Steffen Jacobs (Hrsg.): Die liebenden Deutschen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Steffen Jacobs (Hrsg.): Die liebenden Deutschen

Jacobs (Hrsg.)-Die liebenden Deutschen

LIEBES SONETT

Mein Zimmer ist ein grenzenfreies Land.
Daß ich erwache, heißt, ich stehe auf zu trauern
um das, was war, und das, was ist, an Mauern.
Daß ich nicht stürze, faß ich deine Hand,

obwohl, das Sichbelügen ist ein schlechtres Hoffen.
Mein Leben war, wie es verlief, verboten.
Nie mocht ich den Geruch von Heldentoten.
Nun liegen wir hier voreinander nackt und offen.

Du bist am schönsten, wenn du frierst. Die Lust
zu lieben, wahrlich, ist ja nicht beschissen.
Zwei Narren wohnen, ach, in meiner Brust,

sie öffnen uns die Augen, die uns missen
und weder schrein noch sonst sich wehren,
als ob wir für sie Fremde wären.

Franz Hodjak

 

 

 

Nachwort

Als im Jahr 2004 meine Anthologie Die komischen Deutschen erschien, sprach ich mich im Nachwort des Bandes für eine erweiterte Definition des Komischen im Sinne des „Gewitzten“ aus. Ich beklagte, daß klug-komische Dichtung dieses Schlages im deutschen Sprachraum über Jahrhunderte hinweg zwar gern geschrieben und gelesen, von Kritikern, Anthologisten und Literaturwissenschaftlern aber oft mit Naserümpfen bedacht worden sei. Einige Rezensenten erwähnten mein Nachwort und belegten es dabei mit recht unterschiedlichen Epitheta. „Ausgezeichnet“ ist eine Kennzeichnung, die man als Verfasser gern mit anerkennendem Kopfnicken quittiert: Da hat mich mal einer von Grund auf verstanden. Die Charakterisierung „verkrampft“, noch dazu in einem überregionalen Feuilleton, gab mir hingegen zu denken: Hatte mich die Spaßgesellschaft unbemerkt auf der rechten Spur überholt? Hatte ich das Komische zu ernst genommen? Hätte es womöglich ausgereicht, den Band mit einem heiteren „Have Fun!“ an die Leser weiterzureichen?
Meine Antwort lautet nach wie vor: Nicht doch. Als Gipfel volkstümlicher Komik darf derzeit der Oneliner mit tagesaktuellem Bezug gelten, wahlweise der Rollenmonolog mit Anbindung an das, was amerikanische Comedians „Universal Experience“ nennen – kleine Erfahrungen des Alltags, die wir alle teilen. Warum immer nur halbe Sockenpaare aus der Waschmaschine kommen. Diese Art telegener Popkomik beansprucht oft nur wenige Sekunden unserer Aufmerksamkeit und ist dem Kurzzeitgedächtnis binnen Stunden entwichen. Mit Gedichten, gleich ob komischen oder weniger komischen, verhält es sich anders. Sie sollen sich einprägen, vielfach wiederholter Lektüre standhalten und den Erfahrungsschatz des Leser noch nach Jahrzehnten bereichern. Mit diesem Anspruch habe ich seinerzeit die Beiträge zu den Komischen Deutschen ausgewählt, ihm bin ich auch im vorliegenden Band gefolgt. Daß man über komische Gedichte durchaus mit Ernst und Eifer, über Liebesgedichte mit kühler Sachkenntnis reden kann, erscheint mir keiner weiteren Erläuterung bedürftig.
Die liebenden Deutschen versammelt Gedichte aus so unterschiedlichen Epochen und Stilrichtungen wie Barock, Rokoko, Klassik, Romantik, Naturalismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit und Neue Subjektivität, um nur die prominentesten zu nennen. Der Band handelt also nicht nur von der Liebe zwischen Menschen, sondern auch von der Liebe zur Sprache und zur reichhaltigen, jahrhundertealten Tradition deutscher Dichtung. Schon deshalb versteht er sich nicht als Beitrag zur zeitgenössischen Zerstreuungskultur, sondern als freundliche und im besten Sinn altmodische Einladung an den Leser, sich herausfordern und anregen zu lassen – zu Widerspruch oder Zuspruch in der Sache, zu Bewunderung oder Ablehnung der jeweiligen lyrischen Sprache, zum Memorieren einzelner Gedichte, vielleicht sogar zum Schreiben eigener Zeilen. Und behaupte mir keiner, Barockgedichte wären aufgrund des gewöhnungsbedürftigen Sprachgebrauchs nicht mehr zeitgemäß! Die variantenreiche Orthographie des siebzehnten Jahrhunderts dürfte recht genau dem entsprechen, was die neue Sprachvergessenheit uns über kurz oder lang einbringen wird.
Natürlich gehören Geisteswitz und Komik zum Arsenal auch der Liebeslyrik und nehmen in dieser Sammlung entsprechend breiten Raum ein. Dennoch machen Die liebenden Deutschen es dem Nachwortschreiber in vieler Hinsicht leichter als ihre komischen Vorgänger. Im Gegensatz zur komischen Lyrik zählt die Liebesdichtung nicht zu den unterschätzten Spielarten der Poesie, und so muß ich mich im Dienst der Minne auch nicht ins Harnisch werfen. Liebe und Lyrik, das geht selbst im verdämmernden kulturellen Bewußtsein der Gegenwart noch gut zusammen, und was den inhaltlichen Bezug betrifft, so ist es fast schon ein gebüldeter Gemeinplatz, die Liebe neben dem Tod als eines der beiden literarischen Kardinalthemen zu bezeichnen. Einem Kardinal eine Gasse zu bahnen, wäre aber eine ganz überflüssige Liebesmühe, die ich mir gern erspare.
Ebensowenig möchte ich mich an soziokulturellen oder psychologischen Spekulationen beteiligen, was Liebe denn nun eigentlich sei. Bei diesem Thema sind wir alle Autodidakten, und das ist meiner Meinung nach auch ganz in Ordnung so. Zweifellos hat sich jeder Leser dieses Buches längst seinen eigenen Reim auf die Liebe gemacht, sei es mit Ovids Liebeskunst oder mit Frieds Liebesgedichten, sei es unter Zuhilfenahme von Fromms Die Kunst zu lieben oder von Fromms’ Kondomen. Auf die richtige Mischung kommt es an. Eines aber hat mich – Stichwort „Mischung“ – an Anthologien von Liebeslyrik schon gestört, ehe ich selbst eine zusammengestellt habe: Warum haben sich meine Vorgänger entweder auf erotische Gedichte spezialisiert oder diese möglichst weiträumig umfahren? Franz Grillparzer würde, zu diesem Sachverhalt befragt, vielleicht aus einem seiner Gedichte zitieren:

