Steffen Popp: Panzere diesen Äquator, Mond

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Steffen Popp: Panzere diesen Äquator, Mond

Popp-Panzere diesen Äquator, Mond

XXIX 

aaaaaEs summt die Langeweile, versenkt
unter dem ungeschaffenen Augenblick und dem Rohr.

aaaaaEine Parallele verläuft zur
undankbaren vom Glück gebrochenen Linie.
Mich verwundert jede Festigkeit neben diesem Wasser,
das sich entfernt, das Stahl lacht, Rohr.

aaaaaNeugestärkter Faden, Faden, zweinamiger Faden,
wo wirst du reißen, Knoten des Krieges?

aaaaaPanzere diesen Äquator, Mond.

 

XXIX

aaaaaZumba el tedio enfrascado
bajo el momento improducido y caña.

aaaaaPasa una paralela a
ingrata línea quebrada de felicidad.
Me extraña cada firmeza, junto a esa agua
que se aleja, que ríe acero, caña.

aaaaaHilo retemplado, hilo, hilo binómico
¿por donde rornperás, nudo de guerra?

aaaaaAcoraza este ecuador, Luna.

Anstelle eines Titels steht über dem obigen Gedicht die Nummer XXIX – sie bezeichnet seinen Ort in Trilce’,1 dem legendären zweiten Gedichtband des peruanischen Dichters César Vallejo, der 1922 in Lima erschienen ist. César Vallejo lebte von 1892 bis 1923 in Peru, dann bis zu seinem frühen Tod 1938 vor allem in Paris und einige Zeit in Spanien. Er gilt als der bis heute bedeutendste und auch international einflussreichste Dichter seines Landes; zumindest für die Lyrik kann man sagen, dass eine eigenständige peruanische Literatur mit ihm eigentlich erst begonnen hat. Obwohl eine vollständige, zweisprachige Ausgabe seiner Dichtungen in deutscher Übersetzung vorliegt,2 ist er in Deutschland nur wenig, gemessen an seinem Werk bei weitem zu wenig bekannt. Entsprechend bin ich – oder ist mir – César Vallejo relativ spät begegnet und, wie häufig auf diesem Gebiet, für das es keine Generalkarten gibt, zunächst im Werk eines anderen Dichters. Beim Übersetzen des Gedichtbandes The Lichtenberg Figures (Die Lichtenbergfiguren) des US-Amerikaners Ben Lerner stieß ich 2009 auf seinen Namen, in einem Text, der das groteske Wetteifern dreier Personae um die Besonderheit ihrer Tode imaginiert, wobei sie sich unter anderem an verschiedenen Werken Vallejos messen.

Mein Tod war erster zweiter bei den Kansas State Wrestling Championships 1996 (157 lbs).
Mein Tod schrieb Sämtliche nachgelassene Gedichte von César Vallejo.
Mein Tod war der erste Tod in meiner Familie,
der das College abschloss.
Mein Tod machte seinen Abschluss an der University of California, Berkeley.

Dein Tod war Kansas State Wrestling Champion 1996 (157 lbs).
Dein Tod schrieb César Vallejos Trilce.
Dein Tod war der dritte Tod in deiner Familie,
der eine Jahrgangs-Eröffnungsansprache
an der University of California, Berkeley, hielt.

Ihr Tod kümmert sich nicht um deines Todes Ruhm oder Physis.
Ihr Tod schrieb Wolfram, César Vallejos sozial-realistisches Experiment.
Ihr Tod fährt gern mit ihren Händen durch das, was meinem Tod an Haar geblieben ist.
Ihr Tod würde gern eine Familie gründen.3

Um mir die Referenz dieses rätselhaften Textes zu erschließen, begann ich mich mit César Vallejo zu befassen, und schon bei der ersten Lektüre wurde mir klar, auf eine Leerstelle in meiner Rezeption spanischsprachiger Dichtung gestoßen zu sein, deren Vorhandensein noch um einiges rätselhafter schien. Lorca, Neruda, Aleixandre hatte ich gelesen, Rafael Alberti, Octavio Paz und andere mehr, nicht aber César Vallejo.4 Was war so besonders, so eigen an diesen Gedichten, dass ich nicht einen Moment daran zweifelte, hier einen außergewöhnlichen Autor vor mir zu haben, der den zuvor genannten in nichts nachstand, sie in mancher Hinsicht sogar in den Schatten stellte? Cees Nooteboom beschreibt in der Einleitung zu seinen Übertragungen Vallejos in der niederländischen Literaturzeitschrift Avenue seine Verbindung mit und seinen Zugang zu dessen Dichtung:

Wenn ich mich diesen Gedichten aussetze – denn einfach lesen: kann man sie nicht –, habe ich immer das Gefühl, daß in ihren Worten etwas sehr Altes langsam zertrümmert und zerrieben wird. Die Gedichte selbst sind Leiden. Roland Barthes kommt der Sache am nächsten, wenn er neben dem „Lesbaren“ und dem „Schreibbaren“ als weitere Kategorie das „Empfangbare“ nennt – nicht in diesem Zusammenhang, aber das Gesagte gilt sicher für Vallejos Lyrik. Gemeint ist etwas, das sich als ein Ganzes – bei Vallejo heißt das: einschließlich der anarchischen Syntax, der eigenwilligen Grammatik und der Anspielungen auf Bibel und Aberglauben – dem Leser einbrennt, wie ein glühendes Brenneisen oder Siegel. So lesbar, angenehm und auch für Europäer leicht zugänglich die Lyrik Nerudas ist, so eigensinnig, unzugänglich und fremd ist die Poesie Vallejos.5

Eine genaue Kenntnis der politischen und ideengeschichtlichen Konstellationen, die Vallejos Schreiben beeinflusst haben, ist nicht nötig, um die Wirkung seiner Poesie zu erleben; wie in jeder relevanten Dichtung stehen, sprechen seine Gedichte für sich, und auch meine erste Begegnung mit ihnen verlief ohne jegliches Wissen über die entsprechenden Hintergründe ausgesprochen glücklich.

