Stefan Wieczorek: Zu Peter Huchels Gedicht „Südliche Insel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Südliche Insel“ aus Peter Huchel: Gesammelte Werke Band II. –

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Südliche Insel
Für Walter Jens

Felsrunde Insel,
Schildkröteninsel,
Vulkanisch atmet der rissige Stein,
Wo unter den Quellen
Die Erde ihr düsteres Feuer schürt.

Agaven heben die Lanzen,
Drücken den Essigschwamm
An den dürstenden Mund des Himmels.

Öde Piazza.
Der Mittag schlägt
Mit dem Zirkel der Sonne
Den heißen Kreis.
Auf flachem Dach,
Der Tenne des Regens,
Dörren Feige und Traube.
Die Zisternen sind leer.
Wann ankert das schwarze Wasserschiff?

Durch die dämmernde Brandung
Stemmen Fischer ihr Boot.
Glasig,
Zwischen den Steinen,
Des Meeres Meduse.
Es glänzt, armer Zyklop,
Dein ausgepfähltes Aug.
Du siehst nicht mehr
Das Schwanken der Lampe
Unter dem Karren,
Den Pflugbaum
Aus flimmernden Sternen,
Der über der Insel steht.

Lektüren

Kunst wird nun aber nicht geboren, sie wächst auch nicht. Kunst wird komponiert, was auf deutsch heißt: sie wird zusammengestellt.
(Herwarth Walden)

Meine Worte überraschen mich selbst, und lehren mich mein Denken.
(Maurice Merleau-Ponty)

Die Wirklichkeit der Poesie (Dichtung als Erkenntnisform)
Drei Begriffe wurden in der „Perspektive“ dieser Arbeit als Orientierung angeboten: Natur, Geschichte, Existenz. Keinesfalls dürfen sie als Vorgaben mißverstanden werden, an denen die Gedichte ausgerichtet, denen die Metaphern dienstbar gemacht werden. Vielmehr ist dieses begriffliche Terzett selbst schon Resultat der Auseinandersetzung mit den Texten, der stetigen Bemühung um Annäherung1 In diesem Sinne ist es nicht beliebig, sondern wohlbegründet; das Terzett markiert einen Netzknoten im semantischen Gespinst beider Werke, intra- und intertextuell, ermöglicht also relationales Denken.
Eine gewisse Vorklärung der Begriffe ist dennoch unverzichtbar, um Mißverständnisse zu vermeiden: Zwei der Begriffe, Geschichte und Existenz suggerieren möglicherweise, daß sie konträr zueinander stehen, eine Achse definieren, auf der Tropen, Verse, Gedichte, ja vielleicht sogar ein ganzes Werk lokalisierbar wären. Existenz und Geschichte wären dann Alternativen. Im nächsten Schritt hätte man eine Polarisierung zwischen dem politischen, geschichtszugewandten Dichter/Gedicht und dem innerlich-eskapistischen Gedicht/Dichter. Beide hier behandelten Werke zeigen, daß diese Polarisierung ein Trugschluß der Rezeption ist, da geschichtliche und existentielle Erfahrung in ihnen zusammengehen. Ein Unterfangen, den einen als existentiellen oder den anderen als politischen Dichter herauszuarbeiten, wäre, wie sich zeigen wird, illusorisch.
Existenz markiert hier „jenen innersten Kern im Menschen, der auch dann noch unberührt übrig bleibt, ja dann überhaupt erst richtig erfahren wird, wenn alles, was der Mensch in dieser Welt besitzen und an das er zugleich sein Herz hängen kann, ihm verlorengeht oder sich als trügerisch erweist“.2 In dieser Umschreibung ist Existenz aber schon kein Zustand an und für sich als conditio sine qua non, sondern das Produkt geschichtlicher Erfahrung. Existenz wäre dann also kein Gegenpart zur Geschichte, sondern ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte: zuallererst eine Verlusterfahrung.
Bei dem Begriff der Natur(lyrik) darf man sich fragen, wie viele Paradigmenwechsel eine thematische Gattungsbezeichnung eigentlich aushalten kann, ohne zum Schluß nur noch sinnbildlich für die Problematik ihrer eigenen Konstituierung zu stehen. Eine Definition des Lemmas, bezogen auf real erfahrbare Natur, klingt entlarvend einfach:

Naturlyrik, ist themat. entweder auf Natur als Grundlage und allgem. Daseinsraum des Menschen oder auf einzelne Naturerscheinungen und ,Dinge‘ bezogen.3

In dem Gedicht „Blühen“ von. Karl Krolow lautet eine Strophe:

Die Natur ist älter
als Rousseau –
Unschuld der
sichtbaren Vergnügungen
.4

Auch älter als Petrarca? Und älter als…? Schon mit der Benennung der Natur als Natur erfolgt durch die symbolische Repräsentation der Schritt in die Kultur, hat die „Unschuld der / sichtbaren Vergnügungen“ ein Ende gefunden. Natur konstituiert sich im Sehen, vermittelt durch die kulturelle Vorstellung von Natur – „[…] im Natur-Begriff steckt stets gesellschaftliche Substanz. Er ist das Korrelat des jeweiligen geschichtlichen Bewußtseins von ,Gesellschaft‘.“5 Mehr noch: Die Referenz des Naturbilds der modernen Lyrik ist nicht nur der gesellschaftliche Natur-Begriff, sondern vielmehr das Naturbild in der eigenen Dichtungsgeschichte: Natur ist in der modernen Lyrik ein poetologisches Konzept (und zugleich die Distanzierung davon.)6 Damit läßt sich der kleine Kreis der einführenden Begriffsbetrachtung schließen, denn

[i]st die dort angesprochene Natur wirklich ,Natur‘? Oder handelt es sich nicht um Metaphern, also um etwas höchst Reflektiertes, das auf Nicht-Natürliches verweist, etwa auf kritische Bedingungen und Gegebenheiten in der Existenz des sprechenden Ichs?7

Weder Erich Arendt noch Peter Huchel haben ein poetologisches Programm aufgestellt, das etwa die Prägnanz der Meridian-Rede Celans hätte. Allerdings haben sie sich, seit dem Spätwerk durchaus regelmäßig, zu ihrem poetischen Anliegen geäußert.

Erich Arendt:

Überhaupt ist die Frage, für was engagiert sich das Gedicht, mit dem Schreiben des Gedichts selbst gegeben. Das engagiert sich für das eigene Ich. Für das Hinstellen der Vergänglichkeit, ihr Erhellen durch das Wort. Oder für das Umsonst der Geschichte, für eine gründliche, grundlegende Erkenntnis also. Für das Wissen um die Todesbeschlossenheit von Mensch und Erde, ihr Vernutztsein, für das ,Fragliche‘ im politischen Tun. Für ein Philosophisches. Das Klarstellen von Grundsituationen. In einem wesentlichen Gedicht gibt es für mich kein Nichtengagiertsein. Jedes Deutlichmachen – das will ja das Gedicht – ist Engagiertsein. Obwohl der Schreibende auf ein Engagieren für etwas nicht zielt, sondern einzig darstellt. Einzig in der Anstrengung des Wortes steht.8 (1976)

Das Gedicht ist eine Art Geschichtsschreibung, die „gegen die offizielle Geschichtsschreibung [steht, S. W.], es ist eine Geschichte nur für den Menschen, das Gedicht, für das Menschliche, daß dieses erkennbar wird als das eigentlich Wesentliche für den Menschen. Sagen wir mal, sehr prononciert ausgesprochen, steht Kunst gegen die Geschichte.9

