Sternenflug und Apfelblüte

Mashup von Juliane Duda zum Buch Sternenflug und Apfelblüte

Sternenflug und Apfelblüte

PARIS, 11. MAI 1939

Klage des Zorns und der Liebe!
Salz, das auf Augen ruht!
Oh, und Böhmen in Tränen!
Oh, und Spanien im Blut!

O schwarzer Berg, der du das
Licht verdunkelt hast!
Zeit ists, Zeit, dem Schöpfer
hinzuwerfen den Paß.

Ich weigre mich, zu leben
im Tollhaus, unter Vieh.
Ich weigre mich, ich heule
mit den Wölfen nie.

Ich weigre mich, zu schwimmen
als Hai des Lands, stromab
den Strom gebeugter Rücken –
ich weigre mich, lehn ab.

Ablehn ich, daß ich höre,
ablehn ich, daß ich seh.
Auf deine Welt des Irrsinns
gibt es nur eins: ich geh.

Marina Zwetajewa
Übersetzung Karl Mickel

 

 

 

Zum Geleit

1.
Wer ist heute wichtiger, die Physiker oder die Lyriker?
Braucht der Mensch im Kosmos einen Fliederzweig? Erobert man die Sternenräume mit Gedichten über Apfelblüten? – In der Sowjetunion, wo die Poesie ungeheuer populär ist, stritt man jüngst lebhaft über solche Fragen…
Gerade in den letzten zehn Jahren reifte die russische Poesie der Gegenwart zu erstaunlicher Vielfalt, Tiefe und Schönheit.
Die sowjetische Dichtung ist eine Macht.
1962, am alljährlichen Tag der Poesie, fand eine selbst für Moskau ungewöhnliche Veranstaltung statt. Im Lushniki-Stadion lasen 17 Lyriker ihre Gedichte – vor 11.000 Zuhörern! Für volle vier Stunden war die Sporthalle ein gigantisches Forum der Poesie und der Jugend. Arbeiter, Schüler und Studenten übermittelten auf Zetteln ihre Wünsche, Meinungen und Fragen an die Dichter.
Nicht Sensationssucht oder kurzlebige Neugier treibt die Menschen in die Buchläden, auf die abendlichen Plätze und in die Säle, um Gedichten zu lauschen. Sie erwarten von Herzen kommende und klare Worte – über unsere Zeit, über Vergangenheit und Zukunft, über alles, was uns bewegt und was wir bewegen, über den Sinn des Lebens.
Die Streitfrage übrigens, ob Sternenflug oder Apfelblüte für die Zeitgenossen den Vorrang habe, entschied das Leben selbst. Gagarin und Titow sind beide Kenner und Liebhaber der Poesie. In ihrem Gedächtnis nahmen sie ihre Lieblingsgedichte mit auf den Flug. Die Erde umkreisend, sangen sie die Lieder ihrer Erde. So weilte die sowjetische Dichtung mit ihnen im Sternenraum, und mit ihnen kehrte sie wieder zu unserem blauen Planeten und zu den Apfelblüten heim…

2.
Die Oktoberrevolution – welche Morgenröte, welcher Aufbruch auch für die russische Poesie in neue Nähen und Fernen, ins gewaltige Leben!
In unserem Jahrhundert konnte es nicht mehr genügen, empfindsam auf private Wahrheitssuche zu gehen, die Welt nur „schön“ zu interpretieren. Die Menschenfreundlichkeit, die der echten Poesie aller Zeiten eignet, konnte nicht mehr bloßes Mitleiden bleiben. Gerade indem sich die sowjetischen Dichter dem Volk, seinem Leben und revolutionären Kampf verbanden, blieben sie dem demokratischen, humanistischen Vermächtnis Puschkins, Lermontows und Nekrassows treu. Was sollte, was vermochte noch nach den Schüssen der Aurora die „reine Lyrik“ der russischen Dekadenz, die vor 1917 Mode war? Nichts…
Die sowjetische Dichtung trägt den Geist der Epoche, die umwälzenden Gedanken und welterschütternden Gefühle der Massen. Ein Kind der Revolution, wird sie zur Stimme der Teilnehmer der gewaltigen Eruptionen unseres Jahrhunderts und greift in die Geschehnisse ein.
Auch der große russische Dichter Alexander Block konnte sich dem „Brausen des Schneesturms“, dem „Wirbelwind, der die Ruinen der schrecklichen Welt der Vergangenheit hinwegfegt“, nicht entziehen. In den Oktobertagen brach er mit seinen früheren Freunden und rief die russischen Intellektuellen auf, „mit offenem Herzen den Klängen der Revolution zu lauschen“. Sein Poem „Die Zwölf“ ist die erste bedeutende dichterische Aussage über die Geburt einer neuen Welt, das „Ja!“ des Dichters.
Der von Gorkis „Sturmvogel“ ersehnte und verkündete, der reinigende und gerechte Sturm brauste über Rußland…

