Steffen Mensching: Zu Jannis Ritsos’ Gedicht „Irre“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jannis Ritsos’ Gedicht „Irre“. –

 

 

 

 

JANNIS RITSOS

Irre

Nein, nein – sagt er, alles andre vielleicht, nicht aber das Licht,
ist nicht ohne Halt – sagt er – das Licht, ich ertrag es nicht,
ich faß es mit meinen Händen, ziehe an seinem Schweif,
reiße die Gardine herunter, schlage die Scheibe ein,
werfe im Garten die Bänke um,
sehe einen kleinen Fleck auf deiner Jacke,
sehe etwas Staub auf den Nägeln deiner Zehen,
verberge den Schlüssel in deiner schweißnassen Achsel,
ich bin ein Mensch, sag ich dir, nehme beim Hinaufsteigen immer
aaaaazwei Stufen,
trete auf den Balkon und hisse die Fahne.

Übertragen von Asteris Kutulas

 

Unordentliche Lesart

IRRE – seltsame Kategorie der Umgangssprache, darin Antipoden von Bedeutungen zusammenfallen. Nur aus Gestus und Zusammenhang wird kenntlich, wie dieses Wort besetzt ist, ob als Zeichen von Faszination und Nähe oder von Aversion und Ferne. Was, wie auch immer, so bezeichnet wird, scheint außerdurchschnittlich, originell in hohem Grade, so oder so nicht dem gültigen Standart angemessen. Dem jeweiligen Phänomen gegenüber versagen die Worte, es kann nur um-, nicht beschrieben werden, die Unfähigkeit, treffenden Ausdruck zu finden, fließt in die Vagheit des Begriffs mit ein.

DER MANN, der behauptet, Goethe zu sein, scheint verrückt – es sei denn, er ist Goethe. Dieser hier, ein irre Genannter, behauptet, ein Mensch zu sein – ist er kein Mensch? Streitet man ihm sein Menschenrecht ab, wurde er deshalb verrückt? (Oder spielt er nur?) Oder meint er, nur wer sich derart gebärdet, bleibe ein Mensch, oder wird er für irre gehalten, weil er, obwohl er ein Mensch ist, ein Mensch sein will?

„JANNIS RITSOS – Dichter des letzten Jahrhunderts vor dem Menschen“ – Schlußzeile eines Gedichtes von Ritsos aus dem Jahre 1942.

RETROSPEKTIVE: 75 JAHRE ZURÜCK

aaaaaA: Was gibt’s für einen neuen politischen Witz?
aaaaaB: Fünf Jahre Dachau.

aaaaaHitler besucht eine Irrenanstalt, er durchquert die Flure, überall begrüßt man ihn mit zackigem Heil. Nur ein einziger Mann steht im Gang, ohne brüllend den Arm hochzureißen. Hitler (verwundert) erkundigt sich nach der Ursache dieser Zurückhaltung. Der Mann sagt: ich bin hier nur der Pfleger.
aaaaaKein Witz: Hitler besuchte keine Stationen für psychisch Geschädigte – sie wurden zu Tausenden umgebracht. Das Wort Euthanasie, eigentlich: Milderung und Verkürzung des Todeskampfes durch Medikamente, erfuhr seine zynische faschistische Verdrehung – es steht für Massenmord.
aaaaaHinter der Hand: … sie haben wieder einige abgeholt … Man kann ja doch nichts machen … Ein Häuflein Verrückter …

Ich bin nur ein Vorläufer gewesen in meinem teilweise noch unklaren Drängen und Wollen. Glaubt mir an die gerechte Zeit, die alles reifen läßt.
Ich denke an Vaters letzten Blick bis zuletzt. Ich denke an die Weihnachtsträume meiner lieben kleinen Mutter…
Ich denke an manches zurück, an ein reiches und schönes Leben, von dem ich so vieles Euch verdanke, so vieles, das nie gelohnt wurde. Wenn Ihr hier wäret, unsichtbar seid Ihr’s, Ihr würdet mich lachen sehen angesichts des Todes. Ich habe ihn längst überwunden. In Europa ist es nun einmal üblich, daß geistig gesät wird mit Blut.
Mag sein, dass wir nur ein paar Narren waren, aber so kurz vor Torschluß hat man wohl das Recht auf ein bißchen ganz persönliche Illusion…
Letzter Brief Harro Schulze-Boysens an seine Eltern, geschrieben am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee. An diesem Tag wurde er zusammen mit seiner Frau Libertas, Arvid Harnack und acht anderen Patrioten gehenkt.

