IV. TOD DURCH WASSER
Phlebas der Phönizier, vierzehn Tage tot,
Vergaß den Möwenschrei, die Gischt, die Wogen
Und Gewinn und Verlust.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEin Meeresstrom
Nahm flüsternd seine Knochen. Wie er stieg und
aaaaasank,
Ging er durch die Lebensstufen, jung und alt,
In den Strudeln ein.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaHeid oder Jud,
Der du das Steuer drehst und windwärts schaust,
Denke an Phlebas, der einmal stattlich war und groß wie du.
T.S. Eliot liest The Waste Land
Alec Guinness liest The Waste Land
T.S. Eliot The Waste Land. Dokumentarfilm (1987)
Der Sommer 1921 war in England außergewöhnlich heiß und trocken. Sechs Monate lang, so lesen wir bei Eliots Biographen Peter Ackroyd, fiel kein Regen, und im August berichtete der Dichter in seiner Kolumne „Brief aus London“, die er für die New Yorker Zeitschrift The Dial verfaßte, von einer neuartigen Form der Grippe, die den Mund extrem austrocknet und einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterläßt. Diese Symptome stehen in auffälliger Übereinstimmung mit dem Zustand und der Thematik des literarischen Projekts, mit dem sich Eliot das ganze Jahr abmühte. Das Gedicht mit dem von Dickens inspirierten Arbeitstitel „He Do The Police in Different Voices“ – Er spielt Polizei mit verschiedenen Stimmen – lag brach, und auch im Mai, während des Kuraufenthalts seiner Frau Vivien, die an nervösen Erschöpfungszuständen litt, hatte er keine Ruhe gefunden. Seine eigene Depression wurde durch hektische Aktivitäten, die der Finanzierung einer neue Zeitschrift galten und ihm dazu verhelfen sollten, die aufreibende Arbeit als Bankangestellter aufzugeben, nur verdeckt. In dieser Zeit des großen Darbens fällt die Genese seines einzigartigen, aus lauter Bruchstücken komponierten Gesangs von einer Leib, Seele und Geist umfassenden Trockenheit, in dem sich das 20. Jahrhundert wiedererkannte, während er selbst ihn als „privaten und ganz belanglosen Grant gegen das Leben“, als „lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei“ verstanden wissen wollte. The Waste Land: Ein Hoheslied der Bitternis, mit trockener Kehle verfaßt…
Norbert Hummelt, Aus dem Nachwort, März 2008
haben mir die Ehre angetan, das Gedicht als Kritik an der Gegenwart zu interpretieren, und haben sogar eine gehörige Portion Gesellschaftskritik hineingelesen. Für mich war es nur das Ventil für einen privaten und ganz belanglosen Grant gegen das Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei.“ So wehrt ein Autor, ebenso verständlich wie unangemessen und vergebens, den Ruhm ab, mit dem er für ebendieses Gedicht, The Waste Land, überhäuft worden ist.
The Waste Land (erschienen 1922) ist das Langgedicht des 20. Jahrhunderts, jedenfalls das mit der größten Wirkung in der westlichen Welt. Ein Blick in Norbert Hummelts schwungvoll rhythmische, „direkte“ Neuübertragung und das Original macht ohne weiteres verständlich, warum.
Der puritanischen Traditionslinie der amerikanischen Literatur – über Emerson, Thoreau, Dickinson und Whitman – folgend, bezieht Eliots bewußt fragmentarisch gehaltenes Krisengedicht den Leser geradezu szenisch mit ein. Es läßt ihn mitarbeiten, innehalten, überlegen: Selbsterforschung – des Lesers mehr als des Sprechenden – ist gefragt. Auch dies hat Das öde Land über all die Jahre hinweg lebendig gehalten.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2008
– Anmerkungen zur Neuübersetzung von The Waste Land. –
I can only repeat, but with the urgency of fifty years ago: READ HIM.
Ezra Pound
In ihrer lesenswerten Einführung zu einer amerikanischen T.S. Eliot-Ausgabe (The Waste Land and Other Writings, The Modern Library, New York 2001) zitiert die Lyrikerin und Essayistin Mary Karr das bekannte Diktum von William Carlos Williams, wonach das Erscheinen von Eliots The Waste Land 1922 die alte Welt ausradiert habe wie der Abwurf einer Atombombe. Sie selbst vergleicht – kaum weniger martialisch – die einschneidende Wirkung des Gedichts auf die Tradition mit einem Axthieb, der mit den Resten spätromantischer und viktorianischer Beschaulichkeit in der englischen Lyrik aufgeräumt habe.
Solche gewaltsam auftrumpfenden Vergleiche laufen auf ein Mißverständnis hinaus, das sehr verbreitet ist und meist damit einhergeht, daß man den Modernisten des Frühwerks um so radikaler darstellt, je mehr man den konservativen Konvertiten des Spätwerks kopfschüttelnd abtun möchte.