3.
In den Gedichten der ersten Revolutionsjahre schwingt das freudige Gefühl der Erneuerung und Befreiung.
Die jungen sowjetischen Dichter – wie ungleich nach sozialer Herkunft, Lebenserfahrung und schöpferischem Temperament sie damals auch waren – stehen alle im gleichen Licht: dem harten, heroisch-romantischen Frühlicht der in schweren Kämpfen erstarkenden und dem Volk Gerechtigkeit schaffenden Sowjetmacht. Daher ihr Pathos, ihre Angriffslust und Leidenschaft. Dieses Licht erschließt ihnen sogar in der Natur neuen Sinn und neue Schönheit. Es durchdringt alle Bereiche menschlichen Erlebens – Freundschaft und Liebe, Lust und Leid.
Unbeugsamer Wille, Mut und Opferbereitschaft zeichnen den neuen „lyrischen Helden“ aus; Vorbild sind Kämpfer eisernen Schlages wie in Tichonows „Ballade von den Nägeln“.

4.
Die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erzeugt neue Sitten, setzt neue Maßstäbe für Gut und Schlecht, für Schön und Häßlich. Worte und Werte wechseln Gewicht und Bedeutung. Das Leben verlangt vom Dichter: verändere mich – und dich mit mir! Schreib Gedichte für Massenauditorien, nicht für Salons! Sprich die Sprache des Volkes, teile seine Liebe und seinen Haß, sei Geist von seinem Geist!…
Der dies wollte und konnte, einer besonders gab all dem dichterisch Gestalt: Wladimir Majakowski! Sein Vers ist Bekenntnis und Waffe, Aufruf und Liebeserklärung. Wenn er ich sagt, so sind es zugleich die besten seiner Zeitgenossen, die Partei und das Volk, das Gewissen der Zeit und die Poesie in Person, die zu uns sprechen.
Für Majakowski ist der Kommunismus kein fernes Ideal, kein Wunschtraum, sondern reales und deutliches Zukunftsbild. An diesem Bild mißt er die Gegenwart. Sein Gedicht ist lebendig wie eh und je. Seine Persönlichkeit und sein Werk prägen noch heute Dichter und Dichtung in der Sowjetunion. Er stieß die Tür nach vorn auf, er eroberte der Lyrik neue Lebensgebiete und gab dem poetischen Schaffen neue Perspektiven und Kräfte.
Aber bereits in den zwanziger Jahren schaffen und wirken neben Majakowski Dichter wie Demjan Bedny, Nikolai Assejew, Nikolai Tichonow und Sergej Jessenin. In Jessenins Lyrik blüht und klingt das Volkslied, erstehen die Weite, die schmerzensreiche Schönheit und Farbigkeit seiner geliebten russischen Heimat; Stolz schwingt mit auf die historische Mission und die sittliche Kraft der Revolution.

