird.
Ausdruckskraft und -strenge beschränken den Bildgehalt dieser Lyrik, sparsame „Linien wie an alten Krügen, vieles sagend, wie im Traum, Umrißlinien des unterworfenen Lebens.“ Rilke und Hofmannsthal hatten, mit der ihnen eigenen Sensibilität, erkannt, daß George die Gegenwart als langgedehnte Phase des Niedergangs (der Kunst und der Sprache im besonderen) auffaßte, als Zeit geschäftigen Epigonentums, Zeit der Anmaßung von „unten“. Seine konsequente Verneinung einer Kunst, die sich weitgehend dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterwirft, seine Verachtung einer Kultur des Amusements und der Massenberauschung, seine Absage auch an das sogenannte Engagement des Literaten, der sich in Tagesstreitigkeiten verausgabt, all dies gehört wesentlich zu seinem Affekt der Provokation. Dieser wird in den Gedichten teilweise verhüllt und sublimiert; als Gegenkraft jener Phänomene des Verfalls erzeugt er die bezwingende Konzeption der lyrischen Form, die bei George stets mehr ist als nur Gestalt und Rahmen, – nämlich Bekenntnis und Programm.
Gerade weil in dieser Lyrik eine unheile Welt in Bildern der Seele, der Geschichte, des Mythos (George sagt: in „Schutzbildern“) aufgefangen und beantwortet wird, bleibt sie präsent und fordert zur Stellungnahme heraus. Es ist der Lyrik Georges unangemessen, sie nur als schönes Versgebilde zu sehen. Dies geschah in vielen Gedenkversuchen und Würdigungen anläßlich seines 50. Todestages im Dezember 1983: George habe gewisse Urteile über Kultur und Gesellschaft formuliert, seine Wertungen seien jedoch zeitgebunden und sektiererhaft gewesen, sie hätten mit seiner Poesie im Grunde nichts zu tun. Dementsprechend beschränkte sich die Auswahl zitierter Gedichte meist auf solche, die einer Interpretation nicht unmittelbar bedürfen, auf die berühmten „Perlen“, formal unerhört meisterhafte, rein lyrische Gebilde wie die „Vogelschau“ („Weisse schwalben sah ich fliegen“…) oder „Du schlank und rein wie eine flamme“. Diese Schöpfungen einer überragenden Sprachkunst und Ausdruckskraft vorzustellen, ist aber nur selbstverständlich; sich um anderes, das zu George gehört, nicht zu kümmern, heißt, das zeitgeschichtliche Format des Dichters zu ignorieren und ihn in eine Ecke mit manchen anderen zu stellen, die eben „schöne Verse machen“ konnten. Andererseits hat man sich an George schlimmer noch vergriffen, indem man ihn zum Apostel einer „Weltanschauung“ stempelte (dieses Wort ist so sehr deutsch, daß es mit George gar nichts zu tun haben kann) – und indem man ihn politisch begriff, als Vertreter der „Rechten“ oder gar (was gelegentlich noch vorkommt) als Wegbereiter des Nationalsozialismus, da doch in der Threnodie „Der sänger aber sorgt in trauerläuften“, von einem „neuen Reich“ unter einem „völkischen banner“ gesprochen wird. Gewiß war, äußerlich betrachtet, der „Kreis“ einer Zeittendenz entgegengekommen, vor allem durch ein tendenziell antidemokratisches Denken. Dieses äußerte sich indes niemals im Sinne politischer Gruppierungen und Programme, sondern eben in der Absicht, diese ad absurdum zu führen. Zum Beispiel zeigt Georges Gedicht „Der Krieg“, eine seiner umfangreichsten, gedanklich bedeutendsten Schöpfungen, daß es zwischen der Souveränität des Geistes, die sich hinter einer (auf den ersten Blick scheinbar nur elitären) Haltung der Absage verbirgt, und dem zeittypischen Nationalismus und Militarismus keine Verbindungen gibt. Zur Kriegsbegeisterung der Massen 1914 steht seine Stimme hier in krassem Gegensatz:

Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein ·
Nur viele untergänge ohne würde…
Des schöpfers hand entwischt rast eigenmächtig
Unform von blei und blech · gestäng und rohr.
Der selbst lacht grimm wenn falsche heldenreden
Von vormals klingen der als brei und klumpen
Den bruder sinken sah · der in der schandbar
Zerwühlten erde hauste wie geziefer…
Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr.
Erkrankte weiten fiebern sich zu ende
In dem getob.
[…]
Spotthafte könige mit bühnenkronen
Sachwalter · händler · schreiber – pfiff und zahl.

Daß George durchaus ein überlegenes politisches Urteilsvermögen besaß (dessen moderate Gesamttendenz vom militaristischen Ungeist der Epoche absticht) beweist seine Reaktion auf eine Bitte Hofmannsthals um Unterzeichnung eines Offenen Briefes prominenter Vertreter des deutschen und englischen Kulturlebens zur Verhinderung einer soeben drohenden militärischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Nationen: 4.12.1905 (Briefwechsel, a.a.O., S. 227):

[…] so einfach wie diese zettel vermelden liegen die verhältnisse doch nicht. Krieg ist nur letzte folge eines jahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beiden seiten. das verklebemittel einiger menschen däucht mir ohne jede wirkung. Und noch weiter gesehen: Wer weiß ob man als echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftige SEE-schlappe wünschen soll damit sie jene völkische bescheidenheit wieder erlangen die sie von neuem zur erzeugung geistiger werte befähigt.

Lange vor 1914 bereits ahnte George die Schrecken, in denen die scheinbar zivilisierte Welt zusammenbrechen werde; schon im „Siebenten Ring“ taucht die Gestalt des Widerchrist auf, Spender eines unheilvollen, seelenlosen technizistischen Fortschritts. Später bezieht der im Einflußbereich Georges aufgewachsene Claus Graf Stauffenberg diese Gestalt auf Hitler, wissend, es werde nicht gelingen, Hitler zu überwinden, – am 20. Juli 1944 indes dennoch dem Gefühl unbedingter Pflicht gehorchend. Zu diesem Zeitpunkt war George über zehn Jahre tot; sein Rückzug ins Tessin, seine Absage an alle angetragenen Ehrungen des Nazireichs, sein Aufatmen, als er über den Bodensee der Schweiz entgegenfährt: Sind das nur nebensächliche Aspekte der Biographie? Der abstruse Gegensatz zwischen der Ideologie des Nationalsozialismus und der Haltung Georges (für die man nicht erst auf seine Reaktion 1933 oder auf Stauffenberg verweisen muß) wird nicht deutlich, solange man diese Haltung nicht kennt oder ignoriert. Entscheidend für George war immer wieder das Bewußtsein einer Sprach-, einer Kulturkrisis, aus der die Sprache nur hervorgehen werde, sofern sie sich in neuen kühnen Gebilden Freiheit und Reichtum zurückgewinnt. Was George verklausuliert und verallgemeinernd ausdrückt, um sich nicht auf das Niveau kulturpolitischer Agitation zu begeben, ist vor allem der erbitterte Kampf gegen eine billig zu habende Konsum- und Unterhaltungskunst, gegen das Spiel mit der (politischen) Sensation, gegen die Ausgelaugtheit einer mißbrauchten Sprache, letzten Endes auch gegen den Journalismus. Wenn Hofmannsthal (in seinem oben zit. Essay, a.a.O.) bemerkt, ein Hauptkennzeichen der schlechten Bücher der Zeit sei ihre „Hingabe an das Vorderste, Augenblickliche“, Georges Dichtung aber besitze eine „Entfernung vom Leben“; der „vielfältige, verklausulierte und zersplitterte Zustand unserer Weltverhältnisse“ sei durch sie „in den ungeheuren Abgrund des Schweigens geworfen“, so erwirbt Georges Lyrik diese Freiheit, diesen Reichtum allerdings um den Preis einer eigenartigen Abschließung gegenüber der Vielfalt ephemerer „Probleme“. Vom französischen Symbolismus übernahm er den Gegensatz von Geist und Welt das ästhetische Ideal des dandisme, ein eigentlich romantisches Erbteil, und behauptete die Kunst als Absolutum, als letztes Ziel des geistigen Menschen; das Schöne an sich als Idee, welche vor geisttötender Zweck- und Nützlichkeitsbezogenheit rette „In der dichtung – wie in aller kunst-betätigung – ist jeder der noch von dem drang ergriffen ist etwas ,sagen‘ etwas ,wirken‘ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten“, – so George. Und weiter:

Den wert der dichtung entscheidet nicht der sinn (sonst wäre sie etwa weisheit gelahrtheit) sondern die form d.h. durchaus nichts äusserliches, sondern jenes tief erregendem maass und klang wodurch zu allen zeiten die ursprünglichen die meister sich von den nachfahren den künstlern zweiter ordnung unterschieden haben.