Aus meiner Sicht gehören The Waste Land und die Four Quartets jedoch ebenso zusammen wie Früh- und Spätromantik in der deutschen Literatur: Ohne die radikalen Fragen, die sich aus den gewaltsamen Umbrüchen (Revolution, Weltkrieg) ergeben, sind die modifizierten späteren Antworten nicht zu verstehen, und eine geistige Haltung, die den Bruch, das Chaos, das Fragmentarische perpetuieren möchte, verkennt die Not, aus der heraus einer spricht, der vor einem „Haufen zerbrochener Bilder“ steht. Er will nichts ausradieren, sondern sucht verzweifelt nach den alten Zusammenhängen.
Als Eliot The Waste Land schrieb, befand er sich in einem quälenden Zustand innerer Zerrüttung, die Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien, die im dritten Teil des Gedichts genannt werden, halfen ihm nicht, sich neu zusammenzusetzen. In diesem Zustand war er nicht in der Lage, das Gedicht zu vollenden, für das er seit Jahren Bruchstücke anhäufte. Er schickte das Manuskript an Ezra Pound, dessen genialem, radikal kürzendem Lektorat wir das fertige Fragment zu verdanken haben, die aufreizende Gestalt dieses diskontinuierlichen, deutungsoffenen Gesangs, der in jedem Lese-Akt neu verwirklicht und komponiert werden muß.
Mary Karr bemerkt zu Recht, daß die literarischen Techniken, die Eliot in The Waste Land erstmals anwendet, denen entsprechen, die in den zeitgenössischen Medien omnipräsent sind: Anspielung und Ironie, Selbstironie und die Vorliebe für das Schräge. Karr zieht den Sarkasmus eines David Letterman (das deutsche Äquivalent wäre Harald Schmidt), die erotische Ironie der Fotografien von Cindy Sherman oder die nichtlinearen Sprünge in Quentin Tarantinos Pulp Fiction als Vergleich heran. Zur Beschreibung der Tiefenwirkung, die The Waste Land auf sie hatte, zieht Karr allerdings einen Vergleich heran, der bar jeder aktuellen Entsprechung ist: Sie vergleicht die Lektüre mit dem Wunder der Kommunion, begreift das Dichterwort als Eucharistie, die denjenigen verwandelt, der sie einnimmt, kraft seiner Teilhabe am geheimnisvollen Leiden eines anderen.
Hat der Dichter für uns gelitten? Ich halte das kaum für übertrieben. Auch für Ted Hughes war dieser Eliot ein großer Schamane, einer, der die Leiden seines Stammes stellvertretend auf sich nimmt. In seinem programmatischen Essay „Tradition and the Individual Talent“ schreibt Eliot:
Dichtung setzt nicht Gefühle frei, sie ist eine Flucht vor Gefühlen; sie ist nicht persönlicher Ausdruck, sondern eine Flucht vor dem Persönlichen. Allerdings, nur wer über Persönlichkeit und Gefühle verfügt, weiß, was es heißt, davor fliehen zu wollen.
Kein anderes Gedicht, das ich kenne, hält die Wunden einer solchen Selbstverletzung derart frisch; es macht seine Leser zu Stigmatisierten.
The Waste Land irgendwann einmal neu ins Deutsche zu bringen, war seit langem mein Wunsch. Anders als bei meiner Übertragung der Four Quartets (vollständig abgedruckt im Schreibheft 66/2006), an der ich immer wieder unregelmäßig und über einen Zeitraum von zehn Jahren gearbeitet hatte – teils, um mir die späte Dichtung Eliots auf diese Weise zu erschließen, teils um damit Stauungen im eigenen Schreiben zu durchbrechen –, nahm ich dieses Projekt jedoch lange nicht in Angriff. Das lag vor allem an der Begeisterung für das Original, dessen schierer Klang in einer anderen Sprache nicht erreichbar ist und den ich nicht zuletzt durch das häufige Hören der mitreißenden Aufnahmen der schamanenhaften, monoton insistierenden Stimme des Dichters derart in mich aufgenommen hatte, wie es sonst nur mit besonders geliebter Musik geschieht, von der man sich keine Neueinspielung wünscht, weil man sie für perfekt hält.
Andererseits wurde meine Unzufriedenheit mit der durch die zweisprachige Suhrkamp-Ausgabe verbreiteten deutschen Waste Land Übersetzung Eva Hesses mit der Zeit nicht geringer, und je öfter ich diese Ausgabe zur Hand nahm, desto häufiger stellte sich ein übersetzerischer Reflex ein – zu zahlreich die Stellen, die im direkten Vergleich mit dem englischen Original nach einer anderen, fast immer nach der schlichteren, direkteren Variante verlangten, die sich nicht selten in der älteren Übersetzung durch E.R. Curtius auch fand. Diese trägt freilich, wie fast jede Lyrikübersetzung, an der seither vergangenen Zeit.