5.
Der proletarische Internationalismus, das Bewußtsein und Gefühl der Verbundenheit mit den Arbeitern der ganzen Welt geht als Grundton durch die gesamte Sowjetliteratur. In den zwanziger Jahren verliert die dem Leben entfremdete Romantik der Dekadenten ihren poetischen Glorienschein. Die Romantik revolutionären Heldentums verdrängt aus der sowjetischen Poesie die „schwarze Feder“ – wie Bagrizki, selbst ein Romantiker im besten Sinne, Stil und Stimmung der Dekadenten nannte. Gestaltet und erhoben wird nun im Namen der Menschheit der Kampf zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals.
Ein charakteristisches und bis heute volkstümliches Gedicht jener Zeit ist „Granada“, das der damals noch junge Michail Swetlow verfaßte. Ein einfacher russischer Bauernsohn, ein Rotarmist, reitet in den Kampf und fällt in der Ukraine, für seine Klassenbrüder, für die Bauern im fernen Granada. Eine dichterische Vorwegnahme des unvergeßlichen Kampfes der Interbrigaden im spanischen Bürgerkrieg!
In der jungen sowjetischen Poesie leuchtet die Solidarität mit der deutschen Arbeiterklasse am hellsten aus dem Deutschland-Zyklus Majakowskis. Später, in den dreißiger Jahren, wandelt sich das Deutschland-Thema zum Hohelied des antifaschistischen Kampfes der deutschen Kommunisten. So in Tichonows „Der junge Illegale“ oder in Golodnys „Hinrichtung eines Kommunisten in Berlin“.
Deutschland nahm und nimmt bis heute in der sowjetischen Poesie einen bedeutenden Platz ein. Lew Oschanin, der Autor des Weltjugendliedes, schrieb einen Gedichtzyklus über die Berliner Weltfestspiele der Jugend; 1956 schuf der Leningrader Wsewolod Asarow die Versdichtung „Genosse Thälmann“. Margarita Aliger veröffentlichte eine Reihe Gedichte über Deutschland, Naum Korshawin ein Poem über Karl Liebknecht. Ein Teil dieser Dichtungen wurde hier aufgenommen. Legen sie doch Zeugnis ab von der Achtung, die die Menschen in der Sowjetunion für das deutsche Volk hegen, von ihrem Haß gegen die Faschisten, von ihrer Zuversicht, daß der Sozialismus in ganz Deutschland siegen wird.

6.
Eine neue Generation wächst heran: Stepan Stschipatschow, Alexander Twardowski, Wladimir Lugowskoi, Alexej Surkow, Alexander Prokofjew, Jaroslaw Smeljakow…
Diese jungen Dichter suchen und bewältigen neue schöpferische Aufgaben. Sie gehen auf poetische Eroberung der neuen sozialistischen Welt. Mit Herz und Verstand untersuchen und erschließen sie alle Farben und Tiefen, alle neuen Charaktereigenschaften der sowjetischen Menschen.
Die Poesie der dreißiger Jahre ist an dichterischen Individualitäten reich. Bagrizki schrieb seine besten Verse, Twardowski das Poem „Wunderland Murawia“, es entstehen die lyrischen Lieder Michail Issakowskis, die historischen Balladen Dmitri Kedrins und Stschipatschows aphoristische Miniaturen.
Es ist auch eine Zeit heiligen Streits, leidenschaflichen gemeinsamen Ringens um Theorie und Methode, um die Funktion der Dichtkunst in der neuen Gesellschaft.
Heute – in der großen ideologischen Auseinandersetzung der Gegenwart – behaupten amerikanische und westdeutsche Interpreten der Sowjetliteratur, die Blüte der russischen Lyrik sei in den zwanziger Jahren zu suchen, was dann folge, sei arm und eintönig…
Die eigentliche – politisch sehr gezielte – Absicht solcher Deutung ist offensichtlich: in den dreißiger Jahren setzt sich als künstlerische Methode der sozialistische Realismus durch. Unter seiner Fahne sammeln sich die sowjetischen Dichter, jeder seine schöpferische Persönlichkeit, seinen besonderen Stil, sein eigenartiges poetisches Wesen wahrend und entwickelnd. Daß dieser ideologische Zusammenschluß den Feinden des Sozialismus nicht paßt, und warum sie ihn heute zu diskreditieren suchen, ist klar… Ihre Behauptung entspricht, höflich gesagt, weder den historischen noch den poetischen Tatsachen – wovon sich der Leser unserer Sammlung selbst überzeugen mag.