Peter Huchel:

Lyrik bringt nicht nur Gefühl, sondern auch Weltsituation zum Ausdruck, die zwar immer da sind, doch durch den Dichter zum erstenmal an den Tag gebracht werden. Gute Gedichte bestehen für sich wie ein Stein oder ein Baum oder ein Stern.10

Die Natur bleibt geheimnisvoll. Wir können in die Transzendenz, in jede visionäre Landschaft vorstoßen. Und die Dichtung? […] Jeder der schreibt, weiß, daß die Dichtung ihre eigene Dimension hat. Und ihre eigenen Erkenntnisse. Aber jeder, der schreibt, weiß auch, wie schwer es ist, dem Schweigen ein Wort abzuringen […] Heute naht mit jedem Gedanken der innere Widersacher: reicht die Sprache noch aus, das Sein der Dinge zu erklären? Man betreibt weiter sein kleines Geschäft, wartet, bis sich etwas niederschlägt, ein paar Wörter, ein Vokalklang, eine Metapher vielleicht, gewissermaßen ein paar Eisenspäne, die noch außerhalb des magnetischen Feldes liegen. Im späteren Prozeß erhellt sich das Bild, es wird zum Gleichnis, das heißt, der Magnet strukturiert die Eisenspäne […] Ob ein einziger Genieblitz genügt, aus dem Universum die himmlische Algebra auf die Erde zu bringen, wage ich zu bezweifeln. Aber vergessen dürfen wir sie nie, es ginge die Rechnung der Machthaber sonst zu glatt auf.11 (1974)

Pragmatisierung und Entpragmatisierung der Lyrik zugleich kennzeichnet augenscheinlich die Position beider Autoren. Zum einen wird von beiden darauf hingewiesen, daß Lyrik autonom sei, für sich bestehe und daß der Schreibende nur in der Anstrengung des Wortes stehe. Gerade dadurch ergibt sich aber zum anderen eine Pragmatisierung, eine Funktionszuweisung an das eigene Schaffen: Kunst wendet sich gegen die offizielle Geschichtsschreibung (Arendt) beziehungsweise gegen die Machthaber (Huchel). Damit stellt sich Huchel in dieser Selbstaussage durchaus in die Tradition Brechts:

Aber die Herrschenden
saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich
.12

Auf Arendts Nähe zu theoretischen Äußerungen von Benn über die Radikalität der Kunst wurde wiederholt hingewiesen.13 Der Dichter/das Gedicht ist das Sprachrohr dieses Widerstands, er bringt Weltsituation an den Tag. Möglich wird das durch ein spezifisches Erkenntnisvermögen der Dichtung. Hier verschieben sich dann allerdings die Akzente: Bei Arendt resultiert die Erkenntnis aus der Anstrengung des Wortes, aus der Gestaltung, die Erkenntnis entspringt aus der Spracharbeit, die etwas deutlichmachen, klarstellen will. Bei Huchel wird das Bild zum Gleichnis. Dem arendtschen „Klarstellen“ steht bei ihm das „Geheimnis“ gegenüber.
Das Verhältnis des Gedichts zur Geschichte ist eigen, es ist seiner Daten eingedenk, behauptet sich aber zugleich als Eigenes vor der politischen Geschichtsschreibung.

So sind Gedichte Augenblicke, in denen sich die Welt, die Zeit, das Ich sammeln. Erfahrung schlägt in ihnen die Augen auf. Das Gedicht zeigt uns am meisten von allen Dichtungsgattungen die Innenseite zur Außenseite der Geschichte.14

Doch worin manifestiert sich im Gedicht das Geschichtsbewußtsein des lyrischen Sprechens?
Auf den ersten Blick wohl im Thema. Allerdings ist dies ein für die moderne Poesie etwas fragwürdiger Begriff, da er eng mit der Vorstellung von Repräsentation einer außerliterarischen Realität verbunden ist – „Den Inhalt eines Gedichtes kann man nicht erzählen – es sei denn, das Gedicht ist schlecht.“15 Die „Innenseite zur Außenseite der Geschichte“, die durch die kommunikative Grundstruktur jedem Gedicht eingeschrieben ist, kann zwar noch stets im Gelegenheitsgedicht, motiviert durch ein (historisch-politisches) Ereignis, erschlossen werden, genauso kann sie aber abgewandt von der Außenseite der Geschichte liegen, und die Wirklichkeit der Dichtung kann auf eine existentielle Situation zuhalten. Zudem ist das Thema der modernen Dichtung zu einem beträchtlichen Teil die Dichtung selbst.
Wenn ein thematischer beziehungsweise inhaltlicher Zugang zum Gedicht also an der Oberfläche der Geschichtsreflexion verweilt, dann liegt das spezielle Vermögen der Dichtung möglicherweise in ihren spezifischen Mitteln und Bedingungen, in der Form und Gestaltung des Gedichts. In ihr akkumuliert sich die Geschichte der Gattung, ihr Wandel gibt Zeugnis von den sich wandelnden gesellschaftlichen Funktionen der Poesie. Die Wahl der Form(losigkeit), Affirmation und Negation der Traditionen, in denen der Text steht, verortet das Gedicht und sein Geschichtsbewußtsein eigentlicher als der gewählte Inhalt.
Die „Geschichtsteilhaftigkeit“ des Gedichts liegt meines Erachtens darüber hinaus und vor allem auf einer dritten Ebene, die man, um einen Begriff Gregor Laschens zu gebrauchen, die der „Sprachverfassung“ nennen könnte. In meiner Verwendung steht dahinter die Vorstellung, daß der Mensch die Sprache gleichermaßen denkt, wie er von ihr gedacht wird; daß er sich durch die Sprache nicht nur vermittelt sondern daß die Welt ihm auch durch Sprache vermittelt wird; letztendlich, daß der Bildvorrat der Sprache und die Aktualisierungsfähigkeit der Bilder schließlich bestimmen, was überhaupt gedacht beziehungsweise erfahren werden kann.16 Lyrik als Arbeit am Bildvorrat, an der Sprachverfassung und in einer Sprachverfassung, ist somit kein esoterischer Bereich, sondern entspringt der existentiellen Notwendigkeit des (sprachlichen) Bildermachens und Bilderverwerfens. Sie ist aufgeladen mit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das, was durch Bilder vermittelt, gedacht wird und gedacht werden darf.
Metaphorisches Sprechen ist also mehr als Ornament, mehr als ein rhetorisches Mittel der Verdeutlichung. Die Metapher ist nicht ein Mittel der Wirkung der Aussage, sondern die Aussage selbst. (Dies gilt offenkundig nicht für alle zeitgenössischen Gedichte. Hugo Friedrichs Perspektive, das moderne Gedicht würde sich zusehends zum hermetischen Gedicht entwickeln, ist so nicht eingetroffen.17 Dabei entspricht der hier vorausgesetzte Umgang mit der ,translatio‘ meines Erachtens der Scheidelinie zur modernen Poesie: Diese hat die Tendenz, nicht mehr Einsicht und Ansicht zu verkünden, sondern sie mit ihren eigenen sprachlichen Erkenntnismitteln zu erforschen.)
Die Perspektive auf das metaphorische Sprechen als Signatur der Sprachverfassung des Gedichts zielt auf die Untersuchung der Metaphern, um der Geschichtlichkeit und dem lyrischen Charakter der Texte gerecht zu werden. Eine derartige Metaphorologie hat Hans Blumenberg für die absoluten Metaphern der Philosophie entwickelt. Blumenberg geht davon aus, daß Metaphern gegenüber Begriffen ein „Mehr an Aussageleistung“18 erbringen können, quasi eine „katalysatorische Sphäre“19 generieren, an der sich die Begriffswelt ständig bereichert. Metaphern entspringen, so Blumenberg, einer „logische[n] ,Verlegenheit‘“.20 Die Metapher, die aus dieser logischen Verlegenheit, aus der nicht aufzulösenden Unzulänglichkeit der zur Verfügung stehenden Begriffe führt, nennt er die absolute Metapher. Sie läßt sich nicht durch Begrifflichkeit ersetzen oder in gängiger Terminologie paraphrasieren. Wohl unterliegt sie historischem Wandel, sie kann korrigiert oder durch neue absolute Metaphern ersetzt werden:

Sie haben Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begriffe, denn der historische Wandel einer Metapher bringt die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe ihre Modifikation erfahren.21

Ohne die Geschichtsteilhaftigkeit der Metapher wäre die Neu- und Weiterschreibung an zentralen Motiven zum Beispiel der hermetischen Dichtung wie Schatten, Auge, Stein nicht erklärbar. Die absolute Metapher des Gedichts ist somit zunächst einmal gültig für das spezifische, einzelne Gedicht.
Offen bleibt aber noch die Frage, auf welche geschichtlichen Sinnhorizonte sich der Schreibprozeß bezieht: Wenn Blumenberg von deren Metakinetik spricht, meint er die sich wandelnden Sinnangebote des philosophischen Diskurses. Der Wandel der poetischen Metaphern bezieht sich indes auf vielerlei Geschichts-Texte: Auf den literarischen Diskurs als Intertext, auf den Raum der Kunst und auf gesellschaftspolitische Geschichte, nicht zuletzt vermittelt durch biographische Erfahrung. All diese Produktions- und die daraus resultierenden Funktionszusammenhänge markieren die Dialektik der modernen Poesie.
Übertragen auf die Poesie ermöglicht die blumenbergsche Analyse der spezifischen Leistung des metaphorischen Sprechens, eine positive Definition der Möglichkeiten von Dichtung. Kunst wird so nicht per se wie bei Adorno als subversiv oder bei Foucault als Gegendiskurs definiert. (Was nicht ausschließt, daß die Metaphern der Dichtung mitunter tatsächlich gegen die Bildproduktion anderer Diskurse gerichtet sind.)
Blumenberg legt vor allem Archive bezüglich bestimmter Metaphern an. Dabei zeugen seine Texte von einer ungeheuren Belesenheit, die keineswegs zur Lesbarkeit beiträgt, was in erster Linie darin liegt, daß er die Philosophie als Diskurs betrachtet und den interdiskursiven Momenten weniger Aufmerksamkeit schenkt.22 Daher gibt Blumenberg dieser Arbeit nicht die Methode vor, sondern nur die skizzierte Perspektive.
Auch ohne die direkte Berufung auf Blumenberg nimmt die metaphernorientierte Forschung bei Arendt die vornehmste Position ein. (Dabei denke ich vor allem an die Arbeiten von Domdey, Laschen, Naaijkens; aber auch Endler, Raddatz und Wolf geben der Metapher klaren Vorrang vor der syntagmatischen Struktur von Strophe und Gedicht.) Dies liegt wohl in der beeindruckenden sprachschöpferischen Energie Arendts begründet, aber auch in den Wegmarken, die durch die erste wissenschaftliche Rezeption zu Beginn der siebziger Jahre gesetzt wurden. Die „Poetik des Total-Worts“, als über alle biographisch, gestalterischen Zäsuren hinweg kontinuierliche Sprachbestimmung des arendtschen Werkes, konzentrierte die Lektüre auf die, durchaus holographisch zu nennenden, Metaphernnetze Arendts.23
Damit wurde erstmals der genaue Blick auf die Eigen-art der Sprachanstrengung Arendts möglich. In der Folgezeit24 entstanden dann Arbeiten zu den Netzknoten, um die sich die Metaphern, das „Maskenmundige Sprechen“ konstituieren – Ägäis, Geschichte, Auge, Insel, Tanz25 – beziehungsweise Arbeiten, die eine Gesamtsicht anstreben, dabei aber ebenfalls das Total-Wort als essentiellen Baustein des Gedichts betrachten.
Diese Rezeptionslinie ist auch auf dem Hintergrund zu sehen, daß konventionell hermeneutische Herangehensweisen, seien es Einzelinterpretationen oder stoffgeschichtliche Annäherungen, das Reflexionsfeld des Gedichts im linearen Text kaum bändigen konnten. Ein Resultat dieser Rezeption ist damit allerdings auch, daß bislang vielleicht nur ein knappes Dutzend Gedichte von Arendt in ihrer syntagmatischen Stringenz analysiert wurden. Erinnert sei an ein Wort Arendts, das seine eigenen Aussagen zum Einzel-Wort ergänzt:

Ich begriff […], daß die Sprachgestalt, die Rhythmen, aus den Spannungsbeziehungen der Worte untereinander hervorgehend, das eigentliche des Verses darstellen […] Jedes Wort stand fest in der Fügung, gleichzeitig in der Schwebe, die seinen Bezug zum vorhergehenden wie zum nachfolgenden ermöglicht. Ein Zustand, vergleichbar dem in der Welt der Dinge, die in ihrem Nebeneinander miteinander in Bezug stehen. So kann ein ,tieferes‘ Benennen hervorgehen als durch den logischen Satz.26

Dieser Bezug der Worte, ihre Fügung, soll in dieser Arbeit stärker berücksichtigt werden. Um eine möglichst klare, trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden Werken zu formulieren, böte es sich beispielsweise an, das spätexpressionistische Frühwerk Arendts mit dem religiös-empfindsamen Frühwerk Huchels zu vergleichen, oder Arendts welthaltige Lyrik der Exilzeit mit Huchels märkischer Dichtung. Deutliche Oppositionen könnte man auch aus dem Vergleich beider Spätwerke ableiten, von denen rückblickend man ja vielleicht auch formulieren könnte, daß jeder Vergleich nur aufgezwungen ist, da keine vergleichbare Schreibbasis existiert. All diese „Paarungen“ werden in dieser Arbeit allenfalls beiläufig angesprochen, da die Distanz beider Werke zu groß wäre, als daß sich aus dem Vergleich ein Erkenntnisgewinn über deren Relation oder über jedes der einzelnen Werke für sich gewinnen ließe. Die Analyse setzt also da ein, wo die Trennschärfe nicht schon Prämisse ist, wo auch Unerwartetes in der Analyse möglich scheint. Daher beginnt der Lektüre-Teil (3.1) mit einem ausführlichen Vergleich zweier Gedichte aus den fünfziger beziehungsweise frühen sechziger Jahren, nämlich „Südliche Insel“ von Peter Huchel und „Hiddensee“ von Erich Arendt. Sinnvoll wird diese Interpretation erst durch ein erweitertes Hermeneutikverständnis, das weniger auf eine Paraphrasierung und Sinn-Determination aus ist, als auf eine Kommentarstruktur deren Perspektive Textgenese, Intertextualität und die Wechselwirkung zwischen den Künsten ist.
Eine derartige Analysearbeit deutet sich in der Huchel-Forschung gerade an. Zugespitzt könnte man formulieren: War das Problem der wissenschaftlichen Forschung bei Arendt vor den siebziger Jahren, überhaupt erst eine Methode zu finden, um sich dem Text zu nähern, da die konventionelle Hermeneutik versagte, so waren Huchels Gedichte Paradebeispiele für entschlüsselndes Lesen: Das Repertoire von immanenter Interpretation bis zu biographisch-politischen Lesarten ließ sich anscheinend friktionsfrei durchexerzieren. (Dazu kommt das Primat politischer Interpretation, da Huchel selbst zum Politikum wurde.) Axel Viereggs Dissertation Die Lyrik Peter Huchels. Zeichensprache und Privatmythologie27 bildet bis heute die Grundlage der meisten Arbeiten zu Huchel.28 Was Manfred Dierks im Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mit Schwierigkeiten auf der Suche nach dem „Gesamtsinn“ und „der Absicht des Autors“ bezeichnet, mutet in Kenntnis der experimentellen Literatur der achtziger Jahre, der hermetischen Lyrik, natürlich aber auch auf dem Hintergrund der Avantgarde dieses Jahrhunderts, wie das Vokabular aus einer entlegenen Epoche der Germanistik an:

Mit Abschluß des Frühwerks (ab 1940) werden die Texte in ihrer Aussagedimension zunehmend unterbestimmt. Nicht, daß Huchel jetzt unrealistisch wurde: Er bietet klare, identifizierbare Bilder, Personen, Einzelaussagen, vor allem genau beobachtete Natur. Selbst ,kühne‘ Metaphern werden aus dem Kontext fast immer plausibel. Worauf Huchel jedoch in steigendem Maß verzichtet, ist die Herstellung eines Zusammenhangs, in dem die Einzelelemente über ihre Nennung hinaus umgrenzte Bedeutung gewinnen. Das Gedicht wird ,offen‘, die Interpretationsspielräume um das präzise Detail weiten sich, ohne sich jedoch noch zu einem einheitlichen Bedeutungsfeld zusammenzuschließen. Natürlich ist es dem Leser immer noch möglich, einen Textsinn zu rekonstruieren, der mit der Absicht des Autors sehr wohl zusammenfallen kann. […] Und doch muß der Leser an diesem lockeren Zusammenhang ansetzen, um eine Art schwebenden Gesamtsinn für einen Text zu finden […]29

Mit der Dissertation von Christof Siemes, Das Testament gestürzter Tannen. Das lyrische Werk Peter Huchels, kündigt sich eine innovative Rezeptionserneuerung an. Siemes betrachtet „poetologische Selbstreflexivität als Wesensmerkmal des modernen Gedichts“:30

Das poetologische Naturgedicht der Moderne macht Natur als sich wandelnde gesellschaftliche Kategorie einsichtig und thematisiert in allen Momenten der Form und des Inhalts, wie Natur im Kunstwerk überhaupt erscheinen kann.31

„Hiddensee“ und „Südliche Insel“ markieren bei beiden Dichtern eine Periode der gesellschaftlichen und künstlerischen Neuorientierung, eine Abkehr von weitgehend konventioneller Natur- und Landschaftsdichtung. Wenn man als Ergebnis dieser Neuorientierung letztendlich das Spätwerk beider Autoren sehen will, dann scheint sich der Vergleich fast nur noch in Kategorien der Differenz ausdrücken zu können. Das Ziel des Lektüre-Teils ist indes, die Entwicklung hin zu dieser Differenz nachzuvollziehen, was Gemeinsamkeiten im Schaffen der fünfziger Jahre voraussetzt, Gemeinsamkeiten, die man, wie Hugo Friedrich konstatiert, „nicht aus Einflüssen erklären kann oder selbst dort, wo Einflüsse erkennbar sind, nicht als solche zu erklären braucht. Es sind Gemeinsamkeiten einer Struktur, d.h. eines Grundgefüges […]“32 Wenn im folgenden also von Einflüssen die Rede ist, ist kein epigonales Verhältnis gemeint, sondern ein Fortschreiben an der Struktur der Lyrik: „Nebeneinander miteinander“.33 Der Duographieabschnitt hat gezeigt, daß das Miteinander mitunter, auch wenn es nicht mehr bis in den einzelnen Vers rekonstruierbar ist, im Sinne einer Redaktionsarbeit wörtlich zu nehmen ist.
Die Entwicklung beider Werke soll in Kapitel 3.2 weiter verfolgt und verglichen werden an zwei Zyklen aus den fünfziger Jahren, die beide hinschreiben zu einer Neubestimmung des Terzettes „Natur, Geschichte, Existenz“. Dabei gruppiert sich Huchels „Das Gesetz“ um die Erfahrung der gesellschaftlich-geschichtlichen Veränderung durch Krieg, Vertreibung und neue Gesellschaftsordnung, während Arendts „Flug-Oden“ in einem größeren (Flug-)Blickwinkel Ideologiegeschichte und, wie er sagt, naturwissenschaftliche Erkenntnis reflektiert.
Abgeschlossen wird dieser Teil der Arbeit durch eine poetologisch-dialogische Lesart des Widmungsgedichts „Orphische Bucht“, das Arendt Huchel 1963 widmete und das meines Erachtens das Ende einer poetischen Nähe manifestiert.
Auch wenn die Metaphorologie, wie sie Blumenberg erarbeitet hat, aufgrund der gemachten Einschränkungen nicht die Methode bestimmt, so begründet sie doch eine Perspektive auf das poetische Sprechen, eine Perspektive auf die Produktion und Artikulation von Sinnhorizonten in Metaphern. Daher soll ein Gedanke von ihm diese methodische Einleitung abschließen:

[D]ie Metaphorologie sucht an die Substrukturen des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisation, aber sie will auch faßbar machen, mit welchem ,Mut‘ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.34

3.1 Auswege aus der Krise der Naturlyrik in den fünfziger Jahren
Angesichts der Dominanz der Naturlyrik in der Dichtung der fünfziger Jahre, sowohl quantitativ als auch hinsichtlich der Preiswürdigkeit und Anerkennung, die sie vom Publikum erfährt, von einer Krise der Naturlyrik zu sprechen, scheint verfehlt.35 Ein halbes oder gar ganzes Dutzend Autoren, die unweigerlich zum Kanon der deutschen Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert gehören, publizieren in diesem Genre: Wilhelm Lehmann, Rudolf Hagelstange, Günter Eich, Georg Britting, Albrecht Goes, Oda Schaefer… und schließlich auch Peter Huchel und Erich Arendt. Die Bandbreite der Autoren macht noch einmal deutlich, daß der Begriff der Naturlyrik ein äußerst vages Abgrenzungskriterium darstellt. Darüber hinaus erhebt die Aufzählung keinen Anspruch, auch nur die wichtigsten Autoren versammelt zu haben.
Worin liegt also die Krise der Naturlyrik? Willi Fehse schreibt in einem Vorwort zu der von ihm 1955 herausgegebenen Anthologie Deutsche Lyrik der Gegenwart: 

So mannigfaltig nämlich die Versuche auch sein mögen, der Gegenwart eine dichterische Spiegelung im Drama oder in der Erzählung zu geben – das Gedicht, in dem sich von Natur aus das geheimste Erleben der Zeit ausdrückt, hat auf diesem Feld einen unverkennbaren Vorsprung erlangt.36

Bei der Lektüre der aufgenommenen Gedichte zeigt sich aber, daß „das geheimste Erleben der Zeit“, eine Zeit außerhalb der politischen und sozialen Geschichte meint. Die Natur tritt als Kontinuum der wechselhaften und belasteten jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart gegenüber.37 (Dies gilt natürlich nicht pauschal für alle Autoren des Bandes). Die Gattung bietet „einem größeren Lesepublikum nach dem Kriege viele Möglichkeiten zu ästimierender Traditionspflege, erbaulicher Lektüre und moderater Reflexion“.38 Liest man Huchels Beiträge zur Anthologie von Fehse hinsichtlich dieser möglichen Indienstnahme, also literatursoziologisch oder ideologiekritisch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion, dann besitzen Kortes Kritikpunkte auch hier eine gewisse Stringenz: 

SOMMERABEND

Wenn sie reiten zur Schwemme
Aus dem steinernen Tor
Abends über die Dämme,
Brennt noch die Sonne im Rohr.