Schwestern sind sie, doch sie meiden
ewig sich ohn Unterlaß (…)

Gemeint sind die vermeintlich gegensätzlichen Geschwister „Liebe“ und „Wollust“ – näheres ab Seite 318.
Sex oder Liebe – vor dieser Frage stand bislang, wer sich eine Sammlung amouröser Gedichte zulegen wollte. Jahrhundertelang wurde fein säuberlich getrennt, was einst flüssig ineinander überging: die reine, keusche Liebe hier, das vermeintlich unzüchtige Begehren dort. Löbliche Ausnahmen bilden vor allem ganz alte Sammlungen (allen voran Benjamin Neukirchs denkwürdige Anthologie Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bisher ungedruckter Gedichte, in mehreren Folgen ab 1697 erschienen) oder ganz neue, schmalere Zusammenstellungen. Meines Wissen erhebt keines dieser Bücher Anspruch darauf, einen repräsentativen Querschnitt durch die entflammte Dichtung der Deutschen zu bieten.
Höchste Zeit also für eine umfassende Sammlung deutscher Liebeslyrik in all ihren mal liebevollen, mal liebestollen Varianten. Damit in der Dichtung zusammenkommt, was zusammengehört, versammelt Die liebenden Deutschen das Heilige und das Schweinische, das Zarte und das Harte, das Artige und das Abartige Seite an Seite – genau wie im richtigen Leben. Wer die Dichter deutscher Sprache bislang für zimperlich hielt, sieht sich vor allem im Kapitel „Spiele der Liebe“ schnell widerlegt. Aber nicht nur dort: Die liebenden Deutschen enthalten Erregtes von Friedrich Schlegel bis Bertolt Brecht, Sinnliches von Johann Christian Günther bis Else Lasker-Schüler, Freches von Annette von Droste-Hülshoff (ja doch!) bis Eckhard Henscheid. Daneben, darüber und darunter gibt es natürlich auch die leisen Zwischentöne, die feinen Andeutungen und subtilen Subtexte, ohne die in der Liebe gar nichts geht.
Erstaunlich fähige Verbalerotiker waren und sind sie allemal, die deutschen Dichterinnen und Dichter. Kaum eine Facette des Liebeslebens ist ihren wachen Blicken entgangen, und im Gegensatz zu Grillparzer haben die meisten sich verblüffend wenig um den vermeintlichen Gegensatz von Herz und Trieb geschert. Das war bei galanten Barocklyrikern wie Fleming und von Hoffmannswaldau nicht anders als bei den erotischen Freigeistern Goethe und Heine; daran hat sich auch bei bedeutenden Liebesdichtern unserer Zeit wie Peter Rühmkorf oder Peter Hacks nichts geändert. Nicht zu vergessen die Damenmannschaft von Karoline von Günderode über Else Lasker-Schüler bis zu Karin Kiwus, Ursula Krechel und ihren jüngeren Kolleginnen. Längst zählt die Libido für uns zur umfassenden Liebe. Die deutschen Dichterinnen und Dichter haben zu dieser Erkenntnis das Ihre beigetragen.