Angestoßen wurde meine Neuübersetzung von Eliots Jahrhundertgedicht letztlich von außen. Eine Ausschreibung des Literaturhauses Bremen für ein im Internet zu realisierendes literarisches Projekt weckte Anfang 2007 mein Interesse. Während mir die Arbeit an eigenen Gedichten unter Zeitdruck und ihre kurzfristige Einstellung in ein Diskussionsforum nicht geeignet erschienen, ließ sich ein übersetzerisches Vorhaben unter diesen Umständen eher angehen. Die Wahl des Textes war sofort klar – was sollte es sein, wenn nicht The Waste Land, und wann sollte ich dieses Gedicht übersetzen, wenn nicht jetzt? Meine Bewerbung wurde angenommen, und so erstellte ich von Anfang September bis Ende November 2007 in zwölf wöchentlichen Lieferungen, die jeweils montags unter www.literaturhaus-bremen.de ins Netz gestellt wurden, die jetzt vorliegende Neuübersetzung.
Norbert Hummelt, Schreibheft, Heft 70, April 2008
– Anmerkungen zur Neuübertragung von The Waste Land durch N. Hummelt. –
Bei Suhrkamp war Das wüste Land in der Übersetzung von R. Curtius verlegt und im selben Verlag liegt nun der berühmte Text T.S. Eliots in der Neuübertragung durch N. Hummelt vor.
Hummelt verweist in seinem Nachwort auf Curtius’ Übersetzung genauso wie auch auf die spätere durch Eva Hesse und motiviert seine Neuübertragung durch den „Eintrag“ der „Zeit und der veränderten Lebens- und Geisteswelt“, der eine Übersetzung prägt.
Übersetzen ist vielleicht zum Wenigsten die Übertragung eines Textes aus einer Sprache in eine andere. Es bedeutet, einen Text aus einen bestimmten, kulturell-gesellschaftlich und auch historisch gegebenen System von Bezügen eines Sprach- und Kulturraums in ein adäquates System eines wenn nicht unbedingt anderen, völlig verschiedenen Kulturraums, so doch eines anderen Sprachraums zu übertragen, und zwar so, dass die ursprünglichen bestehenden Bezüge in dem neuen sprachlichen Zusammenhang erkennbar bleiben. H. Rowohlt soll konsequenterweise bei einer Übersetzung aus dem Englischen die Bezugnahmen auf ein im englischen Sprachraum sehr, im deutschen aber überhaupt nicht bekannten Kinderlied so „übersetzt“ haben, dass er das englische Kinderlied durch ein bekanntes deutsches „ersetzt“ hat. Dies erscheint als eine mutige, dennoch angemessene Lösung eines Übersetzungsproblems.
Es ist die Frage, wie weit ein Text „aktualisiert“ werden darf, aber ganz gewiss findet das seine Grenzen dort, wo offenbare, vom Autor gewollte Verbindungen zu einem bestehenden historischen oder wie auch immer gegebenen Kontext verwischt oder zum Verschwinden gebracht werden. Aktualität ist sicher ein wesentlicher Aspekt für den Zugang zu einem Text – was aber, wenn sich der Text selbst durch vielfaltige Verknüpfungen, Zitate, Denk- und Betrachtungsweisen mit einen solchen historischen Zusammenhang verbindet und jede Hermeneutik daran gebunden ist, das Sinnverstehen über diese Zusammenhänge zu suchen? Natürlich könnte man sagen, dass es in erster Linie um zeitübergreifende, überdauernde Einsichten oder Wahrheiten geht, die nicht notwendigerweise einer bestimmten Zeit verhaftet sind, aber die Frage ist doch, ob man in der Lage ist, diese überdauernde gültigen Bedeutungen zu erfassen, wenn ein Text nicht in seiner Zeit gesehen oder aus seiner Zeit heraus verstanden werden kann.
„Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin“, heißt es in der Bergpredigt. Der Bezug zur eigentlichen Bedeutung dieses Satzes (u.a. hatte F. Alt darauf hingewiesen) wird verschüttet, wenn er häufig – vielleicht auch im Sinne einer simplifizierten und unter einer gewissen Perspektive wünschenswerten Demutshaltung – als „Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin“ kolportiert wird. Warum es nicht egal ist, auf welche Wange zuerst geschlagen wird, und warum es erst recht nicht heißen kann „Wenn dich jemand auf die linke Wange schlägt, halte ihm auch die rechte hin“, kann einsichtig werden, wenn man sich vorstellt, wie bei zwei sich gegenüber stehenden Personen der jeweilige Vorgang konkret wird und wenn man gleichzeitig etwas über das Recht zur Zeit Christi weiß, sich klar macht, was es in einer antiken Gesellschaft, die Sklaven hielt und weit weg war von der Vorstellung der Gleichheit aller Menschen, bedeutet haben mag, auf die rechte oder die linke Wange geschlagen zu werden.
