ADEL UND UNTERGANG
Wir nähern uns den dreißiger Jahren, die im Bewußtsein der Nachgeborenen unweigerlich schwarzweiß und grobkörnig sind, von flackernden Fackelzügen beleuchtet und von marschierenden Stiefeln durchhallt werden. So kommt die Geschichte im Fernsehen daher. Im richtigen Leben war, wie immer, manches ganz anders, und die gelebte Zeit dürfte sich erheblich von der dokumentierten unterscheiden. Wie mir kürzlich ein älterer Herr erzählte, gab es damals ein jämmerliches Gesöff, das die Nazis den dt. Volksgenossen anstelle der unliebsamen „Coca-Cola“ schmackhaft machen wollten. In dieser Hinsicht war das Blubo-Reich ein echter Pionier, wenn nicht gar ein Thälmann-Pionier der ihm auf dem Stiefelabsatz folgenden DDR. Falsche „Coke“ und dauernd dieser dämliche Volkstanz in zopfigen Trachten: In solchen Details verliert sich schnell alles Dämonische, also auch potentiell Beeindruckende. Was sich zeigt, wenn man den Detailblick schärft, ist das Boshafte, Hinterhältige, Denunziatorische, Dümmliche und Brutale eines auf wahnhafter Selbstüberschätzung ruhenden Systems – also all die Charaktereigenschaften, die man täglich an ausgesuchten Mitmenschen studieren kann, bloß eben zu Staatsgröße aufgeblasen respektive zu allgemein verbindlicher Staatsniedrigkeit.
Jede Zeit hat die Dichter, die sie verdient, und so sollte es nicht verwundern, daß unser heutiger Kandidat bei Bedarf boshaft, hinterhältig, denunziatorisch, dümmlich und brutal sein konnte, aber – und auch das gehört in den Bereich des geschärften Detailblicks – eben nicht nur, sondern wahlweise auch ganz anders. Die folgenden Verse schrieb ein anderer über ihn:
An meinem Gartentor vorbei
führt aus dem Dorf ein schmaler Pfad
weiter in den Wald:
gehe ich diesen Weg,
dann scheint es angemessen, anzuhalten
und einen Blick zu tun durch den Zaun
deines Gartens, in dem sie dich (unter
den damaligen Umständen blieb ihnen keine andere Wahl)
begruben wie einen geliebten
alten Haushund.
Erklärte Feinde vor zwanzig Jahren,
jetzt Nachbarn Tür an Tür, wären wir
vielleicht gute Freunde geworden,
mit einem gemeinsamen Umfeld
und einer gemeinsamen Liebe zum Wort,
hätten über einem goldenen Kremser
vielleicht manches lange Gespräch
über Syntax, Kommasetzung
und Versbau geführt.
Kein geringerer als der große englische Lyriker Wystan Hugh Auden ist der Verfasser dieser Zeilen. Sie bilden die ersten zwei Strophen eines längeren Gedichts mit dem Titel „Joseph Weinheber“. Audens österreichischer Kollege ist denn auch der freundlich angesprochene „Nachbar Tür an Tür“, um den es in dem Gedicht und in unserem folgenden Test geht. Kein Zweifel, daß es sich um ein autobiographisches Stück handelt. Das „Gartentor“, von dem eingangs die Rede ist, öffnet sich in einer kleinen niederösterreichischen Ortschaft namens Kirchstetten, fünfzig Kilometer westlich von Wien gelegen. Joseph alias Josef Weinheber besaß dort seit Mitte der dreißiger, Auden seit Ende der fünfziger Jahre ein Haus.
Ein größerer Gegensatz als zwischen diesen beiden Dichtern, von einem launischen Schicksal in dieselbe Wahlheimat geweht, läßt sich schwerlich vorstellen. Um so reizvoller ist es, Audens Anregung zu folgen und sich auszumalen, wie es denn wäre, wenn die beiden vereint „über einem goldenen Kremser“ säßen. Der Jüngere, der Engländer, stammt aus großbürgerlichem Haus und hat seine Ausbildung standesgemäß in Oxford abgeschlossen. Erst war er Marxist, dann wurde er Christ. Erst war er Brite, dann wurde er Amerikaner. Zweimal war er verheiratet, aber immer war er homosexuell. Bei den Nazis hätte er sowenig eine Chance gehabt wie die Nazis bei ihm. Jetzt, am Ende seines Lebens, pendelt er im Halbjahresturnus zwischen Manhattan und Kirchstetten.
Ganz anders der Ältere. Weiter als bis nach Italien ist er nie gekommen. Er stammt aus kleinsten Verhältnissen in der Wiener Vorstadt. Er ist im Waisenhaus aufgewachsen. Er ist von der Schule geflogen. Er fühlt sich als bodenständiger Österreicher und wird doch vom dunklen Hallraum des Wortes »deutsch« unwiderstehlich angezogen. Seine erste Frau ist Jüdin, doch um als Schriftsteller nach oben zu kommen, paktiert er mit den Nazis. 1931 tritt er der NSDAP bei. Den „Anschluß“ Österreichs an das Nazireich hat er öffentlich gefeiert und insgeheim bald bereut. Doch wenn es nötig erscheint, verfaßt er weiterhin Propagandagedichte kläglichster Machart – so im Jahr 1939 ein Poem namens „Dem Führer“.
Deutschlands Genius, Deutschlands Herz und Haupt,
Ehre Deutschlands, ihm solang’ geraubt.
Macht des Schwerts, daran die Erde glaubt.
Fünfzig Jahre und ein Werk aus Erz.
Übergroß, gewachsen an dem Schmerz.
Hell und heilig, stürmend höhenwärts.
Retter, Löser, der die Macht bezwang,
Ernte du auch, dulde Kranz und Sang:
Ruh’ in unsrer Liebe, lebe lang!
Jämmerlicher, kümmerlicher, kläglicher geht’s kaum, um nur ein Adjektiv für jede der drei mißratenen Strophen zu nennen. Und Auden? Er ignoriert Weinhebers politische Verfehlungen nicht, aber er bleibt gelassen und gelangt zu einer erstaunlich milden Einschätzung. Fast beiläufig stellt er fest:
Ja, ja, man muß es sagen:
Männer von Übel
und großem Verderben spannten dich ein.
Doch nahmen sie dich für lange
in Beschlag, wo du doch auf Goebbels’
Kulturangebot
erwidertest In Ruah lossen?
Aber Hinz und Kunz
haben Skandale lieber, und die Jungen
brechen, ohne dich zu lesen, über dich den Stab.
Und genau so ist es gekommen. Weinhebers Gedichte, noch bis in die sechziger Jahre hinein in Schulbüchern abgedruckt, sind in den letzten Jahrzehnten fast völlig von der Bildfläche verschwunden. Wer dieser Tage in eine Buchhandlung geht, kann dort gerade mal einen einzigen Gedichtband Weinhebers bestellen, mit lustigen Wiana Dialektgedichten. Neun weitere Lyriksammlungen sind ebensowenig lieferbar wie seine drei Romane und die zwei seit Kriegsende erschienenen Gesamtausgaben seiner Werke. Keine gute Bilanz für einen, der in dürftigen Zeiten als einer der Größten galt.
Ist Weinheber also noch zu retten? Oder ist er auf platten Versfüßen zu tief in den braunen Sumpf gewatschelt, um da jemals unbefleckt herauszukommen? Immerhin können nur wenige deutschsprachige Lyriker ein Empfehlungsschreiben von Auden oder seinesgleichen vorweisen. Auch der von Auden zitierte Ausspruch „In Ruah lossen“ läßt auf einen nicht allzu untertänigen Dichter hoffen: Mit diesen Worten soll unser Mann auf Goebbels’ Frage geantwortet haben, was das Deutsche Reich denn für die österreichischen Schriftsteller tun könne.
Ihr Prüfer vom Lyrik-TÜV will Audens Empfehlung folgen und einen unvoreingenommenen Test am toten Subjekt vornehmen – ganz ohne „goldenen Kremser“, aber mit um so schärferem Blick auf „Syntax, Kommasetzung und Versbau“. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit steht dabei Adel und Untergang. Der 1934 erschienene Gedichtband eignet sich gleich aus mehreren Gründen besonders gut für eine erneute Verhandlung des Falles Weinheber: Zum einen markiert er dessen Durchbruch als Lyriker, zum anderen ist er die erste Buchveröffentlichung Weinhebers nach dessen Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Wo Triumph und Verstrickung so nah beieinanderliegen, wächst vielleicht das Rettende auch. Oder auch nicht.
*
Wer Audens Anregung folgt und Weinheber erst einmal liest, ehe er ihn verdammt, wird feststellen, daß grobschlächtig zusammengereimte Elogen auf die Nazidiktatur in seinem Werk eher selten sind. Nicht selten vernimmt man deutlich zartere Töne. Etwa in der folgenden Strophe über die Wahlheimat Kirchstetten aus dem Jahr 1941, die sich fast wie eine Replik auf Audens Verse liest:
Also komm, und nimm sacht meine Hand!
Hier ist Lehm, hier ist Luft, hier ist Land,
hier ist alles, das Erdengegebne.
Wie, du meinst, das sei schön und das nicht?
Laß die Zeit! Hier im Übergang spricht
Das Gebirge so gut wie die Ebene.
Das läßt sich durchaus als Lektüreanweisung pro domo verstehen: Die gelungenen und die mißratenen Gedichte – Gebirge und Ebene – gehören folglich zusammen, weil sie Teil ein und derselben Charakterlandschaft sind; die einen wären nur um den Preis der anderen zu haben. Man kann diese Gedichtzeilen aber auch ohne weiteren interpretatorischen Aufwand einfach schön finden – eher luftig als lehmig, um in der Sprache des Gedichtes zu bleiben. Auden jedenfalls hatte keine Probleme, sich mit Weinheber in der schlichten Hingabe an „das Erdengegebne“ zu treffen; ein so präziser wie unbefangener Blick auf die Umwelt gehört ja fast schon zu den beruflichen Hauptmerkmalen guter Lyriker. Wenn es um das Kirchstettener Naturerleben geht, sind sie jedenfalls beide sanfte Lokalpatrioten. Auden schreibt:
Hier aber fühl’ ich mich zu Hause
wie du einst: dieselben
kurzlebigen Geschöpfe trällern wieder
dieselben sorgenfreien Lieder,
Obstgärten bleiben bei der Ordnung,
die sie kennen, vom raschen
Erblühn der Farben im April
bis zum polternden Herbst,
wenn bei jeder Stotterböe
Äpfel träg zu Boden plumpsen.
Der andere Liebhaber des Landlebens nickt zustimmend und fügt kameradschaftlich hinzu:
Fühlst du nicht, wie das Lähmende hier
sich ins Feld legt, als wär es ein Tier
mit geduldigem, gähnendem Lauern?
Oder nicht, wie da mählich die Kraft
des Gesteins sich ins Göttliche rafft,
um zu sein, zu beruhen, zu dauern?
Schlußendlich nimmt Weinheber auch noch das von Auden angeregte Gespräch „über einem goldenen Kremser“ zum Anlaß für eine Einladung. Rasch wird der Weg zu Weinhebers erklärt:
Und den Wald durch, zur Rechten hinaus,
plötzlich leuchtets – da steht uns das Haus
in dem reifen, herbstgelben Lichte!
So tritt ein! Und wir freun uns des Weins
und der Stille. Da les ich dir eins
meiner letzten Kirchstettner Gedichte.