Georges Abschließung war jedoch nicht asketisch oder gar „nostalgisch“. Auch diesbezüglich gilt es, George sozusagen von zwei Seiten aus zu sehen. In vielen Gedichten – vor allem der späten Zyklen – nämlich finden sich zahlreiche Aussagen über Welt und Zeit, die eindringlicher, erschütternder sind als manches typische, aber deshalb eben bloß plakative „Zeitgedicht“. Das „Zeitgedicht“ Georges dagegen (er leitet z.B. den „Siebenten Ring“ expressis verbis mit einem solchen ein) spricht immer gegen die Zeit, setzt sich von ihr ab, blickt über sie hinaus, behauptet kompromißlos das der Zeit Versagte und Verlorengegangene. Wichtig ist dabei, wie die Aussagen gemacht werden; George bindet sie kaum an Ereignisse, spitzt sie nicht als Fallstudien zu, er deutet an, überträgt ins Symbol; der zerstörende Schmerz wird dabei aufgefangen in der Form: Wo die Form vollendet ist, übernimmt sie die Lösung.
Eben Georges Verhältnis zur Sprache, wie er es an die Mitglieder des Kreises und an die Öffentlichkeit weitergab, hatte von seinen Bestrebungen die vergleichsweise weiteste und intensivste Resonanz, „über alle wesensmäßigen Bedenken hinweg unbedingt bejahenswert“, wie der im übrigen sehr kritische Winkler (a.a.O., S. 228) betont: „ein Verhältnis voll Bewußtsein, Zucht und Verantwortung, die die Sprache mit Ehrfurcht, als etwas Wesenhaftes anerkennt, wodurch, in Beziehung auf den Gedanken, den die Sprache tragen und ausdrücken soll, eine seit langem selten gewordene Sprachkunst wieder zur Regel wird.“ (ebd.) Natürlich stehen dafür auch (um nur die Bedeutendsten zu nennen) Kraus oder Hofmannsthal oder Rilke ein, die zur gleichen Zeit um eine neue Vergeistigung und Purifizierung der Sprache ringen; bei George zielt das besondere Verhältnis zur Sprache indes mit programmatischer Unbedingtheit auf eine grundsätzlich andere, verwandelte Lebenshaltung und Lebensführung ab, die jede Reaktion (auch im scheinbar gleichgültigsten Augenblick), jede Einstellung, jedes Urteil gegenüber eintretenden Ereignissen, gegenüber gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen, gegenüber begegnenden Menschen bestimmt. Wenn George als Maxime behauptet, das Gedicht sei „der höchste der endgültige ausdruck eines geschehens“ – und als solcher „nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung“ (zit. n. Frommel, a.a.O., S. 6), so liegen darin Feststellung und Forderung, daß das Gedicht, als gemeisterte, nämlich durch „auswahl maass und klang“ bezwungene Emotionalität, bewege, verändere und verwandle; daß es eine Metamorphose bewirke, – nach George „erweckung und übergang“ (ebd): Aus antithetischer Spannung von Betrachten und Erleiden, die Frommel (a.a.O., S. 27) als wesentlichen Bestandteil der Gedichte Georges sieht, einer Spannung, die sich auch überträgt, auf das Verhältnis zwischen lesendem und lyrischem Ich, erwächst als seelischer Vorgang eine Erschütterung, die in sonderbarem Kontrast steht zu der oft berufenen starren Monumentalität des Georgeschen Gedichts.
Georges Verhältnis zur Sprache schließt (von einigen Gedichten des Frühwerks abgesehen) ein Beharren in ästhetischer Selbstgenügsamkeit ebenso aus wie etwa das rilkesche reine seelische Aufgehen und Verschwinden des Ich in der Natur, im „Ding“ selbst. „Erweckung und Übergang“ als jenes „Geschehen“, dessen höchster Ausdruck das Gedicht ist, meinen Veränderung der sensitiven Individualität; „Schicksalsvollzug“ (Frommel, a.a.O., S. 8) durch „Übergang auf eine neue Stufe des geistigen Daseins“ (ebd., S. 11); wenn man hochgreift: eine Art Reinigung, Heiligung (ebd., S. 26) durch Umbildung von Eindrücken und Erfahrungen aus dem Zufälligen und Unvollkommenen in die verendgültigte Gestalt einer höheren Lebensschau, die sich freilich entkörperlicht, irrational, als „Stimmung“ verwirklicht. So erklärt sich denn auch Georges (in den Briefen an Hofmannsthal am unverstelltesten sichtbare) Kritik am Naturalismus und verwandten Stilrichtungen; an einer sozusagen direkten Porträtkunst gesellschaftlicher Zeitprobleme; an Ibsen (er habe zwar „grösse des geistes“, aber „wenig KUNST“ – Juni 1897, Briefwechsel, a.a.O., S. 119ff.); an Zolas Definition vom Kunstwerk als „coin de la nature, vu à travers un tempérament“, überhaupt gegen jegliche „Rezepte“ zur Herstellung, das hieße Fabrikation, von Kunst, auch gegen Gleichungen wie jene von Arno Holz, Kunst = Natur – x (x = die Unzulänglichkeit der Sprache). „Das ganze neuere geschichts- und sittenstück“, schreibt George im Dezember 1904 an Hofmannsthal (Briefwechsel, a.a.O., S. 224), „leidet · für mich · an übel angewandtem Shakespeare. Bei ihm bildet sich die handlung aus gestalten seiner leidenschaftlichen seele · bei den heutigen aus gedanklichem: aus abwickelungen bei diesen oder jenen voraussetzungen. dort ist alles rauhe und rohe notwendigkeit – hier aber befleckende zutat oder gar kitzel […] Den einzelwesen oder zeitläuften die an den voraussetzungen nicht teilnehmen sind auch die abwickelungen wertlos. Der grosse innere sang der zeit ist gesungen. darum singen ihn manche gut nach. Die grosse schöne rede der zeit ist geredet. darum reden viele sie gut nach. Das grosse bühnenwerk ist noch nicht getan.“
Georges schroffes Urteil über Dehmel ist (schon durch seine Beziehung zu Ida Coblenz und den diesbezüglichen Briefwechsel) bekannt; er spricht von „zügellosigkeit und stilverquickung“ (ebd.) und greift zugleich Geschmacksunsicherheit und Überzüchtung der Literatur durch psychologische und gesellschaftspolitische Sensationseffekte an; das „fetzen- und sprunghafte der tagesschriftstellerei“ (ebd., S. 158f.) müsse abgelöst werden, – durch „menschen von geschmack“, die „zu höherem leben befähigt sind“ (ebd., S. 119ff.) „Ich schliesse mich ganz Ihrem urteil an dass die gegenwart für uns eine zeit grosser künstlerischer dürre ist“, schreibt er am 3.2.1896 an Hofmannsthal, (ebd., S. 84). Für George bedeutete auch der Volkston keine Lösung; Ausdruck und Aufgabe der Sprache, wie er sie sah, liegen weit entfernt etwa von einer Flucht in Simplizität. Es gebe, schreibt er (im Juli 1902, ebd., S. 167) an Hofmannsthal, „in jeder dichtung alte weisen unbekannter verfasser die weder durch ,volk‘ noch ,ton‘ irgendwie umschrieben sind. Einige davon erregen wunderbar die meisten verdecken durch die verstümmelung der überlieferer ihre offenkundige albernheit. Wollten nun gar Spätere das nachahmen, so wäre es abgeschmackt und lächerlich.“ Gegen das Biderbe habe auch er nichts einzuwenden, wo es „den grund bildet auf dem noch etwas wachsen kann“: Es dürfe aber kein „derb und dumm-thun“ sein (ebd., S. 161). Vielmehr kommt es ihm auf den Unterschied zwischen dem um des kommerziellen bzw. sensationellen Effekts willen gemachten und dem geborenen Kunstwerk an, das, homogen und überlegen gestaltet, es nicht nötig hat, formale Unzulänglichkeiten und inhaltliche Platitüden durch „pflästerchen“ und „mätzchen“ (ebd.) zu verdecken.
Georges Versuch, zu einem neuen Sprach- und Lebensgefühl zu erziehen, zu Geschichtsbewußtsein, Ebenmaß und Form, war (nicht unproblematisch) verbunden mit einem zuweilen vorherrschenden starren Ausdruck, ohne Güte und Humor (Haecker), – welcher freilich nicht für die Gesamterscheinung Georges gilt, der das Frohe, Heiter-Belebte durchaus nicht fremd war (vgl. Lepsius, a.a.O., S. 51). Doch liegt eben in einem Habitus geistiger Strenge und aristokratischer Zucht Georges eigentliche Bedeutung und Größe, jener Affekt der Provokation, der in der Auseinandersetzung mit Georges Dichtung zur Entscheidung zwingt.
Deshalb aber auch ist andererseits wieder Georges Werk „seltsam unausgeglichen […] unsicher und ungeschickt bis zu hölzerner Gequältheit – und doch zugleich immer wieder von einer makellosen Geschlossenheit“ (Pfeiffer, a.a.O., S. 108). In ihm spiegelt sich die Persönlichkeit des Dichters in ihrem Anspruch und geistigen Rang, ihrer Würde und Sensitivität, ihrer Herrscherpose und zuchtmeisterlichen Unerbittlichkeit. Diese George wesenseigene, nicht ohne Leiden gemeisterte Rolle bewirkt, daß er zum rein Lyrischen, zum „bildhaften Wort, zum unmittelbaren Bild, durch das Gedanke und Gefühl körperhaft und sinnlos anschaubar werden“, nicht immer vordringt (Winkler, a.a.O., S. 226), namentlich im Spätwerk.