(…)

 

Zwiesprachen I: Steffen Popp über César Vallejo am 18.5.2015 im Lyrik Kabinett, München

 

 

 

Der peruanische Dichter César Vallejo,

der im Alter von nur 46 Jahren 1938 in Paris starb, ist einer der großen poetischen Neuerer der spanischen Sprache des 20. Jahrhunderts. Den literarischen Strömungen der Zeit immer voraus, war jedes seiner Bücher stilistisch einzigartig und sprachlich wie gedanklich revolutionär. Seine Wirkung auf die Poesie seiner und der nachfolgenden Generationen ist mit der Lorcas vergleichbar; im englischsprachigen Raum gilt er vielen jüngeren Autoren als der bedeutendste spanischsprachige Dichter überhaupt. Vallejos poetisches Werk liegt seit einigen Jahren in einer vierbändigen deutschen Übersetzung vor, verglichen mit García Lorca, Pablo Neruda oder Octavio Paz ist seine Rezeption im deutschsprachigen Raum dennoch geradezu marginal. Die Vorstellung César Vallejos als Dichter soll dabei helfen, diese Lücke zu schließen.

Steffen Popp, Verlag Das Wunderhorn, Klappentext, 2016

 

Vom Überleben des Wortes 

– César Vallejo und Gottfried Benn. – 

Um den peruanischen Lyriker César Vallejo ist es im deutschsprachigen Raum schon seit langem still geworden. Hans Magnus Enzensberger hat vor vielen Jahren (1963) eine Auswahl seiner Gedichte übersetzt, 1979 war in der DDR ein kleines Heft mit Übertragungen von Richard Pietraß und Erich Arendt erschienen. Der Aachener Rimbaud Verlag hat sich dann am Ausgang des 20. Jahrhunderts darum verdient gemacht, eine vierhändige Werkausgabe in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason vorzulegen. Allerdings gilt diese ältere Übertragung unter Kennern als sprachlich und inhaltlich mangelhaft, so dass ein neuer übersetzerischer Versuch angebracht wäre. Einigen Spezialisten, die sich dem Studium lateinamerikanischer Literatur widmen, ist der außerordentliche poetische Rang Vallejos selbstverständlich bekannt; eine mehrbändige, von Philologen besorgte Anthologie spanischsprachiger Lyrik ist derzeit in Arbeit, in der er in deutscher Übersetzung enthalten sein wird. Aber insgesamt führt Vallejo hierzulande eher ein Schattendasein. Auch ist ein Jahrestag nicht in Sicht, der Anlass gäbe, erneut auf ihn hinzuweisen.
In dieser Situation kann aber immerhin aus jüngster Zeit eine rühmliche Ausnahme von diesem allgemeinen Desinteresse vermeldet werden. Der 1978 in Greifswald geborene, in Prenzlauer Berg in Berlin lebende Schriftsteller und Dichter Steffen Popp hat 2015 in der Stiftung Lyrik Kabinett München eine Rede mit dem Titel Panzere diesen Äquator, Mond. Zur Poesie César Vallejos gehalten, die inzwischen auch publiziert worden ist. Dem kurzen Vortrag ist eine Auswahl von Gedichten Vallejos in der Übersetzung Meyer-Clasons beigegeben (zu neuen Übersetzungen ist es leider nicht gekommen, um die man etwa Susanne Lange oder Petra Strien, die beide mit dem Dichter vertraut sind, hätte bitten können).
Popp berichtet, dass er auf den Namen des Lateinamerikaners zum ersten Mal beim Übersetzen eines nordamerikanischen Gedichts gestoßen und daraufhin neugierig geworden sei. Er kann in seiner Rede durchaus deutlich machen, warum Vallejos Werk in universellem Rahmen bedeutend und von bleibender Aktualität ist, weshalb denn die Wiederentdeckung lohne. Es ist die vor allem in dem hermetischen Gedichtband Trilce entfaltete sprachliche Formwerdung des Ausdrucks einer Erfahrung, die für die Moderne insgesamt zentral ist und der Zerrüttung traditioneller Denkgewohnheiten gilt. Er bemerkt: 

Der in den Augen des Sprechenden mehrfach gebrochenen Welt lässt sich nur mit Mitteln des Kontrastes, der Brechung, des Bruches gerecht werden – poetische Verfahren, die heute zum Kernbestand der Moderne zählen. Dass dieser Bruch nicht nur als solcher reflektiert und beklagt, sondern in der Praxis des Sprechens, im sprachlichen Material selbst vollzogen wird, das heißt, bei aller Klage zugleich affirmiert und gegen das Pathos des Sprechens weitergetrieben wird, macht Vallejos Dichtung über bloße Modernität hinaus gegenwärtig.

