Susanne Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption – Das Beispiel Günter Eich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Susanne Müller-Hanpft: Lyrik und Rezeption – Das Beispiel Günter Eich

Müller-Hanpft-Lyrik und Rezeption – Das Beispiel Günter Eich

DIE VORAUSSETZUNGEN GÜNTER EICHS UND IHRE INTERPRETATION

Da Literatur als Form der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nicht nur auf konkrete Ereignisse reagiert, sondern ihrerseits wieder auf Literatur, übernimmt sie jeweils Formen, die sie verändern, weitertreiben, zerstören oder auch verharmlosen kann. Das Neue orientiert sich am Existenten, gewinnt aus ihm seine Maßstäbe.1
Aus diesem Grunde und nicht um ein philologisches Vollständigkeitsideal zu erfüllen, ist es aufschlußreich, den Anfängen Güter Eichs nachzuspüren und ihre Parallelität zu Vorbildern aufzudecken. Das geschieht im Wissen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach diese frühen Gedichte Eichs, wären ihnen nicht die Nachkriegswerke gefolgt, ziemlich unbemerkt untergegangen wären. Nur das Interesse an dem späteren Dichter hat die Aufmerksamkeit auf die Anfänge gelenkt.
Empirische Daten sollen kurz den Umkreis Eichs illustrieren.
Günter Eich wurde am 1. Februar 1907 in Lebus an der Oder geboren, wo der Vater eine kleine Landwirtschaft betrieb. Die Familie wechselte in den folgenden Jahren häufig den Wohnsitz, bis sie 1918 nach Berlin übersiedelte, wo der Vater als Bücherrevisor eine Stellung annahm.
Eich stammt also aus mittelständischem, nicht künstlerischem Milieu. Er erlebte die Großstadt Berlin mit elf Jahren nach dem Ende des ersten Weltkrieges und der wirtschaftlichen Not, in politischen Auseinandersetzungen und Krisen. Nach dem Abitur 1925 in Leipzig begann er in Berlin zu studieren. Er wählte als Fach Sinologie.
Die Wahl dieses ausgefallenen Studiums ist charakteristisch für die Position dieses jungen Mannes, der, nach eigenen Aussagen, „etwas tun wollte, was niemandem besonders nützen könnte“.2 Der Rückzug auf die eigene, streng privat gelebte Individualität deutet sich schon in der Wahl dieses Studiums an.
Die ersten Gedichte publizierte Eich als Zwanzigjähriger in der Anthologie jüngster Lyrik,3 die von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegeben wurde. Eich war einer von vielen schriftstellernden jungen Leuten, die einem Aufruf der von Willy Haas wöchentlich herausgegebenen Zeitschrift Die literarische Welt folgte, in dem die Jugend aufgefordert wurde, Gedichte an die Redaktion einzuschicken. Eich war so befangen, daß er seine Gedichte unter dem Pseudonym „Erich Günter“ veröffentlichte. Auf Grund dieser Gedichte wurde eine sehr kleine Gruppe von Literaturinteressenten auf den jungen Mann aufmerksam. Seine im Kontext der übrigen Gedichte durch ihre lyrische Empfindlichkeit auffallenden Gedichte wurden von dem Redakteur der Neuen Rundschau, Rudolf Kaiser, gelesen. Mit dessen Hilfe konnte der erste eigene Gedichtband Eichs erscheinen.4
Das schmale Bändchen wurde 1930 im Dresdener Wolfgang Jess-Verlag herausgebracht und in einer Auflage von nur 100 Exemplaren, die numeriert waren – ein Anstrich von Rarität und Exklusivität wurde dadurch erreicht –, verlegt. 1932 wurden noch einmal vier Gedichte in dem Sammelband Neue lyrische Anthologie5veröffentlicht. Als Lyriker verstummte Eich danach bis zum Kriegsende.
Eich war vor dem Krieg ein Unbekannter. Über die Rezeption, die seine frühen Gedichte zur Zeit ihrer Entstehung erfuhren, ist heute nichts mehr bekannt. Eich selbst hat keine Erinnerung mehr daran. Es ist anzunehmen, daß die Reaktion auf seine lyrischen Versuche äußerst gering war.
Erst nach dem Krieg, nachdem Günter Eich als Mitglied der Gruppe 47, als deren Preisträger, durch seine Hörspielproduktion und den Empfang des Preises der Kriegsblinden in den Gesichtskreis einer breiteren Öffentlichkeit getreten ist, wuchs das Interesse an den frühen Gedichten. Hans Bender druckte daher im Jahre 1953 die fünfzehn Gedichte des ersten Bandes Günter Eichs in der Zeitschrift Konturen mit einem Nachwort von Walter Höllerer nochmals ab.
Auffallend ist die Vielzahl von Interpretationen, die sich mit diesen frühen Gedichten auseinandersetzen.6 Sie alle bescheinigen der frühen Lyrik immer wieder den Charakter des Suchens. Rüdiger Wagner7 schreibt:

Ein sich bescheidender, nach seinem Weg suchender Dichter. Denn die Motive, die Sprache seiner späteren, reiferen, vollendeteren Dichtung sind in dieser frühen Lyrik in allen Ansätzen vorgebildet… Die Sprache der frühen Gedichte verrät das tastende Suchen, die Frage ins Ungewisse.

Als ein Indiz für diese Behauptung konstatiert Wagner die Vorliebe Eichs für Wörter wie „vielleicht“ und „manchmal“, Heidemarie Zoll8 behauptet: „Die zwei Dutzend Gedichte von Günter Eich zwischen 1927 und 1932 sind die Vorboten der Botschaften des Regens, die Wege, die zu den Abgelegenen Gehöften führen. Walter Höllerer9 schließlich charakterisiert die frühen Gedichte:

Schon in diesen Versen kündigt sich an, was in den späteren Gedichten Eichs ausreifte. Freilich stehen sie noch viel mehr in der Nähe des naturmagischen Gedichts als die späteren, freilich tauchen hier und da Wendungen auf, die noch an Ornamentik erinnern. Der Dichter Günter Eich ist ein strenger Arbeiter an seinen Versen, seine neuen Gedichte sind fester gebaut, sie sind noch weniger „Stimmungsgedicht“ als diese, sie sind noch mehr Gegenwarts-Querschnitte, Zeit-, Natur- und Liebesgedichte in einem, mehrschichtiger noch, vieldeutiger, ernsthafter noch bezogen auf das Ineinander menschlichen und un-menschlichen Seins. Aber dies ist in den frühen Arbeiten schon vorgezeichnet. Immer wieder springen Verse auf, die aus dem gewohnten Subjekt-Objekt-Verhältnis, Ich hier und Welt dort, herausführen, die innere und äußere Landschaft verbinden, Vision und Härte des Realen und Eigenrecht des Wortes verklammern zur dichterischen Wahrheit, unabhängig von einseitig festgelegten Programmen und -ismen.

Diese Zitate sind allgemein gehalten, scheuen das Konkrete, verpassen ihren Gegenstand. Sie enthüllen jedoch die Neigung literaturwissenschaftlicher Forschung, Qualität durch allmähliche, kontinuierliche, mühsam entwickelte Annäherung an eine Idealvorstellung zu erklären. In diesem Sinne wird die frühe Lyrik Eichs wie selbstverständlich zur Vorstufe seines „Hauptwerkes“ ernannt.
Bei diesem retrospektiven Verfahren ist es versäumt worden, die Gedichte Eichs in den Kontext ihrer Zeit zu stellen. Nur als Entwicklungsstufe für Eich selbst begriffen, erscheinen alle Gedichte in ihrer Summe als ein autonomes Wertuniversum, das nach Selbstausdruck verlangt.
„Ein Dichter von Eichs Generation kommt um Trakl, Heym, Benn, Loerke, Lehmann nicht herum“, schreibt Werner Weber10 im Hinblick auf Eichs frühe Gedichte. Dieses Zitat schließt Alternativen aus. Der Produktionsprozeß für Lyrik erscheint als naturgegebener, Orientierungsmöglichkeiten im speziellen Fall von Günter Eich werden nicht aufgezeigt. Damit enthebt sich der Interpret der Verpflichtung, nach den historischen Gründen für diese Entwicklung zu fragen. Die Auswahl, die Weber trifft, ist bereits wertend. Sie verschweigt, daß es außer den Expressionisten historisch die Gruppe der Dadaisten, der Surrealisten – um nur ganz summarisch Richtungen anzudeuten – gegeben hat, die viel später, nach dem Krieg und den überwundenen Anfängen der Nachkriegslyrik auch für Eich, allerdings durch die Vermittlung der sogenannten konkreten Dichtung, Bedeutung gewinnen.
Günter Eich, davon darf man ausgehen, hat über die Voraussetzungen seines Schreibens nicht reflektiert. Er hat sich intuitiv so begriffen, wie es Stefan Zweig stellvertretend für eine große Anzahl anonym gebliebener junger Lyriker formulierte:11

Lyrik, sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrer Aufnahme gehört im wesentlichen zur Jugend, genauer gesagt: sie steht in innigem Zusammenhang mit jenem gespannten, gesteigerten und gleichzeitig weich verworrenen Zustand der Lebensfrühe, der mit der Pubertät einsetzt und ihr noch eine Zeitlang nachschwingt. Die erste Welterfassung geschieht da mehr durch Ahnung denn dank klarer Erfahrung, Gefühl überwogt die Dinge, ehe der Verstand sie hellsinnig umfaßt.