In ihrer Neigung zum Wein waren sich beide Dichter nicht unähnlich. Freilich hat der Alkohol in ihren Biographien nicht nur segensreich gewirkt. Von Auden wollen wir hier dezent schweigen, aber Weinheber hat – nomen est omen zum Zeitpunkt der Entstehung seines Gedichtes bereits die zweite erfolglose Entziehungskur hinter sich. Als kleinbürgerlicher Emporkömmling will er seinem Namen Ehre machen, und das tut er leider nicht nur mit Gedichten, sondern auch als chronischer und notorischer Weinsäufer. Auf jede Hebung im Versmaß dürfte er so manches Glas vom Goldenen und vom Roten gehoben haben.
Nur damit keine Mißverständnisse aufkommen: Zu einem Treffen der beiden lyrischen Zecher ist es auf dieser Welt nie gekommen. Weinheber hat sein Gedicht „Kirchstetten“ auch nicht etwa auf Auden gemünzt, sondern auf einen gewissen „Dr. Walter Birk, Arzt in Kirchstetten“. Als Auden 1958 nach Kirchstetten kommt, liegt Josef Weinheber bereits seit vierzehn Jahren unter der Erde.
*
Mit Adel und Untergang erhebt Josef Weinheber erstmals den Anspruch, der legitime Nachfolger großer Dichter von Hölderlin bis Rilke zu sein. Daher auch der Titel: Unser Dichter sieht sich in einer Reihe von Geistesadligen, deren Vermächtnis angeblich vom Untergang bedroht ist. Seinen ehrgeizigen Anspruch untermauert er mit komplexen Gedichtzyklen unter schwerblütigen Überschriften. Eine sogenannte „Heroische Trilogie“ ragt durch ihre penible Verwendung tradierter Gedichtformen besonders hervor. Ihr erster und dritter Teil bestehen aus den jeweils fünfzehn Stücken eines kunstvoll verflochtenen Sonettenkranzes, den mittleren Teil bilden längere Terzinengedichte.
Keine Frage, daß Sonettenkränze besonders sportive Formen der Versdichtung sind: Die Schlußzeile jedes Sonetts dient zugleich als Anfangszeile des nächsten; das letzte Sonett, „Meistersonett“ genannt, wird aus allen Schluß- beziehungsweise Anfangszeilen der vorangegangenen vierzehn Sonette gebildet, und zwar exakt in der Reihenfolge ihres Auftretens. Man kann sich leicht ausmalen, wieviel vorausschauendes und planerisches Geschick ein solches Gebilde aus rund zweihundert streng nach Schema verfaßten Versen dem Dichter abverlangt. Denn selbstverständlich hat sich das Meistersonett nach den Vorgaben des Musters zu reimen und soll auch inhaltlich den krönenden Abschluß des kunstvollen Kranzgeflechtes bilden.
Ähnlich kunstvoll verflochten sind auch die drei Terzinengedichte des Mittelteils – „Canti“ würde man sie bei Dante nennen, denn aus Terzinen bestehen bekanntlich auch die Strophen der Göttlichen Komödie. Hier schafft schon das Reimschema die erwünschte Verknüpfung: Wie ein (alter) Zopf ist jede Terzinenstrophe mit der nächsten durch einen gemeinsamen Reim verknäult. Die Form signalisiert also gehobenes Können und gediegenes Handwerksethos. Wie aber ist es um den Inhalt bestellt?
Mit den Worten Weinhebers haben die drei Teile der „Heroischen Trilogie“ „… insgesamt die Themen Ehe, Heimat und Tod zum Vorwurf“. Das klingt für die dissoziierten Mitglieder zeitgenössischer Patchworkfamilien nur mäßig verlockend, doch die Gedichte halten einer skeptischen Lektüre weitgehend stand. Es sind durchweg solide verlötete, wenn auch manchmal etwas sperrige Meisterarbeiten. Am besten geraten Weinheber vor allem solche Passagen, in denen ein konkretes Erleben beschrieben wird. Dazu zählen insbesondere Kindheitserinnerungen aus dem mittleren, der „Heimat“ gewidmeten Zyklus:
Der Vater nimmt mich auf sein Knie und schaut
mich lange an und lächelt. Seine Blicke
sind seltsam weither, tief und unvertraut.
Bisweilen bricht ins träge Uhrgeticke
sein wildes Singen aus. Der heiße Klang
verbebt, indes ich schwebend mich entzücke.
Man merkt schon, daß an diesem Vater-Sohn-Verhältnis etwas nicht stimmen kann. Die wenigen kostbaren Momente der Nähe scheinen einer großen Ferne und Fremde abgerungen zu sein; den glückhaften Momenten der Gemeinsamkeit tickt eine trügerisch „träge“ Uhr. Und tatsächlich:
Dann ist der Vater wieder fort, im weiten
verlaßnen Haus ist Stille wie nur je.
Der Garten schläft, die Abendschatten gleiten;
die Trauer und die Strenge sind ein Schnee,
der stetig fällt und Schlaf ist – ohne Frieren:
Ein süß- und sanftes, blutvertrautes Weh.
Starke, treffsichere Bilder einer schwierigen Kindheit sind das. Der melancholische Reiz der Schneelandschaft, die Geborgenheit und Verlorensein zugleich ausstrahlt, ist als Metapher für das Erleben des Kindes gut gewählt. Auch sonst überzeugt das Gedicht durch Anschaulichkeit: Das „weite Haus“ zum Beispiel ist vielleicht gar nicht besonders groß, sondern erscheint nur dem Kind so, das sich in seiner Isolation doppelt klein fühlt.
Hinter all dem detailfreudigen Ausmalen samt „Uhrgeticke“ und „schlafendem Garten“ steckt nicht nur ästhetisches Kalkül, sondern auch seelische Notwendigkeit: Je kostbarer und rarer eine Erinnerung ist, desto wichtiger wird es, sie lebendig zu erhalten. Umgekehrt gilt: Je greifbarer das Erinnerte fortlebt, desto schmerzlicher wird dem Erinnernden dessen uneinholbare Ferne bewußt. Aus dieser inneren Spannung von Vergänglichkeit und Vergegenwärtigung bezieht das Gedicht, allen formalen Beruhigungsmomenten zum Trotz, seine Energie. Weinhebers Terzinen thematisieren also ein doppeltes Erinnern: Da ist das Erinnern des Kindes, das den verschwundenen Vater im Gedächtnis lebendig zu erhalten versucht; und da ist das Erinnern des Erwachsenen, der die raren Glücksmomente einer verlustreichen Kindheit beschwört. Beide Motive, das Erinnerte und der Akt des Erinnerns, überlagern einander wechselweise. Das verleiht dem Gedicht eine wabernde Vielschichtigkeit und hält es weitgehend frei vom Kitsch ungefilterter Nostalgie.
Wer eine normale, erfüllte Kindheit verlebt hat, müßte soviel anstrengende Konservierungsarbeit wohl kaum aufwenden. Weinhebers Versuch, das Flüchtige im Gedicht festzuhalten, deutet auf eine „verlorene“ Kindheit hin, der die Unbefangenheit des frühen Geborgenseins abgeht. Nicht nur der Vater, auch die Mutter erscheint in diesem Szenario als wenig verläßliche Größe:
O Einsamkeit, in die seither verbannt,
ich fürder mit der roten Mutter lebe
und rückwärts wandle durch das Kinderland.
Du leiser Regentropfenfall! Geschwebe
des Winds im Herd, verschlafner Grillenlaut
unsäglich fern und fein wie Spinnenwebe!
In bestem Psychologendeutsch könnte man sagen, daß Weinheber den Tod der Mutter nicht „verarbeitet“ habe. Er selbst sagt es auf seine Weise: daß er sich seither vom Leben abgeschnitten fühle, daß er „mit der toten Mutter“ lebe, sich ihrer Abwesenheit also ständig schmerzlich bewußt sei. Fast könnte man sich an Norman Bates in Hitchcocks Psycho erinnert fühlen, den Motelbesitzer mit der konservierten Frau Mama im Keller. Gut, daß Weinheber Gedichte schrieb und keine Herberge führte. Auf diese Weise konnte er die Mutter mit Worten am Leben erhalten. Und wir, als die auf ihn angesetzten Privatdetektive, kommen ungeschoren davon.
*
Halten wir noch einmal fest, welchen Stellenwert das Erinnern in Weinhebers Seelenhaushalt hatte: An die Stelle selbsterfüllten Lebens ist eine Existenz in der Retrospektive getreten; der lyrische Erzähler der „Heroischen Trilogie“ geht nicht vorwärts, sondern wandelt, wie es im gerade gehörten Zitat wörtlich heißt, „rückwärts… durch das Kinderland“. Der letzte Entwicklungsschritt ins Erwachsensein dürfte ihm in dieser Gangart dauerhaft verstellt geblieben sein.
Als Ersatz für ein tätiges Leben im Hier und Heute dient dem Erzähler die „unsäglich ferne und feine Spinnenwebe“ der Erinnerung. Lebensfülle und innerer Reichtum werden von ihm nicht in der Gegenwart erlebt und erfahren, sondern in bittersüßen Reminiszenzen reaktiviert. Die Detailversessenheit reicht bis zu so hauchzarten Sinneseindrücken wie dem „Geschwebe des Winds im Herd“ und einem „verschlafnen Grillenlaut“. So anhaltend beharrt Weinheber auf dem Reichtum kindlichen Erlebens, daß das Kind von einst ihm schließlich mehr als Gefäß für Wahrnehmungen aller Art denn als eigene Persönlichkeit erscheint:
O Reichtum Lebens, nie mehr zu verlieren:
Als ich ein Kind war randvoll angetan
Mit Wolken, Blumen, Wäldern, Ding- und Tieren…
Da kann unser Dichter noch so lange eine „nie mehr zu verlierende“ Unvergänglichkeit beschwören – der Gestus seines Gedichtes spricht um so beredter von der Angst vor Verlusten: Es soll ja, wie das Gedicht selbst sagt, etwas „unsäglich Fernes und Feines“ bewahrt werden. Noch als Erwachsener muß der lyrische Erzähler offenbar achtgeben, nichts von der Erlebnisfülle des „randvollen“ Kindes zu verschütten. Dem entspricht die Sehnsucht nach einer Gefülltheit ganz anderer Art: „Randvoll“ war Weinheber ja auch als Erwachsener oft genug, nicht nur mit „Wolken“ und „Wäldern“, sondern, wie wir wissen, mit Wein. Auch darin mag man einen Hinweis auf innere Defizite sehen, die gefüllt werden wollten.
Bleiben wir noch einen Moment beim Thema der Erinnerung. Auch das Dichten ist ein Akt des Erhaltens und Konservierens, mit dem einem möglichen Gedächtnisverlust vorgebeugt wird, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, daß das Gedicht seinen Inhalt aus dem individuellen ins kollektive Gedächtnis schleust. Diese Steigerung, ja Übersteigerung läßt ahnen, wie kostbar dem Dichter sein eigenes Erleben erscheinen muß. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß Weinheber sich altgedienter Gedichtformen wie Ode, Sonett und Terzine bedient. Was wäre besser geeignet als sie, die seit Jahrhunderten Bestand haben, dem Flüchtigen Dauer zu verleihen, dem Fragilen Festigkeit? Nicht zufällig gilt der Reim manchem Kulturhistoriker als eine Art archaischer Mnemotechnik, mit der unsere schriftunkundigen Urahnen literarische Daten auf ihre zerebrale Festplatte gebrannt haben.