Wenn auf diesen Seiten von „deutschen Dichtern“ und von „liebenden Deutschen“ die Rede ist, dann versteht sich das immer als Hinweis auf die deutsche Sprache, nicht etwa auf den deutschen Staat und schon gar nicht auf imperialistische Gelüste. So ist es in der Germanistik gute Tradition, und die Germanistik ist einfach nicht reich genug an guten Traditionen, als daß man die verbliebenen ohne weiteres über Bord werfen könnte. Für Die liebenden Deutschen gilt deshalb: Unter dem gastlichen Dach der deutschen Sprache vereinen sich Deutsche, Österreicher und Schweizer ebenso wie Immigranten, Emigranten und Gastarbeiter aller Couleur ohne Ansehen der Nation, des Alters und der Stellungen.
Ein Buch wie dieses lädt zum Hin- und Herblättern ein, und dagegen weiß auch der Herausgeber nichts einzuwenden – Seitensprünge sind der Thematik ja nicht fremd. Diejenigen aber, die sich festlesen, werden belohnt mit einer Fülle versteckter Zusammenhänge. Die liebenden Deutschen beziehen sich aufeinander, wie Liebende es tun: in absichtsvollen Andeutungen, in scheinbar zufälligen Begegnungen und in überraschenden Gleichklängen, manchmal über Jahrhunderte hinweg. All das spiegelt such in der Struktur des Bandes: Jedes Kapitel wirft sein Schlaglicht auf einen bestimmten Zustand in einer Liebesbeziehung; innerhalb der Kapitel befassen sich kleine, nicht eigens gekennzeichnete Unterabteilungen mit weiteren Facetten des jeweils beleuchteten Aspekts.
Es versteht sich von selbst, daß die Zuordnung der Gedichte dabei nicht immer zwingend sein kann. Ob, um ein Beispiel zu nennen, ein Gedicht im Kapitel „Locken und Hinhalten“ oder im Kapitel „Nähe und Ferne“ seinen endgültigen Platz fand, hing manchmal von Nuancen ab, die ein kritischer Leser anders bewerten mag als ich. Die Komposition des Bandes ist denn auch als Einladung zu verstehen, nicht als verbindliches System. Beliebig ist sie trotzdem nicht: Vom ersten Blick bis zum dauerhaften Liebesglück erzählt der Band mit seinen über sechshundert Gedichten so etwas wie die große Liebesgeschichte der deutschen Dichtung. Mehr als zweihundertzwanzig Dichterinnen und Dichter haben daran mitgeschrieben; rund fünfzig haben das Rentenalter bei Erscheinen dieses Buches noch nicht erreicht.
Wie bereits die komplementären Komischen Deutschen sollen auch Die liebenden Deutschen ein Buch für die Lebenspraxis sein, nicht für das Archiv ausgestorbener Kunstfertigkeiten. Leben, fortleben kann dieses Buch – genauso wie die deutsche Dichtung als Ganzes – nur mit Lesern, die sich als Benutzer, notfalls auch als User fühlen und betätigen. Ich wüßte kein Thema, daß sich dazu besser eignen würde als die Liebe. Manche Stücke in diesem Buch sind kurz genug für eine SMS, andere lang genug für einen klassischen Liebesbrief, und einige so gehaltvoll, daß sie für ein ganzes Liebesleben reichen dürften. Es gilt, die Probe auf ihre Verwendbarkeit zu machen. Für erwünschte und unerwünschte Folgen der Anwendung kann leider keine Haftung übernommen werden. Soviel sei aber noch gesagt: Vieles spricht dafür, daß selbst Franz Grillparzer seinerzeit auf einen uralten Trick zurückgegriffen hat. Als er seiner angebeteten Molly die Reinheit seiner Gefühle beteuerte, hoffte er vermutlich darauf, schneller zum Ziel zu kommen.