Lyrik wird als pubertäre Randerscheinung der Gesellschaft beschrieben, als Sublimation sexueller Schwierigkeiten Jugendlicher, die sich als zeitliche Vorform der verstandesmäßigen Betrachtung einstellt und mit der Überwindung der Persönlichkeitsfindung wieder verschwindet. Der Lyrik wird also von vorneherein wohlwollend eine antirationale, nicht ernstzunehmende Position zuerteilt, die jede Möglichkeit von objektiver Wahrheitsfindung und gesellschaftlich verändernder Kraft ausschließt.
Klaus Mann notiert im Nachwort desselben Bandes:12

Wir glauben eingesehen zu haben, daß die Entscheidungen dieser Zeitwende sich nicht hauptsächlich im Geistig-Literarischen abspielten, sondern im Technischen und Sozialen. Wir verstehen, wenn die privatlyrischen Ergüsse irgend eines suchenden, irrenden „Ich“ manch einem nebensächlich, ja, verächtlich scheinen.

Günter Eich hat sich dem technischen und sozialen Bereich entzogen. Die Gegenpole soziale Wirklichkeit und lyrisches Ich waren in seinem Selbstverständnis ebenso wie in den zitierten Worten Klaus Manns nicht mehr zu vermitteln. Die soziale Welt der Arbeit blieb außerhalb der lyrischen Sphäre. Diese orientierte sich deshalb auch nicht an der sie umgebenden Wirklichkeit, sondern versuchte im esoterischen Bereich eine literarische Wirklichkeit zu erstellen, die mit der Realität nichts mehr gemein hatte. Das ist ihr zutiefst ideologisches Moment.13

 

Literarische Tradition
Da Literatur auch auf Literatur reagiert, haben fast alle Literaten Vorbilder. Eich verstand und begriff sich selbst als Spätexpressionist.14 Seine Lieblingsautoren waren Trakl und Loerke, im übrigen las er mit Vorliebe in Meyers Reallexikon, einem Buch, das zusammenhanglos und nur durch die wahllose Verwandtschaft der Anfangsbuchstaben alle menschlichen Bereiche in Artikeln zusammenträgt. Einen stärkeren Eindruck als die Literatur hinterließ in dem jungen Eich der Ausdruckstanz.15
Eich war, da er selbst nicht aus einer Literaten- oder Intellektuellenfamilie stammte, zunächst mit keinem Schriftsteller seiner Zeit bekannt. Erst später gehörten Peter Huchel, Oda Schäfer und Horst Lange zu seinen Freunden, mit denen er gemeinsam in der Zeitschrift Die Kolonne publizierte. Mit Huchel verband Eich mehr als eine Freundschaft; sie waren sich auch in den poetischen Aussagen und Vorbildern ähnlich. Eichs engster Mitarbeiter beim Berliner Rundfunk war Martin Raschke.16
Mit den zu dieser Zeit maßgebenden und vielgelesenen Schriftstellern verband Eich kein Kontakt. Wer literarische Bedeutung hatte, bewegte sich außerhalb des Blickfeldes Günter Eichs. Von den Lyrikern, die den alten Formenkanon gänzlich zerbrachen, wie den Dadaisten, hat Eich keine Kenntnis genommen.17
Diese empirischen Daten sind nicht aus positivistischem Interesse aufgeführt, sondern um die Position zu ermessen, die Eich vor dem Krieg einnahm und um seine Psychologie zu beleuchten, die sich um den privaten, individualistischen Widerstand und die empfindsamen Regungen eines sensiblen künstlerischen Gemütes aufrieb, die ihn aber daran hinderte, in den geschichtlichen Prozeß bewußt, sei es aktiv, sei es reflektiv, einzugreifen. Eich entzog sich bewußt einer schematischen Einordnung und Gruppierung; er baute jedoch damit unbewußt eine neue Spezifizierung auf: die des leidenden Individuums.18
Wenn im folgenden versucht wird, Eich in eine Traditionsreihe von Lyrikern einzugliedern, so nur, um seinen Standort und seinen Ausgangspunkt zu bezeichnen, der auch für die spätere Rezeption wichtig wird.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich Eich selbst als Spätexpressionist empfand. Diese Selbsteinschätzung läßt sich am Textmaterial belegen. Der Impuls jedoch, der von den Expressionisten ausging, deren entscheidende Phase nur eine kurze Zeitspanne umfaßte, die einem hektischen Aufbruch, einer wilden Emphase entsprach, dieser Impuls ging bei Eich verloren.
Waren die Bilder und Metaphern der Expressionisten Heym und Trakl – Visionen, die Indikationen der großstädtischen Proletarierwelt einerseits und Entlarvung tauber Pracht andererseits boten – ein Angriff auf den Kapitalismus, der in seiner Imperialismusphase die bürgerliche Gesellschaft zersetzte, waren sie Zeugnisse eines ideologischen Protestes, so werden sie für den mehr als zehn Jahre später beginnenden Eich zu frei verfügbaren Versatzstücken, deren nach Veränderung drängender Impetus verlorengegangen ist.
Von dem bedrückenden Bild Heyms, das er in den „Dämonen der Städte“ zeichnet, der unruhevollen Anklage, die durch Magie den letzten, verzweifelten Versuch der Änderung impliziert:

Einer steht auf. Dem weißen Monde hängt
er eine schwarze Larve vor. Die Nacht,
die sich wie Blei vom finstern Himmel senkt,
drückt tief die Häuser in des Dunkels Schacht.

bleibt bei Eich, in „Among my souvenirs“ die private Aussage des einsamen Individuums:

Des Mondes weiße Zisterne
ist ausgeschöpft und leer
und zu schlafen ohne die Sterne
ist zu schwer.

Mehr noch als an Heym klingt die Lyrik aus Eichs erstem Gedichtband an Trakl an. Die rhythmische und tektonische Ähnlichkeit wird in vielen Beispielen, ohne daß man sie unmittelbar vergleichen könnte, spürbar. Heißt es bei Trakl im „Gesang des Abgeschiedenen“:

Voll Harmonien ist der Flug der Vögel. Es haben die grünen Wälder
Am Abend sich zu stilleren Hütten versammelt;
Die kristallenen Weiden des Rehs.

so ist die Herkunft der Verse Eichs deutlich:

Wenn die Vögel süß singen und die Tiere im Wald die jungen Bäume benagen,
wenn Frühling ist oder der blaue Herbst, der nachmittags an die Scheiben klopft.
Dann geh ich vielleicht über den papiernen Waldboden,
wenn die Lichter angezündet sind in den Bergwerken der Sterne.

Dieses Zitat stammt aus dem ersten Gedicht Eichs „Verse an vielen Abenden“. Es erscheint wie ein Konglomerat der verschiedenen Stilrichtungen und Motive.
Seine erste Zeile:

Herumtrabend mit hungrigen Wolfsschritten um deine verlassene Hütte, …

klingt wiederum an Trakl an. Die Vorliebe für das Partizip Präsens sowie ein richtungsweisendes, Bewegung indizierendes Adverb, ist charakteristisch für den jenen. Dann aber heißt es bei Eich in der dritten Strophe des gleichen Gedichtes:

O ich bin von der Zeit angefressen und bin in gleicher
Langeweile vom zehnten bis zum achtzigsten Jahre.
Erst ist schön der Leib, Gesicht und Hände,
aber allmählich schmilzt das Fleisch
und die Knochen sind nur von Haut überzogen.

Zwar ist auch hier der Einfluß Trakls nicht abzuleugnen. Doch kommt in die Traklsche Szene der „Verwesung“ ein anderer Ton, eine neue Qualität. Diese direkte Aussage Eichs ist wohl ohne die Gedichte aus der Morgue von Gottfried Benn nicht denkbar. Das lyrische Ich begreift sich nicht als gesellschaftliches Subjekt, das in einem Funktionszusammenhang mit seiner Zeit steht, sondern als ein enthistorisiertes biologisches Gattungsobjekt, der Spezies Mensch. Es wird nichts ausgesagt über die Umwelt des Menschen, dem seine Geschichte zu einer qualitätsmäßig unveränderten Langeweile wird. Diese Tatsache liegt, wie es sich dem Dichter darstellt, in der ontologischen Qualität des Menschseins, im Schicksalhaften. Was bei Trakl einen eminenten Zeitbezug hatte, der im Verfall des Bürgertums gründete, wird bei Eich zum biologisch Determinierten. Darin ist er Gottfried Benn verwandt. Es wundert darum nicht, wenn im gleichen Gedicht, an etwas späterer Stelle, die Zeilen stehen:

Es genügte, ein Tier zu sein.
Ach, du ertrinkst im Regen der Menschlichkeit.
Manchmal glückt dir ein vergeßlicher Tag.