So gesehen ist Weinheber schon durch sein Kindheitserleben ein im Wortsinn „konservativer“, weil bewahrender, Dichter, dessen Formversessenheit sich mit tiefsitzenden biographischen Verlustängsten paart. „Rückschrittlichkeit“ ist für ihn kein Schimpfwort, sondern eine Überlebensstrategie. Noch eine andere Funktion kommt der Form in Weinhebers Lyrik zu: die der künstlich-kunstvollen Beruhigung eines inneren Seelentumults. In Adel und Untergang ist dieser Prozeß der Selbstzähmung bereits weitgehend abgeschlossen. Welche elementaren Triebkräfte Weinheber zu bändigen hatte, wird vor allem in den Bänden vor Adel und Untergang deutlich. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen.
Es ist diese mühsam errungene Beruhigtheit seiner Gedichte, die Weinheber im Literaturbetrieb der späten zwanziger Jahre zu einer anachronistischen Erscheinung macht. Vergessen wir nicht: Es ist die Zeit der Neuen Sachlichkeit. Kästner, Mehring, Ringelnatz, Tucholsky feiern in Berlin ihre größten Erfolge, und in Wien kann ein Theodor Kramer alleweil mit flotteren Versen aufwarten als der Underdog Weinheber. Der Sprachduktus von Adel und Untergang dürfte in diesem Umfeld hoffnungslos antiquiert gewirkt haben – altmodisch nicht nur auf die klassisch-zeitlose Weise, wie sie Weinheber vorgeschwebt hat, sondern immer wieder ins Betuliche und Puppenstubenhafte abgleitend. All die weihevollen Anrufungen: „O Reichtum Lebens!“, „O Einsamkeit!“, all das „fürder“ und „indes“, das „wandeln“ und „entzücken“ entsprachen nicht einmal im beschaulichen Wien dem urbanen Soundtrack der neuen Zeit. Kein Wunder, daß Weinheber jahrelang vergebens auf der Suche nach einem Verlag für Adel und Untergang war, ehe sich der rechtsnationale Verleger Adolf Luser des Parteigenossen erbarmte und Adel und Untergang in schwarzem Leinen, mit dito schwarzem Kopfschnitt und goldenem Prägedruck unter das Volk brachte; offenbar sollte der behauptete Untergang durch eine Trauergewandung noch unterstrichen werden.
Selbstberuhigung ist aber nur ein Aspekt der Fixierung auf lyrische Formalitäten. Terzinen zum Beispiel sind von Haus aus unruhig und vorwärts treibend: Jede Strophe verweist mit ihrem Mittelvers auf die nachfolgende, die den Reim aufnimmt, weiterführt und ihrerseits an einen neuen Reim weiterreicht. Es ist ein bißchen wie beim Stafettenlauf, bloß mit wechselnden Stafetten. Insofern trägt die Strophenform der inneren Unrast Rechnung, die den Mittelteil der „Heroischen Trilogie“ thematisch bestimmt. Die Versform hingegen, diese behäbig dahinschreitenden Blankverse, stehen für den anderen Empfindungspol. Zwischen rhythmischem Autismus und gereimtem Dauerlauf kommt Weinhebers Erinnerung nicht wirklich zur Ruhe.
*
Was die Gedichte bereits ahnen lassen, belegen die biographischen Fakten. Josef Weinheber kommt 1892 als erstes Kind seiner noch unverheirateten Eltern in Wien zur Welt. Der Vater, Johann Christian Weinheber, ist ein gelernter Metzger, der sich durch den An- und Verkauf von Vieh mühsam über Wasser hält. Doch eine Ehe ist kein Kuhhandel. Bald zeigt sich, daß der Zweiunddreißigjährige kaum imstande ist, eine Familie zu ernähren. Allen Bedenken zum Trotz heiraten Weinhebers Eltern zwei Jahre nach der Geburt des Sohnes. Die Familie bezieht eine gemeinsame Wohnung im ländlichen Umland Wiens, und in rascher Folge kommen weitere Kinder zur Welt: 1896 die Schwester Amalia, 1898 die Schwester Franziska. Ein viertes Kind stirbt kurze Zeit nach der Geburt.
Die Ehe hält dem Existenzdruck nicht stand. Nach drei Jahren zieht die Mutter, Franziska Theresia Weinheber, zusammen mit den Kindern zurück nach Wien in ihren Heimatbezirk Ottakring, wo ihre Schwester eine bessere Partie gemacht hat. Johann Christian Weinheber wohnt fortan unter wechselnden Adressen, derweil sein Sohn Josef einen ersten, erschreckenden Ausblick auf die Zukunft erhält: Die überforderte Mutter parkt den Sechsjährigen ein Jahr lang in einer sogenannten „Korrektionsanstalt“ des Wiener Vereins zur Rettung verwahrloster Kinder. Anders als bei Rilke, der seine Jahre auf einer Militär-Unterrealschule stets wortreich verflucht hat, finden sich bei Weinheber kaum Äußerungen über diese bedrückende Episode. Stärker scheinen sich ihm die Ereignisse der kommenden Jahre eingeprägt zu haben:
Plötzlich starb, ich war noch nicht zehn Jahre alt, mein Vater. Die Mutter, die mit den vier Kindern, die jetzt da waren, auf die Gnade des Onkels angewiesen blieb, wurde, schon immer streng und still, in den ewigen Streitigkeiten zwischen den Verwandten bitter und hart zu uns Kindern.
Im Jahr 1901 wird der neunjährige Josef von der überforderten Mutter ein zweites Mal entsorgt, diesmal in das Waisenhaus Wien-Mödling. Die für die damaligen Verhältnisse recht fortschrittliche Anstalt unterliegt strengen militärischen Richtlinien. Es gibt einen Exerzierplatz, auf dem die Zöglinge im Marschieren und Defilieren gedrillt werden. Es gibt aber auch eine hauseigene Volksschule, die Josef für die nächsten Jahre, besuchen wird. Zunächst mit bescheidenem Erfolg:
Das Waisenhaus ist mir nie zur Heimat geworden. Die wenigen Verwandten kümmerten sich nicht um mich, ich fühlte mich allein und hoffnungslos verloren in der Welt, vernachlässigte – früher einer der besten Schüler – mein Studium.
Ab jetzt folgen die Schicksalsschläge hart auf hart. Binnen weniger Jahre werden die wenigen verbliebenen Angehörigen hinweggerafft: Im Jahr 1904 stirbt die Mutter an Schwindsucht; Weinhebers jüngere Schwester Franziska folgt ihr im selben Jahr in den Tod; fünf Jahre später trifft es die zweite Schwester Amalia. Weinheber steht nun buchstäblich allein in der Welt: eine Kindheit wie aus einem Dickens-Roman.
Auch das Waisenhaus bietet ihm keine Zuflucht mehr. Zwar hat er zuvor die Aufnahmeprüfung für ein „Landes-Real- und Obergymnasium“ geschafft, doch als er im fünften Gymnasialjahr im Fach Mathematik durchfällt, muß er – welcher perversen Logik auch immer folgend das Heim verlassen. Wieder verstoßen! Was bleibt, ist das lebenslange Gefühl, ein „Niemandsmann“ zu sein. So formuliert es Weinheber in dem sechzehn Jahre später entstandenen Gedicht „Ehemaliger Waisenzögling“. Selten hat er so nachdrücklich seine verlorene Kindheit thematisiert wie in diesem frühen Sonett, das einen Besuch des Erwachsenen an den Stätten der Jugend zum Ausgangspunkt hat:
In diese Mauern, die noch leis durchbebt
von seinem Athem, Hoffnungshauch und Fluch,
kommt er zurück zu flüchtigem Besuch
und späht nach Kindheit, die er hier gelebt.
Er sucht in Baum und Platz und jedem Stein,
er forscht mit Bangen in der Waisen Blick.
Doch keiner strahlt die ferne Zeit zurück,
und jeder Stein und Baum läßt ihn allein.
Ist es noch Wahrheit? Hat er hier gespielt
mit den Gespielen? Hier geweint im Wind,
geglüht im Lenz? Dies hier ist fremd und kalt.
Er selbst? Er blieb wohl, was er, bang gefühlt,
stets war: ein Niemandsmann, ein Waisenkind.
Nur ist er heut verlassen: stumpf und alt.
Folgen wir noch ein Stück weit Josef Weinhebers wildem Lebenslauf. Endlich hat er auch einmal Glück: Nach seinem Ausschluß aus dem Waisenhaus findet er eine Ersatzfamilie. Die Mutter eines Schulfreundes, eine Lehrerswitwe namens Marianne Grill, nimmt den Achtzehnjährigen als vierten Sohn in ihrer Wohnung auf. Und diesmal wird Weinheber nicht verstoßen. Zumindest äußerlich verläuft sein Leben fortan in gleichmäßigen Bahnen. Er besteht die Prüfung zum Postoffizianten und erhält eine Stelle bei der Kaiserlichen Post. Außerdem bezieht er eine eigene, kleine Wohnung im Haus der Ersatzmutter. Siebzehn Jahre lang wird er in diesen bescheidenen Räumlichkeiten leben, bis er sich 1927 mit einer Arbeitskollegin verheiratet. Es sind, wie wir vermuten dürfen, auch siebzehn Jahre einer nachgeholten Kindheit und Jugend.
Denn sein Leben verläuft weniger gleichmäßig, als man aufgrund der Eckdaten meinen könnte. Zur nachgeholten Adoleszenz zählen häufig wechselnde Frauenbekanntschaften ebenso wie regelmäßige Kneipentouren mit Saufkumpanen aus dem Wiener Vorstadtmilieu. Auch zu Prostituierten fühlt sich Weinheber hingezogen. Seine Eskapaden erfüllen ihn regelmäßig mit tiefer Zerknirschung – erstaunlich, wenn man bedenkt, mit welcher Offenheit etwa die Dichter des Expressionismus ihre Bordellbesuche bedichtet haben. Weinheber hingegen fällt zur Selbstentlastung nichts Besseres ein, als die Hure zur Heiligen zu verklären oder doch zumindest zu jener anderen Hauptdarstellerin aus dem Repertoire des Hintertreppenromans, der reuigen Sünderin. Trotz solcher Bigotterie ist „Die Dirne“ ein gutes Gedicht geworden, in einem stillen, wie von selbst zu Reimen findenden Alltagston.
Sie war eine Dirne, doch noch jung
und ihr Körper war noch schön.
Und es war wie eine Kreuzigung
der Zwang, mit ihr zu gehn
Sie sprach kein einziges schmutziges Wort,
die verachtete Dirne sie.
Und sie erinnerte immerfort
an die Liebste irgendwie.
Und als ich ging, sie sagte nur schlicht:
„Sei mir nicht bös!“ Sonst nichts.
Herrgott, am Tag des Gerichts
vergiß das Wort ihr nicht!
Vergessen wir unsererseits nicht, daß viele Expressionisten aus großbürgerlichen Verhältnissen stammten. Für sie war der offen bekannte Besuch im Bordell eine abenteuerliche Regelverletzung und ein Ausdruck der Loslösung aus ihrem Herkunftsmilieu. In Weinhebers Vorstellung dürfte der Umgang mit Prostituierten eher das Gegenteil bedeutet haben: Zugehörigkeit zu den kleinen Leuten. Um sich aus diesem Milieu zu lösen, muß er mit etwas ganz anderem auftrumpfen: Bildung, Geist, Askese – je mehr, desto besser. Allein das Fleisch ist schwach. Ein Gedicht des Vierundzwanzigjährigen bringt den Konflikt zwischen den scheinbaren Gegensätzen „Geist“ und „Lust“ nicht ohne unfreiwillige Komik auf den Punkt. Übrigens scheinen Weinhebers Sympathien zu diesem Zeitpunkt noch recht klar verteilt zu sein: Volle sechs Verse widmet er dem „Leben und Lachen“, gerade mal zwei dem „Geist“.