Frei von des Tages Bürde
Reiten sie Seit an Seit.
Horch, wie der Hengst in der Hürde
Zornig nach Liebe schreit.

Uferwärts Rosseschnauben,
Zuruf, Lachen und Trab.
Vögel mit seltsamen Hauben
Tauchen erschrocken hinab.

In die schäumenden Fluten
Hinter der sandigen Furt
Drängen Fohlen und Stuten
Ohne Sattel und Gurt.

Reiter mit jungen Stimmen
Werden den Tieren nicht schwer,
Packen die Mähnen und schwimmen
Neben den Pferden her.

Knaben, schön ist das Leben,
Wenn es noch stark ist und gut.
Seht, wie die Lerchen schweben
Spät in der Abendglut.

Unter erlöschendem Himmel
Zittert des Hengstes Schrei.
Reiter, Rappen und Schimmel,
Bald ist der Sommer vorbei.
39

Die Abend-Impression skizziert eine Idylle, geprägt von „Zuruf, Lachen und Trab“ (Vers 10). Dominierend ist das Pferde-Motiv, das den Text durch alle Strophen gliedert. Verschiedene, durchweg traditionell besetzte Aspekte des Motivs werden betrachtet: Freiheit und Feurigkeit (Strophe 2), Wildheit und Ungestümheit (Strophe 3,4), Jugend und Vertrautheit (Strophe 4 und 5). Gegenüber dem Schauspiel nimmt der Beobachter eine naiv-sentimentale Haltung ein: Die Tiere werden vermenschlicht („Horch, wie der Hengst in der Hürde / Zornig nach Liebe schreit.“), der Mensch tritt in eine Gemeinschaft mit den Tieren (Strophe 5). Das Naiv-Sentimentale wird unterstützt, indem der Beobachter zum Beispiel den Haubentaucher possierlich beschreibt, ihn aber nicht beim Namen nennt – „Vögel mit seltsamen Hauben / Tauchen erschrocken hinab.“ Die Freiheit ist eskapistisch, erst da möglich, wo das „steinerne[] Tor“ und des „Tages Bürde“ verlassen werden. Der Traditionsbezug, der sich auch im konventionellen Kreuzreimschema zeigt, wird in der vorletzten Strophe am deutlichsten. Sie beginnt volksliedhaft „Knaben, schön ist das Leben“ (der Versbeginn erhält Nachdruck, indem er das metrische Daktylus-Schema der vorhergehenden Strophe durchbricht) und fährt dann mit einer Sentenz fort, deren Inhalt landläufig ist „Wenn es noch stark ist und gut.“ Der Beobachter tritt hier durch seine Reflexion in Opposition zum Gesehenen. Diese wird in der letzten Strophe fortgeführt. Die Idylle ist aber nicht grundsätzlich bedroht, sondern unterliegt dem Jahresrhythmus. Die Exklusion des Betrachters liegt also im Wissen um die natürliche Vergänglichkeit der Jugend und der Idylle begründet, wodurch die letzten beiden Verse des Gedichts durch Melancholie geprägt sind. Neben der Darstellung des Motivs ist es diese Spannung, die das Gedicht als neue Ausschmückung dieser grundsätzlichen Erfahrung attraktiv macht. Kortes Kriterien, von ihm scharf als „ästimierende[] Traditionspflege, erbauliche[] Lektüre und moderate[] Reflexion“40 formuliert, lassen, übertragen auf Huchels Gedicht, sich nicht von der Hand weisen.
Keineswegs darf von einem geschichtsteilhaftigen Gedicht gefordert werden, historische Ereignisse selbst zum Thema der Dichtung zu machen. (Die Entwicklung in Deutschland seit 1989 hat noch einmal gezeigt, daß die Geschichtsteilhaftigkeit der Lyrik nicht im Thema, sondern im Bewußtsein ihrer Bedingungen liegt.)41 Im Gegenteil: Das bloß zeitgeschichtliche, politische Gedicht bleibt ganz tagesgebunden. Dichtung muß auf spezifischerer Weise der Daten-Geschichte eingedenk sein. Theodor W. Adorno spitzt dies in seinem Essay „Kulturkritik und Gesellschaft“ in einer berühmt gewordenen Formulierung zu:

[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.42

Adornos, später ja revidierte These, ist nicht so zu verstehen, daß Lyrik nach Auschwitz nur noch einen Gegenstand hat, sondern daß sie sich, ihren bisherigen Gegenständen nicht mehr mit der gleichen Unbefangenheit wie früher nähern darf. Angesichts der nicht in Worte zu fassenden Inhumanität erscheint jedwedes ästhetische Streben auf neuem Hintergrund.
In Johannes R. Bechers Gedicht „Heimat“, das 1937 im Exil entstand, wird die Frage gestellt 

Sinnt noch im Alpenglühn dunkel der Bodensee,
Tanzen Libellen noch, flüstert Wind noch im Schilf:
Unergriffen von all dem,
aaaaaaWas geschah?!
43

Bei Erich Arendt und Peter Huchel ist zu Beginn der fünfziger Jahre eine sehr zögernde Gedichtproduktion festzustellen. Erich Arendt verlegt sich aufs Übersetzen. Bis 1955 erscheinen von ihm und seiner Frau Katja Hayek-Arendt vier übersetzte Bände (Nicolás Guillén, Pablo Neruda).44 Zwei Lyrikbände werden veröffentlicht, Trug doch die Nacht den Albatros (1951) und Bergwindballade (1952), die allerdings Texte der Exilzeit und des Spanienkampfes beziehungsweise Fortschreibungen dieser Motivkreise enthalten. Erich Arendt ist die Landschaft mit der und in der er zur Sprache kommt, abhanden gekommen. Für Peter Huchel tritt Sinn und Form in den Mittelpunkt. Daneben publiziert er aber auch Gedichte, neben älteren (überarbeiteten) Texten vor allem Stücke aus dem Zyklus „Das Gesetz“ (vgl. Kapitel 3.2).
Die Traditionen, an die insbesondere die deutsche Naturlyrik anknüpfen könnte, sind fragwürdig. Durch das III. Reich sind die Fäden zur Avantgarde der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts abgerissen. Hans Magnus Enzensberger bilanziert klarsichtig und scharfzüngig anläßlich der Publikation eines Bandes Gedichte von David Rokeah: 