V
Im Stern des Bundes nimmt der lyrische Ausdruck einen eigentümlichen Ton an, der in seiner sinnspruchartigen Herbheit und formelhaften Verkürzung etwas Kabbalistisches hat und den „feierlich-getragenen, gleichmäßig-langsamen Gang“ (Pfeiffer, a.a.O., S. 110), welcher George schon immer eigen gewesen war, überhöht und verstärkt.

Demgemäß sind die bildhaften Vorstellungen mit zuchtvoller Zurückhaltung dargeboten und mit weihevoller Bedeutsamkeit aneinandergereiht. (ebd.)

Eine mit abbreviativ gedrängten Gedanken und Bildsymbolen arbeitende Sprachkunst (die Neologismen ebenso einsetzt wie archaisierende Wendungen) entwickelt im Spätwerk eine auffallende Schatzgräber- oder Rutengänger-Metaphorik, durch die der umschriebene Existenzraum des lyrischen Ich in eine über- bzw. unterirdische Sphäre, in „sichtbar“ und „unsichtbar“, in vordergründig und hintergründig (untergründig) geteilt wird.

Alles habend alles wissend seufzen sie:
„Karges leben! drang und hunger überall!
Fülle fehlt!“
Speicher weiss ich über jedem haus
Voll von korn das fliegt und neu sich häuft –
Keiner nimmt…
Keller unter jedem hof wo siegt
Und im sand verströmt der edelwein –
Keiner trinkt…
Tonnen puren golds verstreut im staub:
Volk in lumpen streift es mit dem saum –
Keiner sieht.
(Werke Band I, S. 360)

Die amphybrachische Verknappung der dritten Zeile zur Formel des „Problems“ wird nach bildhaften Langzeilen dreimal wiederaufgegriffen und insgesamt widerlegt: Nur scheinbar fehlt die Fülle; denn keiner nimmt, keiner trinkt, keiner sieht. Der Mißstand liegt nicht im Fehlen von „Besitztum“, sondern in dem Mangel, sich dasselbe zu erschließen, in der Unfähigkeit, es überhaupt als solches zu erkennen. Ein Volk in Lumpen meint hier ein Volk mit heruntergekommener, gleichsam zerlumpter, grober und unkundiger Sensitivität, – geistig-seelisch zerlumpt, seiner Wahrnehmungsfähigkeit beraubt, ähnlich einem dahintrottenden, geblendeten Tier. Was gilt es zu finden, dem „korn“, „edelwein“ und „gold“ symbolisch Ausdruck verleihen? George vergegenwärtigt in dieser dreifachen Nennung jenes Aufblitzen des „Urbildes“, weitgehend unzugänglich der rationalen Bemühung, von dem oben bereits die Rede war. Gemeint sind Erweckung und Übergang zu einer höheren Lebensstufe, ein Gang über die Schwelle im Sinne von Initiation; – die Wünschelrute der Kunst findet eine Art Lebensquell, aber auch das Bewußtsein des „anderen“ Bereichs, des Todes. Deshalb kann der Vorgang des Auffindens dieser Daseinsgrundlagen – Korn, Wein und Gold, kann das Abendmahl des Erkennens und der höheren Schau („klares Weltauge“ zu sein, um mit Schopenhauer zu reden) nicht jedem gegeben sein; „Übergang“ in diesem Sinne, Erweckung, ist nur einzelnen vorbehalten (vgl. Frommel, a.a.O., S. 17); der Reichtum des Erkennens, das Vermögen zu erkennen, sind im einzelnen entweder angelegt oder nicht; sie können nur verloren werden, kaum aber planmäßig erworben. Insofern ist Georges Klage über die Haltung des wahrnehmungsfähigen Volkes, welches nicht nimmt, nicht trinkt und nicht sieht, eine (von der „Sachlage“ aus betrachtet) rein rhetorische: Sie schließt von vornherein aus, daß der bezeichnete Zustand veränderbar sei; und sie wird nicht deshalb vorgebracht, um ihn zu verändern. Das Bild der vielen Unzulänglichen wird gezeichnet, damit der berufene Einzelne, auf den es George allein ankommt, umso wirkungsvoller angesprochen werden kann und sich vom negativen Hintergrund abhebt.
Die versunkenen Schätze (des Geistes und der Seele), die Urbilder des Seins zu entdecken und zu Tage zu bringen, jenseits vom Zufall und der Flüchtigkeit der Stunde, setzt eine selten gewordene, gleichwohl „schlichte“, innige Verhaltensweise voraus, die selbst schon ein Teil des zu findenden Verborgenen ist:

Breit’ in der stille den geist
Unter dem reinen gewölk
Send in zu horchender ruh
Lang in die furchtbare nacht
Dass er sich reinigt und stärkt
Du dich der hüllen befreist
Du nicht mehr stumm bist und taub
Wenn sich der gott in dir regt
Wenn dein geliebter dir raunt
.
(Werke Band I, S. 370)

Georges Menschenbild zentriert sich um den Begriff dieser besonderen Lebensart, für die sich der Einzelne entscheiden, zu der hin er sich entwickeln muß, berufen durch innere Anlage und Schicksal, geleitet durch jene Geistigkeit, die in der unentwegten Auseinandersetzung mit der existenzgemäßen Einschätzung aller begegnenden Phänomene „Erweckung“ und „Übergang“ erwirkt. „Die Gegenwelt (Verfallensein, Hörigkeit, also psychische Zustände des Zwanghaften, der Ich-Befriedigung) wird, oft nicht ohne schmerzlichen Verzicht auf das Ausleben mächtiger Reize, durch stete Erneuung und Verjüngung des einmal geschauten, geahnten Urbilds überwunden […] Das Urbild des Menschen, wo und wann auch immer, zu erkennen, es mit allen Kräften in die dichterische Wirklichkeit zu bannen, ist Achse allen Seins und Tuns, aller Schöpfungen und Handlungen Georges“ (Frommel, a.a.O., S. 14).
Auch hier ist der Gegensatz bestimmend zwischen Oberwelt und Tiefe; wird von einer Zeit gesprochen, die das Unwesentliche (Poltern und Staub) registriert, in ihr „buch“, d.h. ihre Chronik, einträgt und sich somit zu eigen macht, – „fortschrittlich“, intellektuell, allwissend – und doch: „unkund des was wirklich war“. Sie ignoriert lebenstragende Kräfte, tradierte Werte, „trächtig von gewesnem“; sie hat sich getrennt von der eigenen Vergangenheit, von geistes- und kulturgeschichtlichen Quellen, die sie hätte nutzen, „sich zur belebung hätte bannen können“; sie ignoriert eine Erfahrungssubstanz, die das Konzentrat vieler Generationen ist. Die Kräfte, die sie ignoriert, existieren deshalb in einer diffusen Sphäre der Halbverborgenheit, in einem gleichsam geisterhaften Zwischenreich des Verlorenen und Vergessenen; aber sie flackern auf, drängen nach oben, bringen sich, wie ein Wetterleuchten das Gewitter, in Erinnerung; ihnen haftet, da ihnen bisher Gestalt und Gestaltung verwehrt wurden, etwas Koboldhaftes an; sie sind „rückgestürzt in nacht“, in ein Dunkel, in dem man sie (erst noch) auffinden muß, in einen Bereich, der assoziativ etwa an Dantes Purgatorium oder an die unterweltlichen Visionen des Hieronymus van Bosch im „Garten der irdischen Lüste“ erinnert:

Schwelende sprühe um das innre licht.

Es ist das alte Bild des Geistes als Flamme, hier verwandelt in das Bild von Glut und Funken, die nur noch aus verborgenen Abgründen leuchten. Daß George die Formel für dieses „innre licht“, die Auflösung für seine Chiffre vom „reich des Geistes: abglanz / Meines reiches · hof und hain“ (Werke Band I, S. 382) nie gegeben hat, sondern sie durch das Werk selbst definiert, wobei er höchstens mit Anklängen an das Neue Testament bzw. mit Bildern mittelalterlicher Mönch- und Ritterorden arbeitet („Neugestaltet umgeboren / Wird hier jeder: ort der wiege / Heimat bleibt ein märchenklang / Durch die sendung durch den segen / Tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr…“ – Werke Band I, S. 382), macht die eigentliche Bedeutung, die Unerschöpflichkeit seines Ansinnens aus. Er hat keine Verhaltensrezepte fabriziert, keine Erkenntnisstrategien erarbeitet keine Muster zur Praxis der Enträtselung vermittelt.
Auch steht bei ihm das Unerbittliche, Zwingende dieser späten Gedrehte nicht immer im Vordergrund. Es gibt zarte, traumgleich schwebende Lyrik von George. Seine dichterische Entwicklung war vielschichtig und folgerichtig, begann mit der poésie pure Mallarmés und führte über jugendstilhafte Formen zu den großen kultisch-mythischen Zyklen des Siebenten Ringes und Stern des Bundes, um endlich in Gebilden von meditativer Gelassenheit auszuklingen. Diese kaum bekannten, selten beachteten späten Schöpfungen, „Gelegenheitsgedichte“ in einem sublimen Sinn kehren zum orphischen Ursprung des Lyrischen zurück nicht anders als etwa die Sonette und Elegien des späten Rilke, nur schlichter, reflexionsmüder, hinnahmebereiter. Groß ist die Suggestionskraft ihrer stillen Bilder, aus denen „die Dinge“ für sich sprechen:

DIE BECHER

Sieh hier den becher golds
Voll von funkelndem wein –
Jedes hat einen schlurf!

Sieh dort den becher aus holz
Mit den drei würfeln aus stein –
Jedes hat einen wurf!

Dieser lässt ohne verdruss
Wissen was zu uns steht ·
Heben vom tisch wir ihn bloss.

Jener bringt den beschluss
Den niemand vorsieht und dreht:
Wieviel Mein los wieviel Dein los.
(Werke Band I, S. 467)

Die Stille, die in diesem Gedicht liegt, ist nicht mehr die eines Tempels, von der Hofmannsthal sprach, sie ist keine kultische Stille mehr, sondern eine natürliche; keine erzwungene, sondern eine empfangene; sie ist nicht mehr Lautlosigkeit und Leere an Welt, sondern kreatürliche Belebtheit, Fülle des Daseins. Diese Fülle beschränkt sich auf weniges Wesentliche, das unbemüht zueinander tritt und Beziehungen entwickelt. Es sind verläßliche Dinge, die im Raum Gestalt werden, die dem Raum erst Gestalt geben; sie gehören zu jenem „Verweilenden“, das uns „einweiht“: Rilke wählt diese Worte in einem der (etwa zeitgleichen) Sonette an Orpheus. Diese Dinge, die verweilenden, einweihenden – in das Geheimnis der Schöpfung, in das Inbild des Daseins einweihenden – stehen ruhig dem Flüchtigen und Zufälligen des Tages entgegen:

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein

Das zweite Futur ist hier, in demselben Sonett, von Rilke meisterhaft verwendet worden. Es besagt: Die Zukunft dieses Flüchtigen und Zufälligen ist, daß es Vergangenheit wird; daß man es vergißt. Jene verläßlichen Dinge aber, die die Seele des Betrachtenden „einweihen“, die Gestalt stiften und Erkennen wecken, – Dinge schlicht wie z.B. Pokal und Würfelbecher, – Die sind, zum Zeichen ihrer Echtheit und Dauer, „ausgeruht“: „Alles ist ausgeruht / Dunkel und Helligkeit / Blume und Buch“: Natur und Kultur, so Rilke in den Schlußversen seines Sonetts, besitzen eine selbstverständliche Gelassenheit, eine Seinssicherheit, aus der heraus sie erst etwas „bedeuten“, für etwas stehen können. So auch diese beiden einander gegenübergestellten Dinge, der Pokal und der Würfelbecher, Bedeutungsträger von Lebensschichten, von Konstellationen der Seele.
Da, Gedicht entspricht diesem seinem antithetischen Inhalt formal bis ins Detail, zwei sechszeilige Versblöcke stehen sich gegenüber, im ersten Block werden die Dinge vorgestellt, im zweiten gedeutet. Jeder Versblock aber zerfällt in sich in zwei Dreizeiler, die die Antithese, auf dinglicher und auf geistiger Ebene, wiederholen. Zwei Hälften, die sich vollkommen ergänzen, bilden das Dasein ab: hier das Sinnenhafte, Konkrete, Greifbare, – Genußfreude und Vitalität; dort das Unsinnliche, Abstrakte, Ungreifbare, – Angst und Tod: Alles läuft auf die Würfel hinaus – ihre magische Zahl ist drei, ihre Beschaffenheit aus Stein. Das Unbeeinflußbare, Unvorhersehbare, die Kälte des Fatums ist damit ausgesprochen. Ihr gegenüber gibt es nur eine Haltung des Hinnehmens, ein ruhig betrachtendes Sicheinfügen, das diesen späten Gedichten Georges ihre Weisheit verleiht. Keine Absage mehr an die Zeit, keine Zuchtmeister-Haltung, nichts Kultisches, nichts Elitäres, kein Mythos. Die Dinge selbst sind mythisch, das Dasein ist es. Alles andere wird wesenlos, ist vergessen. Es gilt nicht mehr, etwas zu erreichen; es gilt nur zu sein. So erfüllt von Raum und Zeit, von der Erkenntnis, daß alles relativ sei, schließt die Lyrik Georges, in einem „Lied“, das mit den Versen anhebt:

Horch was die dumpfe erde spricht:
Du frei wie vogel oder fisch –
Worin du hängst · das weisst du nicht
.
(Werke Band I, S. 463)

 

Literaturnachweis:

– Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Düsseldorf/München 1968 (zit. wird nach Bd. I: Seitenzahl in Klammern)

– Robert Boehringer: Stefan George. München/Düsseldorf 1968

– Briefwechsel: zwischen George und Hofmannsthal. Hrsg. v. Robert Boehringer. 2. Aufl. München/Düsseldorf 1953

– Gerhard Frommel: „Stefan George. Drei Maximen über Dichtung“. In: Castrum Peregrini LXXXIX 1969, S. 6ff.