Ewiger Zwiespalt zwischen Hirn und Lenden,
dunkler Wahn,
wirst du niemals enden?
Laß mich jubeln, leben, lachen, weinen,
nur dem goldenen Heute aufgetan,
blinden Blutes eins sein mit der Einen,
nur mehr Körper, nur mehr Weib und Mann,
selig so, wie es die Tiere meinen:
Schoß in Schoß…
Oder laß mich, einsam, hart und groß,
ganz im Geist versteinern.
Ich sprach von „unfreiwilliger Komik“, aber das war vielleicht ein bißchen vorschnell. „Komische Verzweiflung“ trifft es eher und könnte durchaus der von Weinheber beabsichtigte Effekt sein. Immerhin hat er einige Jahre lang eine humoristische Wiener Zeitschrift namens Die Muskete mit Gedichten munitioniert. Wie treffsicher diese publizistische Flinte wirklich war, steht auf einem anderen Blatt beziehungsweise einer anderen Zielscheibe, doch immerhin: Die nachfolgenden Verse entladen sich nach etwas stotterigem Anlauf in einer ganz ordentlichen Pointe à La Heine:
Fünfuhrtee. Eine Dame, ein Herr,
eine Dame, ein Herr – es klappt.
Der Automat der Geselligkeit
ist eingeschnappt.
Jetzt noch ein Weilchen und er schnappt
Über! – Man möchte schrei’n.
Wie tragen nur diese Menschen ihr Los:
„Unter sich“ zu sein.
*
Die Lösung für Weinhebers Herkunftsdilemma lautete: Dichter werden. Die Lösung für sein Frauendilemma lautete: heiraten. Im Jahr 1934, als Adel und Untergang erscheint, hat Weinheber beide Entwicklungsschritte biographisch vollzogen. Er inszeniert sich nun als großer, einsam-verkannter Poet in bürgerlichen Lebensumständen. Zumindest nach außen hin sind die Jahre der stürmischen Selbstsuche vorbei. Von einer wirklich tiefgreifenden Selbstklärung kann freilich keine Rede sein – auch das zeigt die bereits erwähnte „Heroische Trilogie“. Weinheber hat den ersten Teil mit der Widmung „Für meine Frau“ versehen. In präzisen Sonetten schreitet er den engen Zirkel einer scheinbar soliden bürgerlichen Existenz aus. Doch die vermeintliche „Geborgenheit“ der eigenen „vier Wände“ gleicht in Wahrheit mehr einem aromaversiegelten Schutzraum als einer souverän ausgefüllten Lebenssphäre:
Der Weg liegt klar, wenn oft das Herz auch bebe;
er führt mich heldenhaft, durch Einsamkeit,
an deine Brust. Schon schweigt die wüste Zeit,
der Arm zieht einen Kreis, und sieh, ich lebe
auf einer Insel der Geborgenheit:
Vier Wände, Herd und Lampe, Woll und Webe,
Wachsein und Schlaf, Umarmung, Brot und Rebe
bedeuten Welt, weil du sie hast geweiht.
Es mutet fast rührend an, wie Weinheber hier mit einer quasi magischen Geste – „der Arm zieht einen Kreis, und sieh, ich lebe“ – einen zeit- und weltentrückten Raum heraufbeschwört, in dem er seiner sieben Jahre älteren Frau Hedwig an die ersatzmütterliche Brust sinken darf. Kein Wunder, daß auf dieser „Insel der Geborgenheit“ alle Lebensäußerungen auf frühkindliche Grundmuster des Versorgtwerdens und Umhegtseins zusammenschnurren. Und es ist ja auch nicht die schlechteste Deutung der eigenen Alkoholsucht, wenn an die Stelle der Muttermilch nun die „Rebe“ tritt: „Wachsein und Schlaf, Umarmung, Brot und Rebe“. Was stört, ist die hochtrabende Behauptung der eigenen Heldenhaftigkeit:
Der Weg liegt klar, wenn oft das Herz auch bebe;
er führt mich heldenhaft, durch Einsamkeit,
an deine Brust. (…)
Menschlich mag diese selige Regression mehr als verständlich sein. Aber literarisch? Wie so oft bei Weinheber nervt, daß er seine persönliche Problematik zu Aussagen über die Dichtung-als-solche und die Menschheit-als-Ganzes aufpustet. Vom Mann zum Helden, vom Ich zum Wir, vom Hier-und-heute zum Immer-und-ewig ist es bei ihm nur einen klappernden Versfuß weit. Besonders in seinen Oden wird anstelle des angestrebten klassisch-kühlen Atems viel heiße Luft freigesetzt. Erschwerend kommt hinzu, daß der vermeintliche Traditionalist einer Lieblingsmarotte der klassischen Moderne aufgesessen ist: der Idee vom absoluten Gedicht, das angeblich von allen Schlacken irdischer Bedeutung befreit ist.
In einer sprachlich verrotteten Zeit habe ich mich bemüht, deutschen Sprachwert im Gedicht zu retten und aufzubewahren. In diesem Bemühen fortschreitend, habe ich das Gedicht um jene Möglichkeiten bereichert, die der Laut als solcher sprachgestalterisch in sich trägt. Der Stoff, also das, was die Leute gern in Reime gebracht sehen wollen, wird hierbei auf die ihm in der Kunst zukommende, unerhebliche Rolle zurückgeführt.
Aber gewiß doch. Antike Dramen handeln bekanntlich von gar nichts, so wie antike Plastiken nichts Erkennbares darstellen. Vergil hat auch nie das „Lied vom Landbau“ geschrieben und Ovid nie über die Liebeskunst. Die klassischen Oden sind sozusagen die unmittelbaren Vorläufer von Kurt Schwitters’ „Ursonate“, und Stoff ist etwas für Textilwarenhändler, nicht für Dichter. Wer’s glaubt, wird Weinheber.
Ein ganzes Kapitel in Adel und Untergang steht unter der Überschrift „Das reine Gedicht“. Schaut man etwas genauer hin, trübt sich die vermeintliche Reinheit jedoch schnell ein. Letztlich läuft alles auf einen schwächlichen Neuaufguß der schon bei Stefan George ziemlich ungenießbaren Prophetenpose hinaus:
Du gabst im Schlafe, Gott, mir das Gedicht.
Ich werde es im Wachen nie begreifen.
Nachbildend Zug um Zug das Traumgesicht,
nur sehnen kann ich mich und Worte häufen.
Wobei man Weinheber immerhin eine Bescheidenheit des „Niebegreifens“ zugute halten darf, die man beim selbstherrlichen George vergeblich sucht.
*
Weinhebers folgenreichste Fehlentscheidung war ohne Zweifel sein Bekenntnis zur NSDAP samt frühzeitigem Parteibeitritt im Jahr 1931. Man kann viele Gründe dafür finden. Die lebenslange innere Heimatlosigkeit des ehemaligen Waisenhauszöglings, die Sehnsucht des sozialen Außenseiters nach Anerkennung im Literaturbetrieb, die fixe Idee einer „reinen“ deutschen Sprache – all das mag eine Rolle gespielt haben und konnte auch von aufmerksamen Zeitgenossen wahrgenommen werden. Der österreichische Germanist Albert Berger präsentiert diesbezüglich in einer 1999 erschienenen Studie über Weinhebers Leben und Werk ein staunenswertes Dokument. Es handelt sich um einen Geheimbericht der österreichischen „Generaldirektion für öffentliche Sicherheit“ aus dem Jahr 1936. Ein Geheimpolizist des ständestaatlichen Regimes unter Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg gewinnt darin verblüffend subtile Einsichten in den Seelenhaushalt seines Objektes.
Josef Weinheber, der als Schriftsteller (…) lange Zeit das Gefühl hatte, nicht genügend gewürdigt zu werden, dürfte in seiner Grundeinstellung national gesinnt sein. Diese Gesinnung tritt je nach lokalem Erfolg mehr oder minder stark in Erscheinung, und zwar in der Weise, daß Weinheber, wenn er sich z.B. von der österreichischen Regierung nicht genügend gewürdigt und gefördert glaubt, seiner Hinneigung zum Nationalsozialismus freien Lauf läßt. Im gegenteiligen Fall aber (bei nicht genügendem Widerhall in nationalen und nationalsozialistischen Kreisen) sein Österreichertum (Bodenständigkeit, Mundart, „Wiener Kind“) neu entdeckt.
Doch wie subtil die Ursachen für Weinhebers „Hinneigung zum Nationalsozialismus“ auch gewesen sein mögen, die Resultate fielen recht handfest aus. Anfang der dreißiger Jahre war Weinheber ein Schriftsteller mit geringem Erfolg: Von den tausend Exemplaren seines ersten Gedichtbandes hatten sich gerade mal neunundsechzig Stück verkauft; für seinen zweiten Gedichtband hatte er persönlich Subskribenten suchen müssen, ehe der Verlag sich zum Druck entschließen mochte; von seinen drei Romanen wurde nur ein einziger in Buchform veröffentlicht, und mit dem Manuskript zu Adel und Untergang zog er drei Jahre lang vergeblich von Verlag zu Verlag. Das alles ändert sich unter den Auspizien des neuen Regimes. Das Erscheinen von Adel und Untergang im rechtsnationalen Adolf-Luser-Verlag bringt 1934 den Durchbruch in eine von fähigeren Kräften schon weitgehend entleerte Literaturlandschaft. Von nun an steigen die Auflagen stetig: Weinhebers Gedichtbände werden mit vierzigtausend Exemplaren und mehr unter das aufgepeitschte Volk gebracht. Erst der Krieg samt Papiernot und Bombenbrand versetzt der schwunghaften Weinheberei im Reiche einen Dämpfer.
Zum Publikumserfolg gesellen sich öffentliche Ehrungen. 1936 wird Weinheber ein Professorentitel honoris causa zugesprochen, mit dem der österreichische Ständestaat den Dichter an sich zu binden versuchte. 1942 folgt die Ernennung zum Doktor h.c. der inzwischen großdeutschen Universität Wien. Großzügige Ehrengaben, unter anderem aus Goebbels’ Propagandaministerium, sorgen dafür, daß der vormalige Postinspektor Prof. Dr. Weinheber seine Depressionen nicht mit allzu saurem Wein bekämpfen mußte. Die Depressionen aber nehmen zu, und dazu trägt wohl nicht nur Weinhebers labile Psyche bei, sondern auch die schmerzliche Einsicht, auf der falschen Seite zu stehen. 1938 veröffentlicht er seinen letzten Band zu Lebzeiten: Zwischen Göttern und Dämonen. Schon der Titel könnte hellhörige Zeitgenossen an den dumpfbrutalen Grundzug des Naziregimes erinnert haben. Weinheber scheint klargeworden zu sein, daß er – „zwischen Göttern und Dämonen“ stehend – die falsche Partei gewählt hat. Nun weiß er, daß er besser daran getan hätte, sich nicht unter die Schreihälse zu mischen:
Doch rettet nur die Art, die es schweigend tut.
Von greller Leistung fürchterlich aufgeschreckt,
flieht als geheimste von den heilsam
helfenden Kräften hindann die Güte.