Nicht jedes Gedicht, das die Distel und den Fels, den Ölbaum und das Schilf beim Namen nennt, läßt sich dem zuschlagen, was in Deutschland Naturlyrik heißt. Einer Poesie, die uns aus andern Räumen, aus fremden Sprachen zukommt, sollten wir es lieber ersparen, sie auf den ersten flüchtigen Blick hin einem Herbarium einzuverleiben, dessen Schaustücke nur in unserer eigenen Tradition so recht haben gedeihen können. Deutsche Empfindsamkeit und deutsche Romantik, zuweilen eingeschrumpft zur kunstgewerblichen Reminiszenz, sind die historische Substanz, von der unsere Naturlyriker, von Lehmann und Huchel bis zu Britting und von der Vring, zehren; was aber bei René Char der Blitz, bei Rafael Alberti das Meer, was bei Saint-John Perse der Schnee und bei William Carlos Williams der Steinbrech zu bedeuten hat, das ist aus solchen Voraussetzungen nicht abzuleiten.45

Enzensbergers Bemerkung, daß die deutschsprachige Naturlyrik im wesentlichen von übernommenen Konzepten zehrt und nach dem Krieg noch keine eigenständige Poetologie entwickelt hat, ist sicherlich richtig. Das Regionalgebundene, das mitunter, wie zum Beispiel bei Pablo Neruda die Isle Negra, zum Ausgangspunkt für Weltliteratur werden kann, ist in Deutschland in Provinzialismus umgeschlagen. In seine Kritik schließt Enzensberger das Werk Huchels mit ein, wie die Interpretation des „Sommerabend“ zeigte, wohl durchaus berechtigt.
Allerdings wurde dieses Gedicht bereits 1947 erstmalig veröffentlicht.46 Überhaupt publizierte Huchel nach dem Krieg eine Vielzahl von Gedichten, deren Entstehungsdatum ungewiß ist. Teilweise stammen sie noch aus dem für 1932/33 im Jess Verlag geplanten Gedichtband Der Knabenteich. Der dann tatsächlich erste erschienene Band mit Gedichten von Peter Huchel Gedichte (1948) gibt einen Überblick über Huchels Schaffen von 1925–1947.47 Dies war der einzige Band, der Enzensberger vorliegen konnte. Die Chronologie der Texte wird noch unübersichtlicher, da Huchel seine frühen Gedichte auch in den fünfziger Jahren publizierte; diese schließlich sogar 1967 unter dem Titel Die Sternenreuse sogar zusammen mit anderen als eigenen Band veröffentlichte. Erst ein Jahr nach Enzensbergers Kritik erschien Chausseen Chausseen. Der Hauptteil der Gedichte des Bandes erschien erst 1962/63 im Vorabdruck.
Es ist fraglich, ob Enzensberger seine Kritik so hätte stehen lassen, wenn er diese Texte bereits gekannt hätte: Denn wie im Folgenden gezeigt werden soll, findet in der Vorbereitung von Chausseen Chausseen die entscheidende Entwicklung in Huchels weiterem Schaffen statt, nämlich die Loslösung von der naturmagischen Schule Lehmanns und die Emanzipierung vom Vorbild der deutschen Romantik und der Mystiker. Huchel gelingt es, an die Tradition der Naturlyrik anzuknüpfen, dies aber in Kenntnis und durch das Korrelativ der Moderne.
Die Texte Huchels und Arendts sollen gelesen werden als zwei unterschiedliche Wege, die die Naturlyrik aus der Krise führen und die zugleich ein neues Verständnis von Natur als einem Bezugspunkt des lyrischen Sprechens verlangen. Denn während es Huchel gelingt, die Tradition fortzuführen und zu entwickeln, bringt Arendt eine ganz neue Tradition, nämlich die französische und vor allem spanische Moderne, die ja Enzensberger fordert, in die deutsche Dichtung ein. Für beide Autoren soll nun ein motivverwandtes Gedicht herangezogen und vergleichend interpretiert werden. „Südliche Insel“ von Peter Huchel wurde zuerst 1961 in Neue Rundschau 72 (1961) veröffentlicht. In Arendts Teilnachlaß in Utrecht befindet sich ein Sonderdruck dieser Publikation mit einer handschriftlich von Huchel ergänzten Variante. Erich Arendts Gedicht „Hiddensee“ wurde zum ersten Mal in Sinn und Form 6 (1954) Heft 4 publiziert. 

3.1.1 Peter Huchel: Südliche Insel

SÜDLICHE INSEL
Für Walter Jens

Felsrunde Insel,
Schildkröteninsel,
Vulkanisch atmet der rissige Stein,
Wo unter den Quellen
Die Erde ihr düsteres Feuer schürt.

Agaven heben die Lanzen,
Drücken den Essigschwamm
An den dürstenden Mund des Himmels.

Öde Piazza.
Der Mittag schlägt
Mit dem Zirkel der Sonne
Den heißen Kreis.
Auf flachem Dach,
Der Tenne des Regens,
Dörren Feige und Traube.
Die Zisternen sind leer.
Wann ankert das schwarze Wasserschiff?

Durch die dämmernde Brandung
Stemmen Fischer ihr Boot.
Glasig,
Zwischen den Steinen,
Des Meeres Meduse.
Es glänzt, armer Zyklop,
Dein ausgepfähltes Aug.
Du siehst nicht mehr
Das Schwanken der Lampe
Unter dem Karren,
Den Pflugbaum
Aus flimmernden Sternen,
Der über der Insel steht.

Die ersten beiden Verse des Gedichts ergänzen den Titel, indem sie den Ort präzisieren. Gibt die Überschrift einen geographischen Hinweis, so ergänzen die beiden nächsten Verse die Topographie; aber mehr als das: Mit dem Fels werden die Dauer und das Wesen der Insel bestimmt.
Der Natur Huchels ist die Geschichte menschlicher Sinnstiftungen eingeschrieben. So wird sein Text nie zum Herbarium einer Natur an und für sich sondern zur Auseinandersetzung mit der durch Menschen gestalteten Landschaft. Diese wird nicht unmittelbar durch den sinnlichen Eindruck erfahrbar, vielmehr vermittelt durch die Konstellationen und den Bildvorrat mythischer und religiöser Narration.
Insbesondere dieses Gedicht ist mit intertextuellen Bezügen geradezu aufgeladen. (Im Zusammenhang hiermit wird auch die Widmung für den Altphilologen und Humanisten Walter Jens gesehen werden müssen. Siehe unten). In der zweiten Strophe wird eine Station der Passionsgeschichte auf die Landschaft übertragen:48

Agaven heben die Lanzen,
Drücken den Essigschwamm
An den dürstenden Mund des Himmels.

Der Himmel wird zum gekreuzigten Himmel, die Natur feindlich, lanzenbewehrt. Allerdings handelt es sich nicht um eine Folterszene, denn der Essig der Bibel ist Weinessig, das normale Getränk der römischen Soldaten, das zur Stärkung gereicht wird.49 Insel und Himmel leiden sogar am gleichen Martyrium.
Noch vor dieser biblischen Szene evoziert die erste Strophe eine Vorstellung der griechischen und römischen Mythologie. Auf den südlichen Inseln Italiens liegt demzufolge nämlich der Eingang zur Unterwelt, möglicherweise in den Vulkanen als Öffnungen der Erde:

Vulkanisch atmet der rissige Stein,
Wo unter den Quellen
Die Erde ihr düsteres Feuer schürt.