7.
Klarheit der Ideen, Einheit des Willens, Gemeinsamkeit des Ziels… Der widerspruchsvolle, oft schmerzhafte Verschmelzungsprozeß der vorhergegangenen Jahre ermöglichte den ungeheuren Aufschwung der sowjetischen Dichtung im zweiten Weltkrieg.
Bereits in den ersten Kriegstagen wird die Lyrik zur wirksamsten Gattung der Literatur: Brot und Waffe des Volkes. Tiefe Erregung, Jahre dauernde seelische Spannung beherrscht das gesamte Leben der Menschen. Die Dichter, selbst unmittelbar an den Kriegsereignissen teilnehmend, mit den Soldaten lebend und kämpfend, geben wie nie zuvor den Gefühlen des Volkes Ausdruck. Nie zuvor war der Kontakt zwischen ihnen und ihren Lesern so eng und so herzlich. Lyrische Sendschreiben, Briefe an das geliebte Mädchen, Gespräche mit dem Freund – gerade die vertraulichsten und persönlichsten Worte finden im Gedicht und Lied Anklang und Echo. Die Zeit, ihre Härten, Opfer und Entbehrungen, geben nicht zu geruhsamem Philosophieren oder kühler Erörterung Anlaß: auch in der Poesie ist die Leidenschaft stärker als der sachliche Intellekt.
Alexander Twardowski schrieb das bedeutendste dichterische Werk der Kriegsjahre: Wassili Tjorkin, das Buch vom Soldaten. Bewußt bezeichnet der Autor seine Arbeit als Buch, nicht als Poem. Ist es doch eher eine lyrische Chronik des Vaterländischen Krieges. Die einzelnen Kapitel des Werkes entstanden im Zug der Ereignisse, wurden fortlaufend veröffentlicht und gingen sofort von Mund zu Mund.
Für den Soldaten Wassili Tjorkin ist der Krieg eine bittere Notwendigkeit, ein Krieg, der im Namen des Friedens und des Glücks aller Menschen, nicht um der Eroberung und des Ruhmes willen geführt wird:

… Und im lüstern Nachtgefechte
geht es nicht um Ruhm noch Geld,
gehts ums reine und ums rechte
Leben auf der ganzen Welt.

So, nur so wird der Sinn des Krieges in der gesamten sowjetischen Literatur interpretiert, so nur wird er poetisch erhoben, so nur vom Volk, das seine sozialistische Heimat verteidigt, empfunden und verstanden.
Held der Poesie der Kriegsjahre ist immer der einfache Mensch, der, wie Wassili Tjorkin, das Schwere und Große einfach vollbringt: als etwas Selbstverständliches. Sogar der Sieger erscheint „im zerschlissenen Soldatenmantel, den blutigen Schweiß noch auf der Stirn“ (Olga Bergholz). Alle Gedichte betonen das Neben- und Miteinander von Heldentum und Alltagsmühe. Sie geben der Moral des Volkes Gesicht. In ihnen verschmelzen Schmerz und quicklebendiger Witz, heroische Todesverachtung und schlichte Bescheidenheit…

8.
Unter dem Stern des Oktober geboren, wuchs eine Jugend heran, „deren Klassenbewußtsein zum natürlichen Gefühl sich entwickelte“, wie Gorki es vorausgesehen hatte. Von Kind auf lernte sie, die Welt mit den Augen der Revolution zu sehen. Nicht als „verlorene Generation“ geht sie darum aus dem Grauen des Krieges hervor. Im Feuer der Schlachten reift sie, die eigentlich erst mit dem Krieg selbständig ins Leben gegangen war. „Im Juni begannen wir, in der Frühe…“, bekennt Semjon Gudsenko, einer ihrer begabtesten Dichter.
Die, die nicht gefallen sind, haben sich die Ideale ihrer humanistischen Erziehung, ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Liebe zum Guten bewahrt – allen Grausamkeiten und Schrecken zum Trotz. Sie sind überzeugt, daß gerade ihnen die Last und das Glück zuteil wurden, der Menschheit den Weg in die Zukunft zu bahnen. Das ist die Generation eines Oleg Koschewoi, einer Ulja Gromowa. Vielleicht hätte auch diese Jugend einen Majakowski hervorgebracht. Doch die meisten opferten ihr Leben, ehe ihrem poetischen Talent beschieden war, sich zu entfalten. Ihre Gedichte, Zeugnisse echter Begabung, wurden erst später zugänglich und mußten Erstlingsarbeiten bleiben…
Die sogenannte „mittlere Dichtergeneration“, die heute noch Lebenden und Schaffenden, erwarben im Krieg Lebenserfahrung und gedankliche Reife, im Krieg lernten sie die Seele des Volkes, die innersten menschlichen Regungen begreifen und ergreifend gestalten. So leuchtet aus den Werken von Michail Lukonin, Alexander Meshirow, Sergej Narowtschatow, Jewgeni Winokurow, Boris Sluzki, Sergej Orlow, Michail Lwow und vieler anderer die sozialistische Menschenliebe in ihrer ganzen sittlichen und sozialen Kraft.