Überdies lobt Steffen Popp an dem von ihm frisch entdeckten Werk „eine im Sinn der Frühromantik romantische, d.h. auf die eigene Position bezogene Ironie, die in meinen Augen bis heute die einzig poetisch vertretbare ist“. Schließlich zitiert er auch ein eigenes Sonett, das er 2012 unter dem Einfluss seiner Trilce-Lektüre verfasst hat und das mit der schönen Zeile „In allem was einströmt später zu Boden zu gehen“ beginnt. In diesen Worten wird jene gewaltige Empfänglichkeit des Peruaners deutlich, die ihn am Ende zur Kapitulation führen musste und auf die auch wir hinweisen wollen. Und was vielleicht das Interessanteste an dieser Rede ist – ein zeitgenössischer deutscher Dichter lässt sich von Vallejo zum Weiterschreiben inspirieren. Dies ist wohl die eigentliche, angemessene Form von Rezeption, die ein Autor im Glücksfall erfahren kann und die über die bloße Beschreibung oder gar literarhistorische „Einordnung“ – ein niederschmetterndes Wort! – durch die Fachgelehrten hinausweist. Zum Schluss kündigt der Redner eine weiter gehende Befassung mit der „unerhörten Poesie César Vallejos“ an, wobei er offenlässt, ob er diese fortgeführte Auseinandersetzung selbst vornehmen wird oder sie einer größeren Öffentlichkeit überhaupt ans Herz legen möchte.
Um die Notwendigkeit einer derartigen Rückerinnerung an den peruanischen Lyriker bzw. einer Neuinterpretation seiner Verse zu verdeutlichen, wollen wir einen anderen Weg gehen und den Vorschlag unterbreiten, die Lektüre der Briefe Gottfried Benns, die er an den Bremer Kaufmann und Gönner Friedrich Wilhelm Oelze gerichtet hat, als Ausgangspunkt zu nehmen, um vor dem gleichzeitigen deutschen Hintergrund Eigenart und Leistung Vallejos hervortreten zu lassen. Der Briefwechsel ist unlängst in einer kommentierten vierhändigen Neuausgabe erschienen. Die Briefe des Dichters, die viele wohl jetzt zum zweiten Mal lasen, jetzt aber um die dazugehörige, ebenfalls aufschlussreiche Korrespondenz Oelzes erweitert wurden, lassen auf gestochen scharfe Weise noch einmal die Epoche vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erstehen, mit ihren Irrungen, Wirrungen, ihren Miseren und Errungenschaften. Es ist die geistige, künstlerische und politische Situation dieser Jahrzehnte, auf die jetzt ein Schlaglicht fallen kann. Beherrschend für Benn wie für die sensibelsten seiner Zeitgenossen ist der Schatten Nietzsches; den Philosophen stellt er neben Goethe, den er ebenfalls über die Maßen verehrt hat. Noch einmal ist es eine Epoche, die um Weltanschauungen, große Entwürfe, geschichtliche und geistige Sendungen ringt. Benn hat an diesen Strebungen teil, wenngleich er sich in seinen Briefen und anderen Texten immer bewusster darüber wird, dass es in Dichten und Denken immer entschiedener von Vorstellungen wie gültiger Weltanschauung oder bedeutender gesellschaftlicher oder individueller Sendung Abschied zu nehmen gilt.
Die Lektüre dieses Briefwechsels könnte wohl dem Leser, der nicht nur an deutscher, sondern an Weltliteratur interessiert ist, nun die Möglichkeit bieten, den Horizont zu beleuchten, vor dem auch die herausragende Bedeutung des lateinamerikanischen Lyrikers, an den zu erinnern uns notwendig erscheint, verstanden werden kann.
César Vallejo, 1892 geboren, ist sechs Jahre jünger als Gottfried Benn, teilt mit ihm aber dieselbe Epoche. Diese Gemeinsamkeit war bislang wohl kaum deutlich, da der Peruaner oft vor bloß regionalem und autobiographischem Hintergrund rezipiert bzw. seine epochale Bedeutung nur ansatzweise begriffen wurde. Tatsächlich waren seine Herkunft und seine Lebensumstände prägend. Sie tragen zur tiefen Melancholie und Schwermut seiner Texte bei. Geboren im peruanischen Santiago de Chuco, wächst er in einer Familie mestizischer Herkunft mit elf Geschwistern auf, die der Vater mehr schlecht als recht ernähren kann. Er studiert Literaturwissenschaft, beginnt zu schreiben, ist oft kränklich, stets niedergeschlagen und von einem verzweifelten Lebensgefühl getragen. Die Traurigkeit der indianischen Rasse, die von den spanischen Eroberern vor langer Zeit unterjocht worden war, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ihn bekümmern der besitzlose Indio Lateinamerikas und die internationale Arbeiterschaft in ihrer Not, und er solidarisiert sich mit beiden. Vallejo wendet sich dem Marxismus zu, bereist die Sowjetunion und verfasst den historisch-materialistischen Roman Wolfram, der die Misshandlung der Minenarbeiter sowie den nordamerikanischen Imperialismus anprangert, heute jedoch eher verzichtbar und von geringem literarischen Wert ist. Er reist nach Paris, wo er sich für die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg engagiert, und lebt in der französischen Hauptstadt mit der Tochter einer Concierge zusammen. Der Tod ereilt ihn dort in bitterer Armut durch eine ungeklärte Krankheit im Jahr 1938. „Ich bin gerade erst geboren worden“, heißt es in einem seiner Prosagedichte. Weiter in die Welt hineinzuwachsen war ihm nicht vergönnt, aber er hat für seine Befindlichkeit wunderbare, ergreifende Worte gefunden.
Was sein Werk aber eigentlich in seltene Höhen führt, ist zunächst einmal der Umstand, dass es an einem Denken nach Nietzsche Anteil hat, das auch von den europäischen Intellektuellen jener Zeit zu entwickeln versucht wurde. Benn war Pfarrerssohn und hat zwei Jahre evangelische Theologie studiert, bis er sich vom Glauben abwandte und den Tod Gottes als unabänderliche Tatsache empfand. Vallejo ist stark vom Katholizismus geprägt, verfällt gleichzeitig ebenfalls in Zweifel und beschreibt beständig seine Gottverlassenheit. Alle Christusfiguren stürzen für ihn in die Tiefe, wie es gleich in den Eingangsversen seines ersten Gedichtbands, Die schwarzen Boten, heißt. Bethlehem ist für immer in unerreichbare Ferne gerückt. Seine Seele ist ketzerisch; sein Denken versetzt Gott beherzt den Todesstoß, bzw. der Schöpfer begeht selbst Suizid, nachdem er nichts mehr für seine eigenen Geschöpfe empfinden kann. Berühmt ist der Vers: 

Ich wurde an einem Tag geboren,
als Gott krank war. 

Der Loslösung von der christlichen Theologie treten bei Vallejo gleichwohl noch immer Spuren von Frömmigkeit gegenüber, etwa wenn er bekennt: 

Ich empfinde Gott, der so sehr in mir
wandert, am Abend und angesichts des Meers.

Es heißt sogar einmal: 

In den christlichen Baum hängte ich mein Nest.

Wo Metaphysik einst war, gähnt für ihn eine Leere, aber er will sie doch andenkend in sich bewahren: 

Es gibt eine Leere
in meiner metaphysischen Luft
an die niemand rühren soll.

Oder, ebenfalls überaus eindrücklich: 

Meine Ewigkeit starb, aber ich halte bei ihr Wache. 

Dieses Eingedenken eines unrettbar Verlorenen, das aber nach wie vor gewürdigt werden soll, gibt es bei Benn, dem entschiedenen Nietzscheaner, nicht, aber beide Dichter arbeiten daran, die in der Tradition gedachte Substanz zu zersetzen. Darin ist dann auch Vallejo konsequent. „Zersetzung der Substanz“ postuliert Benn als sein Ziel, und Vallejo ruft aus: 

Verbrennen wir auch noch die letzte Essenz!