Vergleichbares gilt für viele Texte der modernen Literatur, und erst recht für The Waste Land. Wer dem heutigen Leser also zu einem besseren Verständnis eines Textes verhelfen will, muss sich fragen, wie weit eine Aktualisierung des Textes möglich ist, ohne Bezüge und Zugänge zur Sinnerschließung zu verschütten. Er wird sich auch fragen müssen, inwieweit er unabhängig davon dem Leser anderweitig „pädagogisch“ unter die Arme gegriffen hat, damit dieser sich solche Zugänge erschließen kann.
Hummelt hat im Anhang seiner Ausgabe die Verweise Eliots auf Zitate, Bezüge und Parallelen aus der Curtius-Ausgabe übernommen, stellenweise zusätzliche Übersetzungen aus dem Lateinischen oder Italienischen und eigene Anmerkungen angefügt. Aber er macht erstaunlicherweise wenig Anstrengungen, über das hinauszugehen, was Eliot für seine Zeitgenossen und Leser als notwendig angesehen hat, um beispielsweise einem heutigen Leser, dem vielleicht nicht klar ist, was er mit ,,430 Pervigilium Veneris. Cf. Philomela in Parts II and III“ anfangen soll, weiter zu helfen als ihm zu sagen, dass dies übersetzt „430 s. Pervigilium Veneris. Vgl. auch Philomela in Teil II und III des Öden Landes“ bedeutet.
Dazu kommt, dass er vor allem Shakespeare-Zitate wie andere Textstellen bei Eliot behandelt und sie quasi eigenhändig übersetzt. Er tut es vielleicht bewusst, bei andern Zitaten auch mit mehr oder weniger Konsequenz, aber immer mit Folgen für den Leser, die Sinntreue, die Lesbarkeit der Übertragung und die Möglichkeit, das von Eliot Gewollte oder Gemeinte zu erschließen. Das soll nicht heißen, dass ihm zuzutrauen wäre, dass er die klassischen Shakespeare-Übersetzungen ebenfalls für nicht mehr ganz zeitgemäß hält und dass er (käme es denn vor) „Something is rotten in the state of Denmark“ etwa mit „Es ist etwas verrottet im Staate Dänemark“ übersetzt hätte – was er jedoch an einigen, zugegebenermaßen nicht sehr zahlreichen Stellen tut, ist nicht weit davon entfernt. Er macht gleichsam Quellen, aus denen sich Eliots Gedicht unter andern speist, unkenntlicher und erschwert es damit, entsprechende Verbindungen zu erkennen.
Es mag auch sein, dass im Deutschen manches gar nicht oder Bekannteres in unterschiedlichen Übersetzungen vorliegt, so wie es etwa zur Äneide die von J.H. Voß oder von W. Plankl gibt oder zu Dantes göttlicher Kommödie solche von H. Gmelin, von Philaletes, von Streckfuß oder eben die von K. Vossler, die Hummelt benutzt. Wo aber – wie zu Shakespeare – Übertragungen vorliegen, die Grundlage des Zitierens in unserm Sprachraum geworden sind, erscheint es nicht nur unverständlich, wenn dies in einer Übersetzung nicht berücksichtigt wird; es schneidet den Leser von diesen Verbindungen ab und lässt ihn losgelöst davon Eindrücke gewinnen, die offenbar auch Eliot so nicht wollte – wozu hätte er sich sonst die Mühe gemacht, seine Verweise aufzulisten.
Man wird das dort etwas gelassen sehen können, wo der Bezug zu andern Werken und Literaturstellen noch erkennbar bleibt, so, wenn etwa die Zeile „By the waters of Leman I sat down and wept…“ als „An den Wassern des Genfersees setzte ich mich hin und weinte“ übertragen wird. Der Bezug zu Psalm 137 scheint sozusagen immer noch durch. Aber in deutschen Bibeln heißt es eben immer noch „wir saßen“ bzw. „saßen wir“ und nicht „setzten wir uns hin“ oder „hatten wir uns hingesetzt“. Demzufolge erscheint auch eine Übersetzung wie die von Curtius: „An den Wassern des Genfersees saß ich und weinte“ als die bessere.