Peter Huchel leitet die Pflugbaum-Metapher der letzten Strophe übrigens ausdrücklich von einer Erinnerung an die süditalienische Insel Ischia her.50 Diese biographische Information ist nach meiner Einschätzung aber für die Interpretation nicht erforderlich, da die italienische Bezeichnung „Piazza“ und vor allem der Titel „Südliche Insel“ die Insel ausreichend verorten.
Die ersten beiden Strophen vergegenwärtigen die Endlichkeit des Menschen, Erlösungshoffnung und Verdammnis. Leiden („dürstender Mund“) und Bedrohung („düsteres Feuer“) kommen in beiden Bildern zum Ausdruck. Die Landschaft wird erfahrbar durch diese existentiellen Vorstellungen. In der dritten Strophe wird deutlich, daß die Landschaft in die Erleidensgeschichte aufgenommen ist, daß sich die existentielle Bedrohung aber nicht gegen sie wendet. Die beiden Motive Feuer und Wasser, die schon in den ersten Strophen gegeneinander gesetzt werden, konkretisieren sich. Dabei verengt sich die Landschaft zum Ort menschlichen Tuns, das durch Sonne und Dürre zum Erliegen gekommen ist. Die „Schildkröteninsel“ gibt im zweiten Vers mehr vor als eine durch die Form angeregte Vulkankegel-Metapher.51 Neben dem Alter und der Weisheit ist es die Langsamkeit, die mit der Schildkröte assoziiert wird. Eine getragene Langsamkeit, die den Rhythmus des Gedichts bestimmt:

aaaax               x
Der Mittag schlägt
aaaaaaaax                 x
Mit dem Zirkel der Sonne
aaaaax          x
Den heißen Kreis.
aaaax             x
Auf flachem Dach,
aaaax                  x
Der Tenne des Regens,
aax          x                  x
Dörren Feige und Traube. 

Gerade im Mittelteil des Gedichts arbeitet der Rhythmus jeglicher Akzeleration entgegen. Durch die dominierenden zwei Hebungen pro Vers ist zwar ein gewisser Sprechrhythmus vorgegeben, der durch die variable Anzahl der Senkungen jedoch entschleunigt, ja gedehnt wird. Den kurzen Versen entsprechen semantische Einheiten, so daß nach den meisten Versen eine natürliche Sprechpause folgt, die durch die Senkungen am nächsten Versbeginn unterstützt wird. Das Resultat ist ein Einklang von Rhythmus und Bedeutung: Die einlullende und ausdörrende Sonne, die die Wahrnehmung bestimmt, prägt damit auch den Sprechgestus.
Im letzten Vers der dritten Strophe mündet die Spannung in die Frage nach der Erlösung von Mensch (und Landschaft):

Wann ankert das schwarze Wasserschiff?

Aber auch in dieser Hoffnung steckt Gefährdung, es ist das „schwarze Wasserschiff“, das erwartet wird, und schwarzes Wasser (schwarze Pest etc.) wäre kein Ausweg.
Unbeantwortet bleibt die Frage in der letzten Strophe, die dem bedrohlichen Tag den versöhnenden Abend hinzufügt. Das Wasser ist dem strebenden Menschen freundlich gesinnt, der Himmel zeigt statt dem „dürstenden Mund“ den „Pflugbaum / Aus flimmernden Sternen“. Der Pflugbaum, Teil des Ackergeräts, verspricht Zuversicht. In der 1961 publizierten ersten Fassung ist im zehnten Vers der letzten Strophe sogar vom „Karren des Bauern“ die Rede, was die Impression fast ins Idyll umschlagen läßt.52 Die handschriftlich ergänzte Fassung des Sonderdrucks vermerkt als die beiden Schlußverse:

die Kettenegge der Sterne
die über der Insel flimmert
.
53

Nach eigener Auskunft hat sich Huchel dann für „Pflugbaum“ entschieden, weil er sich „zurückerinnerte an den breiten Sternenzug über Ischia“.54 („Kettenegge“ scheint mir in ihren Bedeutungshöfen zudem viel mehr auf das handwerkliche, bäuerliche Element beschränkt als „Pflugbaum“.)
Wiederum reicht die begriffliche Vorstellung als Teil des kulturellen Gedächtnisses, mit der die Landschaft und ihre Elemente bestimmt werden, zurück bis in die Mythologie. Hellmuth Karasek schreibt in einer Rezension von Chausseen Chausseen unter Illustrierung einiger Verse aus „Südliche Insel“ über die Funktion der Mythen bei Huchel:

Sie sind erstarrt, haben ihren Sinn ausgegossen; sie vermitteln nicht, sie befremden.55

Huchel erzählt von ihnen [den Mythen, S. W.], wie von Abgelebtem.56

Dem ist entgegenzuhalten, daß die mythischen Elemente hier nicht befremden, vielmehr die Befremdung aufheben und dem Betrachter die Natur als kulturell geprägte und kodierte Landschaft vermitteln. Um dies zu können, müssen sie eine hohe Präsenz besitzen; nicht weil sie noch ein Deutungsmonopol besäßen, sondern weil sie sich in die Geschichte der Landschaft und des Individuums eingeschrieben haben. Nicht die Kontinuität der Natur wird gegen die wechselnde Geschichte gesetzt, sondern Geschichte gesehen als kontinuierlicher Prozeß der sich wandelnden Mythen und Hoffnungen. Der Mythos „das ist vielleicht das einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können. […]“57 Der Beobachter ist eingebunden in die Menschheitsgeschichte:

Glasig
Zwischen den Steinen,
Des Meeres Meduse.
Es glänzt, armer, Zyklop, Dein ausgepfähltes Aug.

Meduse, eine übliche Bezeichnung für Quallen, die wohl auf der Ähnlichkeit mit dem abgeschlagenen Schlangenhaupt der Medusa beruht, vergegenwärtigt auch die Schrecken der Meduse, die Menschen in Stein verwandeln konnte, sie liegt „[z]wischen den Steinen“. Die schon zitierten folgenden zwei Verse könnten als weitere Assoziation zur Qualle gelesen werden, allerdings rückt die Konstruktion dann gefährlich in die Nähe einer Katachrese. Das Erscheinungsbild der Qualle als „ausgepfähltes Aug“ ist überzeugend, allerdings steht dann der Zyklop in Konkurrenz zur Meduse. Aus dem bedrohlichen Zyklopen ist ein „armer Zyklop“ geworden, dem der Trost des Lichtes in der Nacht versagt bleibt. Der Mythos wird allerdings nicht zum Verstummen gebracht oder mit Blindheit geschlagen, denn beide Beobachtungen bewegen sich ja gerade innerhalb der mythischen Überlieferung.
Hellmuth Karasek folgert aus diesen letzten Versen:

Das Naturparadies Huchels ist ein verlorenes Paradies.58

Aber die letzte Strophe ist ja keine Reminiszenz an einen glücklichen Urzustand sondern Ausdruck der Widersprüchlichkeit der Insel, der Koexistenz der Erfahrungen von Bedrohung und Geborgenheit, Resignation und Glücksgefühl.