Für beide soll es keine Teleologien mehr geben; der Deutsche lehnt Geschichtsphilosophie und Fortschrittsdenken ebenso marxistischer wie faschistischer Couleur ab, und Vallejo ermuntert seine Leser an einer Stelle dazu, sämtliche Schiffe, die irgendwohin auslaufen könnten, unerschrocken zu verbrennen. Eine Ausfahrt zu neuen Ufern soll nicht mehr unternommen, das perspektivierende Denken und Streben, der Gedanke einer anvisierbaren Wesenheit verabschiedet werden. Der Tag schreitet voran, heißt es einmal, mit „schüchternen, leeren Sandalen“; die Wirklichkeit selbst ist entleert. Ein anderes Mal ist bei Vallejo die Rede von Pfeilern, die eines Fundaments und eines krönenden Abschlusses entbehren. Die Säulen sind ihres Grunds und ihres Endpunkts beraubt; Ursprung und Ziel sind metaphysische Konzeptionen, die nicht länger gedacht werden können und sollen. In aller Knappheit, aber treffsicher, heißt in einem Gedicht über die neuentstandene Orientierungslosigkeit: 

Es irrt sich die Nadelspitze des Besorgens.

In einem anderen Gedicht liest man: 

Dieses Haus tut mir gänzlich wohl, gibt dem Nichtwissen,
wo ich hingehöre, einen vollkommenen Ort.

Befindet sich der Dichter in einem Haus, dann fühlt er sich in seiner Ortlosigkeit paradoxerweise gut aufgehoben; er darf an einem Ort sein, erfährt dabei aber die Unbehaustheit des modernen Menschen, der bei keiner schützenden Transzendenz mehr Geborgenheit suchen kann. Derlei Worte wollen vom heutigen Leser aufmerksam nachvollzogen und im internationalen Zusammenhang moderner Lyrik als Beitrag begriffen werden, der aus der Tradition abendländischen Denkens radikale Konsequenzen zieht.
Im Gefolge der Beschäftigung mit den nietzscheanischen Gedanken wird sowohl bei dem Deutschen als auch bei seinem peruanischen Zeitgenossen die zentrale Rolle des Körpers betont. Nietzsche hatte den Leib bekanntlich als eigentlichen Impulsgeber menschlichen Denkens und Handelns propagiert, weit wichtiger als Seele und Geist. Benn konstatiert eine dem Organischen entstammende, gleichsam nach Luft ringende, dem Ersterben der Kreatur nahe Sehnsucht des Menschen nach Rausch und Illusion, die der erlittenen Eintönigkeit des Lebens Abwechslung verschaffen soll. Er schreibt in einem seiner Briefe an Oelze: 

[…] es ist direkt ein Röcheln und Schreien unmittelbar aus dem Hirnstamm hervor nach noch so irrsinnigen Räuschen, nach koloristischer Verdrängung der tiefen seelischen Monotonie, in der wir leben.

Er erkennt „die Allmacht des Körperlichen“ an, „das alles trägt, auch den Geist“. Bei Vallejo ist es vor allem ein Satz aus einem Prosagedicht, der sich in diesem Zusammenhang zitieren lässt. Der Lyriker vom amerikanischen Kontinent sieht sein Gewissen als etwas Körperliches, das von Krebs befallen ist, und er ist an einer Infektion seiner sinnlichen Wahrnehmung erkrankt, die seine Haut zersetzt, will beide bedrohlichen Beschädigungen aber geduldig erleiden. Niemand soll ihm mit falschen Rezepten, mit billigen Tröstungen kommen. 

Ich verlange, dass man mich mit dem Tumor meines Gewissens, mit meiner irritierten, feinnervigen Lepra in Frieden lässt!

Existentieller Schmerz, der ja sein gesamtes Schaffen bestimmt, wird immer wieder gerade als körperliche Passion beschrieben. Der Autor des Gedichtbandes Trilce erzählt etwa von einem Frühstück in Einsamkeit, ohne Vater und Mutter, wobei sich ihm die Mahlzeit aber in rätselhafter Weise entzieht; der Teller rückt weit fort, und Heim und Herd sind zerfallen. Im nächsten Abschnitt berichtet das lyrische Ich von einem Frühstück bei einem guten Freund, aber auch hier empfindet er wieder Schmerz: Er spürt Messer in seinen Gaumen dringen. 

Und am gesamten Gaumen haben mich
die Messer dieses Tisches gemartert.

Was Vallejo ebenso wie Benn umtreibt, ist die Einsicht, dass dichterisches Schreiben in der Gegenwart fragwürdig geworden ist, dass mitteilbare Gewissheiten kaum noch zu erreichen sind und die Tradition der Poesie nahezu abgeschlossen scheint. Beide fragen darum nach der verbleibenden, wie auch immer prekären Möglichkeit eines zeitgenössischen Dichtens. Der Deutsche ist vom Rätsel des Schöpferischen besessen; nachdem es keine transzendenten Wahrheiten mehr zu verkünden gibt und keine verbindliche Aussage mehr möglich ist, bleibt für ihn gleichwohl als ein unerklärliches Mysterium bestehen, dass nach wie vor geradezu ein Zwang zu Ausdruck und Schreiben zu verspüren ist, der denn auch Motor seines Werks ist. Benn knüpft an den Ästhetizismus etwa eines Baudelaire an, indem er alles als Formproblem und Oberfläche auffasst. Bekannt ist seine Formulierung, Dichtung sei ein „Nichts, aber Glasur darüber“. Wenn die menschliche Erkenntnis eng begrenzt ist und sich kein Bild mehr vom Sein als Ganzem machen kann, dann erscheint Benn doch immer noch die vollendete Form insbesondere des Gedichts als Wert, der unbezweifelbar ist – der einzige noch mögliche Wert. Er bekennt Oelze gegenüber: 

[…] auch das Unbegreifliche fordert gebieterisch seine Form.

In einem der Gedichte, die in diesem Briefwechsel gelegentlich zitiert werden, spricht er vom poetischen „Formen, bis die Hülle / Die ganze Tiefe trägt“. Setzt er also alles daran, jede Inwendigkeit zu tilgen und bloß Äußeres zum Ausdruck zu bringen, so lässt sich im Laufe seiner Korrespondenz jedoch beobachten, dass er letztendlich vollkommene Ausdruckslosigkeit anstrebt. Er befürchtet zwar, wie er nach Bremen schreibt, sein ganzes Werk sei am Ende bloß ein „Summen, Gewisper, wohl nichts dahinter“, ahnt zugleich aber doch, dass ein solches entleertes Schreiben gerade das höchste Ziel seiner Generation sein könnte.
Vallejo sieht seine Verse eine ganz ähnliche Entwicklung nehmen, und eben wegen dieser Koinzidenz mit den gleichzeitigen Entwicklungen der europäischen Literatur ist sein Werk so bedeutend. Es finden sich bei ihm Formulierungen, welche die tief erlittene Erschütterung angesichts des historischen Augenblicks deutlich machen und von der Bedrohtheit der Dichtung und der Möglichkeit ihres Verstummens sprechen. Man lese zum Beispiel folgende Zeilen: 

So geht das Leben vorüber, ein Orchester aus zahlreichen Sphinxen
die ihren Trauermarsch der großen Leere entgegenwarfen.