An andern Stellen ist Hummelt nicht immer ganz konsequent. In Zeile 76 verwendet Eliot ein Zitat aus den Blumen des Bösen, nämlich die letzte Zeile des Gedichts „An den Leser“. Dort lauten die letzten beiden Zeilen:
Tu le connais, lecteur, ce monstre délicat
– Hypocrite lecteur, – mon semblable, – mon frère!
und Eliot schreibt:
You! hypocrite lecteur! – mon semblable, – mon frère!
verwendet also bewusst das fremdsprachige Zitat, und das sollte man eigentlich auch in der Übertragung in eine dritte Sprache berücksichtigen. Curtius tat das; bei ihm hieß es:
Du! Hypocrite lecteur! – mon semblable, – mon frère!
Hummelt aber überträgt:
You! Hypocrite lecteur! – mein Ebenbild, – mon frère!
und warum er gerade das „You!“ stehenlässt, dafür „mon semblable“ überträgt, „Hypocrite lecteur“ und „mon frère“ wieder nicht, erschließt sich kaum.
In Zeile 48 in „The burial of the Dead“ und Zeile 125 in „A Game of Chess“ heißt es im Original:
Those are pearls, that were his eyes
Curtius behielt das englische Zitat bei; Hummelt übersetzt „Perlen sind, was seine Augen waren“; das ist sicher nicht schlecht, zumal es auch den Wechsel von einer eher alltäglichen Sprechweise zur getragenen des Theaters widerspiegelt. Nun ist aber diese Stelle (Eliot verweist darauf) ein Zitat aus dem Lied des Ariel in Der Sturm und die im deutschen Sprachraum gebräuchliche und bekannte Stelle lautet bei v. Schlegel „Perlen sind die Augen sein“, (bei Wieland, der reimt, heißt es „Sein Gebein ward zu Corallen, / Zu Perlen seine Augen-Ballen“). Die Ariel-Szene erhält durch weitere Bezüge eine zentralere Bedeutung für Eliots Gedicht (wiederholte Anspielungen auf Inhalte dieser Szene finden sich in „The Fire Sermon“, wo es in 192–193 heißt
Musing upon the king my brother’s wreck
And on the king my father’s death before him
und in 258 mit „This Music crept by me upon the waters“.)
Zeile 174 am Ende von „A Game of Chess“ – und hier verweist Eliot in seinen Anmerkungen ausnahmsweise nicht darauf – ist mit „Good night, ladies, good night, sweet ladies, good night, good night“ ein Zitat aus Hamlet. Die Zeile wird mit den vorhergehenden und auch dem zuvor öfter wiederholten „HURRY UP PLEASE ITS TIME“, der in Pubs gebräuchlichen Mahnung an die Polizeistunde, zum Teil einer Verabschiedungsszene vor einer Kneipe. Bei Shakespeare handelt es sich aber um den Gruß, mit dem sich die arme Ophelia von der Königin und dem König verabschiedet, bevor sie in den Tod geht. Wieland und v. Schlegel übersetzen fast identisch und wörtlich. Hummelt übersetzt hier: „Gute Nacht, Mädels, gute Nacht, ihr Süßen, gute Nacht, gute Nacht“, und sicher gibt er damit eine Bedeutung wieder, die Eliot mit dieser Stelle unter anderem ebenfalls verbunden wissen wollte. Dadurch aber, dass nun jeglicher Bezug zu Hamlet getilgt ist, wird diese Stelle insgesamt zu einer recht flachen, wenn vielleicht auch mäßig amüsanten Verabschiedungsszene später Kneipenbesucher; sie verliert den Bezug zu Ophelia und damit auch die Tiefe, die für Eliot sicher an erster Stelle gestanden hat.
Hier erweisen sich die Gefahren, die aus Hummelts Vorgehen erwachsen, und die Frage stellt sich, ob er hier wie auch an den zuvor angesprochenen Stellen nicht besser daran getan hätte, die Originalsprache beizubehalten wie Curtius oder diese Zitate in strengerer Anlehnung an vorliegende, zum kulturellen Allgemeingut gewordene Übersetzungen des Hamlet zu übertragen, sie damit in größerer Transparenz der Zusammenhänge zu erhalten.