Von Depressionen befallen, vom Alkohol zersetzt, arbeitet der Dichter noch weitere sieben Jahre lang an einem letzten Gedichtband. Erst 1947 wird das Buch posthum erscheinen, denn am achten April 1945 erliegt Josef Weinheber in Kirchstetten einer Überdosis Morphium. Der Arzt vermerkt auf dem Totenschein eine „Vergiftung durch Nervenschwäche“, womit die Möglichkeit eines Freitodes nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Beweisen läßt ein Suizid sich nicht, doch ein Foto aus den letzten Lebenstagen zeigt Weinheber mit allen Merkmalen eines seelisch kranken und körperlich ausgelaugten Menschen. Der einst fesche, zeitweise geradezu feiste Dichter sieht den Betrachter nun aus dunkel umränderten Augen an. Hohle Wangen, eine zerzauste Sturmfrisur und fest zusammengepreßte Lippen zwischen abwärts weisenden Mundwinkeln vervollständigen den mitleiderregenden Eindruck.
Nicht nur der jahrzehntelange Alkoholmißbrauch hat ihn in diesen desolaten Zustand gebracht – hinzu kommt die sehr reale Angst vor den anrückenden Truppen der Roten Armee. Noch im Jahr 1943 hatte ihn die Aufnahme in die sogenannte Führerliste der „gottbegnadeten Dichter“ davor bewahrt, an die Front geschickt zu werden. Nun rückt die Front zu dem uk-gestellten Pg. W. vor. Sechs Tage vor seinem Tod schreibt er einen Brief an die Ziehmutter Marianne Grill. Auch wenn darin von Selbstmord nicht die Rede ist – einen Abschied auf immer markiert die Epistel dennoch:
Liebe Mama! Wir werden uns in diesem Leben nicht mehr sehen. Ich danke Dir für alles Gute, das Du an mir getan hast. Ich kann Dir wahrscheinlich kein Lebenszeichen mehr geben, weil ich Stunde für Stunde damit rechne, daß wir von der Außenwelt abgeschnitten werden. Lebe also wohl!
Nur fünf Tage nach Weinhebers Tod marschieren die russischen Truppen in Kirchstetten ein, Weinhebers Grab wird bei der Einnahme des Ortes durchwühlt. In Kirchstetten endet die Herrschaft der Nationalsozialisten an diesem Tag. Und auch die Zeit, in der Weinhebers Gedichte als die größten Hervorbringungen zeitgenössischer Literatur gelobt werden, neigt sich unwiderruflich dem Ende zu.
*
Nun aber ist es an der Zeit, Adel und Untergang einer abschließenden Wertung zu unterziehen. Was haben wir rund sechzig Jahre nach Erscheinen des Bandes von diesen Gedichten zu halten, was wird von Josef Weinheber als Künstler bleiben?
Was uns an Weinheber heute wieder interessieren könnte, ist seine Leidenschaft für die Techniken der Lyrik und die lebenslange Weiterentwicklung der eigenen handwerklichen Fähigkeiten. In unseren Zeiten einer fast schon industrialisierten Kunst-Moderne, in der beharrlich wiederholte Marotten bereits als Ausweis des Schöpferischen gelten, ist das keine Kleinigkeit. Leider hinkte Weinhebers Entwicklung als Mensch seinen artistischen Fortschritten meist hinterher. Das gilt insbesondere für die mittlere Werkphase: Während manches frühe Gedicht seinen Reiz aus der formal gelungenen Inszenierung eines inneren Aufruhrs bezieht, während einige spätere Gedichte einen leisen, nachdenklichen Ton anschlagen, wirken die Gedichte aus Adel und Untergang eher künstlich beruhigt als künstlerisch belebt.
Und dennoch ist Form keineswegs etwas, was Weinhebers Lyrik nur äußerlich anhaften oder ihr übergestülpt würde, sondern etwas, was sie definiert. Wir müssen diese Aussage weder auf Weinheber noch auf die Gattung der Lyrik begrenzen: Alle Kunst ist Form. Die Form ist das Signum des Gestalteten, im Gegensatz zum Ungestalten, zum Chaos. Einzelne künstlerische Techniken mögen veraltet sein – oder zumindest vorübergehend veraltet wirken −, neue Techniken mögen im Lauf der Jahrhunderte hinzukommen, aber ein ungebrochener Fortschrittsgedanke hat in der Kunst keinen Platz.
Wie schwer es eine formal versierte Lyrik in den Zeiten eines akademischen Trivialmodernismus hat, zeigt die Studie des bereits erwähnten Albert Berger. Josef Weinheber (1892–1945) Leben und Werk – Leben im Werk lautet der vielleicht gar zu knallig geratene Titel des Bandes. Berger ist ein Exeget, wie man ihn keinem Lyriker wünscht; einer von der Sorte, die einen Gedichtband als „Büchlein“ bezeichnet und Vers und Reim als „konventionelle Sprachzugaben“ – anscheinend ist Herr Berger der Ansicht, Gedichte würden erst nachträglich mit einer Art Reimlametta behängt, das die Verfasser aus verstaubten Schubladen hervorziehen. Ein seltsames Kunstverständnis – so als ob Caspar David Friedrich seine Gemälde nachträglich mit Ölfarbe verziert hätte.
Bei Weinhebers „Sonettenkränzen“ vermutet Herr Berger ein „Übergewicht des Handwerklichen“, wie wenn sich Form und Inhalt beliebig voneinander trennen ließen. Mit den freien Formen andererseits hat er es auch nicht: Heinrich Heines reimloses Gedicht „Seegespenst“ gilt ihm als „rhythmisierte Prosa“. Und erst sein Begriff von der Moderne… Expressionismus und Dadaismus hält der gute Mann für mehr oder weniger ein- und dieselbe Sache.
Doch lassen wir von dem armen Literaturprofessor ab. Fest steht: Fähige Lyriker denken in ganz anderen Kategorien. Die meisten Galionsfiguren der Moderne waren weit davon entfernt, den Reim in Bausch und Bogen zu verdammen – siehe etwa Audens berühmtes Ikarus-Gedicht „Muset des Beaux Arts“ und dessen geschickt versetzte Assonanzen. Weshalb es nur angemessen ist, wenn wir so schließen, wie wir begonnen haben: mit Audens Gedicht über… Aber halt! Es steht noch die Schlußwertung in Sachen Weinheber aus. Alsdann…
Obwohl Weinheber kein wirklich großer Dichter war, sind einzelne Gedichte – auch und gerade in Adel und Untergang – wirklich großartig. Wenn man aus seinem lyrischen Werk alle hochtrabenden, verkrampften, dumpfigen, altbackenen Stücke hinauswerfen würde, bliebe immer noch eine nennenswerte Auswahlausgabe, die manchen Verächter staunen lassen würde.
So, und nun wollen wir unsere Überlegungen beschließen, wie wir sie begonnen haben: mit Audens Gedicht über Josef Weinheber:
und achten würde ich auch dich,
als Nachbarn und Kollegen,
denn sogar mein englisches Ohr
entdeckt in deinem Deutsch
das Können und den Ton desjenigen,
dem es vergönnt war,
auf dem umzäunten Grün
das Spiel der Geigen zu vernehmen,
und dem es später oblag, den
Abgrund zu nennen.
PS: Nicht nur Weinheber, auch Auden ist in Kirchstetten begraben. Die beiden Dichter liegen zwar nicht Seite an Seite, aber doch in gut erreichbarer Nähe – gut erreichbar für den Besucher, meine ich, aber wer weiß: Vielleicht geistern unsere Dichter bisweilen hin und her und holen ihr verpaßtes Zwiegespräch nach.
(…)
Und so brechen wir denn auf zu einer Zeitreise durch die lyrische Dichtung der letzten hundert Jahre. Für jedes Jahrzehnt werden wir einen Lyrikband auswählen und auf den TÜV-Prüfstand stellen. Nicht nur große Dichter, auch große Scharlatane werden unseren Weg kreuzen, und manch einer vereint gar beide Rollen in einer Person. Kleine Hochstapler und schmierige Trickbetrüger werden unsere Nähe suchen, doch selbst, wenn sie sich hinter berühmten Namen verbergen, darf uns das nicht täuschen. Die meisten von ihnen haben ohnehin keine Chance, auf den kommenden Seiten erwähnt zu werden, denn unsere Tugenden lauten Beschränkung und Konzentration.
Daß wir interessante Beobachtungen machen werden, unterliegt keinem Zweifel. Ob wir zu einem für die Dichtung glücklichen Ende gelangen werden, ist zumindest fraglich. Eine Frage aber sollten wir am Ende klar beantworten können: Welcher Dichter hat mit welchem Gedichtband dem Zahn der Zeit am nachhaltigsten getrotzt?
Obwohl ja wenige Dinge nachhaltiger von der Zeit bedroht sind als gerade ein Zahn. Fragen sie meinen Dentisten.
Steffen Jacobs, Vorwort
Jeder kennt sie, aber nicht jeder liest sie: Busch, Rilke, George, Weinheber, Benn, Rühmkorf, Enzensberger, Hartung, Gernhardt, Grünbein. Sie gelten als die Blüte deutscher Dichtkunst, ihre Werke finden sich in allen neueren deutschen Gedichtsammlungen des 20. Jahrhunderts, und in Oberseminaren kaut man auf ihren geistigen Erzeugnissen herum wie auf zähem Leder. Aber: wie gut sind sie wirklich? Was haben sie außer ihren zehn in jeder Anthologie vertretenen Glanzstücken noch geschrieben? Und: halten diese auch dem Blick des praktischen Kenners stand?
Steffen Jacobs ist selbst zur Zunft der Gedichtmetze gehörig und weiß um die Schwierigkeiten des Metiers aus jahrzehntelanger Praxis. Er unterzieht je einen Lyriker pro vergangenem Jahrzehnt einem unbarmherzigen Test (und je zehn einem Lyrik-Schnelltest). Seine Untersuchungen entbehren weder der Hinterlist noch gelegentlichen Augenzwinkerns. Die Ergebnisse sind höchst unterschiedlich und oft ziemlich originell.
Eichborn Verlag, Ankündigung
– Hochtourig und ohne Bremse: Der Lyrik-TÜV von Steffen Jacobs. –
So ein Gedicht-TÜV ist an sich eine gute Sache. Was aber, wenn der TÜV-Beamte Stefan Georges Lyrik damit erklärt, der Dichter sei von seiner Mutter zu wenig auf den Mund geküsst worden? Durchgefallen!
„Die Beurteilung zeitgenössischer Lyrik begeht fast durchweg den Fehler, nur auf das jeweilige Land und auf die letzten zwanzig oder dreißig Jahre zu achten“, schrieb Hugo Friedrich 1956 im Vorwort zu seinem Klassiker Die Struktur der modernen Lyrik. Zumindest einen dieser zwei Fehler macht Steffen Jacobs, Lyriker und Herausgeber von Anthologien, in seinem soeben erschienenen Lyrik-TÜV nicht, wählt er doch aus dem vergangenen Jahrhundert pro Jahrzehnt einen Gedichtband eines deutschsprachigen Autors aus. Seine Analysen haben allerdings wenig mit denen Friedrichs gemeinsam, die man heute immer noch zu Rate ziehen kann.
Der Lyrik-TÜV entspringt eher einem Evaluationsdenken, wie es heute in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Hochschule bis zum Kindergarten, grassiert. Die ausgewählten Gedichte, so ist im Vorwort zu lesen, werden daraufhin untersucht, inwiefern sie dem „Zahn der Zeit“ getrotzt haben, ob sie noch gelesen oder besser vergessen werden sollten. Gedichtbände seien von Zersetzung bedroht, die Bedeutung vieler großer Dichter rühre eher vom isolierten, wiederholten Abdruck einzelner Gedichte in Anthologien her, weniger von der Qualität der Gedichte. Dichterruhm, so erfährt man, hat sich meistens über Plakativität und größtmögliche Übereinstimmung mit dem Zeitgeschmack verfestigt.