Die mythischen Mischwesen – nichts anderes präsentiert sich dem Lebenden noch – können lediglich Rätsel verkünden und angesichts verstellter Antworten nur noch ihre Trauermusik erklingen lassen, die sie trotzig in die Leere senden. Wie bereits angesprochen, ist bei Vallejo einmal – in aller Knappheit – von Pfeilern die Rede, die kein Fundament und keine Krönung mehr kennen; diese bodenlosen, ziellosen Elemente befinden sich laut dem betreffenden Vers „in dem großen Mund, der die Sprache verloren hat“. In einem Stück der 1939 posthum erschienenen Menschlichen Gedichte fasst der Peruaner seine Bestürzung darüber, dass das dichterische Wort am Ende keine Zukunft hat, in folgenden Ausruf: 

Und dass nach all den gesprochenen Worten
das Wort nicht überleben soll!

Ein heutiger Schriftsteller wie Botho Strauß tut seinen Überdruss an der wuchernden Sekundarität der Schrift kund, an einem beliebig gewordenen Sprechen, das nichts Gültiges, Ursprüngliches, Authentisches, geschweige denn Göttliches mehr festzuhalten vermag. Solche Belanglosigkeit wirft er der gegenwärtigen Literatur und Tagespresse vor, wobei er nur wenige Ausnahmen macht wie etwa bei George Steiners theoretischen Überlegungen zu Sekundarität und der Möglichkeit von Primordialem oder bei den Aphorismen des Kolumbianers Nicolás Gómez Dávila.
Vallejo lässt sich heute als ein Autor begreifen, der derlei Befürchtungen vorausgreift. An anderer Stelle nennt er den Mond, in dem er sich spiegelt und der wie ein besiegtes, jammervolles Schiffsheck über den Himmel schwimmt, sein „Zigeunerherz, welches umherirrt und Verse ins Blau weint“. Die Farbe Blau bedeutete für die deutschen Romantiker bekanntlich das Ideal einer die Gegensätze versöhnenden Poesie; auch Victor Hugo hat von ihr gesprochen, Rubén Darío hat das Motiv später aufgegriffen. Bei Vallejo befindet sich das Blau jedoch bereits im Außerhalb, im Unerreichbaren, und Dichtung kann nur noch dem Mangel nachtrauern. Verschiedene Stellen lassen sich anführen, auch diese: 

Es bleibt zurück ein Duft nach Zeit, von Versen angereichert,
auf dass geweihte Grabsteine sprossen, welche
den goldenen Lerchengesang erben sollen
der in meinem Herzen verfault!

Die moderne Lyrik ist in die Nähe der Gräber gerückt, und wenn der Dichter noch einmal jubeln möchte, dann muss er seinen Gesang doch als längst ersterbenden erkennen. Vallejo beklagt sich, dass alle zwar von seiner Existenz wissen, aber nichts von seinen Texten verstehen: 

Und wissen aber nicht,
warum in meinem Vers,
dunkler Kummer der Särge,
wehende Winde kreischen,
die aus der Sphinx rollen,
welche unablässig die Wüste befragt.

Benn bemerkt ganz ähnlich in einem Brief: „Die Wüste wächst“, wohl bezogen auf die Einsamkeit des modernen geistigen Menschen und auf die Aussichtslosigkeit der allgemeinen Situation. Vallejo will seine Dichtung dadurch charakterisiert wissen, dass sie von Winden, also durchaus etwas Geistigem, durchzogen wird und auf schrille Weise Fragen zum Ausdruck bringt, die der an Rätseln arbeitende Geist an die Ödnis richtet. Poesie kann nur noch „die endlos strudelnde Verwirrung zu buchstabieren“ beginnen, wie es in einem der Gedichte heißt.

Und selbst die Feder
mit der ich schreibe, bricht schließlich ab.

In einem Gedicht aus Trilce – seinem Hauptwerk – wird ein Meer apostrophiert, das dabei ist, das verrückte „Sesam, öffne dich“ mit dem Beil zu zerhauen. Im arabischen Märchen tat sich auf dieses Zauberwort hin, wie man sich erinnert, der Berg auf und gab seine Schätze preis. Vallejos lapidare, aber überaus plastische Formulierung präludiert die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts bei vielen Schriftstellern und Denkern vor allem in Europa durchsetzende Einsicht, dass im Grunde von jeder hermeneutischen Anstrengung Abschied genommen werden muss und alle Schrift sich letztlich als unlesbar herausstellt. Wir können damit unterstreichen, dass der Peruaner in eine Reihe mit Georg Trakl und Federico García Lorca gehört, die beide ebenfalls – der Österreicher wie der Spanier – vom Schweigen Gottes und vom allmählichen Schwund der dichterischen Stimme überzeugt sind. Lorca hat in einer bestimmten Phase gerne einzelne Verse in Klammern gesetzt und so ein gedämpftes Sprechen praktiziert, eine Dichtung „con sordina“. Vallejo konstatiert dies alles, beklagt es und zieht bereits die Konsequenzen daraus.
Damit sind wir aber schon bei den Unterschieden zwischen Benn und Vallejo angelangt, die unsere gegenüberstellende Lektüre sichtbar machen kann. Der Verfasser von Bänden wie Morgue und andere Gedichte, Statische Gedichte oder Aprèslude liebt die von Nietzsche erlernte Distanz zu den übrigen Menschen sowie zu den Phänomenen, die er beschreibt. Dem Briefpartner Oelze gegenüber erklärt er in diesem Sinn: 

Aber das Apokalyptische weltmännisch zu empfinden und auszudrücken, das scheint mir ein Zeichen sublimer Gegenwärtigkeit zu sein und eine Pflicht für den ecrivain und poète.