Ab Zeile 77, dem ersten Vers aus „A Game of Chess“, spielt Eliot auf eine Stelle in Antonius und Cleopatra an. Enobarbus berichtet dort über die Ankunft Cleopatras bei Antonius. Die Stelle lautet in der Übersetzung durch Graf Baudissin:
Die Bark, in der sie saß, ein Feuerthron
Brannt auf dem Strom. Getriebnes Gold der Spiegel,
die Purpursegel duftend…
Eliot passt die entsprechende Stelle an, indem er „barg“ durch „chair“ ersetzt, und im Weiteren – gleichsam analog zu Enobarbus – mit der Schilderung von Überfluss und Luxus zur Beschreibung der Eingangssituation für die folgende Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten – man mag sich vielleicht die reiche, verwöhnte Tante und ihren klugen, introvertierten Neffen vorstellen, der bei ihr die Ferien verbringt, oder auch eine Mutter und ihren Sohn – fortfährt. Bei ihm lautet die Stelle:
The chair, she sat in, like a burnished throne,
Glowed on the marble, where the glass
Held up by standards wrought with fruited wines
From which a golden Cupidon peeped out
…
Curtius hat diesen Bezug zu Shakespeare berücksichtigt und entsprechend übertragen
Der Sessel, drin sie saß, ein Strahlenthron,
Glomm auf dem Marmorboden, wie der Spiegel
Gestützt auf Schnitzwerk fruchtbeladner Reben,
Daraus ein goldener Cupido schaute
…
Es mag sein, dass man sich in dieser Lesart den Rahmen des Spiegels eher als etwas vergoldetes Hölzernes vorstellt, denn Schnitzwerk ist etwas anderes als etwas, was geschmiedet (wrought) wurde. Hummelt sieht das, aber er übersetzt dann:
Der Stuhl, auf dem sie saß, ein blankpolierter Thron,
Funkelte auf dem Marmorboden, wo der Spiegel,
Gestützt auf Ständer, schmiedeeisern, rebenüberrankt,
Aus welchem keck ein güldner Armor spähte
…
Nicht nur, dass er damit den Zugang zu entsprechenden Parallelen bei Shakespeare etwas verbaut, nicht nur, dass es nun funkelt, wo es eigentlich glimmen oder glühen müsste, und dass zugleich auch die Sprache etwas aus dem Takt gerät, es ist schon erstaunlich, dass jemand, der sonst so behutsam mit Worten umzugehen vermag, „der Stuhl, auf dem sie saß“ schreibt und sich dann auch im Bezug so vertut, dass der güldene Cupido nun nicht mehr aus dem Rankenwerk der Reben, sondern aus dem Spiegel selbst herausschaut. „Der Stuhl, auf dem sie saß“, das klingt nach einem hölzernen Küchenstuhl, nicht aber nach einem Stuhl in einer prachtvollen Umgebung, einem Stuhl, in dem man sitzt, wie es bei Eliot heißt, und der dann ein tieferer, bequemer und gepolsterter Stuhl oder eben ein Sessel wie bei Curtius zu sein hätte.
Von ähnlicher, nach Form und Konsequenz aber doch etwas anderer Problematik sind andere, mehr im Sinne der Aktualisierung und Anpassung zu sehende Stellen. Manchmal passt es ganz gut, etwa wenn bei Hummelt aus „My nerves are bad tonight“„Bin heute abend… mit den Nerven runter“ wird und Curtius noch etwas betulich von „Meine Nerven schmerzen heut abend“ gesprochen hatte oder wenn „It’s them pills I took, to bring it off“ mit „Das sind die Pillen, die ich schluckte, um es wegzumachen“ übertragen wird und so kann auch dies als Fortschritt gegenüber Curtius gesehen werden, der noch geschrieben hatte: „Die Pillen sind dran schuld, mit denen ich’s wegbrachte“. Hummelt ist so häufig etwas näher am Original, wo Eliot Alltagssprache verwendet oder gar karikiert.
Dennoch scheint Hummelt nicht immer ganz richtig zu liegen, denn es kommt gelegentlich vor, dass er sich in der Sprachebene oder auch sonst ein wenig vertut, manchmal selbst dort, wo er besser ist als Curtius.
Ab 127 steht bei Eliot die auf den ersten Blick nicht sehr leicht verständliche Stelle „But / O O O O that Shakespeherian Rag – / It’s so elegant / So intelligent“. Curtius hatte hier noch „Rag“ in der Bedeutung von „Lumpen, Fetzen“ gesehen, sich offenbar bei „Shakespeherian“ und der Großschreibung von „Rag“ nichts oder etwas Falsches gedacht und dann übersetzt „O O O O dieser Fetzen Shakespeare / Ist so…“. Hummelt dagegen ahnt, dass das so nicht stimmen kann, dass mit „Rag“ „Ragtime“ gemeint ist und entscheidet sich für die Aktualisierung durch „Groove“ (s. auch seine Anmerkung dazu); er überträgt (wohl des Reimes wegen „intelligent“ durch „interessant“ ersetzend) „O / No No No No Shakespeare hat den Groove / So elegant / So interessant“. Die nun auftretende Verneinung „O / No No…“ kommt dabei wohl dadurch zustande, dass er außer Acht lässt, dass das „But“, mit dem diese Stelle beginnt, nicht im Sinn einer Verneinung des Folgenden, sondern in Opposition zu der vorangehenden Frage „Is there nothing in your head?“ gesehen werden muss.