DAS LICHT ist die Grenze, hier erfolgt der Aufbruch, die Rebellion. Jener ist außer sich, so viele Dinge sind ihm bereits entzogen, entfremdet worden, hier aber, am Elementarsten, dringendsten Lebens-Mittel, beginnt seine Abwehr. Er verlangt Halt, indem er etwas zu halten verlangt. Hat man ihn, aus aller Verantwortung entlassen, derart entmündigt, rührt sein Irrsinn aus dieser beziehungslosen Einsamkeit, in der einzig über ihn verfügt wird? Was ist dies für eine Welt, derart verstellt von Barrieren, fremden Mächten und Medien, voller Filter, Gardinen, Scheiben, eine Welt beständig wachsender Undurchschaubarkeiten, wo auch das Selbstverständliche nicht länger selbstverständlich bleibt, wo es, so eingefordert, das Unmögliche scheint, obwohl es das Mindeste ist. Verstehst du?

DIE TROTZIGE GEBÄRDE. Nein, sagt er, nein, meine Suppe eß ich nicht. Nein, sagt er, nein, alles andre vielleicht, nicht aber das Licht…
Kinder und Narren plappern die Wahrheit, ein Privileg der unzurechnungsfähig Genannten, deren Einsichtsvermögen begrenzt ist (in den Augen der anderen), deren Kalkül unentwickelt oder verkümmert.
Kinder und Narren vertun ihre Zeit arglos, in sich selbst ruhend, so als hätten sie Zeit für immer. Weil ihr Horizont grenzenlos ist wie ihr Fragenkatalog, scheint ihr Einsichtsvermögen begrenzt. Sie kommen zu keinem abrechenbaren Ergebnis, sie spielen. Unzurechnungsfähigkeit schließt immer ein Moment Unberechenbarkeit ein.

KINDER NARREN DICHTER – hitzige Troika vor dem Schlitten der Wahrheit.

SPIEL UND ERNST

aaaaaKinder und junge Katzen sind sich zu ähnlich, um miteinander spielen zu können.
aaaaaUlenspiegel – sie verziehen ihm alles, solange sie glaubten, er sei es, schlugen ihn halb tot, als sie merkten, er spielte nur verrückt.

DAS ORDENTLICHE KINDERZIMMER. Das Kind, das, ins Spielzimmer geführt, den mahnenden Satz vernimmt: Spiele nur, aber mach nichts kaputt!, rührt sich nicht, faßt nichts an. Läuft auf die Straße, wirft Steine in die Fensterscheiben der guten Stube.

Jedes anständige Kind macht dreierlei: es macht Sachen kaputt, öffnet die Bäuche von Puppen oder auch von Uhren, um herauszukriegen, was da drin ist, und es quält Tiere… Ich war ein schlimmes Kind, ich habe in meiner Kindheit weder das erste, noch das zweite, noch das dritte gemacht… Und das ist natürlich sehr schlimm. Denn wahrscheinlich mußte ich eben deshalb gerade Filmregisseur werden.
Sergej Eisenstein, Yo – Ich selbst

Die Konstruktion setzt die Dekonstruktion voraus.
Walter Benjamin

WANDERWEGE. Diesen Weg auf den Höhn sind wir oft gegangen – die Fußstapfen der Vorgeschichte. Wer unsicher ist, hält sich am Geländer fest. Langsam, die Serpentinen, geht es die Treppen zum Gipfel hinauf. Die Kinder werden angehalten, keine Abkürzungen zu suchen. Alle tausend Meter steht ein Kreuz zwischen den Felsen, schwarz und drohend, ein Zeichen des Scheiterns, einen Absturz anzeigend.