Wie aus den Briefen weiter hervorgeht, empfindet er sich in seiner Existenz zwar „ans Kreuz genagelt, man kann nicht runter“, aber er hat als Schreibender eben doch die Position des in ästhetischen wie philosophischen Belangen abgeklärten Geistesaristokraten behaupten wollen.
Ganz anders Vallejo. Ihm ist das Benn’sche Pathos der Distanz fremd. Während Nietzsche das Mitleid als überholtes christliches Erbe ausmerzen wollte, leidet der Lateinamerikaner mit der gedemütigten, geschundenen Kreatur. Sein Verständnis für die Situation der geknechteten Indios, seine Unterstützung der Arbeiterbewegung und der spanischen Republik verstehen sich in diesem Sinn. Benn weiß zwar, dass Nietzsche auf tragische Weise mit seiner Entfesselung des Willens zur Macht entschieden zu weit gegangen ist und die mordenden Truppen der SA und den Fanatismus des nationalsozialistischen Rassegedankens vorbereitet hat, wie er seinem Bremer Vertrauten mitteilt. Aber er hat sich eben in eine Position des Außerhalb begeben und lehnt eine Konsequenz aus seiner in der Tat luziden Feststellung ab.
Anders als Benn will Vallejo – unbeschadet seiner Absage an Teleologie – noch in geschichtlichen Prozessen denken. Sein Poem „Die Minenarbeiter stiegen aus der Mine heraus“ aus den Menschlichen Gedichten etwa hält die Misere dieser indianischen Arbeiter fest, stimmt anschließend aber ein Loblied auf sie an und wünscht ihnen und ihren Kindern eine glückliche Zukunft – die sie vielleicht kraft der herbeigesehnten Revolution erleben werden? Seine letzte Publikation zu Lebzeiten, der in Europa verfasste Band Spanien, nimm diesen Kelch von mir, besingt hymnisch die republikanischen Freiwilligen, die – von den Deutschen am Ende überwältigten – spanischen Verteidiger von Guernica, beschreibt Schlachten und verherrlicht einzelne Kämpfer für die Sache der Freiheit. Seine frühere Nähe zum Bolschewismus hat Vallejo im selben Buch deutlich relativiert. In dem Gedicht „Die Masse“ erzählt er von einem Kadaver, der von vielen betrauert wird, selbst aber erst wieder zum Leben erweckt werden will, wenn sich die gesamte Menschheit bei ihm einstellt. 

Da versammelten sich alle Menschen der Erde
um ihn; der traurige Leichnam sah sie bewegt;
langsam richtete er sich auf,
umarmte den nächststehenden Menschen; begann aufrecht zu laufen…

Das ist die Lehre des mitleidenden Dichters: Ausgrenzung soll nicht sein; Solidarität ist gefordert; die Zahl der Heilsbringer ist nicht auf die Kommunisten beschränkt.
Auch hinsichtlich der Auslotung der Situation des modernen Ich geht Vallejo einen Schritt über Benn hinaus. Der Deutsche sucht das eigene Ich zu umgrenzen, es zu bewahren gegenüber den Einflüssen der Außenwelt; er spricht vom gezeichneten Ich, das sich in seiner dichterischen Produktion ausfaltet und bildet. Zwar bekennt er Oelze gegenüber: „Ich bin mir der fremdeste und unbegreiflichste Mann, den ich kenne“, aber er will doch weiter die Umrisse seiner selbst skizzieren und sich als Persönlichkeit erzeugen. Vallejo blickt bei Behandlung dieser Frage ratlos eher in einen Abgrund. Das Ich ist auf unerfindliche Weise präsent, bodenlos; ihm droht schwindlig zu werden: 

Mit der Verkleinerungsform ist es aus,
um die Schwere meines endlosen Schmerzes zu bezeichnen
und unser Geborensein ohne Grund

Vallejo ist sich der Folgen bewusst, welche die zeitgenössische Erkundung des Ich hervorruft: Dieses entdeckt sich als Leere. In meiner Seele wirst du niemanden mehr finden, ist bei ihm einmal zu lesen. In den Kulissen, in denen die Menschen sich umziehen, ist niemand mehr: 

Vor dem Bühnenbild, wo wir uns umziehen,
ist Niemand mehr: nur Türflügel sperrangelweit

Wie auch Freud lehrte, ist das Ich bei dem Lateinamerikaner nicht mehr Herr im eigenen Haus. Etwas Fremdes hat sich seiner bemächtigt, muss er gestehen. Damit ist auch keine Spiegelung mehr möglich, was er ausdrücklich vermerkt. Der große Spiegel ist leer; das Ich kann sich keiner Identität mehr vergewissern. 

Es wird einen Spiegelrahmen geben
dem ich meine eigene Stirn überbringe
bis ich das Echo verliere
und das Gesicht zur Schulter drehe.

Es gibt wohl ständig den Versuch zur Selbstbespiegelung, aber das Glas verschlingt das Bild und gewährt kein Echo mehr; das lyrische Ich wendet sich von sich selbst ab. An dieser Aufhebung der Spiegelung und an der Überwindung des billigen Rauschs des Narzissmus hat die Literatur und Malerei des 20. Jahrhunderts insgesamt gearbeitet; Vallejo hat aus Lima an dieser Entwicklung teil. Auch weiß er bereits, dass das Ich einer Spaltung unterliegt, dass ein Riss durch es hindurchgeht, und dass es in sich gedoppelt ist. Von einem dahinlaufenden Mann sagt er: 

Er geht mit zwei Wolken in seiner Wolke.

Oder auch, in einer ähnlichen Verdopplung: 

Ich verstecke mich hinter mir selbst.