Tatsächlich jedoch – und das lässt sich etwa in dem von M. North herausgegebenen Band: The Waste Land – T.S. Eliot (W.W. Norton & Company, New York/London, 2001) nachlesen – bezieht sich Eliot auf einen in der damaligen Zeit populären Ragtime-Schlager mit einem einigermaßen blödsinnigen Text und einem Chor, der darin den Refrain „That Shakespearian rag, most intelligent, very elegant, that old classical drag…“ singt. Da die Rowohlt’sche Lösung hier versagt, dürfte die beste Art damit umzugehen wohl darin bestehen, die Stelle in Englisch zu belassen und mit einer Anmerkung zu versehen, vielleicht sogar „Shakes-pe-he-rian“ zu schreiben, um die Abstammung zu verdeutlichen.
294f. schreibt Eliot „Richmond and Kew undid me“. Hummelt übersetzt: „Richmond und Kew erschlugen mich“. „Undo“ hat u.a. die Bedeutung von „ruinieren, zunichte machen“ und war in 63 im Zitat aus der Göttlichen Kommödie für „hinraffen“ u.ä. verwendet worden. Insoweit erscheint es nicht falsch, so zu übertragen. Hier, in 294f. aber, geht es um etwas anderes. Hier wird offenbar – wie aus dem Zusammenhang hervorgeht – die Jungfräulichkeit der fiktiven Sprecherin „zunichte gemacht“ und Eliot verwendet das Wort hier in diesem zweiten Sinn, auch wenn es in Korrespondenz zur Zeile 63 gebraucht wird. Insoweit erschiene es sinnvoll, an beiden Stellen das Verb „verderben“ zu benutzen, weil es sowohl den jeweiligen Sinn als auch die Korrespondenz erhält. Curtius hatte offenbar wenigstens in 294f. den richtigen Sinn gesehen und „… verdarben mich“ übersetzt, aber in 63 geschrieben „Ich glaubte nicht, der Tod fälle so viele“, was auch aus andern Gründen nicht ganz befriedigend erscheint.
„A Game of Chess“, den Titel des zweiten Teils von Eliots Gedicht, überträgt Hummelt in „Eine Runde Schach“. Nun ist eine Runde Schach etwas relativ zwangloses, etwas, was man vielleicht zwischen Freunden spielt, aber die Spiele, um die es Eliot in diesem Kapitel geht, sind durchaus anderer Natur, von geradezu existenzieller Bedeutung. Man vergegenwärtige sich vielleicht die Stelle 113ff.: „Woran denkst du? Was denkst du? Was? / Ich weiß nie, woran du denkst. Los, denk!“ mit der (unausgesprochene) Antwort darauf „Ich denke, wir sind in der Rattenallee, / Wo die Toten ihre Knochen verloren“. Das ist keine Runde Schach mehr, es ist etwas Ernsteres und daher eher „eine Partie Schach“, von deren Ausgang Einiges abhängt.
„O the moon shone bright on Mrs. Porter / And her daughter / They wash their feet in soda water“ heißt es ab Zeile 200 in der Feuer-Predigt. Die letzte Zeile hiervon entstammt nach Inhalt und Tonfall eindeutig einem Kinderreim (wie sie im Deutschen von P. Rühmkorf in Über das Volksvermögen gesammelt worden sind) oder soll an solche Verse anklingen. Bestätigt wird das durch die nächste Zeile, die mit „Et O ces voix d’enfant, chantant dans la coupole!“, ein Zitat Verlaines und gleichzeitig auch ein nun ironisch gefärbter Hinweis auf die „reinen“ Stimmen der Kinder ist, die im Dom singen. Hummelt überträgt die fragliche Zeile mit „Sie tauchen ihre Füße in Sodawasser ein“, aber „tauchen… ein“ ist sicherlich kein Ausdruck, wie er in solchen Versen in Zusammenhang mit Füßen und Sodawasser vorkommen könnte. Sein Sprachgefühl scheint ihn auch dort verlassen zu haben, wo er in 14 „und der ist dann mit mir Schlitten gefahren“ übersetzt (Curtius weiß es kaum besser, bei ihm heißt es „fuhr er mit mir Schlitten“), in 52 aus dem einäugigen Kaufmann einen kaufmännischen Zyklopen, nämlich den „Kaufmann mit dem einen Auge“ macht, wo in 210f. Mr. Eugenides, der Kaufmann aus Smyrna, unrasiert, mit „einem Sack Korinthen“ statt „die Tasche voll Korinthen“ auftritt oder wo er in 379ff. „A woman drew her long black hair out tight / And fiddled whisper music on those strings…“ als „Zog eine Frau an ihren schwarzen Haaren / und fiedelte wispernd…“ überträgt.
Erhalten damit Textstellen einen Sinn, den Eliot so nicht intendiert hat, wirken Hummelts Neuerungen an andern Stellen manchmal auch fragwürdig, teilweise sogar etwas ruppig.