Hier haben einzelne Betrachtungen Nietzsches „Über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ hineingewirkt. Liest man bei Nietzsche im Teil I dieser Schrift:19

Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so von Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte… So lebt das Tier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart…
Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen
oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden.

Die Haltung, wie sie aus den oben zitierten Versen Eichs ablesbar wird, zeigt ihre Provenienz von Nietzsche bis in die Wahl des Bildes hinein.
Eich selbst hat Nietzsche nach eigenen Aussagen nicht gelesen.
Offenbar war das Denken Nietzsches so sehr zum Allgemeingut geworden, daß Eich damit frei verfügen konnte. Auf jeden Fall war das literarische Klima von Nietzsche geprägt. Das läßt sich auch für die Expressionisten, besonders für Benn belegen.
Schon 1913 schrieb Ernst Bloch in seinem Aufsatz „Der Impuls Nietzsches“:20

Ein neuer Ton ging da endlich an. Er kam den Herren von heutzutage erst später zupaß, und dem Plüsch zu seiner Zeit war er nicht lieb. Tönend schien ein neuer Tag geboren, überholte grell.

Und er erklärt den starken Einfluß weiter:

Das suchende Ich nun entzündete sich an einem Denken, das endlich wieder anglühte. Es übersah die blonde Bestie im Übermenschen, dem gewiß mehr als nur mißbrauchbaren.

Eine Welt, „die noch nicht das ist“ (Bloch) zu antizipieren, darzustellen in der Negation des Vorhandenen, die Kategorie der Hoffnung, wurde für eine Generation zum Antrieb für ihr geistiges Tun. Der Impuls, den nach Bloch die Expressionisten von Nietzsche aufnahmen, war, Hoffnung zum Prinzip zu machen, ein Ungekanntes, Utopisches anzuvisieren und durch die Nennung zu antizipieren, in der Lyrik zu verwirklichen. Das gilt nicht mehr für Eich.
Er übernimmt zwanzig Jahre nach dem Bloch-Aufsatz bereits vorformulierte Gedankenvorstellungen und lyrische Bilder, die inzwischen durch die Restauration der Gesellschaft und die Neue Sachlichkeit ad absurdum geführt wurden.

Einmal warst du
nur ein Boot in einem grünen Flusse,
einmal hattest du die Füße eines Baumes
und du warst im Hafen der Erde verankert.

Du mußt wieder stumm werden, unbeschwert,
eine Mücke, ein Windstoß, eine Lilie sein.

Solche Verse evozieren die Erinnerung an Rilke-Verse wie:

Ich weiß noch nicht bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang
.
21

Die Natur fungiert hier als metaphorisches Arsenal, das lyrische Ich versenkt sich in sie in subjektiver, objektiv nicht zu vermittelnder Innerlichkeit. Das Subjekt träumt von Metamorphosen.
Mit Trakl verbindet Eich wiederum die Behandlung des Mondes:

Ein Fischer zog
In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.
(Trakl: „Ruh und Schweigen“)

Über den Himmel warf man abends Netze,
jemand hat sich auf die öde Flut gebückt,
fischte Algen, Mond und bittere Sterne,
und im Horizont verschwand das Fahrzeug traurig und verrückt.

und dies war der Mond, er trieb gefangen
auf den toten Wasserspiegeln, salzig, abflußlos.
(Eich: „Ägyptische Plastik“)

In einem Gedicht wie „Tango“ klingt das Gefühl für Himmel, seine Weite, für die Erdverbundenheit des „Baal“ des jungen Bertolt Brecht an.

Neig dich übers Glas, es wird nicht bleiben
dieses frühe Bild, der Mund, der war,
es verwischt sich, in der Dämmerung treiben
Wolken über dem vereinten Haar.

Du bist da. Aus blauem Grunde,
welcher Himmel ist und unerklärlich weit,
wächst dein Atem und das runde
Auge, Zwielicht, Heiterkeit.

Auch die Vorstellung der Wolke, die „über dem vereinten Haar“ treibt, dem Geschehen als Zeuge beiwohnt, erinnert an Brechts „Erinnerung an Marie A.“ und viele andere Beispiele.
Heidemarie Zoll verweist in ihrem Aufsatz „Günter Eich als Naturlyriker“ auf Verwandtschaft außer zu den schon früher zitierten Loerke, Lehmann und Konrad Weiss auf die chinesische Lyrik.
Egbert Krispyn22 thematisiert Eichs Affinität zur Romantik in dem Aufsatz „Günter Eich und die Romantik“, da sich seine Beispiele jedoch nicht auf die frühe Lyrik allein beziehen, sei in diesem Zusammenhang auf diese Arbeit nur hingewiesen.
Welche Funktion haben diese Beobachtungen für die Aussage und Bedeutung der frühen Lyrik Günter Eichs? Wie lassen sich Bilder deuten, die solchen Antipoden wie Rilke und Brecht gleichermaßen entnommen zu sein scheinen?
Das erste ist ein antihistorischer Impuls, der sich von Nietzsche her tradiert hat. Das zweite scheint ein romantischer Impuls zu sein, der in der Neuromantik, zu deren Exponenten ja auch Rilke gehört, noch einmal die Poesie schöner Dinge durch zauberische, ungetrübte Verse evozieren wollte, ein Impuls, der an dem Prozeß der modernen Industriewirklichkeit vorbei zu einer Sphäre vorstieß, die sich gänzlich von der Realität unterschied und im Traumland künstlicher Paradiese einer Dichtung sehnsüchtigen Entweichens huldigte. Die Expressionisten aber hatten sich als erste der modernen Großstadtwelt gestellt, hatten sie angeklagt in Bildern des Entsetzens und der Deformierung und die Armut nicht mehr idealisiert, wie vordem noch Rilke. Bei Stadler, Heym, Johannes R. Becher und dem jungen Gottfried Benn gibt es statt edler Menschen Wasserleichen, Diebe, Irre, bei Trakl Verweste. Eich kann die Erfahrungen und poetischen Errungenschaften dieser Dichter nicht ignorieren, trotzdem bleibt bei ihm, so verharmlosend und vermittelt wie er die Bilder der Früheren aufnimmt, die Sehnsucht; eine Sehnsucht, in der Naturlyrik die vorindustrielle Harmonie von Mensch und Natur, die Versöhnung von Subjekt und Objekt wieder herzustellen.

Das Glück an der Natur war verflochten mit der Konzeption des Subjekts als eines Fürsichseienden und virtuell in sich Unendlichen; so projiziert es sich auf die Natur und fühlt als Abgespaltenes ihr sich nahe; seine Ohnmacht in der zur zweiten Natur versteinerten Gesellschaft wird zum Motor der Flucht in die vermeintlich erste.23