Es ist vor allem aber die besondere Behandlung der lyrischen Sprache, durch die Vallejo letztlich avancierter erscheinen muss als Benn. Insbesondere in dem genannten Gedichtband Trilce – Steffen Popp hat darauf hingewiesen – hat er formale Experimente durchgeführt, die seine theoretischen Einsichten in sprachliche Gestaltung verwandeln. Bereits der Titel Trilce ist prägnant; es ist ein Kunstwort, in dem Trauer, die Dreizahl, welche die in der Zweizahl angelegte Spiegelung blockiert, vielleicht auch eine gewisse Süße („dulce“) anklingt. Die Unsagbarkeit der Dinge wird hier eben nicht nur konstatiert, sondern selber zerbrechende Form. Der Verfasser deutet an und verschweigt; die Verse scheren aus ihrem Zusammenhang aus („Wer denn wie das Eis. Aber nein. / Wer denn wie das, was einfach passiert, nicht mehr und nicht weniger. / Wer denn wie die rechte Mitte.“). Seine Rede wird asyndetisch, stellt Dinge unvermittelt nebeneinander und verhindert so, dass sich beim Leser ein Gesamtbild ergibt. Auch retardiert Vallejo einzelne Wörter, indem er einzelne Buchstaben mehrfach wiederholt, gleichsam auf der Stelle treten lässt und der sprachlichen Äußerung damit einen Eigenwert zugesteht, der sich von der Bedeutung emanzipiert („Ihr naaaaaaaggggt…“, „Schrrrreie“). Er spielt mit der Schreibweise von Wörtern („wiederkkkehren“, „wieder kehren“, „viederkehren“) und löst damit Eindeutigkeit auf. Bekannt ist Trilce auch für seine zahlreichen Neologismen, frei erfundenen Substantive, Verben und Adjektive, Formen, die sich keiner Gattung zuordnen lassen. Auch das Anagramm wird verwendet („¡Odumodneurtse!“ für „estornudo mudo“ /„stummes Niesen“). Zwischen den Wörtern wird des Weiteren gelegentlich ein breiter Zwischenraum gelassen – alles mit dem Ziel, die traditionelle Synthesis auszubremsen und die Sperrung des Sinns zu bewirken. Diese Techniken sind in der Forschung natürlich schon beschrieben worden, sollten aber eingehender auf ihre poetologische Funktion hin befragt und den deutschsprachigen Lyrikinteressierten über das Spezialistentum hinaus bekanntgemacht werden.
Dies alles zeigt sich exemplarisch in einem Gedicht aus dem Band Poemas humanos, das wir in eigener Übersetzung geben: 

EIN MANN GEHT VORÜBER, EIN BROT AUF DER SCHULTER

Ein Mann geht vorüber, ein Brot auf der Schulter
Werde ich nachher über meinen Doppelgänger schreiben? 

Ein anderer setzt sich, kratzt sich, holt eine Laus aus der Achsel,
zerquetscht sie
Mit welchem Nutzen von der Psychoanalyse sprechen? 

Ein anderer ist in meine Brust gedrungen mit einem Stock in der Hand
Beim Arzt gleich über Sokrates sprechen? 

Ein Lahmer geht vorbei, reicht einem Kind den Arm
Werde ich nachher André Breton lesen? 

Ein anderer schlottert vor Kälte, hustet, spuckt Blut
Wird es möglich sein, vom Ich in der Tiefe zu sprechen? 

Ein anderer sucht im Schlamm nach Knochen, Schalen
Wie kann ich nachher vom Unendlichen sprechen? 

Ein Maurer fällt vom Dach, stirbt und isst nicht mehr zu Mittag
Gleich darauf die Trope, die Metapher erneuern? 

Ein Krämer raubt einem Kunden ein Gramm auf der Waage
Nachher von einer vierten Dimension sprechen? 

Ein Bankier fälscht die Bilanzen
Mit welchem Gesicht soll ich im Theater weinen? 

Ein Paria schläft mit dem Fuß auf dem Rücken
Nachher zu niemand über Picasso sprechen? 

Jemand folgt einem Begräbnis und schluchzt
Wie kann ich gleich in die Akademie aufgenommen werden? 

Jemand putzt sein Gewehr in der Küche
Mit welchem Mut nachher vom Jenseits sprechen? 

Jemand geht vorüber und zählt etwas an der Hand ab
Wie soll ich vom Nicht-Ich sprechen, ohne zu schreien? 

Der Dichter hat die Figur des Asyndeton gewählt, um der grundlegenden Ruptur seines Denkens literarischen Ausdruck zu verleihen. Er beobachtet seine Umwelt, bringt aber das, was ihm sonst alles durch den Kopf geht, nicht mehr in einen Zusammenhang mit dem Beobachteten. Er hält einen Eindruck in einem einzigen Satz fest und sieht sich veranlasst, gleich darauf eine Frage zu stellen. Die Möglichkeit, einen Sinn zu konzipieren und in der Vergewisserung dieses Sinns Ruhe zu finden, besteht nicht mehr. Mit der ihm eigenen Empfänglichkeit fühlt Vallejo sich dazu aufgerufen, auf seine leidenden Mitmenschen in ihrem Alltag zu reagieren, ihnen zu Hilfe zu eilen oder auch nur ihre pure Existenz zu begreifen, weiß zugleich aber auch, dass der Blick in größere Dimensionen nicht aufgegeben werden darf. Zwischen seiner dem Augenblick geweihten Wachheit und seinem gleichzeitigen Bedürfnis, an gewissen tradierten Fragestellungen festzuhalten, tut sich eine schier unüberwindliche Kluft auf, die als solche erfasst und als Problem begriffen werden will. So sieht er einen Mann mit einem Brot vorüberlaufen, gedenkt der meisten Menschen, die sich um nichts anderes als um die Befriedigung ihrer rudimentären Bedürfnisse kümmern können, und will doch weiterhin nach dem Phänomen des Doppelgängers fragen, in dem sich das Problem des Verhältnisses zum Andern, der Entzweiung des Ich und seiner zu keiner Ganzheit mehr sich fügenden Identität kristallisiert.
Kann angesichts des allgemeinen Elends noch nach der Psychoanalyse und ihrem Nutzen für die eigene seelische Gesundheit gefragt werden – wäre dies nicht ein moralisch bedenklicher Luxus? Wie kann das Ich noch philosophieren und nach Weisheit suchen, wenn die Gesellschaft doch längst mit dem Schlagstock anrückt, es tief im Innern seiner Brust verwundet hat und zu vernichten droht? Weitere Fragen sind die nach der Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, nach dem Urgrund des eigenen Ich und nach dem Unendlichen. Darf Kunst angesichts der sozialen und existentiellen Misere überhaupt noch sein, darf man sich noch den Bildern eines Zeitgenossen wie Picasso widmen? Muss andererseits gerade angesichts dieser Erfahrungen nicht eine Erneuerung der dichterischen Sprache und ihrer Bildlichkeiten und Verfahren unternommen werden, nämlich im Sinne von künstlerischen Formen des Zerbrechens? Ist die Hoffnung auf eine ruhmreiche, den Dichter in seiner Leistung anerkennende Aufnahme in eine Akademie noch zeitgemäß?
Ein Mann reinigt sein Gewehr in der Küche: die Welt ist von Krieg und Aggression beherrscht; da fällt es schwer, an die Idee eines Jenseits zu denken, in dem vielleicht alle Jagd aufgehoben wäre. Ein Mann geht vorüber und zählt an seinen Händen etwas ab. Mit diesem Bild wird dem Leser eine rechnende Welt präsentiert, in der kein Platz mehr zu sein scheint, um den Einfluss von Erfahrungen zu empfinden, die den Sprecher ratlos machen. Nicht anders als im Schrei kann noch vom Nicht-Ich gesprochen werden. Der Blick auf die das Ich umgebende Wirklichkeit durchschlägt, mit anderen Worten, die lyrische Rede, und nur noch Schreien ist möglich und angemessen. – Auch wenn das Gedicht selbst sich also beharrlich einem Resümee verweigert, so können wir immerhin unseren Eindruck von diesem Gedicht festzustellen versuchen: Es gelingt Vallejo kraft der zur Form gewordenen Ruptur, der Erfahrung von Unausdenkbarkeit beredten Ausdruck zu verleihen.
Und nun dagegen Benn: Ihm ist zwar auch um die Verbalisierung von Unausdenkbarkeit zu tun – und welche zarten Gedichte zu schreiben in diesem Sinn war ihm doch vergönnt! –, aber er sucht formal noch einmal die Rundung und will den Bruch vermeiden. Vollendung ist sein dichterisches Ziel. Bekannt sind die Verse aus seinem Gedicht „Wer allein ist“: 