Jacobs stellt die Gedichte nun zur Prüfung zurück in ihren Werkkontext. Welche weiteren Kriterien zur Anwendung kommen sollen, bleibt vorerst im Dunkeln. Stattdessen prüft der Sachverständige munter drauflos, nicht ohne vorher die Warnung auszusprechen, man werde auf diesem Parforceritt durch ein Jahrhundert „nicht nur großen Dichtern, auch großen Scharlatanen“ begegnen. Mit Wilhelm Buschs Zu guter Letzt (1904) beginnend, endet der Band mit Durs Grünbeins Falten und Fallen (1994). Dazwischen stehen Kapitel zu Der Stern des Bundes (1914) von Stefan George, Die Sonette an Orpheus (1923) von Rainer Maria Rilke, Adel und Untergang (1934) von Josef Weinheber, zu Gottfried Benns Statischen Gedichten (1948), Peter Rühmkorfs Irdisches Vergnügen in g (1959), Hans Magnus Enzensbergers blindenschrift (1965), Harald Hartungs Das gewöhnliche Licht (1976) und Robert Gernhardts Körper in Cafés (1987).
Durch das von Jacobs angelegte Raster, das einen Band pro Jahrzehnt vorsieht, fallen allerdings Lyriker aus der Kartei heraus, die zu einer repräsentativen Einschätzung der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts zwingend gehörten. Es fehlen Autoren wie Bertolt Brecht, Paul Celan, Ernst Jandl oder Rolf Dieter Brinkmann. Kein Kapitel ist überdies einer Lyrikerin gewidmet, als wäre von Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko, Unica Zürn, Friederike Mayröcker oder Ingeborg Bachmann kein einziges Gedicht mehr von Bedeutung. Das macht stutzig, besonders angesichts der von Jacobs erkorenen Dichter. Dass sich die Geprüften dann auch noch zu einem guten Teil als Scharlatane entpuppen sollen, steigert das Misstrauen.
Den Irrwitz offenbaren aber erst die Prüfkriterien. Biographische Details und psychoanalytische Platituden müssen herhalten, um den Zusammenhang zwischen frühkindlichen, selbstredend traumatischen Erfahrungen der Lyriker und dem Ton ihrer Gedichte herzustellen. Stefan Georges Mutter Eva mit ihrem „breiten, schmalen, fest zusammengepressten Mund“, die den Sohn niemals geküsst habe, ist schuld daran, „dass George sein Leben lang größte Schwierigkeiten hatte, in einen gleichberechtigten Gefühlsaustausch mit anderen zu treten“. Georges Poetologie und sein Kreis werden salopp zu einer Ausgeburt des Narzissmus erklärt, ohne Würdigung der Georgeschen Sprachkunst und ohne auf dessen Übertragungen von Shakespeare bis Baudelaire auch nur hinzuweisen. Jacobs’ Spekulation, es habe an „Georges Schule der Unterwürfigkeit und Hörigkeit“ gelegen, dass Stauffenbergs Attentat auf Hitler missglückte, trifft nicht nur den Dichter, sondern auch den Erschossenen.
Allerorten wittert der Prüfer vom Lyrik-TÜV neben Pathologien auch sprachliches Unvermögen. Beckmesserisch wirft er etwa Rilke die Verwendung des Reimes „verwettern – klettern“ vor:
Weil sich’s halt reimen muss, wird aus der verwitterten Fassade flugs eine ,verwetterte‘, und glauben Sie bitte nicht, ,verwettert‘ sei ein üblicher Ausdruck der damaligen Zeit. Eben habe ich auf meiner binären Schreibmaschine eine sogenannte Volltextsuche in einem Sammelwerk namens „Die digitale Bibliothek der deutschen Lyrik“ in Gang gesetzt, das immerhin 35 000 Gedichte aus fünf Jahrhunderten enthält. Zu dem Suchwort „verwettert“ fanden sich Fundstellen: keine. Ich wettere darauf, dass besagtes Wörtchen eine Spezialität Rilkes ist.
Ein Griff zum Grimmschen Wörterbuch, das ja inzwischen ebenfalls online verfügbar ist, hätte hier schon weitergeholfen: Unter „verwettern“ findet sich dort: „Seit dem 16. jh. als ableitung von wetter: dem wetter ausgesetzt sein.“
Diese halbherzige Recherche verrät nicht nur eine gewisse Voreingenommenheit, sondern auch das Hausbackene dieses TÜVs, das schöpferische und stilisierende Bewegungen der poetischen Sprache nicht anerkennt und demzufolge – dies immerhin konsequent – einem Pfannkuchengedicht von Wilhelm Busch den Vorzug etwa vor den Sonetten an Orpheus gibt. Die Ergebnisse solcher Prüfungen sind vorhersehbar.
Hinter der Hemdsärmeligkeit, mit der Jacobs sein Geschmacksurteil zur Schau stellt, schimmern Ressentiments durch, die selbst seine Apologien in ein zweifelhaftes Licht rücken. Man hat manches über die Vorlieben dieses TÜV-Beauftragten erfahren, dazu etwas über die psychische Disponiertheit und sexuellen Vorlieben einiger bedeutender Dichter (was man gar nicht hat wissen wollen), aber kaum etwas darüber, was Gedichte zu gelungenen, ihre Zeit überdauernden Kunstwerken macht.
– Steffen Jacobs zitiert deutsche Dichter in seinem Lyrik-TÜV. –
Nachdem der 1968 geborene Steffen Jacobs eine Weile lang als „Lyrik-Doktor“ der Zeitschrift Neue Rundschau gewirkt hat, hat die Andere Bibliothek ihm nun einen Platz als Lyrik-TÜV eingeräumt. Der Titel ist Programm: Im Lyrik-TÜV geht es durchaus bodenständig zu. Anders als der fürs Auto zuständige technische Überwacher allerdings legt Jacobs seine Bewertungskriterien nicht offen. Verstecken kann er sie allerdings auch nicht: Reim und festes Metrum sind für ihn Grundbestandteil eines guten Gedichts. Es soll sich „zwischen luftigem Scherz und dem Ernst der Vernunft“ bewegen, schön und anschaulich sein, harmonisch, nicht pathetisch, überhaupt: lieber keine Experimente! Der Lyrik-TÜV schätzt es zudem, wenn der Dichter eine sympathische Persönlichkeit vorzuweisen hat und sich nicht allzu gut kleidet. Ach ja, und er sollte möglichst kein Nazi sein.
Von Bodenständigkeit zeugt schon die Auswahl der zehn Dichter, die Jacobs überprüft, um herauszufinden, welcher dem „Zahn der Zeit am nachhaltigsten getrotzt” habe:
Obwohl ja wenige Dinge nachhaltiger von der Zeit bedroht sind als gerade ein Zahn. Fragen Sie meinen Dentisten.
Jacobs lässt zwar keine Pointe, dafür aber einen Großteil der Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts aus. Frauen kommen gar nicht vor. Ihn interessieren lediglich Busch, Rilke, George, Weinheber, Benn, Enzensberger, Rühmkorf, Gernhardt, Hartung und Grünbein. Statt bodenständig könnte man diese Auswahl auch bieder nennen.
Als schulterklopfender Ratgeber dieser Dichter (sind doch auch nur Menschen) zieht Jacobs, selbst Autor einiger Gedichtbände, durch ihre Werke und Leben. Ihm unterläuft dabei manch sachlicher, auch manch grammatikalischer Fehler. Stimmige Bilder fordert er bloß von anderen. Flapsig spricht er von Nelly Sachs und den „rauchenden Gaskammern ihrer Gedichte“, denen er Peter Rühmkorfs Bereitschaft zu „zynischer Sensibilität“ vorzieht:
Mit unseren geretteten Hälsen,
immer noch nicht gelyncht,
ziehn wir von Babel nach Belsen,
krank und karbolgetüncht.
Beinahe unerträglich wird Jacobs’ anfangs bloß nassforscher, schließlich krass überheblicher Gestus, wenn er von seinem Besuch bei dem Germanisten Ernst Osterkamp berichtet. Er scheint den Besuch vor allem gemacht zu haben, um sich über Osterkamps adrettes Äußeres mokieren zu können. Denn Jacobs beurteilt lieber die Autoren als ihre Werke. Seitenweise reitet er auf der „Aufmerksamkeitssucht“ Robert Gernhardts herum. Wobei er lobt, dass dieser Dichter „bewährte Mittel treffsicher“ einsetze. Schon im nächsten Kapitel allerdings kritisiert er eben diese Virtuosität bei Durs Grünbein, „bei dem sich Lyrikfreunde alter Schule scheinbar bedenkenlos unterhaken können. Das unsichere Neue wird hier mit Reminiszenzen an das gesicherte Alte umkreist.“ Selbst, wenn es so sein sollte: genau das war es, was Jacobs zuvor 300 Seiten lang gelobt hat.
Ja, sie laufen noch die Oldtimer, sie laufen und laufen, und glaubt man dem „Prüfer“, dann laufen die Gedichte von Harald Hartung und Hans Magnus Enzensbergers sogar noch etwas besser und runder als diejenigen von Stefan George und Rainer Maria Rilke. Als Grünbeins Gedichte sowieso. Doch charakterisiert Jacobs seinen eigenen Stil, wenn er Grünbeins Gedichte kritisiert: „Bildungshuberei, sprachliche Überorchestrierung, intellektualistische Dünnbrettbohrerei“. Warum er die zehn Lyriker überhaupt „auf den Prüfstand“ stellt? Am Kanon eines schwachbrüstigen Bildungsbürgertums rüttelt Jacobs bestimmt nicht. Doch versteht man nach der Lektüre, warum Dichter so häufig einen Hass auf Kritiker haben.
Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 24.7.2007
– Man reibt sich zunächst schon ein wenig die Augen: Da liegt einem dieser wunderbar aufgemachte Band aus der anderen Bibliothek in der Hand, schwarz-weiß marmorierter Umschlag, Seriennummer 1313, ein Lyriker, den man schätzt, als Autor – und dann diese unglaubliche Fehlgeburt von Titel! –
Und so brechen wir denn auf zu einer Zeitreise durch die lyrische Dichtung der letzten hundert Jahre. Für jedes Jahrzehnt werden wir einen Lyrikband auswählen und auf den TÜV-Prüfstand stellen. Nicht nur große Dichter, auch große Scharlatane werden unseren Weg kreuzen, und manch einer vereint gar beide Rollen in einer Person. Kleine Hochstapler und schmierige Trickbetrüger werden unsere Nähe suchen, doch selbst, wenn sie sich hinter berühmten Namen verbergen, darf uns das nicht täuschen. Die meisten von ihnen haben ohnehin keine Chance, auf den kommenden Seiten erwähnt zu werden, denn unsere Tugenden lauten Beschränkung und Konzentration.