Eichs frühe Dichtung will nicht wahrhaben, daß das Glück an der Natur nicht mehr einholbar ist – aber sie weiß es trotzdem. Der Mond, romantisches Symbol für die Vereinigung von Himmel und Erde, von Mensch und Universum (vgl. Eichendorff u.a.), ist für ihn „ausgeschöpft und leer“, der Trost der Sterne ist dem Menschen genommen, und dennoch bleibt bei Eich der Wunsch nach verlorengegangener Harmonie in der negativen Setzung bestehen.
Seit dem berühmten Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal wurde der Zweifel an der Tauglichkeit der Sprache, die neuen aufkommenden Wirklichkeiten und Zusammenhänge adäquat wiederzugeben in der Kunst aller Gattungen in verschiedenen Versionen zum Thema. Das Problem der Sprachlosigkeit wurde in die Sprache selbst transponiert.
Günter Eich versucht in seinen frühen Gedichten diesen Zweifel aus der Sprache selbst fernzuhalten. Seine bildlichen und stimmungshaften Übernahmen, ja selbst Zitate setzt er nicht bewußt für die Struktur seiner Gedichte ein, in dem Sinne, daß er das durch Bildung Vermittelte zur Schau stellte und es zum Anlaß von Reflexion darüber benutzte, sondern er errichtet noch einmal die Fiktion einer ,heilen‘ Sprache, deren Sehnsucht einer ,heilen‘ Welt gilt. Gerade darin aber, daß sie die historischen Fragen ihrer Zeit nicht mit einbeziehen, nicht in die Form und Sprache aufnehmen, sondern sich nach rückwärts orientieren, stellen die frühen Gedichte Eichs in ihrer Zeit einen Anachronismus dar; die Gedichte haben keine eigene Problematik in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeitsbewältigung, sondern übernehmen die Probleme der Vorläufer in einer gänzlich neuen historischen Situation als die eigenen.
Es ist denkbar, daß Günter Eich diesen Mangel selbst verspürt hat. Denn trotz seines Entschlusses, 1932 das Studium endgültig aufzugeben und Berufsschriftsteller zu werden, schrieb er von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende des Krieges keine Gedichte mehr. Das Paradoxon scheint darauf hinzuweisen, daß Eich nicht in der Lage war, seine historische Fragestellung in die Sprache des Gedichtes miteinzubeziehen.24
Die Vorstellung eines aktiven oder auch passiven Widerstands hat sich für Eich nicht abgezeichnet. Mit den Emigranten unter den Schriftstellern hatte er keinen Kontakt, als innere Emigration läßt sich seine Haltung nur schwer bezeichnen, da er, obwohl er die nationalsozialistische Herrschaft mißachtete, am Berliner Rundfunk arbeitete und erste Hörspiele verfaßte. Sie zeichneten sich durch extreme Harmlosigkeit aus, beschäftigten sich mit den Tieren und Vögeln des Waldes, mit den Jahreszeiten, wie die im Buch erhaltenen „Monatsbilder des Königswusterhäuser Landboten“ und waren, wie Eich heute aussagt, reine Routinearbeiten ohne persönliches Engagement. In ihrer Harmlosigkeit hatten sie jedoch einen politischen Stellenwert, insofern zumindest, als sie von relevanten Fragen ablenkten und eine ungetrübte Natur darstellten, die nahelegte, auch die Gesellschaft als „natürlich“ und damit ungetrübt zu begreifen, bzw. zu empfinden. Das Schreiben von Gedichten aber war Eich nicht mehr möglich. Offenbar waren ihm die eigenen Prämissen der frühen Gedichte selbst untauglich und suspekt erschienen, so daß er in einer Zeit der totalitären Herrschaft seine individualistischen Naturgedichte nicht mehr schreiben konnte. Zur Entwicklung neuer, inkommensurabler Formen fühlte sich Eich nicht in der Lage, abgesehen davon, daß man ihm die Veröffentlichung dieser Extravaganzen, hätte er sie geschrieben, mit Sicherheit nicht gestattet hätte. Eich tritt erst wieder nach dem Krieg, an dem er aktiv als Soldat teilnahm, mit Gedichten an die Öffentlichkeit, die er in amerikanischer Gefangenschaft geschrieben hat.

 

 

 

Vorbemerkung

– Problematik und Zielsetzung. –

„Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ überschreibt Hans Robert Jauß25 einen kürzlich erschienenen Essay, in dem er für die Literaturwissenschaft eine „rezeptionsästhetische Perspektive“ theoretisch fordert, als deren zentrale Kategorie zur Beurteilung eines Kunstwerkes der „Erwartungshorizont“ bestimmt wird.

Der… Erwartungshorizont eines Werkes ermöglicht es, seinen Kunstcharakter an der Art und dem Grad seiner Wirkung auf ein vorausgesetztes Publikum zu bestimmen.26

Jauß nimmt damit einen Gedanken Walter Benjamins wieder auf, der schon 1931 in seinem Aufsatz „Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft“27 gefordert hatte, statt mit den Personen, mit „den Werken zu ringen“ und die Literatur zu einem „Organon der Geschichte“ zu machen. Er wehrt sich sowohl gegen eine positivistische Literaturgeschichte als auch gegen eine einfühlende Literaturbetrachtung.

In diesem Sumpfe ist die Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß zu Hause.28

Gegen solche bewußtlose, dilettantische Kunsteinfühlungspraxis setzt Benjamin die Forderung nach Reflexion des Verwertungsprozesses von Kunst.

Deren (der Werke) gesamter Lebens- und Wirkungskreis hat gleichberechtigt, ja vorwiegend neben ihre Entstehungsgeschichte zu treten; also ihr Schicksal, ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen, ihre Übersetzungen, ihr Ruhm. Damit gestaltet sich das Werk im Inneren zu einem Mikrokosmos oder vielmehr: zu einem Mikroaeon. Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.29

Neuartig sind die Forderungen von Jauß theoretisch nicht. In der Praxis erweist sich jedoch auch an den neuesten Literaturgeschichten, daß sie nicht reflektiert und berücksichtigt werden. Das gilt selbst für jene Literaturgeschichten, die sich mit der jüngsten Literatur befassen.30 In Artikel nach einzelnen Schriftstellern aufgeteilt, werden die Arbeiten eines Autors als geschlossenes System betrachtet. Untersucht werden Einflüsse früherer Epochen,31 Übernahmen und persönliche Entwicklung. Dabei wird das Werk weder in einen historisch konkreten Zusammenhang gestellt, noch in seinen Rezeptions- und Wirkungsbedingungen begriffen.
Diese beiden Aspekte jedoch sind es, die es dem Interpreten ermöglichen, das Kunstwerk aus dem Bereich des Subjektiven, nicht Nachprüfbaren durch Verstehen und Erklären in die Sphäre des Objektivierbaren zu heben.
Um die Bestimmung des künstlerischen Werkes in seinen konkret gesellschaftlichen Bedingungen hat sich Theodor W. Adorno in zahlreichen Aufsätzen bemüht. Sein ästhetischer Ausgangspunkt liegt nicht, wie in den meisten literatursoziologischen Methoden32 in der inhaltsbestimmten Beziehung von Literatur und Gesellschaft:. Doch auch in der Form allein bestimmt sich für Adorno nicht das Soziale.

Die größten Fehler der soziologischen Kunstbetrachtung sind, daß sie in den künstlerischen Schöpfungen die Inhalte sucht und untersucht und zwischen ihnen und bestimmten wirtschaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen will. Das wirklich Soziale aber in der Literatur ist: die Form.

Diese These hat der junge Georg Lukács selbst am Beispiel des bürgerlichen Romans33 entfaltet, wie nach ihm der marxistische „Strukturalist“ Lucien Goldmann.34

Adorno aber hat als erster jene Gattung der Literatur zur gesellschaftlichen Interpretation ausgewählt, die seit der Goethezeit als das Empfindlichste und Zarteste gilt und die am wenigsten vom Inhalt getragen wird, die Lyrik. Seine „Rede über Lyrik und Gesellschaft“35 erschien zuerst 1957 und war ein Angriff sowohl gegen positivistische Kunstbetrachtung, die das Werk nur mit biographischen Daten interpretierte als auch vor allem gegen die in Deutschland zur Schulästhetik gewordene „immanente Gedichtbetrachtung“ der Schule Emil Staigers.36

An den theoretischen Voraussetzungen und unterschiedlichen Arbeitsergebnissen von Adorno und Jauß läßt sich exemplarisch die Wesensbestimmung von Sprache und literarischem Bewußtsein überhaupt in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlich organisierten Gegenständlichkeit, allgemein, das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein, zeigen.
Die Kategorien der Produktion bei Adorno und des künstlerisch zu transzendierenden Erwartungshorizonts bei Jauß enthalten in spezifischer Form das Thema der behaupteten Verfügungsgewalt der gesellschaftlichen Subjekte über die materiellen Bedingungen ihrer Existenz.
Die Enthaltsamkeit von Gesellschaft, „eine Sphäre des Ausdrucks, die ihr Wesen geradezu daran hat, die Macht der Vergesellschaftung sei’s nicht anzuerkennen, sei’s, wie bei Baudelaire oder Nietzsche, durchs Pathos der Distanz zu überwinden“37 gilt bei Adorno als die wesentliche gesellschaftliche Qualität des Gedichtes, „denn der Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Geformtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Nicht, daß was das lyrische Gedicht ausdrückt, unmittelbar das sein müßte, was alle erleben. Seine Allgemeinheit ist keine volonté de tous, keine der bloßen Kommunikation dessen, was die anderen nur eben nicht kommunizieren können. Sondern die Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, daß es Unentstelltes, Unerfaßtes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so geistig etwas vorwegnimmt von einem Zustand, in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselte. Von rückhaltloser Individuation erhofft sich das lyrische Gebilde das Allgemeine.38
Zum Bezugspunkt wird für Adorno das Verhältnis von dem „Spontanen, das nicht schon folgt aus jeweils bestehenden Verhältnissen“,39 der Widerstand leistenden Individualität also, und jenem objektiven Kraftfeld, das als „kollektiver Unterstrom alle individuelle Lyrik“40 grundiert. Wahre Lyrik begreift nach Adorno den objektiven Zustand derer mit ein, die nicht das Privileg haben, ihrer Lage in künstlerischen Gebilden als Form Ausdruck zu verleihen. Lyrik muß auf den antagonistischen Zustand der Gesellschaft, in der sie entsteht, reagieren. Das Privileg jedoch, das der Dichter vor jenen hat, die als Objekt von Geschichte den Zustand der Gesellschaft ausmachen, führt zu einem jeweils unterschiedlichen Niveau von Einsicht zwischen Kunstwerk und einer Rezeption. Jauß charakterisiert diese Rezeption individualpsychologisch:

Bezeichnet man den Abstand zwischen dem vorgegebenen Erwartungshorizont und der Erscheinung eines neuen Werkes, dessen Aufnahme durch Negierung vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig ausgesprochener Erfahrungen einen ,Horizontwandel‘ zur Folge haben kann, als ästhetische Distanz, so läßt sich diese am Spektrum der Reaktionen des Publikums und des Urteils der Kritik (spontaner Erfolg, Ablehnung oder Schockierung; vereinzelte Zustimmung, allmähliches oder verspätetes Verständnis) historisch vergegenständlichen.
Die Art und Weise, in der ein literarisches Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt, gibt offensichtlich ein Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes her… In dem Maße wie sich diese Distanz verringert, dem rezipierenden Bewußtsein keine Umwendung auf den Horizont noch unbekannter Erfahrung abverlangt wird, nähert sich das Werk dem Bereich der ,kulinarischen‘ Unterhaltungskunst. Die letztere läßt sich rezeptionsästhetisch dadurch charakterisieren, daß sie keinen Horizontwandel erfordert, sondern Erwartungen, die eine herrschende Geschmacksrichtung vorzeichnet, geradezu erfüllt, indem sie das Verlangen nach der Reproduktion des gewohnten Schönen befriedigt, vertraute Empfindungen bestätigt, Wunschvorstellungen sanktioniert, unalltägliche Erfahrungen als ,Sensation‘ genießbar macht oder auch moralische Probleme aufwirft, aber nur, um sie als schon vorentschiedene Fragen im erbaulichen Sinne zu ,lösen‘
.41

Dieser Begriff der Erwartungshaltungen ist problematisch insofern, als die Reaktionen des Publikums auf Kunstwerke nicht einheitlich sind, sondern von dessen jeweiligem gesellschaftlichen Standort und darin aufgehobener individueller Erfahrung aus verschieden vermittelt. Keine Äußerung auf ein Kunstwerk trifft dieses unvermittelt. Das Vermittelte aber ist gesamtgesellschaftlich und läßt sich nicht durch individuelle Erwartungshaltungen aufbrechen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob in der heutigen Zeit überhaupt von Erwartungshaltungen gesprochen werden kann. Ein „erwartetes“ Kunstwerk hätte den Charakter von Notwendigkeit und stellte einen Gebrauchswert dar. In einer gesellschaftlichen Situation, die auf dem Tauschwert von Waren basiert, gerät auch das Kunstwerk in eine Kulturindustrie, die ihre vorhandene Kapazität ausfüllen und ein Bedürfnis für die Rezeption von Kunst wenn nicht selbst erst produzieren so doch stimulieren muß, um ihre Erzeugnisse abzusetzen. Das Soll, vorhandene Reihen mit innerhalb bestimmter Perioden festgelegten Titelanzahlen zu füllen; der vorhandene Platz von Zeitungen, Buchbesprechungen anzubieten, die Medien Rundfunk und Fernsehen, die zum wichtigsten Beschäftigungsinstrument für Literaten wurden, geben ein Indiz dafür ab, daß Kunst bereits im Prozeß ihrer Verbreitung von einer um Sollerfüllung ängstigenden Industrie verwertet wird. Erwartungshaltungen sind in dieser Situation von Kulturindustrie schon vorproduziert und nur von dieser gesamten Lage her aufzuschlüsseln.42
Adorno wandte sich bis zuletzt dagegen, das Gesellschaftliche an der Kunst in der Sphäre der Rezeption zu sehen.

Die Objektivation der Kunst, von der Gesellschaft draußen her ihr Fetischismus, ist ihrerseits gesellschaftlich als Produkt der Arbeitsteilung. Darum ist das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft nicht vorwiegend in der Sphäre der Rezeption aufzusuchen. Es ist dieser vorgängig: in der Produktion. Das Interesse an der gesellschaftlichen Dechiffrierung der Kunst muß dieser sich zukehren, anstatt mit der Ermittlung und Klassifizierung von Wirkungen sich abspeisen zu lassen, die vielfach aus gesellschaftlichem Grunde von den Kunstwerken und ihrem objektiven gesellschaftlichen Gehalt gänzlich divergieren.43

Adorno wendet sich in diesem Diktum gegen eine Art von Wirkungsforschung, die sich mit den Stimmen der auf das Kunstwerk Reagierenden ausschließlich befaßt und einzig in dieser Tatsache das Gesellschaftliche von Kunst erblickt. Nur so ist es zu verstehen, daß er an anderer Stelle den Begriff der Rezeption universaler faßt und ihren konstitutiven Einfluß auf die Kunst selber konstatiert.

Kritisch pflegen die Werke in der Ära ihres Erscheinens zu wirken; später werden sie, nicht zuletzt veränderter Verhältnisse wegen, neutralisiert. Neutralisierung ist der gesellschaftliche Preis der ästhetischen Autonomie. Liegen aber die Kunstwerke einmal im Pantheon der Bildungsgüter begraben, so sind auch sie selbst, ihr Wahrheitsgehalt beschädigt. In der verwalteten Welt ist Neutralisierung universal. Einmal begehrte der Surrealismus gegen die Fetischisierung der Kunst als Sondersphäre auf, wurde aber als die Kunst, die er doch auch war, über die reine Gestalt des Protestes hinausgetrieben… Moderne Strömungen, in denen schockhaft einbrechende Inhalte das Formgesetz zerrütteten, sind prädestiniert dazu, mit der Welt zu paktieren, die unsublimierte Stofflichkeit anheimelnd findet, sobald der Stachel entfernt ist.44