Ohne Rührung sieht er, wie die Erde
eine andere ward, als ihm begann,
nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde:
formstill sieht ihn die Vollendung an.

Er will außerhalb der Zeit und von gesellschaftlichen Entwicklungen stehen; die persönliche Existenz soll keinem Wandel unterworfen sein; er sucht die in sich ruhende Statik. Er reimt noch ganz traditionell; über dem Nichts soll eben das perfekte ästhetische Produkt erglänzen.
Ungemein bezeichnend ist Benns Haltung Friedrich Hölderlin gegenüber, wie sie an der einen oder anderen Briefstelle deutlich wird. Er bemerkt dort völlig unbekümmert, dass er mit diesem landauf, landab doch hochverehrten Dichter äußerst wenig anfangen könne; er sei trotz einzelner gelungener Verse ganz bestimmt keine große Gestalt der deutschen Literatur. Dieses Fehlurteil ist skandalös und bedrückend. Benn ist nicht in der Lage, Hölderlins Rang zu begreifen; die Hymnik vor allem der späten Entwürfe und Gesänge bleibt ihm fremd; er ist außerstande, die philosophische Weite des großen Vorgängers und insbesondere dessen Leistung zu erfassen, die Möglichkeiten dichterischen Schreibens in dem gegebenen historischen Augenblick zu erkunden und Dichtung als etwas zu betreiben, das sich dem Herrschaftsgestus der idealistischen deutschen Philosophie – deren impliziter Tendenz zu Naturbeherrschung – entwindet. Hölderlin begreift Form als sedimentierten Inhalt, wie Adorno es bei diesem Dichter unterstreicht: durch seine Praktik der parataktischen Reihung der Sätze bricht er den Zugriff synthetisierenden Urteilens und Sprechens auf. Er kultiviert den Hiatus und teilt damit die Einheit, die für ihn ja auch als metaphysische Vorstellung nicht mehr fortbestehen soll. Seine Gesänge sind von Pindar geprägt, den er übersetzt, indem er interlinear verfährt – Satzteil für Satzteil – und die dichterische Rede dabei gleichsam zerreißen und unverständlich werden lässt. Benn weiß, dass er die Substanz zerstören muss, scheut aber davor zurück, die formalen Konsequenzen daraus zu ziehen. Vallejo also – vor allem in Trilce – gehört in die bedeutende geistesgeschichtliche und poetische Strömung, die von Hölderlin über Stéphane Mallarmé schließlich zu Paul Celan führt, der eine hochreflektierte, hermetische Lyrik schreibt.
Was bleibt, wenn man die Briefe Benns an Oelze schließlich wieder ins Regal zurückstellt, d.h., was lernen wir jetzt über César Vallejo? Wir haben es bereits angesprochen, können den Sachverhalt aber weiter zuspitzen. In einer seiner Korrespondenzen brüstet sich Benn seinem Briefpartner gegenüber mit folgender Behauptung: 

Was dem Menschen von heute völlig abgeht, ist der wunderbare Begriff des Märtyrers der früheren Jahrhunderte, der in der Arena die Pranken des Löwen und, an den Stamm gebunden, die Pfeile der Heiden ohne zu widerrufen hinnimmt.

Hinter diesem Satz steht das Behagen eines deutschen Lyrikers, der sich selbst als vereinsamte, leidende Geistesgröße verstehen und darstellen will. Er bescheidet sich damit, durchs Fenster seiner Berliner Wohnung auf einen Hinterhof mit Wäscheleine zu schauen und seine Tristesse in makellose Verse zu gießen. Es ist dies aber eine Selbststilisierung, deren Weltfremdheit uns heute erschaudern macht. Benn schreibt immerhin in einer Epoche, in der auf deutschem Boden der schreckliche Plan entsteht und umgesetzt wird, die Auslöschung des europäischen Judentums zu betreiben und Millionen von Menschen gleichsam industriell zu Opfern des Holocaust zu machen. Für diese Ungeheuerlichkeit hat Benn keinerlei Nerv; sein Elfenbeinturm hält sie draußen und bleibt unerschüttert. Vallejo dagegen breitet seine Arme für die geschundene Kreatur aus; kein Volk, keine Rasse, kein Individuum soll ausgegrenzt werden. Jetzt legt man diesen Briefwechsel trotz seiner vielen wunderbaren Stellen wohl erst einmal zur Seite und rückt das Werk des Peruaners Vallejo eher in die Nachbarschaft von Paul Celan, der ganz ähnlich die Katastrophe des 20. Jahrhunderts dünnhäutig erlitt, sie im Vers zu verarbeiten suchte und schließlich unter ihr zusammenbrach. 

Eberhard Geisler, Neue Rundschau, Heft 2, 2017

 

Fakten und Vermutungen zu César VallejoInternet Archive
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Nachruf auf César Vallejo: Tumba

 

César Vallejo – Chronologie von Leben und Werk in Bildern.

 

 

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Steffen Popp liest „Dickicht (mit Reden und Augen)“ im Berliner Mauerpark im Sommer 2011.

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