JEDE ORDNUNG ist nur die Abstraktion einer Unordnung. (Na und, was soll dies sentenziöse Gesülze?)

aaaaaEIN ANDERER IRRER

aaaaaAbwarten, Sekt trinken, nein, rief er, nein,
aaaaazerriß das Trostpflaster, die Schweigegelder,
aaaaaer allein zerschlug mit dem Stein
aaaaaden Feuermelder
aaaaaaaaaaals sie ihn holen kamen, rief er entsetzt
aaaaader richtige Augenblick
aaaaaaaaaahat keinen anderen Namen als JETZT

AUFRICHTIGKEIT (ODER SPONTANEITÄT) UND DISZIPLIN I

Ist die Aufrichtigkeit (oder Spontaneität) immer ein Vorzug oder ein Wert? Wenn sie diszipliniert ist, stellt sie tatsächlich einen Vorzug und einen Wert dar. Aufrichtigkeit (und Spontaneität) bedeutet ein Höchstmaß an Individualismus, aber auch im Sinne von Eigenbrötlerei (Originalität ist in diesem Falle mit Idiotie gleichzusetzen). Das Individuum ist historisch originell, wenn es ein Höchstmaß an lebendiger ‚Gesellschaftlichkeit‘ hervorbringt, ohne die es ein Idiot wäre (im etymologischen Sinne, der sich jedoch nicht vom gewöhnlichen und allgemein gebräuchlichen Sinn entfernt).
Antonio Gramsci, Aus den Gefängnisschriften

HALTEVERBOT. Die (übrigens illusorische) Freude einer Gesellschaft an Stabilität, erkauft durch die Abwehr von Spontaneität, gleicht jener des Autofahrers über die eintretende Stille nach Abschalten des Motors.

AUFRICHTIGKEIT (ODER SPONTANEITÄT) UND DISZIPLIN II

Es gibt einen ‚rationalen‘ Konformismus, welcher der minimalsten notwendigen Anstrengung entspricht, die erforderlich ist, um ein nützliches Resultat zu erreichen, und die Disziplin eines solchen Konformismus muß gelobt und gefördert, in ‚Spontaneität‘ oder ‚Aufrichtigkeit‘ verwandelt werden. Konformismus bedeutet dann nichts anderes als ‚Gesellschaftlichkeit‘, und es macht Spaß, das Wort ‚Konformismus‘ gerade darauf anzuwenden, um die Dummen zu provozieren.
Antonio Gramsci, Aus den Gefängnisschriften

FATALISTEN. Gemeinhin deuten wir auf jene, die, sicher, die Zukunft läge hinter uns, die Hände im Schoß halten, vergessen dann häufig jene „Zukunftsbeglücker“, von denen Heine sprach. Beide Parteien klammern sich (das heißt uns) aus der Geschichte aus, Stellvertreter eines janusköpfigen Weltgeists. Indifferentismus und Determinismus sind nur die zwei Seiten einer Münze, für die es in der Gegenwart nichts zu kaufen gibt.

AUFRICHTIGKEIT (ODER SPONTANEITÄT) UND DISZIPLIN III

Originell zu sein, indem man das Gegenteil von dem macht, was alle machen, ist zu einfach, es ist ein mechanisches Verhalten. Zu einfach ist es, anders zu sprechen als die anderen, ein ‚Worterfinder’ zu sein, schwer aber, sich von den anderen zu unterscheiden, ohne gleich in Akrobatik zu verfallen. Besonders in heutiger Zeit ist es Mode, sich eine Originalität und Persönlichkeit auf billige Art und Weise zu schaffen. Die Gefängnisse und Irrenhäuser sind voll origineller Menschen und starker Persönlichkeiten.
Antonio Gramsci, Aus den Gefängnisschriften

VERBANNT auf die KZ-Insel Makronissos, wird Ritsos in eine Gemeinschaftszelle gesperrt, ein einziger Raum für dreißig bis vierzig Häftlinge. Ihm wird von den Wärtern jene Pritsche zugewiesen, die genau im Zentrum der Zelle steht. Dort sitzt er tagtäglich, ein Blatt Papier auf den Knien, und schreibt, schreibt, schreibt…
Die anderen Häftlinge sprechen, streiten sich, spielen Karten, er aber sieht nichts, hört nichts, er dichtet, setzt Wort um Wort, Zeile für Zeile, gefangen und auf seltsame Art FREI. Vielleicht hielten ihn seine Genossen in Augenblicken der Verzweiflung für unbarmherzig oder verrückt, aber sie sagten es nicht, unterbrachen ihn nur in seiner Arbeit, wenn er wieder einmal zu essen vergessen hatte.