Auf den ersten Blick scheint dieses Zitat Adornos inhaltlich identisch mit jenem zuvor aufgeführten von Jauß. Jedoch nur auf den ersten Blick. Denn während Jauß durch die Kategorie der Erwartungshaltung einen individuellen Willen eines genau zu definierenden „ersten Publikums“ annimmt, welches das Kunstwerk demnach bewußt anspricht, geht es Adorno um die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen sich das Kunstwerk auseinandersetzt und durch die es allein in seinem Geformtsein neutralisiert und damit nivelliert wird.
Jauß gibt ein Beispiel dafür, daß der theoretische Anspruch Adornos verkümmert, wenn man die Analyse der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen historischen Situation ausklammert. Seine Rezeptionsästhetik bleibt dadurch formal und kann das Verhältnis von Kunstwerk und Rezeption nur vordergründig empirisch belegen. Ein Schock, ein Erschrecken per se hat noch keine ästhetischen Qualitäten. Kitsch kann dazu ebenso herhalten wie ein avantgardistisches Kunstwerk. Auch dabei kommt es auf das Bewußtsein der rezipierenden Gruppe an; dieses Bewußtsein aber muß gesamtgesellschaftlich abgeleitet werden. Der meßbare Protest ist allein nur ein formales Phänomen.
Mit der Vermarktung des Kunstwerks jedoch, die heute bereits mit dem Erscheinen eines ersten Werkes eines Autors einsetzt oder allein durch einen öffentlichen Auftritt eines jungen Schriftstellers geschieht (man denke nur an Peter Handkes erstes Sich-in-Erscheinung-Setzen bei der Gruppe 47 in Princeton), wird der Künstler, der ein Moment von Autonomie bewahren möchte, mehr und mehr dazu gezwungen, sich in seinem Werk mit der allgemeinen und auch besonderen Form der Rezeption dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen.45
Es ist also nicht primär der Erwartungshorizont des Publikums, d.h. der Ausdruck empirischer gesellschaftlicher Zustände, wie sie sich im Bewußtsein manifestieren, gegen die sich das Kunstwerk immer wieder auflehnt: Kunst beansprucht, im Adornoschen Sinne, die Konstitution eben dieser Zustände selbst, wenn nicht unmittelbar, so doch in der Vorstellung, und verweigert sich, von dieser Voraussetzung her, der Einschließung in ein Verhältnis von Werk und Empirie, deren Grundlage sie ja selbst in Antizipation utopischer Wirklichkeit abgeben will. Sprache verhält sich demnach dem Gegenstand nicht als einem Äußerlichen, Fremden gegenüber, sondern bearbeitet diesen und Gegenständlichkeit überhaupt in der Form ihrer Organisation durch den Menschen, dessen bloßen Ausdruck sie allenfalls bilden soll; bearbeitet ihn in abstrakter Tätigkeit, sei es als künstlerische Produktion, sei es aber auch als Umgangssprache.
Im vergegenständlichenden, gegenstandskonstituierenden Akt von Sprache ist aber Rezeption schon eingeschlossen. Und dies gilt im Unterschied zu Jauß, der die Rezeption als äußerlichen, „nachträglichen“ Verifikator künstlerischer Produktion begreift. Eingeschlossen insofern, als nämlich das Resultat der abstrakten Konstitution von Gegenständlichkeit (als desjenigen Mittels, den Gegenstand zu sich zu setzen) nicht die bloße Identität von Bewußtsein und Gegenstand ist, das Bei-sich-sein des Selbst – sondern die sich erneuernde Differenz innerhalb des Bewußtseins, das sich im Gegenstand selbst wiederfindet: ein Ich schaut ein anderes Ich an; das Verhältnis beider, die Selbstbezüglichkeit (zum Beispiel auch des lyrischen Subjekts), gibt einen Unterschied, der „ebensosehr keiner ist“.46
Das Resultat gerade der von gesellschaftlich organisierter Gegenständlichkeit, von einer Bedürfnisbefriedigung verhindernden Umwelt abstrahierenden künstlerischen „Formulierung“ ist dabei die erneute notwendige Entfremdung, der Adorno in einem immer wieder zu initiierenden spontanen, identitätsbildenden Befreiungsakt zu begegnen sucht, der sich dabei aber wiederum der Rezeption durch das „eigene“ Ich, damit zugleich aber seiner Subsumtion unter die schlechte Allgemeinheit – von der er sich abzuheben suchte – aussetzt: die Konstruktion des Vollkommenen, ganz Anderen, in Ansehung seiner selbst als eines Resultats führt zur Anschauung eines neuen Fremden. (Die Ausweglosigkeit künstlerischer Produktion, die bei sich bleiben und der Gefahr des sie vorgeblich neutralisierenden „Vernommenwerdens“ entrinnen will, hat ihren Niederschlag in Thomas Bernhards Bild vom Autor gefunden, der sein Leben lang mit der Abfassung eines Buches beschäftigt ist und jede Zeile unverzüglich vernichtet.)47
Die Einseitigkeit der Ansätze Adornos und Jauß’ mündet in die Herausforderung, aus dem wissenschaftstheoretischen Vorfeld zu einem konkreten literarischen Beispiel vorzudringen und die These, daß Literatur, über ihre Rezeptionsbedingungen und Verwertungsprozesse hinaus, nicht nur einstrahlig wirkt und rezipiert wird, sondern Rezeptionsbedingungen selbst konstituiert und durch diese zugleich bestimmt wird, an einem lebendigen Prozeßteil moderner Literatur zu verifizieren.
Das Beispiel Günter Eich mag nicht als typisch, wohl aber als stellvertretend für eine Literatur dargestellt werden, die ihre Anfänge in eine Zeit weit vor dem zweiten Weltkrieg datiert, die aber erst mit dem Ende des Dritten Reiches und dem Beginn des Wiederaufbaues in der Bundesrepublik Deutschland an Bedeutung gewinnt und öffentlich rezipiert wird. Günter Eich war einer der ersten, die nach dem Krieg ihre Stimme wieder erhoben, er zählt zu jener Generation des „Kahlschlags“;48 aber anders als Wolfgang Borchert49 hat er sich nicht mehr am expressionistischen Wunschtraum vom „neuen Menschen“ orientiert, hat nicht mit Pathos und Selbstmitleid auf seine Situation reagiert, sondern versucht, jegliches Ideologische aus seinen Gedichten auszuschalten und sich kommentarlos an dem zu orientieren was ihn an Gegenständen umgab. Günter Eich hat 1970 seinen letzten Band mit Kurzprosa veröffentlicht, in dem er sich kein literarisches Denkmal aufpoliert,50 sondern mit gänzlich neuen Formen der literarischen Diskussion stellt.
Günter Eich war eines der ersten Mitglieder der Gruppe 47, ihr erster Preisträger, und er hat auf der bisher letzten Tagung der Gruppe im Herbst 1967 seine neuen Prosastücke „Maulwürfe“ vorgetragen. Günter Eichs Wirken ist ein Faktor in dem westdeutschen Literaturgeschehen von seinen Anfängen der Nachkriegszeit an bis in die aktuelle Situation hinein. Und die Bedeutung Günter Eichs für die Entwicklung der deutschen Literatur in dieser Epoche wird von der literarischen Kritik wie von literaturhistorischer Seite immer wieder hervorgehoben.
Die Wahl Günter Eichs für die historische Entfaltung des Verhältnisses von lyrischem Werk und Rezeption innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Situation legitimiert sich in dem Verständnis vom Lyriker, der vom ersten Augenblick einer deutschen Nachkriegsliteratur an aktiv im literarischen Leben stand; der stets dem Gedicht als fertiger Form ein Mehr als nur das Sinnlich-Konkrete, ein Moment des über es Hinausweisens, ein Transzendentes zumaß; der sich trotzdem nicht dem Esoterischen zuwandte; dessen Werk sowohl starke traditionelle Konstanten als auch deutliche Veränderungen aufweist, die sich in kritischer Analyse zur Diagnose ihres historischen Stellenwertes eignen, und an deren Rezeption wiederum das gesellschaftliche wissenschaftliche Interesse von Kritikern und Literaturwissenschaftlern deutlich zu machen ist. Da es bisher in der Germanistik nur in Einzelfällen gelungen ist, die zeitgenössische Literatur auf einen kritischen Begriff zu bringen, soll hier an dem Beispiel der Lyrik eines anerkannten Autors versucht werden, die Vermittlung von künstlerischem Werk und Wiedergabe in der Rezeption und Verwertung im kulturellen Bereich darzustellen. Wobei die Intention dieser Arbeit nicht allein auf die Analyse der Rezeption zielt, sondern auch die Interpretation des Werkes mit einbezieht. Denn es soll nicht die Aufgabe dieser Überlegungen sein, das künstlerische Produkt nur noch als Explikationsobjekt für außerhalb von ihm liegende Phänomene zu machen. Es kann jedoch genausowenig in seinen konkret gesellschaftlichen Bedingungen abgelöst werden, von den Medien seiner Verbreitung und den Kategorien, durch deren Vermittlung es ja jeweils erst den Leser trifft.51
Günter Eich gehört nicht zu jener Gruppe von Lyrikern, die aus einem theoretischen, ästhetischen Konzept heraus schreiben und deren Überlegungen notwendigerweise zum Verständnis des Werkes hinzugezogen werden müssen.52 Ob sie sich progressiv mit ihrer historischen Situation auseinandersetzt oder ob sie ihr nach rückwärts, in die Vergangenheit gewandt, flieht, muß seine Lyrik am konkreten Beispiel erweisen.53 Die Rezeption wird zeigen, ob sie, in ihren besten Stimmen zumindest, den historischen Anspruch des Werkes annimmt und erkennt, oder ob sie sich, ablehnend oder auch durch falsches Bewußtsein interpretierend lobend, diesen verkennt. Die gesellschaftliche Verwertungspraxis liebt es, alle Werke, die Konflikte provozieren könnten und damit progressiv zur Wirkung kämen, durch lückenlose Interpretation und Einordnung in Gattungen und Traditionen von ihrer Problematik zu lösen und in den Zustand der verharmlosenden Kommensurabilität zu überführen.
Ähnliches ist auch Günter Eich widerfahren, der durch die öffentliche Hochachtung, die ihm schon früh in Form von Preisen54 entgegengebracht wurde, seine Werke bald dem Zugriff schlechter Liebhaber und Interpreten preisgegeben sah. Konfliktlos konnten sie in jede Art von Anthologie einziehn, die unter programmatischen Titeln das ihnen Eigene nivellierten.55
Schließlich aber muß die eigene Position, die veränderte Haltung gegenüber dem geschichtlich Vergangenen reflektiert werden, damit wirklich die aktuelle Situation im Erkennen des Vorangegangenen zur Darstellung gebracht wird und die allgemeine Problematik von Ästhetik und Kommunikation heute in das Blickfeld gerückt wird.