Steffen Jacobs, Januar 2006, Nachwort

 

Sex oder Liebe –

vor dieser Frage stand bislang, wer sich eine Sammlung mit Liebesgedichten zulegen wollte. Jahrhundertelang wurde fein säuberlich getrennt, was einst flüssig ineinander überging: die reine, keusche Liebe hier, die vermeintlich unzüchtige Wollust dort.
Wieso eigentlich? An den Poeten kann es kaum liegen: Die Dichterinnen und Dichter deutscher Zunge haben sich schon immer verblüffend wenig um den vermeintlichen Gegensatz von Herz und Trieb geschert. Für uns heute zahlt die Libido längst zur umfassenden Liebe. Höchste Zeit also für eine repräsentative Sammlung deutschsprachiger Liebesgedichte in all ihren liebevoll-lüsternen Spielarten.
Damit auch in der Dichtung endlich zusammenkommt, was zusammengehört, gibt es nun Die liebenden Deutschen: Das Heilige und das Schweinische, das Zarte und das Harte, das Artige und das Abartige stehen und liegen in diesem üppigen Band Seite an Seite – genau wie im richtigen Leben.
Es gibt Erregtes von Friedrich Schlegel bis Bertolt Brecht, Sinnliches von Johann Christian Günther bis Else Lasker-Schüler, Freches von Annette von Droste-Hülshoff bis Eckhard Henscheid. Und natürlich gibt es auch die leisen Zwischentöne, die feinen Andeutungen und subtilen Subtexte, ohne die in der Liebe gar nichts geht
Vom ersten Blick bis zum ewigen Glück erzählt der Band in über 600 Gedichten so etwas wie die große Liebesgeschichte der deutschen Dichtung. Mehr als 200 Dichterinnen und Dichter haben im Verlauf von 400 Jahren an dieser Love Story mitgeschrieben.
Unter dem gastlichen Dach der deutschen Sprache vereinen sich Deutsche, Österreicher und Schweizer ohne Ansehen der Nation, des Alters und der Stellungen.
Die liebenden Deutschen steht damit in der Nachfolge unserer großen Bestseller Anthologie Die komischen Deutschen. Erneut ist eine Sammlung von hohem Gebrauchswert entstanden: Manche Stücke sind kurz genug für eine SMS, andere lang genug für einen altmodischen Liebesbrief und einige so gehaltvoll, daß sie für ein ganzes Liebesleben reichen dürften. Für erwünschte und unerwünschte Folgen der Anwendung können Herausgeber & Verlag leider keine Haftung übernehmen.

Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Klappentext, 2006

 

Freundliche Übernahme

Anthologien sind beliebt; Anthologisten eher weniger. Sie können es ihren Kritikern nur selten recht machen. Zumal wenn sie selbst Autoren sind und in der Auswahl ihren persönlichen Geschmack zur Geltung bringen. Mehr noch, wenn sie Erfolg haben und ihre Titel einprägsam und gewitzt daherkommen. Also wenn sie Steffen Jacobs heißen, von dem es jetzt eine zweite Anthologie gibt.
Man muß daran erinnern, daß Jacobs zuvörderst Autor ist, nämlich einer unserer bemerkenswertesten jüngeren Lyriker. In seinen drei Gedichtbänden ist er der Artist, der den „Alltag des Abenteurers“ besingt, der Intellektuelle, der uns die „Geschulte Monade“ expliziert, der skeptische Troubadour, der uns das „Angebot freundlicher Übernahme“ macht.
Die hier angeschlagenen Motive kultiviert Jacobs auch als Anthologist. So in seiner Sammlung Die komischen Deutschen (2004), die mit ihren gut achthundert „gewitzten“ Gedichten aus vierhundert Jahren das komische Potential der deutschen Lyrik dokumentierte. Ihrem Erfolg kam zugute, daß Jacobs den Begriff des Komischen im Sinne des „Gewitzten“ erweiterte – jenen trockenen Geist, der das Plumpe der Komik artistisch aufhebt.
Seine neue Anthologie gibt sich als Pendant. Sie schließt sich in der Titelformulierung an ihre Vorgängerin an. Die liebenden Deutschen verspricht „645 entflammte Gedichte“ aus wiederum vierhundert Jahren. Wieder ist wohldosierte Ironie im Spiel. Jacobs stellt – wie zuvor die Komik – das deutsche Vermögen zur Liebe unter gedanklichen Vorbehalt, um es zugleich durch die schiere Menge des Gebotenen zu bekräftigen. Der Sammler als Skeptiker und Enthusiast ist ein entflammter Pädagoge. Was will er uns zeigen?
Liebe sei das Elysium der Unproduktiven, hat Gottfried Benn einmal gesagt. Zum Glück hielt der Mann sich nie an seine denkerischen Prämissen. Ja, er gehörte zu den einschlägig aktivsten Poeten. Bei Jacobs ist er mit immerhin acht Stücken vertreten. Eines davon beginnt:

Auf deine Lider senk’ ich Schlummer,
auf deine Lippen send’
 ich Kuß.

Kann man zarter und verführerischer dichten?
Jacobs hat beides im Sinn, das Zarte wie das Verführerische, das Heilige wie das Obszöne, „genau wie im richtigen Leben“. Er findet, daß Sex oder Liebe keine Alternativen sind und daß es auf ihre Mischung ankommt. Über beide aber stellt er den Eros zur Poesie. Er möchte in Gedichten die große Liebesgeschichte der deutschen Dichtung erzählen – vom Barock in die aktuelle Gegenwart. Aber nicht um literaturgeschichtliche Klassifizierungen geht es ihm, sondern um den Sitz der Poesie im Leben. Jacobs entwirft seine Sammlung als Love-Story – in elf Kapiteln geht es vom „Beginn der Liebe“ bis zu „Abschied und Trennung“. Kurz, er scheut nicht den Verdacht, ein Hausbuch der Liebeslyrik liefern zu wollen.
Doch Vorsicht. Die Skala im Kapitel „Spiele der Liebe“ ist größer und hintergründiger, als der Titel vermuten läßt. Sie reicht vom Innigen bis zum Derben. Mehr noch: Sie schließt die Desillusionierung wie den Zynismus ein – also Enzensbergers Nichtverstehen „was so sublim ist / am bloßen Arsch einer Frau“ oder Friedrich Schlegels provokante Apotheose „Du meine Hand bist mehr als alle Weiber“. Die Beispiele, die Jacobs für das Obszöne anführt, belehren uns darüber, daß das sogenannte Gewagte erst durch die strenge Form faszinierend und goutierbar wird. Das zeigt – nach Schlegels Sonett – Karol Kröpkes Poem über einen onanistischen Akt; in freien Versen, gemein auftrumpfend, und kaum zitabel – Karl Krolow hatte gute Gründe, ein Pseudonym zu wählen.
Jacobs hätte mit „Abschied und Trennung“ enden können, doch er schiebt – als Abenteurer des Alltags – noch ein Kapitel nach: „Geteiltes Leben“. Darin wird verhandelt, was nach der Liebe kommt: Solidarität und Treue, Verlassensein und Einsamkeit. Hier finden sich einige der schönsten thematischen Korrespondenzen – von Brechts Sonett über Kants Definition der Ehe bis zu Ludwig Greves Gedicht auf die alternde Ehefrau. Überhaupt gibt es in der Gegenwart wunderbare Ehe-Gedichte: von Grass, Hacks, ja und von Enzensberger.
Auch wer 645 Gedichte bringt, bringt nicht alles. Beispielsweise nicht Rudolf Borchardt oder Sarah Kirsch. Halten wir uns lieber an die Funde. Wer hätte von der Droste eine pikant komische Romanze erwartet, nämlich „Verfehlter französischer Roman“? Oder von einem Naturlyriker wie Oskar Loerke ein dekonstruktivistisches Liebesgedicht mit der Zeile „Ich fall’ dir zu Füßen Stück für Stück“? Wer, außer einigen Expressionismus-Spezialisten, kennt Alfred Lichtensteins „Pathos“ – ein hoch merkwürdiges Gedicht, das Tod, Gewalt und Sodomie faszinierend zusammenbringt. An solchen Trouvaillen wollen wir Jacobs messen. Da weitet der Abenteurer des Alltags die Grenzen seines ironisch-liebevollen Hausbuchs aus. Da zeigt das Angebot freundlicher Übernahme, was an Untergrund in ihm steckt, nämlich die Radikalität großer Poesie.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.8.2006

 

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