– Der George-Kreis: Hrsg. v. Georg Peter Landmann. Köln/Berlin 1965

– Theodor Haecker: „Über Humor und Satire“. In: T.H. Opucula. o.O. 1949

– Hugo v. Hofmannsthal: Gedichte von Stefan George. (1896)

– Erich v. Kahler: Stefan George. Pfullingen 1964

– Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft. Berlin 1935

– Johannes Pfeiffer: Über das Dichterische und den Dichter. Beiträge zum Verständnis deutscher Dichtung. 2. Aufl. Hamburg 1956

– Victor A. Schmitz: Den alten Göttern zu. Studien über die Wiederkehr der Griechen in Kunst und Dichtung von Winckelmann bis George. Bingen 1982

– Eugen Gottlob Winkler: Dichten, Gestalten und Probleme. Pfullingen 1956

Für wertvolle Hinweise und Beratung danke ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. W. Osthaff (Würzburg) und Herrn Prof. Dr. P. Stöcklein (Bamberg).

Klett/Cotta
– Sämtliche Werke. 18 Bände. Stuttgart 1983ff. (bish. ersch. Bd. 1, 4–7, 13/14 u. 17)
– außerdem eine Reihe von Einzeldrucken

Als besonderes Periodikum der George-Forschung sei die in Amsterdam erscheinende Zeitschrift Castrum Peregrini hervorgehoben.

Bernhard Adamy, Neue Deutsche Hefte, Heft 195, 3/1987

Aus der Distanz

Stefan George war der bedeutendste Dichter des Frühmittelalters im zwanzigsten Jahrhundert. Seine symbolbeladenen Gedichtzyklen entstanden zu einer Zeit, da man in Deutschland (zum letzten Mal) einen Kult um Verse betrieb. Das Gerücht um diesen Mann kam um die Jahrhundertwende auf, nachdem er von seinen Lehrjahren bei den französischen Symbolisten aus Paris heimgekehrt war, wo er den Heiligenschein, den Charles Baudelaire dort beim Überqueren der Boulevards im Rinnstein verlor, aufgehoben und sorgsam geborgen hatte. Als Übersetzer Baudelaires, Mallarmés und erst recht Shakespeares schuf er im Deutschen sprachliche Parallelen, die ihresgleichen suchen. Daß der Heiligenschein, den er aufpolierte, aus Blech war und jenen Ladenschildern glich, die man seinerzeit noch in einigen der Fachwerkstädte entlang des Rheins finden konnte, hat seinen Ruhm unter den altdeutsch und edel Gesinnten nur erhöht. Dem Traum vom Dandy, der aufkommenden Massenkultur, dem Amerikanismus trotzend, hat dieser rheinhessische Bauernsohn vieles geopfert, was dem urbanen Menschen lieb und teuer war. Es heißt, er habe sogar die Ananas verschmäht aus Abneigung gegen die Importökonomie eines entfesselten Globalkapitalismus. Ein Wort wie Automobil kommt bei ihm selbstverständlich nicht vor – exit Futurismus.
Ohne festen Wohnsitz führte er ein Leben rein im Dienst der Kunst – seiner radikalen Verskunst, die eine Religion war und ihre Apostel zeugte, Jünger und Verehrer bis weit über seine Generation hinaus. Augenzeugen berichten von seinem Charisma, das die Nachgeborenen nur mehr anhand der Reliquien erahnen konnten: Portraitphotos, Huldigungsschriften und die Gedichtbände, wie im Vorgriff auf die Neue Sachlichkeit gestaltet, mit einer eigenen „Stilschrift“, serifenlos, die Melchior Lechter dann zur George-Typographie ausbaute. Seine Bücher waren von hohem Wiedererkennungswert.
Unvergessen ist sein Verdienst um die Ausgrabung des verschütteten Hölderlin und die Wiederentdeckung Jean Pauls, beides Maßnahmen gegen den seinerzeit vorherrschenden Goethe-Kult. Seine Rede von „viel dicker instrumentation“ in Hinblick auf Goethes späte Gedichte aber ließe sich leicht auch auf ihn selber anwenden. Auch die Nietzsche-Kritik:

sie hätte singen
Nicht reden sollen diese neue seele!

Spätestens mit dem Aufkommen des Tonfilms und der von Radiohörern massenhaft mitgeträllerten Schlager war es mit dieser Form der lyrischen Kunstreligion vorbei. Es fällt schwer, ihn sich als Zeitgenossen von Dada und Josephine Bakers Bananentanz vorzustellen. Nur in Geheimzirkeln, in den Kreisen junger preußischer Frondeure, Anhängern eines längst untergegangenen, idealen Reiches besaß sein Name noch Glanz. Er wurde zum Losungswort derer, die etwas anderes wollten als eine alles niederwalzende kapitalistische Moderne. Sein Festhalten am Gedanken der Liebe und der Freundschaft war nie frei von einem autoritären Gestus – heute muß er befremdlich wirken. Hoch anzurechnen ist ihm der Widerstand gegen den aggressiven Nationalismus der Nazis, sein Abscheu vor jedem auftrumpfenden Militarismus. Es wird berichtet, daß er in Seitenstraßen einbog, wenn Militär im Aufmarsch war. Die Begeisterung für den Weltkrieg hat dieser edle Autokrat nie geteilt. Sein symbolischer Ritt über den Bodensee in die neutrale Schweiz, mit dem er sich den Werbungen der neuen Kulturfürsten entzog (nicht zuletzt dem Flirt des Reichspropagandaministers Goebbels), verdient Respekt. Es war, als hätte er „Gundolfs mißratenen Schüler“ (Thomas Mann) lange im voraus durchschaut. So halte ich es mit Bertolt Brecht, der 1945 im kalifornischen Arbeitsjournal in Georgescher Kleinschreibung notierte:

etwas von feudaler würde hängt um diese GEORGE, KIPLING, D’ANNUNZIO, POUND. Immerhin historische figuren, nicht gerade auf den märkten zu finden, eher in den tempeln – am rande der märkte.

Sein erster eigenständiger Gedichtband, Das Jahr der Seele, und der frühe Zyklus Algabal sind immer noch einen zweiten Blick wert. Es mag Verstocktheit sein, Ekel vor Elitarismus in der Poesie, aber die „Ergriffenheit vor dem Eigentlichen“ (wie seine Gefolgsleute das nannten) war mir leider nie möglich. Georges hohepriesterlicher Ton hat mich abgestoßen, wo immer er mir in Gedichten begegnete. Erst aus der Distanz war da etwas, das mich mit einem Gefühl für die Verluste an poetischer power seither manches Mal aufhorchen ließ.

Durs Grünbein, aus Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Suhrkamp Verlag, 2019

Leuchtkasten Bingen

– Stefan George Update. –

Man hatte mir eine thönerne maske gegeben
und an meiner zimmerwand aufgehängt.
Ich lud meine freunde ein damit sie sähen
wie ich den kopf zum reden brächte.

George: „der redende kopf“

den sprechern volksliedsprechern
fallen fallen, gerottweilertes nebst
fallerhäuschen aus den mündern.

Kling: „mittel rhein“

 

Oberflächenfunde.
Notgrabungen.
Stichhaltige Gedichte.
Über der Oberfläche, überm römischen Bodenmosaik, rheinhessische Lichtregie. Provinzrömische Funde in Bingen und im Hinterland. Traubenlicht Bingen, die Lichttraube über dem Bingerwald, Schinderhannes-Wald, drüben, über der Nahemündung. Haß gab’s immer, hier in der Frankreich zugewendeten Gegend. Die Kreuznacher (Georges Mutter kam aus der Umgebung) waren für die Binger die „Totschläger“; alle Örter haben früher, die Nachbarclans herabsetzend, spitze Namen, Fremdkörper-Benennungen, füreinander gehabt. 1866 haben die beiden Flußseiten, haben Gleichnamige, Bingen und Bingerbrück, zuletzt aufeinander geschossen. 1868, zweieinhalb Jahre vor der Frankreich (nach verlorenem Krieg noch einmal, also doppelt) demütigenden Proklamation des deutschen Kaisers in Versailles, ist Stefan George geboren. Hier; hier kommt, aus Bingen via Paris, mit unausweichlichem Blick auf die jenseitige Germania, die kleinschreibung her.

qualen und verzückungen sind die scheinbar so stillen wanderungen durch büsche und reben und oft sehe ich erstaunt auf wie es möglich sei dass in dieser reichen gefälligen landschaft die verzweiflung reife.