9.
Die Nachkriegsjahre waren für das sowjetische Volk eine schwere und widerspruchsvolle Zeit; sie drückten auch der Poesie ihren Stempel auf.
Die Dichtung spiegelt zweierlei: den großen Elan beim Überwinden der Zerstörungen des Krieges und ehrliches, vom Sieg über den Faschismus beflügeltes Pathos – aber zugleich die bedrückende Atmosphäre des Mißtrauens und den Dogmatismus, wie sie der Personenkult um Stalin und die Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit erzeugten. Bis zum XX. Parteitag war es äußerst schwierig, sich in diesen Widersprüchen zurechtzufinden und dem Unrecht entgegenzutreten. Manche Dichter schwiegen darum oder zogen sich in die Welt ihrer Kriegserlebnisse zurück. Andere blieben an der Oberfläche der Erscheinungen und begnügten sich mit Beschreibung und Deklamation. Und dennoch ging auch in dieser Zeit die Poesie – wie das Sowjetvolk und seine Kommunistische Partei – ihren Weg weite… Die epische Dichtung, das Poem, und – in der kleinen Form – das publizistische Gedicht entwickelten sich zeitgerecht. Beispiele dafür sind Twardowskis Poem „Das Haus am Wege“ (1946) und Simonows Gedichtzyklus „Freunde und Feinde“ (1948).
Nach dem XX. Parteitag wurden die literarischen Zeitschriften von neuer Lyrik buchstäblich überflutet. Im Gedicht begann eine ernste und ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den brennendsten Lebensfragen des Volkes. Mehr denn je fühlten sich die Dichter, wie Twardowski sagt, für alles in der Welt verantwortlich. Der allgemeine Aufschwung offenbarte sich in erneuter schöpferischer Aktivität der älteren Dichtergeneration und im Auftreten vieler junger Talente. Das aufwühlende und Wahrheit tragende, das lebendige poetische Wort ergriff Millionen von Lesern und Hörern…

10.
Heute schreitet die UdSSR zuversichtlich der kommunistischen Zukunft entgegen. Die sowjetischen Menschen verändern das Antlitz der Erde und erstürmen den Kosmos. Stärker und tiefer als je zuvor sind sie sich ihrer Verantwortung für das Schicksal der gesamten Menschheit bewußt. Hier liegt der Grund für die Vielfalt und die Intensität philosophischer Gedankengänge in der sowjetischen Literatur, in der Poesie der Gegenwart.
In den letzten Jahren wächst die Poesie weit über den Bereich bisher gestalteter und bewältigter Themen hinaus. Sie erfaßt und durchdringt alle Nähen und Fernen menschlichen Seins und Bewußtseins. Bereits Majakowski hatte in seinem Schaffen die Grenzlinie zwischen politischer und intimer Lyrik durchbrochen. Das ist heut zum Wesenszug der gesamten sowjetischen Dichtung geworden: Im lyrischen „Ich“ werden die zartesten und geheimsten Regungen eins mit dem Geist der Zeit.
Wieder war es Alexander Twardowski, der in der großen Versdichtung „Fernen über Fernen“, einem rückhaltlos offenen und mutigen Gespräch mit seinem Leser über Vergangenheit und Gegenwart des Sowjetlandes, bisher nie Ausgesprochenes – bis zu kaum faßbaren Gefühlsnuancen hin! – aufspürte, aufrührte und zum Klingen brachte. Dabei beschreibt er eine durchaus alltägliche Begebenheit, eine Reise nach dem Fernen Osten. Seine Mitreisenden sind ihm unbekannte sowjetische Menschen, mit denen ihn aber gleiche Erlebnisse und gleiches Schicksal verbinden. Sie verstehen einander ohne viel Worte und werden schnell Freunde. Den tiefen poetischen Hintergrund gibt die unendliche Ferne der Heimat, die an den Waggonfenstern vorüberzieht. Zehn Jahre – von 1950 bis 1960 – schrieb Twardowski an seinem von poetischer Leidenschaft vibrierenden Poem. Seine tagelange Reise ist viel mehr als eine Bahnfahrt aus Moskau nach Wladiwostok: erregendes Sinnbild für den Weg der sowjetischen Menschen durch ein entscheidendes, schwieriges Jahrzehnt.
In Geisteskraft, Sprachgewalt und gesellschaftlicher Wirkung ist diese Dichtung dem Poem Majakowskis „Gut und schön“ zumindest ebenbürtig. Wie Majakowski liebt und preist Twardowski seine sozialistische Heimat und ihre Menschengemeinschaft. In der Versform geht er allerdings andere Wege. In „Fernen über Fernen“ bedient er sich des klassischen Puschkinschen Verses, der unter seiner Feder erstaunlich zeitgenössisch wirkt. Den russischen Leser besonders begeistert die poetische Wiedergabe von Intonationen und Redewendungen der modernen Umgangssprache.