Susanne Müller-Hanpft, Vorwort

Schlußbemerkung

Am Beispiel Günter Eichs konnte das Verhältnis von Lyrik und Lyrikrezeption weit über den konkreten Rahmen hinaus analysiert und in seiner historischen Dimension angedeutet werden. Nach einer frühen Schaffensperiode vor 1933, für die keine Rezensionen belegt werden konnten und in der Günter Eich nach eigenen Aussagen „völlig unbekannt“56 war, prägte Eich nach dem Krieg die deutsche Literatur und die Maßstäbe ihrer Kritik von Anfang an entscheidend mit. Seine Gefangenengedichte schlugen die Brücke zu Hans Werner Richter, durch dessen Bekanntschaft er zu einem der frühesten Mitglieder der Gruppe 47 wurde, die als wichtigste literarische Vereinigung der Nachkriegszeit angesehen werden muß und von der Publizistik, besonders auch im Ausland, angesehen wird. Durch den frühen Ruhm seiner Hörspiele und zahlreiche literarische Preise erwarb Eich „Vertrauen“. Die Rezensionen zu seinen Arbeiten stammen, auch schon in den früheren Jahren, von angesehenen, bekannten Schriftstellern und Kritikern. Deren literaturtheoretische Diskussion findet auch in den Reaktionen auf die Werke Günter Eichs statt. Es war daher gerechtfertigt, die einzelnen Kapitel dieser Arbeit als historische Abschnitte zu kennzeichnen, die sich in ihrer Bedeutung nicht auf Eich allein beziehen.
Die Literatur der frühesten Nachkriegsphase, die mit „Kahlschlag und Inventur“ gekennzeichnet wurde, hat ihre wesentliche Prägung durch Eich erfahren. Mit seinem Gedicht „Inventur“ wurde er zum Exponenten einer literarischen Richtung, die die überlieferte Sprache von allem Ballast reinigen wollte. Heute läßt sich absehen, daß von dem angestrebten ästhetischen Neubeginn nach dem zweiten Weltkrieg kaum mehr als das Gedicht „Inventur“ selbst übriggeblieben ist, das durch seine kommentarlose Verknüpfung der banalsten Gegenstände der auswegslosen Verdinglichung formal adäquat Ausdruck verleiht.
Auch dieses Gedicht ist jedoch bereits literarisch vermittelt. Die ersten ausführlichen Rezensionen zu Günter Eich sind im Umkreis des „Jargon der Eigentlichkeit“ geschrieben. Sie prägen entscheidend das Image, das Günter Eich noch bis zum heutigen Zeitpunkt anhaftet, weil verkürzte Formeln ohne Überprüfung ihres Kontextes immer weiter überliefert wurden. Während seinen Kritikern die Diskussion über die magische Kraft von Dichtung, echte Aussagen und Kunsthandwerk vorrangig ist, reagiert Eich auf seine Zeit mit dem „totalen Ideologieverdacht“. Seinen Auftrag als Dichter sieht er in dem Gedicht, das er der Gesellschaft als Alternative gegenüberstellt, das die verlorengegangene, durch gesellschaftliche Ideologien verstellte Wirklichkeit wieder herstellen soll. Er fordert das Mißtrauen gegen alle etablierten Zustände und die Wachsamkeit gegenüber den kleinsten Erscheinungen. Der Wert eines Gedichtes bestimmt sich für Eich in dem Maße, in dem es sich jeder gesellschaftlichen Vereinnahmung entzieht. Sein totaler Verdacht ist historisch aus den Erfahrungen des Dritten Reiches zu erklären. Er charakterisiert eine Literatur, die umschattet war von der Erinnerung an unbeschreibbare Grausamkeit und die in beharrlicher Suggestion auf das Geschehene aufmerksam machen und eine Wiederholung verhindern will. Die Rezeption hat diese Dimension im Schaffen Eichs jahrelang mißachtet und sich stattdessen auf das rein Dichterische beschränkt. Diese Interpretation verweigerten die Gedichte Eichs nicht, da sie mit einem hohen artifiziellen Anspruch auftraten und „Schönheit“ selbst im kruden Gehalt verkörperten. Allerdings reagiert Eich auf die Negierung der kritischen Dimension seines Werkes mit immer spröderen Gedichten, die kompromißlos seine Verweigerungshaltung vortragen. Doch auch sie werden von der Gesellschaft, der sie gelten, in den Bereich der reinen Kultur abgedrängt und nicht als Beitrag zu ihrer eigenen politischen und psychologischen Lage gewertet.
Die Literaturwissenschaft, die sich zögernd mit der zeitgenössischen Lyrik befaßt, steht lange Jahre unter dem starken Einfluß der „Poetik“ Gottfried Benns.57 Seine Kriterien werden auch Eichs Lyrik angetragen. Wichtig daraus wird der hieroglyphische Charakter der Gedichte, das „reine“ Wort, das sich artikuliert, der Vorrang des Formalen und das gänzliche Zurückdrängen des Inhalts. Eich gilt allgemein als ein Dichter, dessen Lyrik dem Anspruch Benns entspricht. Seine gesellschaftspolitischen Verse werden in dieser Interpretation als bloße formale Partikel gesehen und geraten unter die Forderung nach faszinierender Montage, einer Forderung, der Eich zunächst zumindest vordergründig nachkam. Das wissenschaftstheoretische Gebäude der Literaturwissenschaftler dieser Ausrichtung begreift keine Reaktion auf Wirklichkeit mit ein. Die Chiffren und Hieroglyphen der Dichtung werden nicht als Antwort und Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität interpretiert.
Um die Mitte der sechziger Jahre wird die Forderung nach zeitkritischem Engagement auch für die Lyrik dezidiert gestellt. Die Auseinandersetzung darüber, ob Lyrik in den gesellschaftlichen Prozeß eingreifen kann und muß, ist in den Rezensionen über die letzten Gedichte Günter Eichs ablesbar. Parallel zu den Unruhen unter der kritischen Intelligenz und der Studentenschaft erreicht auch die literarische Diskussion Ende der sechziger Jahre einen Stand, an dem Dichtung nicht mehr selbstverständlich ist, sondern wo sie, sofern sie sich als Bestandteil dieser Diskussion begreift, ihr Existenzrecht mit literarischen Mitteln begründet. Eichs „Maulwürfe“ sind Zeugnisse eines Prozesses von Selbstreflexion und gesellschaftlichem Legitimationszwang. Sie beziehen mit dieser Haltung sowohl die eigenen Bestrebungen in den früheren Epochen als auch die Reaktionen, die sie ausgelöst haben, mit ein. Gleichzeitig reflektieren sie ihre eigenen Rezeptionsbedingungen im voraus und versuchen die „Verunsicherung“ des Lesers, die es unmöglich machen soll, die „Maulwürfe“ als geschlossene künstlerische Form zu begreifen. Allerdings treffen die Maulwürfe auf eine Kritik, die ihrerseits die Verunsicherung bewußt zum ästhetischen Kriterium gemacht hat und die die „Maulwürfe“ deshalb interessiert aufnimmt. So wird in vielen Fällen „ Verunsicherung“ zum formalen Argument. Sie wird jedoch auch von Kritikern wie Böll und Baumgart (u.a.) inhaltlich gedeutet und in ihrem historischen Kontext den Werken adäquat als Kategorie angelegt. Ihre Interpretationen können als ein Beispiel von Kritik stehen, die dem Wahrheitsgehalt der Werke dient und ihn nicht verdeckt. Denn die Werke bedürfen der Rezeption, die ihren Prozeßcharakter bestimmt und die zum Schauplatz der historischen Bewegung der Werke an sich wird und ihnen durch über sie hinausreichende Überlegungen neue Kräfte und Impulse zuführen kann.
Die „Maulwürfe“ kennzeichnen nicht nur den Abschluß einer Schaffensperiode Eichs, sondern vielleicht einer literarischen Epoche in Deutschland. Sie waren das spektakuläre Ereignis der letzten Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1967; ihre Rezeption verdeutlicht exemplarisch den Wandel der literaturtheoretischen Begriffe.
Die Untersuchungen über das Verhältnis des Schreibens und der Rezeptionsbedingungen für Lyrik am Beispiel Günter Eichs konnten sich nur auf schriftliche Reaktionen stützen. Dadurch wurde der Rezeptionsradius von vorneherein auf eine Gruppe von professionellen Kritikern, Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern eingeengt. Empirische Daten über Leseranalysen (Statistiken, Meinungsumfragen, Verkaufszahlen usw.) standen dieser Arbeit nicht zur Verfügung.
Die Bedingungen, unter denen die Rezeption und Kritik stattfand, konnten nur in allgemeinen historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen angedeutet, nicht aber für jeden Einzelfall streng empirisch abgeleitet und belegt werden.
Als Ergebnis der Untersuchung stellt sich heraus, daß die Rezeption, die durch Texte eingebracht werden konnte, keine unmittelbare Kommunikation mit dem literarischen Werk herstellte, sondern daß sie entscheidend durch das Bewußtsein und die durch Bildung vermittelten Kategorien der etablierten Kritik und Wissenschaft geprägt wurde. Ihre Aufnahme ist durch den kulturindustriellen Markt bedingt, der wiederum für die politisch-historischen Zusammenhänge kennzeichnend ist.
Diese Bedingtheit ist wechselseitig, denn die Kritik ist sowohl abhängig von diesem Kulturbetrieb wie sie ihn gleichzeitig mit konstituiert.
Ihre neutralisierende Funktion, die eingliedernde Verwertung auch der sprödesten und oppositionellen Werke mußte gerade die Stellen einebnen, die sowohl in ihrer objektiven Gestalt als auch in der Intention des Autors eine Verweigerungshaltung gegenüber der Verwertung und Einfügung in das Gesellschaftssystem einnehmen. Gegen die Verfestigung einer eindeutig definierten Größe: „Günter Eich“ wendet sich der Autor in seiner Literatur, am prägnantesten in der Form der „Maulwürfe“. Die Rezeption wurde für den reflektierenden Autor zum Konstituens seiner neuen Produktion. Neue literarische Formen – das konnte an dieser Arbeit verdeutlicht werden – sind nicht autonome Individualentwicklungen, sondern stehen in Interdependenz zu ihrer gesellschaftlichen Aufnahme.
Das Bewußtsein von diesen Zusammenhängen wird von immer mehr Künstlern in ihren Arbeiten – der bildenden Kunst und der Literatur – objektiviert; allerdings gibt es manche, die sich in diesen Verwendungszusammenhang einfügen um größere Publikumserfolge zu erringen und ihre Produktion nach den Maßstäben der Kritik ausrichten.58 In dieser Arbeit wurden die linguistischen Versuche, Gesetze ästhetischer Rezeption herzustellen, nicht berücksichtigt. Ihre Untersuchungen59 führten für den hier angesprochenen Zusammenhang nicht weiter. Vielleicht werden sie in einem späteren Stadium die Bedingungen ästhetischer Kommunikativität von der Poetizität der Sprache her erklären und diese Ergebnisse in den historischen Rahmen einpassen, de, hie, angedeutet wurde, )

