– Zu Wulf Kirstens Gedicht „stille“ aus Wulf Kirsten: Die Poesie der Landschaft. –
WULF KIRSTEN
stille
wenn es der stille endlich gelingt,
ungestört zu sich selbst zu kommen,
hörst du, wie sie plötzlich zu summen
anhebt, weiß ich, wie lange sie
brauchte, sich dieses imaginäre summen
auszudenken, äußert welthaltig
für jene, die ihr zuzuhören und sie
zu vernehmen bereit sind, du irrst,
wenn du meinst, dies sei doch recht
beiläufig, wenn nicht gar bloß
einbildung, nein, erst so wird
alles wesentliche, was dich umgibt
und dich ausmacht, in dieses unablässige
summen eingewoben und bildet textur,
es fragt sich nur, wer noch wollte
und sollte das überirdische hören,
alle ohren verstöpselt, alle blicke
weitab gerichtet auf smartphones,
die dazu verhelfen, nicht mehr gewahr
zu werden, die sie umfangende welt.
30.8.2015
Das Gedicht – ein Wunder der Schlichtheit und der Musikalität, wie es nur die volle dichterische Reife hervorbringen kann – schenkt der Stille alle Aufmerksamkeit. Weitab von jeglichem Paradoxon stellen diese Zeilen die Stille als Fülle dar. Anders als in „dunkel“ (2007), ein Gedicht aus dem Band fliehende ansicht, ist die Erfahrung der Stille nicht mehr die einer bestimmten, außerordentlich ruhigen Nacht, sondern eine vertraute, die sich jeder Leser, der innezuhalten vermag, ins Gedächtnis rufen kann. Sofern die heutige Abwendung von der Welt dies nicht als Nebensache oder Illusion herabspielt. Auf diesem Sicheinlassen fußt der spontane Dialog, der das Gedicht belebt. In sehr direkter Sprache belehrt der Lyriker seine Leser eines Besseren und weiht sie in das intimste Wesen der Poesie ein. Poesie hat weder mit Verschleierung noch mit Gelehrsamkeit oder irgendeiner dem Menschen fernen Angelegenheit etwas zu tun. Sie ist ein gleich feines Gewebe wie unser eigenes Wesen. Daher rührt ihre engste Verbundenheit mit dem Menschen und der Natur. Die Worte der Poesie verleihen im Gedicht einem Frieden Ausdruck, in dem der Mensch zu sich kommen darf. So wie die Stille sich einzig aus dem Appell an all unsere Sinne voll zu entfalten vermag, ist die Poesie gleichermaßen Wort- und Sich-Findung. Text und Landschaft sind Eins, plädierte Kirsten 1997 bereits in seinem Essayband Textur. Nicht von ungefähr leuchtet dieses für das Kirstensche Werk so charakteristische Wort am Ende der Zeile 14. Der Dichter wagt mit seinem Gedicht einen Schritt weiter: Er bezieht den Menschen selbst als zentrales Element in die Harmonie von Natur und Wort ein.
Das zwanzigzeilige Gedicht ist gleichermaßen poetologisches Bekenntnis und „ars poetica“. Der kritische Lyriker, der nie einen Lobpreis des Fortschritts anstimmte, weckt uns aus der Isolierung und der Frivolität, die die modernste Technologie mit sich bringt. In einem Zwiegespräch mit dem Leser, der von vornherein als „du“ angeredet wird, plädiert Kirsten für eine Rückbesinnung, die zugleich eine Rückeroberung der Welt bedeutet.
Stéphane Michaud, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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