11.
Die jungen Dichter, die in den fünfziger Jahren ihre Stimme erhoben, wuchsen unter besonders günstigen Bedingungen heran. Die gesunde Atmosphäre nach der Beseitigung des Personenkults förderte die freie Entfaltung ihrer künstlerischen Persönlichkeit und prägte die Eigenart ihres Schaffens. Dichter wie Wassili Fjodorow, Robert Roshdestwenski, Wladimir Zybin, Rimma Kasakowa, Novella Matwejewa, Jegor Issajew und andere gaben und geben dem Lebensgefühl, den Interessen und dem Geschmack der sowjetischen Jugend unserer Zeit poetischen Ausdruck.
Beneidenswert ist diese neue Dichtergeneration darum, weil ihre ersten Schritte in der Literatur einem zunehmenden, schnell wachsenden Interesse alter und neuer Leserkreise für die Lyrik entgegenkamen. Sie genießen ungeheure Popularität: ihre Gedichte erscheinen in Riesenauflagen. Kampflustiger Optimismus, leidenschaftliche Menschenliebe und Lebenslust eignen den Gedichten dieser jungen Autoren. Bestechend ist der Radius ihrer Poesie. Von allen Räumen und allen Zeiten nehmen sie poetisch Besitz: der Ferne Osten und das neue Sibirien, Paris, Prag und Kuba – Gewesenes und Werdendes, Sternenflug und Apfelblüte…
Ihr kühnes Experimentieren mit Vers und Wort, ihre Suche nach neuen Rhythmen und Bildern entspringt – um mit Johannes R. Becher zu sprechen – ihrem poetischen Prinzip: ihrer realistischen und sozialistischen Auffassung vom Menschen und von der Welt. Mit ihren Arbeiten setzen sie die besten Traditionen der sowjetischen Poesie fort.

12.
Bisher hatte der Leser deutscher Sprache kaum Gelegenheit, sich mit dem ganzen Reichtum sowjetischer Lyrik bekannt zu machen. Unsere Anthologie legt ihm nun die markantesten russischen Gedichte der letzten fünfundvierzig Jahre in chronologischer Auswahl vor. Möge sie ihm helfen, die Gedanken- und Gefühlswelt der sowjetischen Menschen zu durchwandern und unsere Freundschaft zu festigen!
Wir hoffen: unsere Sammlung werde auch bei uns das – vor allem in der jüngeren Generation erfreulich zunehmende – Interesse für Lyrik fördern…
Für die Nachdichtungen haben wir vielen deutschen Dichtern zu danken. Wir wünschen, daß sie die noch verbreitete Meinung entkräften, Poesie sei unübersetzbar. Eine gute Nachdichtung wird immer das Wesentliche wiedergeben und das innere Gesicht des ursprünglichen Autors wahren und vermitteln. Gerade die moderne Lyrik mit ihrem stark rationellen Grundzug fügt sich solcher Verkleidung; trotz gewisser Einbußen an Licht leuchtet der Strahlenkern durch…

Edel Mirowa-Florin und Paul Wiens, Februar 1963, Vorwort

 

 

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Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

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