Soweit die konzeptuelle Vorgabe. Der Verfasser – Steffen Jacobs – ist übrigens Kulturpessimist und Weltverbesserer in einem. Wie sympathisch. Und er verkörpert lupenrein den Beweis, dass sich dieses absurd erscheinende Titelpaar bedingt. Er war lange Jahre ein Bespöttler des lyrischen Betriebs dieser Republik, allerdings schoss er (zumeist auch scharf und präzise) aus dem Schützengraben des Pseudonyms. Nun entsteigt er der sicheren Grube dieses Stellungskriegs um das ästhetisch Wertvolle. Beide Hände… äh… Zeigefinger erhoben kommt er auf uns zu, mit nur zehn, zumeist schmalen Bändchen im Marschgepäck. (Nun gut, Lyrik ist zumeist schmal. Und die „Wörtersee“-Ausnahme von Robert Gernhardt muss hier der Bestätigung der ansonsten ziemlich weltgültigen Regel dienen.) Als Wegzehrung nichts dabei als kritische Vernunft und gut geschultes Sprachgespür.
Busch, Rilke, George, Weinheber, Benn, Rühmkorf, Enzensberger, Hartung, Gernhardt, und Grünbein – das ist die vorgegebene Route quer durch das 20. Jahrhundert. Die Frage, die sich Jacobs nun stellt: Wie gut sind sie wirklich, diese Sockelbewohner? Und werden sie zu Recht von uns verehrt?
Wohin, Kapitän?
TÜV bedeutet „Technischer Überwachungsverein“. Doch zum Glück geht Jacobs über das rein Technische an den Gedichten, ihre Bauweise und Machart hinaus. Manchmal geht er dabei leider auch zu weit, allzu sehr tapert er da ins vulgärpsychologische Detail von schwerer Kindheit und gestörter Sexualität. Aber egal, das mag ihm ankreiden wer will. Denn wer schafft es schon, in so einem leichten und inspirierten Stil, als wäre hier ein französischer Essayist am Werke, durch diese überaus komplexe Materie und Zeit zu führen? Es ist schlicht ein riesenhaftes Vergnügen, sich von Jacobs an die kurze Leine nehmen zu lassen! Und Steffen Jacobs ist selbst Lyriker, womit er sich natürlich angreifbar macht. Aber darauf scheint er nichts zu geben – und das ist ja durchaus mutig von ihm. Denn: Wie leicht wäre es, ihn selbst aller möglichen Patzer und Ungereimtheiten zu bezichtigen?
Dass keine Frau aus dem 20 Jahrhundert das Gesamtbild komplettiert verwundert allerdings schon ein wenig. Bei so viel Auswahl. Denn man wünscht sich beizeiten schon eine weibliche Stimme in diesem raunenden Männerchor.
Das Löschen der Ladung
Das Resultat der Unternehmung lässt sich dann etwa wie folgt zusammenfassen: Wilhelm Busch ist ein Verkannter, Stefan George eine zweifelhafte Führerpersönlichkeit, Rilke ein etwas empfindungsgestörter Schnellschreiber, Gottfried Benn ein dichtender Übermensch, Peter Rühmkorf ein sympathischer Handwerker, Hans Magnus Enzensberger ein doppelzüngiger Kritikaster, Harald Hartung ein etwas formalistischer Aufrechter, Robert Gernhardt ein neuer Volksdichtertypus und zuletzt Durs Grünbein ein völlig überschätzter Nostalgiker. Steffen Jacobs auf jeden Fall ist ein Stilist alter, aber guter und witziger Schule, auch wenn er dabei manches Mal ein wenig onkelhaft daherkommt. Ich verzeihe es ihm gerne.
– Steffen Jacobs hat sich in den letzten Jahren als Lyrik-Ideologie einen Namen gemacht: Er hat diverse Bände vor allem zur komischen Lyrik herausgegeben und Essays verfasst. Seine eigenen lyrischen Versuche sind demgegenüber fast schon in den Hintergrund getreten, aber selbstverständlich fügen sie sich ins Bild, das er theoretisch immer wieder entwirft. –
Das Handwerkliche ist für Jacobs zentral: die Versmacherei. Er zählt sich am liebsten zur Zunft der „Gedichtmetze“. Und deswegen sichtet er in seinem neuen Buch, in der edlen Anderen Bibliothek des Eichborn-Verlags, wieder einmal die Lyrikgeschichte und Versmacherei- und Metzkunst-Gesichtspunkten.
Jacobs sucht sich für jedes Jahrzehnt im 20. Jahrhundert einen Lyriker aus, den er mit seinen Kriterien befragt. Das ergibt, möchte man annehmen, eine Galerie von klassischen Lesebuchautoren. Doch bei manchen Namen stutzt man durchaus. Es geht um: Wilhelm Busch, Rilke, George, Josef Weinheber, Benn, Rühmkorf, Enzensberger, Harald Hartung, Robert Gernhardt, Grünbein. Jacobs findet davon längst nicht alle gut, aber er findet sie exemplarisch.
Dennoch ist das natürlich eine sehr streitbare Auswahl. Zum Beispiel hätte für das erste Jahrzehnt durchaus Hugo von Hofmannsthal statt Wilhelm Busch erwählt werden können, aber an Wilhelm Busch kann Jacobs seine Kunst des Verseschmiedens handwerklich am besten durchexerzieren: auch den dabei entstehenden Humor. Der ist bei Hofmannsthal allerdings tatsächlich weniger zu finden als bei Busch. Worum es Jacobs geht, ist damit schon programmatisch klar. Er schreibt oft lustig und pointiert, und man fühlt sich bei ihm gut unterhalten. Sehr schön etwa seine kurzweilige Analyse des narzisstischen Stefan George oder des Onanisten Rilke.
Selbstverständlich ist für ihn in der Gegenwart Robert Gernhardt das Maß aller Dinge: Da ist das Gemachte kunstfertig ausgestellt und trippelt lustvoll in den gepflegt geharkten und geschnittenen Versmaßen herum. Gegen all dies ist bestimmt nichts einzuwenden. Man steht allerdings sofort, wenn man nur ein bisschen die Augenbraue hebt, sofort unter dem strengen Verdacht, allzu humorlos zu sein, man steht unter der Humorfuchtel. Deswegen, das spürt man instinktiv, ist es unangebracht, gegen Jacobs Lyriker wie Brecht (zu politisch) oder Celan (zu tragisch-pathetisch-existenziell) ins Feld zu führen. Und dass Durs Grünbein bei Jacobs nicht allzu gut wegkommt, ist abzusehen. Der arme Mann hat ja den Zorn aller nachwachsenden Junglyriker nach sich gezogen, weil er einfach zu sehr als Platzhirsch gilt, und Jacobs macht da mit seinen lustig-bemühten Mäkeleien keine Ausnahme.
So ganz objektiv und unbestechlich, wie man es gerne hätte, ist Jacobs bei aller ausgestellten unparteiischen Eleganz aber dann doch nicht. Ein Lyriker wie Harald Hartung in allen Ehren, der Mann hat unbestreitbar seine Verdienste. Aber dass er hier ein Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts markieren darf, hat wohl eher etwas mit seiner Funktion als einflussreicher Lyrik-Kritiker und vielfachem Jury- und Gremiumsmitglied zu tun. Allerdings, Hartung hat es auch lieber ein bisschen kleiner und überschaubarer, genauso wie Jacobs. Allzu Schwieriges, dem man nicht mit empirischen Daten, rhythmischen Einheiten, lustigen Reimen beikommen kann, ist da eher lästig. Also: Dieser Lyrik-TÜV liest sich ganz süffig, er ist ganz launig. Man sollte sich aber zu lange mit der Frage aufhalten, ob der Lyrik wirklich nur mit den Maßstäben eines solchen TÜV zu fassen ist.
– Der Lyriker Steffen Jacobs schickt in seinem Buch Der Lyrik-TÜV Dichter aus zehn Jahrzehnten auf die Hebebühne. Im Zweifelsfall entzieht er den Wortdrechslern die Zulassung. Der Humorist Bernd Eilert würdigt das Buch und verrät, warum Rilke immer Phallussymbole verwendete. –
Was in Maßen für die Literatur im Ganzen gilt, gilt für die Lyrik ganz besonders: Der Dichter nimmt im Gedicht eine Pose ein, seine Kritiker beurteilen, wie gut er das macht. Für das, was ihm an der jeweiligen Pose gefällt, verteilt er demnach Haltungsnoten, für das, was ihm nicht gefällt, gibt es Abzüge.
Diesen Eindruck vermittelt zumindest die folgende kritische Bestandsaufnahme: „Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft“ – der Untertitel ist natürlich leicht übertrieben, entspricht aber der Prüfer-Pose, die der Kritiker hier annimmt.
Bachmann, Biermann und Brecht müssen nicht durch den TÜV
Der vormalige „Lyrikdoktor“ Jacob Steffens hat unter seinem Lyriker-Namen Steffen Jacobs eine Auswahl getroffen und zehn Gedichtbände von zehn verschiedenen Dichtern – jeder steht für ein Jahrzehnt – durch seinen Lyrik-TÜV geschickt.
Natürlich lässt sich darüber streiten, ob Lyriker wie George, Weinheber oder Hartung diesem repräsentativen Anspruch gerecht werden, und warum andere wie Bachmann, Biermann und vor allem Brecht keine Berücksichtigung finden. Jacobs lässt sich hier auch auf Expressionismus, Dada, Neue Sachlichkeit oder Konkrete Poesie nicht ein, von Trakl bis Jandl bleiben große Namen unerwähnt.
Genügend Stoff für ein weiteres Buch dieser Machart, die mir gut gefallen hat. Dabei sind es weniger die endgültigen Prüfergebnisse, die das Lesevergnügen ausmachen.
Versagt bei Enzensberger die Unbestechlichkeit?
Dass Stefan George als Auslaufmodell keine Zulassung mehr erhält, ist zum Beispiel wenig überraschend. Dass Durs Grünbein als direkter Konkurrent des praktizierenden Lyrikers Steffen Jacobs besonders streng beurteilt wird, ist es auch nicht.
Wilhelm Busch wird mit gebührender Achtung durchgewunken. Rühmkorf und Gernhardt dürfen mit kleineren Mängelrügen passieren, selbst Harald Hartung kommt gut davon: seine Bescheidenheits-Pose rührt offenbar das Herz des Prüfers, das ansonsten vor allem für Gottfried Benn zu schlagen scheint, dem er im Gegensatz zu Rilke unfreiwillig komische Manierismen glatt durchgehen lässt.
Noch nachsichtiger wird nur Hans Magnus Enzensberger behandelt, was den Verdacht nahelegt, dass die behauptete Unbestechlichkeit versagt im Angesicht eines Prüflings, der bis vor kurzem Herausgeber der Anderen Bibliothek war, in deren Rahmen der Lyrik-TÜV erschienen ist, und vermutlich auch dieses Projekt noch angeregt hat. Das mag ein Kurz- oder gar Fehlschluss sein, ähnlich denen, die diese Lektüre so anregend machen.
Rilke hat eine Vorliebe für phallische Symbole
Auch wenn Jacobs die gewagte Fiktion einer lyrischen TÜV-Kontrolle zum Glück nicht übermäßig strapaziert, so zeigen seine jeweils um die 30 Seiten langen Erfahrungsberichte doch alle dasselbe zuverlässige Muster: Gedichte werden zitiert, mutmaßliche technische oder ästhetische Defizite konstatiert, sodann wird anhand der Biographie des Mängelwesens nach einer Erklärung dafür gesucht.
So wird die offenbare Vorliebe Rilkes für phallische Symbole auf onanistischen Zwangshandlungen zurückgeführt, und diese wiederum auf eine frühkindliche Prägung. In diesem Fall belegt sogar ein spätes Geständnis Rilkes seine ihm selbst höchst peinliche Fixierung.