DIE FAHNE muß auf den Balkon – welche? Der da die Treppen hinaufstürzt, betont: ich bin ein Mensch! Er sagt nicht: ich bin ein Grieche, ein Türke, ein Pole… Eine vaterlandslose Fahne – es kann nur eine sein.

DER KLEINE FLECK, die Begierde nach Kenntlichkeit, Vertrautheit, der abgesteckte Bezirk, ein Mikrokosmos voller Besonderheiten, die behutsam und ohne Flüchtigkeit aufgespürt sein sollen. Das belanglos scheinende Detail erheischt Aufmerksamkeit, das lebendig Vergängliche. Uneindeutige – das steht gegen Gewöhnung, Erstarrung, Tod

aaaaaICH ERWACHTE ALLEIN, MEINE LIPPEN WAREN SO KLEBRIG
aaaaaund süß. Du hattest Honig gegessen, Geliebte.

DIE SCHLÜSSEL in Ritsos’ Dichtung sind Mysterien. Sie scheinen allgegenwärtig, Unruhe stiftend brechen sie ein in die Harmonie des Alltags. Sie zu besitzen bedeutet Gefahr, sie werden verborgen, man sucht sie zu vergessen, dann aber werden sie wieder schlechten Gewissens hervorgekramt. Im Gedicht „Des Schicksals“ wird das Ringen eines Mannes mit einem jener verhängnisvollen Schlüssel beschrieben: „… manchmal auch / vergaß er ihn wirklich. Doch plötzlich – / die Haltung des Körpers, die Art des Gehens / weihten ihn in sein Geheimnis wieder ein…“ Seltsam auch, dass die Lebenden, obwohl im Besitz der Schlüssel, diese nicht ohne Handicaps benutzen können. Einzig die Getöteten gebrauchen sie mit unerschrockener Gelassenheit, nur: als die Getöteten mitten in der Nacht das Haus aufschlossen, versteckte sich der Bewohner ängstlich unter dem Bett, so daß sie ihn nicht finden konnten. „Nun wissen die Toten nicht mehr, wann sie starben.“ Was trieb sie wohl in sein Haus? Welche Botschaft wollten sie überbringen, welche Nachricht empfangen?

aaaaaANGELIKA SAGTE: Schreib über den Schlüssel von Jannis
aaaaaund so versteckte ich ihn in deiner feuchten Achselhöhle.
aaaaaEin anderer Mund, ein anderer Finger wird ihn finden
aaaaain deiner Umarmung, falls nicht anrücken, vorher, sie, dich zwingen,
aaaaamit der Stirn an der Wand, die Hände hoch über den Kopf
aaaaaaaaaazu reißen

WIDER DEN TOD steht er auf, zeigt die Fahne, Gewöhnung und Langeweile, Angst und Erstarrung überwindend, fordert er sein Recht, menschlich zu leben zu Lebzeiten. Dies unterscheidet ihn von Kindern und Narren, ihrer Zeitlosigkeit. Jener Augenblick der Überwindung (dem immer ein Moment der Unangemessenheit anhaftet) ist die in sein Leben gerissene Utopie, die über den Augenblick hinausweist, die konkrete Bewegung. Die Sorge um die Gattung als die Überwindung der eigenen lebendigen Individualität oder als deren Bestätigung?

In Wirklichkeit gibt es nicht einen Augenblick, der seine revolutionäre Chance nicht mit sich führte – sie will nur als eine spezifische definiert sein, nämlich als Chance einer ganz neuen Lösung im Angesicht einer ganz neuen Aufgabe. Dem revolutionären Denker bestätigt sich die eigentümliche revolutionäre Chance jedes geschichtlichen Augenblicks aus der politischen Situation heraus. Aber sie bestätigt sich ihm nicht minder durch die Schlüsselgewalt dieses Augenblicks über ein ganz bestimmtes, bis dahin verschlossenes Gemach der Vergangenheit.
Walter Benjamin, Notizen zu: Über den Begriff der Geschichte

PS: Die Zeitform des Textes ist Präsens.

neue deutsche literatur, Heft 394, Oktober 1985

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