AM SCHEIDEWEG
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.
Paul Celan
Ich stehe am Fenster in der Nacht des neunzehnten
aaaaaMärz Zweitausend-
zwanzig und denke an dich, Paul, auf dem Pont
aaaaaMirabeau, fünfzehn Meter
über der Seine, und dein Gedicht Corona, das ich
aaaaaliebe, seit mehr
als vierzig Jahren, und nun ganz anders lese, niemand sieht mir zu
von der Straße, nur ein einsamer Hund pisst an die verwaisten Fahrradständer
des Gymnasiums, während meine Frau im Zimmer nebenan liegt
und mit untypischen Symptomen kämpft, während die Nachrichten
sich überschlagen und die Welt still wird und hysterisch und nur noch
ein Thema kennt, und die offenen Grenzen geschlossen werden,
und die Krankenschwestern in der Lombardei auf Twitter und Facebook
Kassandrarufe ins Netz stellen und aus dem Nachbarhaus der trockene Husten
(eines Rauchers) herüberschallt, erklären die einen, man solle die Alten
ruhig sterben lassen, das wäre das geringere Übel – die Wirtschaft!
Der Wohlstand! Die Börse! –, das sei nun mal, live and let die, der Lauf
der Welt, und achtzig ein stolzes Alter, erklären die anderen, alles
sei die Strafe Gottes, die Natur fordere ihren Tribut, indianische Medizinmänner
wüssten die Antwort, und andere wissen, wie eh und je, schuld sei
der Kapitalismus, der den Widerstand der Arbeiterklasse brechen wolle,
und die Streaming-Dienste und Versandhäuser bieten ihre Programme an
wie sauer Bier, verschenken Rabatte und versenden Versicherungen,
wir müssten nun alle zusammenstehen (das heißt vor allem, bestehende
Verträge nicht kündigen), die Lebensfreude sei ein hehres Gut (sprich
profitables Geschäft), und alle wissen, so geht es nicht weiter,
aber sollte es irgendwann irgendwie weitergehen, wird es genau so
weitergehen wie bisher, weil der Mensch so strukturiert ist und nicht
dazulernt, und du weißt, morgen werden dir die Passanten im Park
freundlich zunicken, weil plötzlich alle den unbekannten Spaziergänger
(einen Tag vor der drohenden Ausgangssperre) als ihren Genossen, Bruder,
Mitmenschen ansehen, der in der gleichen Lage steckt wie sie, und ich,
der an die Vernunft glaubt wie an ein Dogma, fange wider alle Vernunft
wieder mit dem Rauchen an und horche auf jedes verdächtige Zeichen
aus meiner Lunge und alle, die jetzt ein Haus haben, das sie nicht mehr
verlassen dürfen, sagen, sie wüssten gern, wohin die Reise geht.
Steffen Mensching blickt mit wachen Augen und nachdenklicher Neugier in die Welt, um in seinen Gedichten herauszufinden, was sie im Innersten zusammenhält. Und was sie zu zerstören droht.
Immer wieder ist das Meer ein Bezugspunkt, seine Weite, seine ewige Bewegtheit, seine Ufer. Kleine poetische Beobachtungen notiert Mensching, weit ausgreifende Reflexionen über unser Gewordensein, über die Bedeutung der Schiffskatzen für die christliche Seefahrt, über das Unterwegssein in Amerika, Italien und anderswo.
Nichts Abgeklärtes findet sich in seinen Gedichten, dafür Lakonisches, Sprachspielerisches; noch immer wird die Wut der jungen Jahre sichtbar, aber gekeltert durch Erfahrungen und poetische Genauigkeit.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2021
– Irrtum als Eigenart: Steffen Menschings Gedichte. –
Hochkomplexe Konstellationen in literarische Miniaturen zu überführen ist eine Kunst. Steffen Mensching beherrscht sie. Liegt er uns allen nicht längst schon auf den Lippen – der Shitstorm-Blues: „du kennst ihn nicht, hast ihn nie gesprochen, getroffen, gesehen, du hasst ihn nicht, hast aber Angst vor ihm“? Hatte man angesichts der tiefgreifenden Verunsicherung zu Beginn der ersten Pandemiewelle nicht auch einen Hang zu imaginären Fensterdialogen: „Ich stehe am Fenster in der Nacht des neunzehnten März Zweitausendzwanzig und denke an dich, Paul, auf dem Pont Mirabeau, fünfzehn Meter über der Seine, und dein Gedicht Corona“? Gerade der Irrtum – Celan ist nicht am 19. März, sondern erst einen Monat später aus dem Leben geschieden – markiert die Eigenart von Menschings Schreiben. Sein Wissen stammt nicht aus dem Nachschlagewerk, sondern ist verdichtete und mithin verfälschte Erinnerung.