Aufschlussreich ist auch ein Gutachten des österreichischen Geheimdienstes, das erstaunlich hellsichtig die extreme Labilität Josef Weinhebers erkennt und erklärt. Bei anderen Autoren bleibt Jacobs bei Mutmaßungen und Unterstellungen – erfrischende Willkürakte, die diese Essays vor akademischer Umständlichkeit bewahren.
Ein Buch für gelegentliche Lyrik-Leser
Jacobs gravitätische Ironie wirkt angenehm ungezwungen – abgesehen von wiederholten Stereotypen wie „der unheilige St. George“ – und sie versagt nur, wenn er zu loben bemüht ist, was zu gelegentlichen Abrutschern in allzu schulmäßige Interpretationsübungen führt. Das haben gute Gedichte mit guten Bildern gemeinsam: Ihnen ist wenig hinzuzufügen.
Der Lyrik-TÜV ist nicht unbedingt ein Buch für ausgewiesene Lyrik-Spezialisten, um so mehr aber für Leute wie mich, die ab und zu gern das eine oder andere Gedicht lesen, und wissen möchten, warum ihnen das eine mehr und das andere weniger gefällt.
Was soll das denn bedeuten? So wird wohl eine der vielen Reaktionen auf diesen Titel sein. Der Autor will hier bekannte und beliebte Gedichte überprüfen, man darf also gespannt sein.
Die Überschriften der einzelnen Kapitel sprechen da für sich: „Zu guter Letzt – Wilhelm Busch“, „Der Stern des Bundes – Stefan George“, „Die Sonette an Orpheus – Rainer Maria Rilke“, „Adel und Untergang – Josef Weinheber“, „Statische Gedichte – Gottfried Benn“, „Irdisches Vergnügen in g – Peter Rühmkorf“, „Blindenschrift – Hans Magnus Enzensberger“, „Das gewöhnliche Licht – Harald Hartung“, „Körper in Cafés – Robert Gernhardt“ und „Falten und Fallen – Durs Grünbein“.
Beispielsweise in dem Kapitel über Gottfried Benn und seine „statischen Gedichte“ wird erst einmal in Frage gestellt, ob der Autor tatsächlich noch so beliebt ist, wie gedacht. Provokation war Benns großes Ziel, er wollte aufwecken, zum Nachdenken anregen. Während der Autor dem Leser das Leben und den Charakter des Dichters näher bringt, verpackt er seine Meinung in Sätze von zum Teil beißenden Spotts und stellt Analysen an, die man zum Teil gut, aber eben auch mehr als an den Haaren herbei gezogen empfinden kann. Steffen Jacobs mag Benn, das gibt er auch offen zu, deswegen kommt dieser auch noch ganz gut davon und so stellt er beispielsweise Rainer Maria Rilke ganz anders dar.
Der ist für Herrn Jacobs nämlich nur ein Lyrikdilettant. Das ist eine der harmloseren Beschimpfungen, die er sich für denn allseits beliebten Poeten ausdenkt, in dessen Werke er alle möglichen und unmöglichen Freudschen Gedanken einzubringen gedachte. Indem er also auf die Lebensumstände Rilkes eingeht, versucht er auf Teufel komm raus dort eine Erklärung für das so hingeschmierte Werk Rilkes zu finden.
In ähnlichen Schemata laufen die restlichen Kapitel ab, doch in keinem anderen wird der Autor so ausfallend und niveaulos wie in diesem.
Steffen Jacobs erklärt in seinem Vorwort, dass er zu den Verfechtern gehört, die Bücher gebrauchen und nicht nur streicheln wollen und das er, weil es eben immer weniger Menschen gibt, welche die Klassiker zu schätzen wissen, jene wieder herausnehmen möchte. Die Lyrik hat er sich deswegen ausgesucht, weil er Gedichte mag und diese in den letzten Jahren eben leider auch immer weiter in den Hintergrund rückten, da vordergründig all die „entstellten Romane“ für Kinder und Erwachsene behandelt wurden. Zudem gehören Gedichte zur allgemeinen Bildung nun einmal dazu.
Steffen Jacobs hat es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten hundert Jahre Dichtkunst zu durchforsten und für jedes Jahrzehnt einen Lyrikband auszuwählen, den er prüfen wird.
Hierbei erwähnt er „nicht nur große Dichter, auch große Scharlatane werden unseren Weg kreuzen, und mach einer vereint gar beide Rollen in einer Person“.
Die große Frage, die letztendlich übrig bleibt, ist die nach dem Dichter, der dem Zahn der Zeit am nachhaltigsten getrotzt hat.
Das hört sich alles sehr sympathisch an und weckt auch die Neugier auf die Werke der Erschaffer, die hier analysiert werden sollen. Ein wenig Spitzzüngigkeit hat noch keinem geschadet und kann bisweilen ja sogar recht amüsant sein…bis zu einem gewissen Grad.
Das dieser hier oftmals überschritten wird, wird dem Leser schnell deutlich. Es gibt einen Unterschied zwischen amüsanten Anfechtungen oder einfach nur verbalem Verriss unterhalb der Gürtellinie.
So kann ich dieses Buch, das vom Äußeren her mit einem Pappumschlag, edel gebunden und mit Lesebändchen verziert, viel hermacht, nur den hartgesottenen Lesern empfehlen, die mit der Art Jacobs zurecht kommen können. Mir persönlich reicht es und ich habe nicht das Bedürfnis ein weiteres Buch dieses Autors zur Hand zu nehmen.
– Gedichte haben seit einiger Zeit Konjunktur und mit ihnen Essays über Lyrik… Steffen Jacobs stellt die Lyrik auf den Prüfstand. –
Der Lyrik-TÜV: Darauf muss man erst einmal kommen. Unser Fachmann mit den ölverschmierten Händen heisst Steffen Jacobs, wurde 1968 geboren, ist selbst Lyriker und hat sich nicht wenig vorgenommen: Die Lyrikproduktion des 20. Jahrhunderts stellt er auf den „Prüfstand“, nicht komplett natürlich, sondern an ausgewählten Beispielen. Aus jedem Jahrzehnt hat er sich einen Dichter, einen Band herausgegriffen, von Busch bis Grünbein, von Zu guter Letzt bis Falten und Fallen; und so befremdend der technoide Ansatz zunächst erscheinen mag, muss man doch konzedieren, dass der Lyrik-TÜV eine amüsante und kurzweilige Lektüre ist. Jacobs hat keinen Respekt vor grossen Namen, wohl aber vor grossen Leistungen, und obendrein geht er, seiner hemdsärmeligen Attitüde zum Trotz, mit pädagogischem Eros zu Werke, in der Art eines geschickten Lehrers, der eine nur halbwegs willige Klasse mit erheblichem dramaturgischem Raffinement bei Laune hält.
Lebensstoff
Entscheidend ist dabei aber, dass Jacobs seine Kriterien expliziert. Ein Gedicht ist etwas „Gemachtes“, insofern hat der beherzt-pragmatische Zugriff seine Berechtigung, und jeder Art von Blendwerk sagt unser Mann von der Prüfstelle den Kampf an. Anlässlich des berühmten Gedichts „Nur damit du Bescheid weißt“ von William Carlos Williams stellt Jacobs fest: „Er destilliert Gedichte aus dem Stoff des Lebens, statt poetische Sauce über die Welt zu giessen.“ Das ist also das Kriterium. Übrigens fällt auf, dass auch die präziseste Schreibweise kaum der Metaphorik entbehren mag, da geht es von der Mechanikerwerkstatt über die Schnapsbrennerei weiter in die gehobene Küche, und vielleicht haben wir hier ja eine der Gemeinsamkeiten zwischen Poesie und Poetologie! Jacobs findet immer wieder treffliche Formulierungen: „Das ist sehr schön gelöst, solange man nicht allzu beharrlich nachfragt, was Grünbein eigentlich sagen will.“ Oder, zum selben Objekt: „Die Vorstellung, dass avancierte Poesie sich mit dem Fortschritt in den Naturwissenschaften zu beschäftigen habe, gehört zu den Lieblingsmarotten im Lyrikbetrieb der neunziger Jahre. Warum nur niemand auf die Idee gekommen ist, die Naturwissenschaften ihrerseits sollten ein wenig poetischer werden?“
Und zu welchen Ergebnissen gelangt unser Lyrik-TÜV in seiner erklärten „habituellen Unvoreingenommenheit“? Benn, Enzensberger kommen sehr gut weg, auch Rühmkorf, über den Jacobs mit höchster Anerkennung schreibt:
Es hat schon etwas Heroisches, mit welchem Kraft- und Kunstaufwand sich hier ein von allerhand Zweifeln angenagtes Subjekt buchstäblich frohsingt unter Zuhilfenahme aller selbstgebrannten Rauschmittel [schon wieder die Destille!] der Sprache…
Auch Wilhelm Busch und der fast vergessene Josef Weinheber (1892–1945), der einige grossartige Gedichte geschrieben habe, werden gerühmt; George und Rilke ebenso, nur in weniger hohen Tönen. Einen tatsächlichen grossen Scharlatan, wie er ihn im Vorwort verspricht, hat Jacobs eigentlich nicht zu bieten – oder sollte Durs Grünbein einer sein, aus dessen Vers „Durchs Dunkel von Urne zu Uterus“ der Mann vom TÜV durch hintersinniges Weglassen zweier Buchstaben einen „Durs Dunkel“ macht? (…)
Der Anspruch ist gewaltig: Ein ganzes Jahrhundert deutsche Dichtung soll einem „Lyrik-TÜV“ unterzogen werden. Schon Jacobs’ Wahl der Autoren ist sehr subjektiv. Unter anderem ist Wilhelm Busch dabei und auch Joseph Weinheber, der sich 1939 mit einem „Führer-Gedicht“ disqualifiziert hat.
Das größte Manko dieses Buches ist aber, dass offenbar keine einzige Frau für die TÜV-Prüfung in Betracht kommt. Namen wie Ingeborg Bachmann, Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker, Mascha Kaléko oder Marie Luise Kaschnitz – Fehlanzeige.
Das Grundmuster der Untersuchung ist stets gleich. Zur Werkinterpretation ausgesuchter Gedichte wird der biografische Hintergrund des Dichters beleuchtet und dann das TÜV-Urteil gefällt. Anstrengend ist bisweilen ein selbstgefälliger, burschikoser Stil des Autors, der stellenweise zu aufdringlich locker und unangemessen ist. Ein Beispiel zu Gottfried Benn: „Askese passt ohnehin nicht recht zu Benn, der gern reichlich und regelmäßig speiste, genussvoll rauchte, mit Begeisterung Bier trank und das Körperliche keineswegs nur in der Sprache, sondern auch bei einer ziemlich sprachlos machenden Zahl von Frauen suchte.“
Kommen wir zum Ergebnis des Lyrik-TÜVs, das sich so zusammenfassen lässt: Wilhelm Busch ist verkannt, Stefan George der Führer, Rilke ein „empfindungsgestörtes Genie“, Gottfried Benn der Größte, Peter Rühmkorf der „sympathische Handwerker“, Hans Magnus Enzensberger der „janusköpfige Hochbegabte“, Harald Hartung der „ehrliche Formalist“, Robert Gernhardt der ironische Volksdichter und zuletzt Durs Grünbein der überschätzte Klassiker. Diese jüngste Veröffentlichung in Eichborns Anderer Bibliothek bleibt weit hinter der gewohnten Qualität dieser Reihe zurück.
Jens Zwernemann: Warum echte Lyrik Männersache ist
literaturkritik.de, September 2007
Schreibe einen Kommentar