So, in einer Prosa, beschreibt George pfingsten. Ein pfingsten allerdings, an dem keine euphorischen Flämmchen aus den Köpfen schießen, kein apostolischer Sprachausbruch des „Alle-verstehen-plötzlich-Alle“ geschieht. Im Gegenteil:

Wie nach einem begräbnis kehre ich zu dem verödeten hause und sehe auf den bergen den lezten rauch des scheiterhaufens vom tag der noch mit seinem ganzen leben in mir brennt. Öde sind alle wege und gärten • blutstropfen aber wurden die mohnblumen am rain.

Auf einem dieser Berge, steile Hügelzüge eigentlich des Rheingaus, steht das Niederwalddenkmal, die bewaffnete Germania, nach Frankreich ausgerichtet. Ein Ziel, ein Ausflugsziel. Daß der Hohenzollernkaiser bei der Einweihung, während des Festakts von, ich glaube, Elberfelder Anarchisten in den achtziger Jahren in die Luft gesprengt werden sollte, weiß keiner mehr; ich habe das in „rheingau und ohr“ thematisiert. Bei George kommt das Preußenmonument, kommt die Germania nicht vor, ist ausgeblendet. Seinen Hohenzollernhaß, Preußenhaß spricht George einmal, gedichthalber, in der Materialsymbolik „kalk, rötel, teer“ aus, die der Leser in Farbsymbolik, in die Farben der Preußenfahne übersetzen muß.
In „pfingsten“, in dem auch der für George charakteristische Mittel-Punkt (siehe S. 87) auftaucht, ist sein Privat-Graphem, sein polyvalentes Atem-Zeichen, hier sprunghaft – zum Gedicht hin – eingesetzt. Im autobiographisch lesbaren Georgetext, der bei depressiv gestimmtem Grundton eine rheinhessische Abendstimmung recht genau wiedergibt, ist „pfingsten“ auch ein Abschiedstext (von Ida Coblenz, die den erfolgreichen Konkurrenten Richard Dehmel heiraten wird?), heißt es in überraschendem Realismus: „Für den abschied aber fehlt mir die kraft“, heißt das letzte Wort in aller symbolistischen Konsequenz „nacht“. Die ganze Unerbittlichkeit Georges, das ausgesucht Eis-Heilige, das seine Gedichte, ab einem bestimmten Zeitpunkt ohnehin, verströmen, ist gut zu erkennen, macht sich deutlich bemerkbar, denn:

die schönheit fordert wie alle grossen begriffe ihre opfer.

Da steht es – Georges Programm; zu dem nicht zuletzt das der Jünger-Auswechselung (Opferproduktion) gehörte – der Künstler der Moderne als hart kalkulierender Personalpolitiker.

Die Preußen haben Mitte des 19. Jahrhunderts die Klippen gesprengt bei den Stromschnellen, den Rhein schneller gemacht, effizienter. Preußens haben nicht allein die Flußschiffahrt maximiert. Die Weltkriegsdenkmäler in den eingemeindeten Dörfern scheinen voller hier als anderswo.

Die zweite Maske öffnet sich. Bingen hundert Jahre nach Stefan George. Bingen in anderen 60ern.
Der französische Einfluß, gerade noch bei den Vornamen spürbar, zumindest in der Aussprache: ein alter Hans wurde vor dreißig Jahren noch, rheinhessisch nasal und mit weichem D-Laut ganz zu Anfang, Jean gerufen. Man erinnere sich, daß der junge George sich, brieflich, Etienne genannt hat.
Der Rhein in Flammen! Die Winzerfeste im Herbst sind die Daten zum kollektiven Ausflipp. Alles hier hat mit dem Trinken, mit dem Wein und seiner Erzeugung, mit Scharlachberg Meisterbrand zu tun. Die Weinberge sagen großbuchstabig ihre schönen bis abenteuerlich absurden Namen. Namen, wie „Gasthof zur Traube“, wo George aufgewachsen ist. Auf den Winzerfestgläschen, null-eins Inhalt, prangt in goldenem Aufdruck die Traube, dazu der Animier-Zweizeiler:

Rheinhessen-Reben – vergolden dein Leben.

Nicht schlecht getextet!

George sprach immer von Bingen, er meinte die Gegend wirklich.
Georges Glück ist gewesen, daß er als junger Mann in Paris die französische Szene und deren Ansprüche kennengelernt hat. Auch den Stil. Die Möglichkeit der Selbstinszenierung, die anhand zahl  reicher durchinszenierter Porträtfotos augenfällig ist. Dem kurzarmigen Wilhelm II. mit seinen exzessiven Verkleidungslüsten ist George darin näher, als ihm lieb gewesen sein dürfte.
George sprach immer von Bingen, nie sprach er von Büdingen, meinte die Gegend wirklich – wie ich die Gegend meine, von Bingen spreche, meinem Geburtsort und nicht von Gaulsheim – „nach zehn uhr wird nur mehr gebabbelt!“ (George).
George sprach Binger Dialekt. Wobei das nur mehr als ein Wiener Mitbringsel angesehen werden könnte, sozusagen ein Import von von Hofmannsthal. Das um so gezierter, oder sagen wir, bedeutungsvoller klingt, wenn sogleich das „babbeln“, das rheinhessische „labern“, folgt. George sprach den Binger Dialekt. Von Haus aus. Ich glich mich, war ich in Bingen bei der Patentante, sprachlich, um nicht aufzufallen, an. Genau, wie ich dann ein Wienerisch später annahm. In Bingen ging ich als Bingä Bub ziemlich gut durch.

Die Patentante, Tante Maria, besaß in Bingen Bindestrich Gaulsheim eine Gärtnerei. Sie war in den 20er Jahren aus dem Allgäu, wo es nichts zu verdienen gab, zugewandert und hatte gegenüber in Rüdesheim bei der Familie Rothschild gekocht. Sie war am Rhein eigentlich fremd und sang, knieten wir nebeneinander und jäteten, als working songs traurige Lieder aus dem ihr wirklichen Gebirge. Ihr Mann, den sie bei Rothschilds kennengelernt hatte, wo er als Gärtnerbursche tätig gewesen war, hatte bei tiefstehendem Gegenlicht einen tödlichen Motorradunfall gehabt. Das war der Rot-Karl gewesen, jemand mit roten Haaren, der als Schwarzweißfoto da und dort in ihrem Haus anwesend war. Um Pfingsten blühten die Pfingstrosen und der Mohn (Klatschmohn) mit seinen prekären Blüten, den unberührbaren Blütenblättern aus Seide und Gummi, stand rot.

George ist konzeptmäßig, durchüberlegt vorgegangen.
Er hielt sich Spezialisten, gerne Philologen, welche die Rezeptionsmaschinerie in seinem Sinn in Gang hielten. Das Medien  Phänomen G. – die Öffentlichkeitsscheu einer späten Dietrich war von Beginn an sein Konzept: von Scheu kann also nicht eigentlich gesprochen werden – beschäftigt auch Benn in seiner 1934 gehaltenen (halboffiziös-hochgestimmten) Rede auf Stefan George („aus der Georgerede habe ich die politisch überflüssigen Stellen entfernt“, Benn an Oelze 1950). Dieser ausführlichen philologischen Würdigung entnehmen wir neben dem Hinweis auf die „starke Betonung des Visuellen und Ornamentalen“ im Werk des im Vorjahr im Exil Gestorbenen, die Diagnose der georgeschen Wirkmächtigkeit:

Mir scheint seit je dieser Einbruch Georges in die deutsche Wissenschaft eines der rätselhaftesten Phänomene der europäischen Geistesgeschichte zu sein.