Mensching ist ein Kristallisationskünstler. Insofern ist er verwandt mit der Hauptfigur seines Monumentalromans Schermanns Augen. Dort reichen dem titelgebenden Grafologen seinerseits wenige handschriftliche Zeichen, um in ihnen ganze Lebensschicksale zu erkennen. Allerdings erscheint es angesichts von In der Brandung eines Traums nicht zwingend, Mensching als Lyriker zu bezeichnen. Zugespitzt: Einen Gedichtband ohne ein einziges Gedicht zu schreiben, das muss man sich erst einmal trauen. Oder könnte irgendjemand sagen, wo bei „Ab und zu zwinge ich mich zur Langeweile“ oder „Meine Eltern wurden immer kleiner, sie aßen immer weniger“ die Verse brechen? (Sie tun es hinter „mich“ und „immer“.) Steffen Mensching schreibt Prosaminiaturen in Versform. In Anlehnung an Bert Brecht, Heiner Müller oder auch Robert Walser versteht er, bildsicher seine Pointe zu setzen.
Das Gedächtnis, sagt er, ist wie ein Kinderzimmer, ständig verschwindet etwas, etwas anderes taucht unverhofft wieder auf.
Wohlgemerkt, nicht die individuelle Erinnerung, sondern das kollektive Gedächtnis kommt im Kinderzimmermodus daher, um hart mit dem direkt anschließenden Mikrogramm des Vergessens zu kontrastieren:
Vergessliche Welt auch du wirst verschwinden wie eine Wimper, die fällt.
Spezifisch ostdeutsche Traditionslinien blitzen auf, nicht zuletzt findet sich manche Spitze gegen die Besserwesserei:
Wenn man über die grünen Kuppen der Rhön fährt und bemerkt, die Straßen werden deutlich schlechter, weiß man, man ist im alten Westen.
Die pointierte Beobachtung, der lockere Plauderton, die Achtung gegenüber großen Autoren (neben Volker Braun und Heiner Müller etwa auch Philip Roth), der Blick für die kleinen Leute kulminieren im Höhepunkt von Menschings Band: den vierundzwanzig „New York Lines“. Sie setzen mit dem Selbstvorwurf ein:
Richtige Dichter erschössen sich sofort, du aber machst dir nur Gedanken.
Mag sein. Aber als Leser weiß man Steffen Menschings Gedankengänge zu schätzen.
– Wie neue Gedichtbände, etwa von Safiye Can oder Steffen Mensching, die Pandemie umkreisen. –
Es ist schon seltsam, was man der Literatur so alles abverlangt. Eine sehr beliebte Forderung etwa lautet, Schriftsteller und Autorinnen müssten umgehend auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse reagieren. Nach 1989 konnte es die Literaturkritik kaum erwarten, endlich den großen Wenderoman zu lesen. Das dauerte bekanntlich, und wer weiß, ob nicht eher die Summe der vielen kleinen Wenderomane inzwischen den einen großen ergibt. Jetzt soll es der Klimawandel sein, der unbedingt literarisch bearbeitet werden soll, dabei fehlen ja noch der islamistische Terror, der Aufstieg der Rechtspopulisten, Donald Trump, die Ära Merkel… Ach ja, und da wäre natürlich auch noch die Corona-Pandemie, die unbedingt im Roman beackert werden sollte, und zwar möglichst schon morgen.
Gut, dass wir die Lyrik haben, denn die ist kurz und kann deshalb wunderbar auf alles reagieren, was den Dichtern und der Welt, in der sie leben, widerfährt.
(…)
Ein paar schöne Corona-Gedichte finden sich auch in Steffen Menschings In der Brandung des Traums (Wallstein, 2021). Auch hier dominiert die Lakonie über alle Depression:
Kindergartenkinder husteten
sich in die Armbeugen und unterließen
die lebensgefährliche Angewohnheit
zu popeln oder an den Nägeln
zu kauen.
Und auch die anderen Gedichte dieses Bandes zeigen, wie wunderbar unprätentiös und einfallsreich der Alltag zu Literatur werden kann:
Deine besten Gedichte erscheinen in der Nacht
zwischen zwei Träumen wie unverhoffter Besuch,
kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, erklären sie
die Leben, die Liebe, die Lüge und reimen sich
ohne Gleichklang
Heike Enzian: „Auf Grund der Lage steht alles in Frage“
Ostthüringer Zeitung, 25.6.2021
Jens Liebich: Was bedeutet es, Mensch zu sein?
literaturkritik.de, August 2021
Christine Lauer: Himmlische Literatur
Tageblatt, 15.12.2021
Gregor Keuschnig: Reflexionen über unser Gewordensein
glanzundelend.de, 27.5.2021
Michael Helbing: Rudolstädter Intendant Mensching veröffentlicht Gedichtband
Thüringer Allgemeine Zeitung, 6.4.2021
Matthias Ehlers: In der Brandung des Traums von Steffen Mensching
WDR, 6.8.2021
Hans Sarkowicz: Ein Kristallisationskünstler mit vielen Talenten. Laudatio auf Steffen Mensching zum Thüringer Literaturpreis 2021.
Friedrich Dieckmann: Weltverzweiflung ist das Vorrecht des Dichters. Laudatio auf Steffen Mensching zum Berliner Literaturpreis 2022.
Ulrike Kern: Intendant, Autor und Clown Steffen Mensching wird 60
Ostthüringer Zeitung, 27.12.2018
Jegor Jublimov: Martens, Mensching
junge Welt, 27.12.2018
Steffen Mensching & Hans-Eckardt Wenzel bei Verlorene Lieder – verlorene Zeit am 2. Dezember 1989 im Haus der Jungen Talente in Ost-Berlin.
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