Der Beitrag des anderen Textes zur Genese des Gedichts
Hingewiesen wurde bereits auf die hohe Präsenz von Metaphern mythischen Ursprungs. Diese Metaphern entstammen aus vertexteten Narrationen, aus der christlichen oder antiken Mythologie. Sie verweisen also auf einen anderen Text, obschon sie bekanntlich auch ikonographisch umgesetzt wurden.
Huchels Metaphern schließen an weitere textlich tradierte Vorstellungen an. Die Metapher „Schildkröteninsel“ steht noch in einem anderen Zusammenhang mit der zentralen dritten Strophe, wenn man davon ausgeht, daß der Text die existentielle Situation der Bedrohung und Ungewißheit anbindet an transzendierende Entwürfe (von denen das Gedicht ja selbst einen darstellt.) Inseln mit Tieren zu vergleichen (bzw. als Tiere zu identifizieren) hat Tradition. Am bekanntesten ist dabei wohl eine Episode aus „Sindbad“. Peter Huchels Freund und Briefpartner Ernst Bloch führt sie folgendermaßen aus: 

Das Gleichnis ist stark: wie Sindbad Schiffbruch erlitt, mit einigen Gefährten rettet er sich auf eine kleine, wohlbestandene Insel voller Früchte, Kokospalmen, Vögel, jagdbarer Tiere und im Wald ein Quell. Aber wie die Geretteten gegen Abend ein Feuer anzünden, um die Jagdbeute zu braten, krümmt sich der Boden und die Bäume zersplittern; denn die Insel war der Leib eines riesigen Kraken. jahrhundertelang hatte er über dem Meeresspiegel geruht, nun brannte das Feuer auf seinem Rücken, und er tauchte unter „so daß alle Schiffer in dem wirbelnden Wasser ertranken“.59

Diese Möglichkeit des Untergangs, nicht der Insel, aber des Menschen, ist in den ersten Strophen von „Südliche Insel“ gegenwärtig. Blochs Darstellung liest sich fast wie ein Kommentar des Gedichts: 

Das Leben hat sich unter und auf den Dingen angesiedelt, als auf Objekten, die keine Atmung und Speise brauchen, ,tot‘ sind, ohne zu verwesen, immer vorhanden, ohne unsterblich zu sein; auf dem Rücken dieser Dinge, als wären sie der verwandteste Schauplatz, hat sich die Kultur angesiedelt.60

An der Schildkröten-Metapher läßt sich anschaulich zeigen, daß Huchel in dieser Phase seines Schaffens Anbindung findet an die Erzähltradition, die Bilder für die existentielle Situation des Menschen sucht, aber zugleich auch an die moderne Lyrik. Der von Arendt übersetzte Nicolás Guillén wählt nämlich eine ähnliche Metaphernkonstruktion: 

EIDECHSE LANG UND GRÜN
Auf dem Meere der Antillen
(auch Karibisches genannt)
hart vom Wellenschlag getroffen
und mit zartem Schaum geschmückt,
von der Sonne arg bedrängt,
und im Wind, der es zurücktreibt,
schwimmt, mit wilder Träne singend,
Kuba hin auf seiner Karte:
Eidechse lang und grün,
Augen ganz aus Stein und Wasser.
[…]61

Während man in diesen Fällen kaum von einer literarischen Anspielung, sondern allenfalls von Korrespondenzen sprechen kann, rückt mit dem Charakter des Textes als Widmungsgedicht, eine stringentere Intertextualität ins Blickfeld. Für Huchels Gedichte läßt sich im allgemeinen sagen: 

Die Vergleiche, biblische und antike Verweise, sind klar und durchschaubar.62

Anders verhält es sich mit den Verweisen, die nicht aus einem kollektiven Bildvorrat schöpfen.
Um die Bedeutung der Widmung „für Walter Jens“ für die Genese des Gedichts einschätzen zu können, ist es hilfreich, sich die Beziehung beider zu vergegenwärtigen. Im März 1960 fand in Leipzig auf Betreiben von Hans Mayer ein Symposium statt, an dem neben Jens, Mayer und Huchel auch u.a. Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger teilnahmen. Walter Jens erinnert sich daran: 

Am Nachmittag saßen wir dann, noch mit den gleichen Problemen, den Fragen des alternden Stalin beschäftigt – welche Konstanten gibt es in einer sich wandelnden Welt? – im Arbeitszimmer des witzig-klugen Hans Mayer und sprachen zu viert, der Hausherr, Peter Huchel, der von einem Hymnus auf Persephone erzählte, Ernst Bloch und ich, über Artemis und Apollon.
[…] Im Zimmer aber, unter den Bildern von Karl Valentin und Bertolt Brecht, beschwor man die griechischen Sagen, und noch einmal zeigte es sich, daß die Chiffre des Mythos, Apollon und Eros, Aletheia und Dike – Zeichen und Bild, Formelspruch und Schlüsselwort zugleich –, exakter als alle Beschreibung und plastischer als jede Begrifflichkeit ist.
Der griechische Mythos, dachte ich vor Jahren, in einem Gespräch mit Albert Camus… das ist vielleicht das einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können.
[…]63

Es wundert nicht, daß Huchels „Südliche Insel“ die Verständigung im Angesicht des Mythos sucht. Erstaunlicher jedoch ist, daß sich das Gedicht sprachlich und inhaltlich Beobachtungen nähert, wie sie Walter Jens in seinem griechischen Tagebuch festhält. Auszüge aus diesem Tagebuch hat Peter Huchel unter dem Titel „Zwischen Märchen und Mythe“ 1959 in Sinn und Form aufgenommen.64 Walter Jens entfaltet auf wenigen Seiten die griechische Inselwelt als Schauplatz der antiken Mythologie. Allerdings bleibt er nicht in diesem Kontext, sondern durchbricht ihn. So beschreibt ein Ausgräber eine Zeus-Statue:

Zwölf Meter hoch das Bild, gehalten von einem mächtigen Mast, an dessen Verstrebung die emporgestreckte Hand gebunden war… ein triumphierender Christus am Kreuz!65

Dieses Ineinanderfließen der beiden großen religiösen Sinnstiftungen der griechisch-römischen Welt behält Jens bei, es wird später noch deutlicher:

Auf dem Musenhügel liegt der Schein von Golgotha, ein fahler Ölberg-Glanz am Hymettos.66

Zwischen diesen beiden Textstellen findet sich ein Verweis auf das Totenreich der Unterwelt, also auf die Vorstellung aus der griechischen Mythologie.67 Dieses Ineinanderübergehen entspricht den ersten Strophen von „Südliche Insel“.68
Aber nicht nur in der inhaltlichen Komposition· finden sich Parallelen, sondern auch in der sprachlichen Konstruktion. Gleich im zweiten Absatz von „Zwischen Märchen und Mythe“ heißt es:

Der Schiffskiel ritzte wie eine Pflugschar das Meer […]69

Huchels Pflugbaum-Metapher in der letzten Gedichtstrophe ist dieser Metapher verwandt, so erklärt in einem Brief an Livia Z. Wittmann, „… der Pflugbaum (auch Grindel) ist kein Sternbild, sondern der Teil des Ackergeräts, an dem die Pflugscharen und der Pflugsterz angebracht sind.“70 Fast kann man von einer Mehrstimmigkeit beider Texte sprechen. 

Träge und zäh ist alles, der Fluß gerinnt zu Schlamm,
und um die Steine legen sich Hüllen aus glasigen Muscheln
.71

Und bei Huchel: 

Öde Piazza
Der Mittag schlägt
Mit dem Zirkel der Sonne
Den heißen Kreis

[…]
Glasig,
Zwischen den Steinen
Des Meeres Meduse.72

Stefan Wieczorek, aus Stefan Wieczorek: Erich Arendt und Peter Huchel. Kleine Duographie sowie vergleichende Lektüren der lyrischen Werke, Tectum Verlag, 2001

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