Medienkontrolle: der Dichter hielt sich den grandiosen Design-Spezialisten Melchior Lechter, der für ihn, nach englischen Jugendstil-Vorbildern, die St.-G.-Schrift entwarf. Medienkontrolle: dazu gehört das systematische Abdruckverbot in Printmedien, die ihm (und mithin seiner Szene) profan vorkamen. Das Angebot an George-Gedichten wurde superknapp gehalten, was naturgemäß den weithin bemunkelten Ruhm nur noch ansteigen ließ und Publikum und Kritik stark polarisierte. So durfte auch im Reclam-Band Moderne Lyrik von Hans Benzmann (selber Dichter) kurz nach der letzten Jahrhundertwende, nichts vom Meister abgedruckt werden. Zähneknirschend zitiert der Herausgeber Georges „ganz formalistisch(e)“ Kunst im Vorwort des Bandes von, sagen wir, hartungscher Voluminosität; es erscheinen „Verse, die genau in der Schreibweise des Dichters wiedergegeben werden“, darunter befindet sich das Hochsommergedicht „Juli-Schwermut“, eine masochistische Feier emotionaler Verdurstung, des voyeuristischen Blicks, der „nackten schnittern“ gilt, eine zeitlupenhafte Inaugenscheinnahme der ebenen Landschaft bei Bingen; ein hocherhitzter Memoria-Apparat, mit zahlreichen Vanitas-Aspekten, dieser Text („Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur“), in dem auch die (Klatsch-)Mohn-Blut-Assoziation nicht fehlt („Durch schwachen schutz der halme-schatten / Des mohnes blätter: breite tropfen blut.“); Bingen als: Mohn und Gedächtnis!
„Juli-Schwermut“ ist das erste George-Gedicht gewesen, das ich gelesen haben; es kam mir hitzestaubig vor, dursterzeugend, „sesam fremd“. Als ich es vor einiger Zeit wieder in die Hand bekam, entdeckte ich noch klangerzeugende Tiere, die ich bisher völlig übersehen hatte:

Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied

Wo sitzen diese Wespen drauf, daß sie geschaukelt werden können? Was untersuchen sie gerade, als der junge George sie beobachtet? Ja, Rheinhessen und Bingen ist eine Wespengegend, weil es sich um eine Obstgegend handelt. Birnen in den langgestreckten Gärten („stolzen gärten“), hinter den Häusern, zur Eisenbahnlinie hin. Plantagen von Schattenmorellen. In diesen Birnen können sie sitzen, in den selbstgefressenen Obstruinen, die sie gern zu mehreren durchkraxeln. Ihre Fühler zittern dann vor Gier, tasten, arbeiten überm Fruchtfleisch. Läßt man sie zufrieden, sind sie nie stechbereit. Ist der (unsichtbare) Stachel eine Feder eigentlich, oder ein Griffel? Ist das Birnbaumlaub ein Schattengeber? Oder das gutschützende Blattwerk der Schattenmorellen, in dem einmal der Pirol sichtbar wurde? War das nicht ein Frühjahr und war da nicht wenig Grün in den Kirschbäumen, als der gelbe Vogel zu sehen war? Ist das alles Kitsch oder Verklärung oder aus Verklärung resultierender Kitsch oder gibt es den Blick auf solche Oberflächenfunde, aus denen Text gemacht werden kann, die zur Gedichtgrundlage gehören können, nicht mehr?
Oberflächenfunde (aus der Erinnerung), Exkursion (frühe 9oer) und neue Oberflächenfunde; „mittel rhein“; Gedichtzyklus entsteht – stichhaltige Gedichte.
Im Feld, geduckt, liegend, in den Getreidefeldern („durch schwachen schutz der halme-schatten“) hinter den Siedlungen, die dann zum Hinterland hin ausgebaut werden, das Verschwinden des Mohns; einsame Kindheiten in der Windstille, im Windschatten, in der Windbewegung einer sensationsarmen Provinz, Stichwort schwacher schutz. Die Mücken sirren, greifen an, saugen, die aggressiven Schnaken aus den Rheinauen, halten das Kind wach, stechen das Kind, zerstechen es, saugen in der heißen unterm Dach gestauten Zimmerluft an Sommerabenden, an denen es noch hell ist, schummrig lange, zwielichtig hier drin. Die Eisenbahnen rauschen vorbei, hinten, der Luftzug reißt an den Wicken, die in den Zaun sich eingehäkelt haben; der Eisenbahnzug entfernt sich. Die Schnaken sind zu hören, dann habe ich immer wieder gehört, geheäd (bing.), während das Westlicht hinter den Bergen dünner wurde und immer dünner.
Der Ortsname Bingen hat, wie Speyer oder Worms, jüdische Familiennamen geliefert, Bing, Schapiro, Wormser: so alt waren die jüdischen Gemeinden in den Städten am Mittelrhein.
Das Rochusfest zu Bingen? Goethe hat diesen großartigen Ethno-Alkoholismus-Text über das Rochusfest geschrieben, als er als Ober-Promi sich durch das Rheinland reichen ließ. Hatte Interviews mit den Fischern gemacht, sich des einfachen Volks erfreut, wo morgens schon auf den Restalkohol ungehemmt draufgeschüttet werden durfte. Mir wurde bei der Messe schlecht, den Weihrauch war ich nicht gewöhnt, ich wurde rausgebracht, aus der großen, überfüllten Rochuskapelle, an die frische Luft, die Tante flößte mir Klosterfrau Melissengeist ein, und der Erich, der draußen geblieben war, schimpfte auf die Kirche mit ihrem Scheiß  Weihrauch, der mich umgehauen hatte. Ich war nach vorne gerutscht, auf Knien, immer näher in die Sauerstoffarmut, um alles besser sehen zu können. Mich hat das Ritual einfach fasziniert, völlig bezaubert, immer total fasziniert. In Bingen, Pfingsten, sommers, im Herbst und in Ascona konnte ich, im profanen, hochdeutschsprechenden Düsseldorf wohnend, mit der kahlen ungern zu Gottesdienstzwecken besuchten evangelischen Kirche (wo der Chorgesang allerdings besser war), den Katholizismus blendend erleben.
George haßte die Straße, haßte auch in der Sprache alles Barocke. Das formal Durchgestylte hielt ihn und seinen Kreis zusammen.
Die Gass’. In der Nachbarschaft der Brömserstraße gab es eine Familie Mazza (die Mutter von Joseph von Görres hieß so), die zu Mussolinis Zeiten aus Norditalien eingewandert war, um in der Holzfirma zu arbeiten, dem Hauptarbeitgeber des Dorfes. Die Sirene teilte den Tag ein. Zur vierten Generation gehörte ein Mädchen, das mit mir das Engelchen-Teufelchen-Spiel spielte, bei dem Wetten über das farbliche Innenleben von abgerissenen frischen Mohnkapseln abgeschlossenen wurden, die prall, hell-borstig vor dem Aufblühen standen. „Engelchen“, die weiße, fast durchsichtige Farbe, gewann, das tiefe höllische Rot des „Teufelchens“ verlor: Das zog ich meist, während G., als ewiges Engelchen, sich diabolisch, nicht über ihr Gewinnen, sondern über mich, den Verlierer, freute. Ihre Großmutter betrieb im Haus in einem Zimmer, bei dem die Fensterläden immer geschlossen blieben, einen Kurzwarenhandel. Nach Farben geordnete Garnspulen, ein Alphabet matt glänzender Röllchen in Holzregalen, die viele Schubladen enthielt, für Damenstrümpfe, ich wußte nicht, für was alles. G.’s Großvater, Herr Mazza, Typ Latinlover, mit einem Menjoubärtchen, galt als Künstler, also als Tunichtgut, war ein prima Unterhalter und hatte eine Zwergenlandschaft mit Schneewittchenschloß als Zentrum in den Garten gebaut. Die war immer in Arbeit, wurde nie fertig, ein work in progress. Das unauffällig-geheime und witzig-augenzwinkernd vorgezeigte Kernstück, das neben allen auf den Zementzinnen angelnden Zwergen über dem Schloßtor einzementierte Wappen, war das „Bonbon“ älterer Tage: „Mein Parteiabzeichen!“ Eben das der NSDAP, darüber thronte die Schneewittchenfigur, liebevoll bemalt, mit schwarzem Haar, alles Gips, ich konnt’s nicht fassen, bei uns zu Hause wehte ein anderer Wind.
Das waren die gespaltenen Masken der (inneren) Landschaften von Bingen. Teilansichten dieser sprachlos-sprachvollen Masken. Das Ich in Georges Maskenkopf geht autoritär vor, es versucht „mit dem finger seine lippen zu spalten“. Wieder holt es seine „befehl“:

Da nannt er den namen. Wir verliessen entsezt das zimmer und ich wusste dass ich es nie mehr betreten würde.

Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001

Stefan George, Schülerbibliothek

In der Schülerbibliothek, wo ich mir oft die Pausen um die Ohren geschlagen habe, las ich in seltsamer Schrift den Autorennamen; und es stand, ebenfalls auf dem Bücherrücken: „I love Ringo“, das grüngedruckte „Ring“ war mit blauem Kugelschreiber aktualisiert (Kuli war uns Schülern streng verboten!). Den Siebenten Ring (1907) habe ich an mich genommen, geklaut, angelesen, war befremdet, fand – damals wie heute – Trakl ungleich moderner, als Dichter und Dichtertyp, und kann bis heute nicht die zwanzig George-Gedichte finden, die Franz Blei (bei aller Kritik an der menschenverachtenden Figur und seiner zum allergrößten Teil höchst widerlichen Jüngerschaft, seinem „Kreis“) als „unsterblich“ erachtete.

Hier also gibt es kein Lieblingsbuch anzupreisen. Nichtsdestotrotz ist mir Stefan George (1868–1933), der im Sommer nach der Hitlerwahl Bingen verließ, auf keine Avancen der neuen Herrscher Deutschlands einging und im Tessin starb, ungleich – lieber kann ich nicht sagen: interessanter – als Rainer Maria Rilke. Schon gar nicht zur Debatte steht für mich Hugo „Chandos“ von Hofmannsthals näselnde Nervenkunst (ein Begriff Soergels), dessen dünn-aristokratisches Schwammerlsüppchen anderen munden mag.

Kein Lieblingsbuch. Keine zwanzig Lieblingsgedichte.Was dann? Der Deutschlehrer, der den „totgesagten park“ (1897), den einzigen George-Evergreen, hektographiert dem Kurs zuführte und den letzten Vers „Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“ zu „herbstlichen gedicht“ verfälscht hatte, bekam das von mir selbstverständlich aufs Butterbrot geschmiert. Ich schrieb zu der Zeit schon, natürlich Gedichte, und eine Selbstverständlichkeit war es für mich, bei kleinsten Sinneinheiten alarmiert zu sein: Ich schulte mich an den Arche-Bändchen der Klassiker der Moderne (Schwitters, Hardekopf, Arp), für die ich bei den jährlichen Osterurlauben in Ascona mein Ferientaschengeld ausgab.

In den Blättern für die Kunst, der Gralsburg des George-Kreises, die seit Beginn der 90er Jahre in elitär-kleiner Auflage erschien (woanders zu publizieren wäre DEM MEISTER nie und nimmer in den Sinn gekommen, was mit zu seiner Etikettierung als „Kunstegoist“ beitrug – das wird dem Berufssolipsist gut gepaßt haben) findet sich sein programmatischer Text „über dichtung“, 1894 formuliert. Gleich als Einstieg wird apodiktisch gefordert:

In der dichtung – wie in aller kunst-betätigung – ist jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ,sagen‘ etwas ,wirken‘ zu wollen nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten.

Da ist Stefan George ganz Schüler Mallarmés, dem er die Konzentration auf das Sprachmaterial verdankt. Auch die Forderung nach größtmöglicher Komprimierung im Text, der nur sich selbst verantworten und bedeuten soll, ist artistisch im Sinne Mallarmés:

die kürze – rein ellenmäßig – die kürze.

Das ist auch für das zeitgenössische Gedicht von Belang, das kann ich unterschreiben. Unterschreiben – was die Hervorbringungen des Mainstream anbelangt – kann ich im übrigen auch den George-Satz: „Wir wollen keine erfindungen von geschichten…“; dies einigen Herrschaften des gegenwärtigen Literatursystems ins Stammbuch, verbunden und zusammengeklatscht mit den besten Grüßen Goethes:

Getretener Quark wird breit nicht stark!

Noch im Ring hat sich der knapp Vierzigjährige seiner Anfänge in Frankreich in der Rue du Rome entsonnen:

Und für sein denkbild blutend: MALLARMÉ.

Das sind sie, die Verszeilen, die eminent geglückten Kombinationen, das außerordentliche Sprachgefühl, das hin und wieder elektrisieren kann; die minimalen Schwankungen, kaum merklichen Brechungen im ansonsten fast automatenhaft skandierenden Rhythmus, in denen George seinem eigenen Gesetz des „strengsten maasses“ untreu wird.

Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001
Erstveröffentlichung unter dem Titel „Der Teppich des Lebens“ in: Weltwoche Supplement Nr. 1/1996

 

 

EINEM, DER VORÜBERGEHT.
Herrn Stefan George

du hast mich an dinge gemahnet
die heimlich in mir sind
du warst für die saiten der seele
der nächtige flüsternde wind

und wie das rätselhafte
das rufen der athmenden nacht
wenn draussen die wolken gleiten
und man aus dem traum erwacht

zu weicher blauer weite
die enge nähe schwillt
durch pappeln vor dem monde
ein leises zittern quillt

Wien, im dezember 1891.

Hugo von Hofmannsthal

AN STEFAN GEORGE 

Wenn ich, wie Du, mich nie den Märkten menge
Und leiser Einsamkeiten Segen suche,
Ich werde nie mich neigen vor der Strenge
Der bleichen Bilder in dem tiefen Buche.

Sie sind erstarrt in ihren Dämmernischen
Und ihre Stirnen schweigen Deinen Schwüren,
Nur wenn des Weihrauchs Wellen sie verwischen
Scheint ihrer Lippen Lichte sich zu rühren. 

Doch, daß die Seele dann dem Offenbaren
Die Arme breitet, wird ihr Lächeln lähmen;
Sie werden wieder die sie immer waren:
Kalt wachsen ihre alabasterklaren
Gestalten aus der scheuen Arme Schämen. 

29. November 97

Rainer Maria Rilke

 

GEORGE AUF DEM BODENSEE

An dieser Stelle, wo die Wolken über-
setzen, atme ich, inhaliere Schilf.
Konstanz. Die Schiffe zittern

und ein Störton zerreißt die Luft.
Der Junge, zwischen Bug und Reling
lächelt ein Mädchen an. Wie kam ich

zuletzt hierher? Liegt Heidelberg
in Schutt und Asche; wo ist der Kreis
der Unerhörten, orphischer Sänger?

Gerodete Parks, und im Garten
rosten boshafte Blumen. Ein magerer Hund
bellt die Gitter an. Der See

sinkt, kippt. Ein Trugbild? Tanz der Bojen.
Ich sehe graue grüne Stare.
Das Königreich der Mörderbienen

wird triumphieren. Nicht länger bleibe ich
hier. Dass man mich in einem Schattensaal
kröne, mit Lorbeer und Turf. Die Freie

Schweiz – das Ufer, wo die Fahne aufhört
näher. Ich atme an der Wasserscheide
spucke, inhaliere Spinnenbeine, Schleim.

Tom Schulz

 

Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze

Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.

 

Helmut Heißenbüttel: Über Stefan George, Merkur, Heft 697, Mai 2007

Norbert Hummelt: Minusio, Muzot

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram +
Archiv 1 & 2Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

Zum 25. Todestag des Autors:

Friedrich Podszus: Stefan George Heute
Merkur, Heft 130, Dezember 1958

Zum 150. Geburtstag des Autors:

Norbert Hummelt: Im Bannkreis der Sphinx
Der Tagesspiegel, 12.7.2018

Matthias Heine: Vergesst sein Getue! Lest Stefan Georges Gedichte!
Die Welt, 12.7.2018

Jens Bisky: Der Dichter als Verbrecher
Süddeutsche Zeitung, 12.7.2018

Manfred Orlick: Das Ideal einer absoluten Kunst und sein Verkünder
literaturkritik.de, August 2018

Heribert Vogt: Literaturwissenschaftler legt eine neue Biographie vor
Rhein-Neckar-Zeitung, 12.7.2018

Wolf Scheller: Dichter Stefan George: Der umstrittene Charismatiker
Der Standart, 12.7.2018

Christian Lindner: Vor 150 Jahren geboren. Der Dichter Stefan George
DLF, 12.7.2018

Ralf Rättig: Stefan George – Das geheime Deutschland
3sat, 7.7.2018

 

 

Stefan George – Das geheime Deutschland von Ralf Rättig.

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Facebook + Archiv
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Thomasböhme“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Thomas Böhme

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