Susanne Müller-Hanpft, Nachwort

 

Inhalt

Vorbemerkung
Problematik und Zielsetzung

Die Voraussetzungen Günter Eichs und ihre Interpretationen
– Literarische Tradition

Kahlschlag und Inventur
– Die erste Phase der Nachkriegskritik: Bodenständigkeit und „Jargon der Eigentlichkeit“

Ideologieverdacht und verwaltete Welt
– Das Selbstverständnis Günter Eichs
– Die Reaktionen auf die ersten Hörspiele Günter Eichs
– Die Rezeption Günter Eichs im Zusammenhang mit der Stellung der Gruppe 47
– Botschaften des Regens – Gedichte der Verweigerung
– Die liberale Kritik der fünfziger Jahre – begriffslose Paraphrase und Einfühlung
– Die Literaturwissenschaft im Banne Gottfried Benns

Agonie und Verstummen
– Der totale Pessimismus – die Gedichte aus Zu den Akten und Anlässe und Steingärten
– Exkurs: Die Diskussion des Gedichtes „Nachhut“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
– Die Reaktionen auf die Sammlungen Zu den Akten und Anlässe und Steingärten. Kontroverse zwischen lakonischer Poesie und zeitkritischem Engagement
– Monographische Darstellungen in der Literaturwissenschaft Exkurs: Die Behandlung Günter Eichs im Schulbuch

Selbstreflexion und Legitimationszwang
– Vom „Dogmatischen über Gedichte“ bis zum „Kranz für die Literatur“
– Das Ereignis „Maulwürfe“. Erwartung und Rezeption
– Die Maulwürfe – künstlerische Form philosophischen Denkens

Schlußbemerkung

Bibliographie

 

 

(…)

Beide Fragestellungen, die der Poetik und die der Literaturgeschichte, sind eng verbunden. Mit verschiedenen Methoden, wie sie den Standpunkten und dem Temperament der Mitarbeiter entsprechen, wird die Schreibart von Autoren untersucht. Sie läßt erkennen, wodurch Literatur ausgelöst wird, welche Gestalt sie hat, wie sie wirkt. Dem Perspektivenreichtum oder der Festgelegtheit literarischer Zeichensysteme und – in Verbindung damit – der sich verändernden Rezeption von Literaturdokumenten gilt das Hauptaugenmerk.
Die hier erscheinenden Arbeiten sollen daher nicht nur für das einzelne literarische Produkt Verständnis zeigen, sondern auch für den literarischen Prozeß, der durch die einzelnen Werke in Gang kommt. Diese erweisen sich dabei in ihrem Kunstentwurf weder als bloße Abbilder der Wirklichkeit, noch lediglich als Belegstücke für geistesgeschichtliche oder gesellschaftliche Entwicklungen.
Ein großer Teil der Veröffentlichungen in der Reihe Literatur als Kunst stammt von Verfassern, die zugleich als Literaturkritiker, Essayisten, Lyriker, Romanciers tätig sind und die schon deshalb besonderes Verständnis für die Schreibart von Autoren und für den literarischen Prozeß aufbringen und vermitteln können.
Hier hat sich ein Literaturbegriff zu bewähren, der den schmalen Kanon ausgewählter Werke der Weltliteratur hinter sich läßt. Er fächert sich weiter auf. Er reicht von mündlich überlieferter Literatur bis zu gegenwärtigen experimentellen Schreibversuchen.

Carl Hanser Verlag, Klappentext, 1972

 

 

 

Dichterlesung am 1.1.1959 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. Moderation: Siegfried Unseld. Günter Eich liest die Gedichte „Herrenchiemsee“, „Himbeerranken“, „D-Zug München-Frankfurt“ und „Wo ich wohne“ sowie zwei Szenen aus seinem Hörspiel Unter Wasser.

Samuel Moser: Welt der Literatur – Mir klingt das Ohr – doch wer kann mich meinen? Ein Porträt des Dichters Günter Eich.

Ein geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr – Ein Gespräch von Michael Braun mit dem Lyriker Jürgen Nendza. Über Günter Eich, die Vokabel „und“ und über Gedichte zwischen „Haut und Serpentine“

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Günter Eich

Kurt Drawert: Er hatte seine Hoffnung auf Deserteure gesetzt

Am Rande der Welt Roland Berbig im Gespräch mit Michael Braun über den Briefwechsel von Günter Eich mit Rainer Brambach

 

 

Zum 60. Geburtstag von Günter Eich:

Jürgen P. Wallmann: Zum 60. Geburtstag von Günter Eich
Die Tat, 26.1.1967

Zum 65. Geburtstag von Günter Eich:

Jürgen P. Wallmann: Auf der Suche nach dem Urtext
Die Tat, 28.1.1972

Zum 70. Geburtstag von Günter Eich:

Johannes Poethen: Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit
Die Tat, 28.1.1977

Zum 80. Geburtstag von Günter Eich:

Eva-Maria Lenz: Erhellende Träume
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1987

Rudolf Käser: … das Zeitliche habe er nicht gesegnet
Neue Zürcher Zeitung, 29.1.1987

Zum 20. Todestag von Günter Eich:

Peter M Graf.: Singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet
Der kleine Bund, Bern, 19.12.1992

Götz-Dietrich Schmedes / Hans-Jürgen Krug: Das Wort in ständigem Wechsel mit dem Schweigen
Frankfurter Rundschau, 19.12.1992

Zum 100. Geburtstag von Günter Eich:

Christoph Janacs: Sand sein, nicht Öl im Getriebe
Die Presse, 27.1.2007

Roland Berbig: Maulwurf im Steingarten
Der Tagesspiegel, 1.2.2007

Helmut Böttiger: Stil ist ein Explosivstoff
Süddeutsche Zeitung, 1.2.2007

Michael Braun: Narr auf verlorenem Posten
Basler Zeitung, 1.2.2007

Ole Frahm: Der Konsequente
Frankfurter Rundschau, 1.2.2007

Martin Halter: Seid Sand im Getriebe!
Tages-Anzeiger, 1.2.2007

Samuel Moser: Spuren eines Maulwurfs
Neue Zürcher Zeitung, 1.2.2007

Iris Radisch:  Man sollte gleich später leben
Die Zeit, 1.2.2007

Sabine Rohlf: Dichtkunst mit Maulwürfen.
Berliner Zeitung, 1 2.2007

Hans-Dieter Schütt: Der linke Augenblick
Neues Deutschland, 1.2.2007

Wulf Segebrecht: Schweigt still von den Jägern
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2007

Jürgen P. Wallmann: Gedichte und Maulwürfe
Am Erker, 2007, Heft 53

Jörg Drews: Wenn die Welt zerbricht
Die Furche, 1.2.2007

Zum 50. Todestag von Günter Eich:

 

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Günter Eich – Ein Film von Michael Wolgensinger aus dem Jahr 1972.

„Deshalb ist er immer auf den Berg gegangen“. Mirjam Eich spricht hier mit Michael Braun und Jürgen Nendza u.a. über diesen Film.

 

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