Ohne Not ändert er die mittlerweile auch auf deutsch berühmt und ebenfalls fast klassisch gewordene erste Zeile des Gedichts „April ist der grausamste Monat,…“ in „April ist der übelste Monat von allen,…“. „Cruel“ hat zwar unter anderm die Bedeutung von „entsetzlich“, „schrecklich“, aber nicht von „übel“, genauso wie „übel“ auf Englisch „bad“ oder sonstwas heißt, aber niemals „cruel“. In 40 wird aus „and I knew nothing“ bei Hummelt „und alles war weg“, was noch angehen mag, genauso, wenn er in 226 „combinations“ mit „Bodys“ übersetzt und in 251 den „Lover“ einfach als „Lover“ stehen lässt. Weniger klar ist, wie er von „Stockings, slippers, camisoles, and stays“, zu „Schlüpfer“, „Schluppen“, „Schlafanzügen“ „Korsett“ kommt. „Schluppen“ sind wohl „Schlappen“ oder Pantoffeln, aber „stockings“ sind keine Schlüpfer und „camisoles“ keine Schlafanzüge. Er macht in 43 aus „Madame Sosostris, famous clairvoyante“ „Madame Sosostris, Top-Wahrsagerin“, aus „the Typist“, dem jungen Ding, das gleich ein von Theiresias vorhergesagtes, wenig beglückendes sexuelles Erlebnis haben wird, etwas abwertend „eine Tippse“, übersetzt „Und legt noch einmal die Cassette ein“, wo es bei Eliot heißt, „And puts a record on the grammophone“ und aus der Zeile 254 „When lovely women stoops to folly…“ (sie stammt aus dem Vikar von Wakenfield, 1762, ist dort dem Lied eines „gefallenen Mädchens“ entnommen und wäre vielleicht besser mit „wenn schöne Frauen töricht werden“ zu übersetzen) wird „Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat“.
Mit der Kienbaum-Leute-Sprache und der der Werbung, des Films oder einer etwas herablassenden Alltagssprache, mit der hier hantiert wird, gelingt die Annäherung an Eliot nur unvollkommen. Als am gewagtesten erscheint vielleicht, dass Hummelt an Stelle des Auflegens einer Platte auf das Grammophon das Einlegen einer Cassette setzt (dass sie bei ihm „noch einmal“ eingelegt wird, wo bei Eliot nichts und dort auch zuvor nichts ein- bzw. aufgelegt gewesen war, sei – da vielleicht dichterischer Notwendigkeit geschuldet – geflissentlich übergangen). Das mit dem Cassettenrecorder vertauschte Grammophon jedoch, das die ganze Szene etwas näher an die Gegenwart heranbringen soll, macht die Fragwürdigkeit solcher Modernisierungen kenntlich. Wäre es nämlich eine Szene der Gegenwart (oder zumindest der 70er, 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, wo man noch Cassettenrecorder benutzt hat und MP3-Player unbekannt waren), würde vieles oder fast alles, was zu dieser Szene gehört und sie ausmacht, unpassend, fragwürdig und problematisch erscheinen, würde teilweise einen ganz andern Sinn, eine ganz andere Bedeutung erhalten. Anfangen würde das bei der Schilderung des Feierabends, „der violetten Stunde, wenn sich Aug und Rücken vom Pult erheben“, Taxis mit laufendem Motor warten, und würde dabei enden, dass das Vorhandensein eines Korsetts unter der Wäsche einer jungen Frau ganz andere Rückschlüsse über sie nahe legen würde – gerade in Zusammenhängen, um die es hier geht, ganz zu schweigen davon, dass dann auch die Dosenmahlzeit nicht mehr passt (eine Mikrowelle müsste her) und so vieles andere auch nicht. Es ist dann auch nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen, dass die intendierte Wirkung der eher gleichgültig hingenommenen, aufgedrängten Verführung, die Verhaltensweisen der jungen Frau sowie ihres Galans dabei und danach auf der Folie eines bestimmten Denkens über, einer bestimmten Haltung gegenüber Sexualität – beziehungsweise in Opposition und Abgrenzung dazu – zu sehen sind. Daran hängt aber letztlich die Bedeutung der ganzen Szene (auch in Zusammenhang mit der Vergewaltigung Philomeles und der Szene im Kanu bei Richmond und Kew), die Bedeutung der Doppelnatur des Beobachters, auf die Eliot wiederholt hinweist und der wohl die insgesamt wichtigste Figur in The Waste Land ist, des Theiresias, der einmal Frau gewesen ist und der bei Ovid von den Göttern zum Schiedsrichter in der Angelegenheit von „großem anthropologischem Interesse“ (vgl. Anmerkung zu Zeile 218) gemacht wird (Eliot verweist auf die entsprechende Stelle in den Metamorphosen, zitiert sie im Anhang ausführlich) – all das verändert sich mit einem Schlag, wenn man das Grammophon in einen Cassettenrecorder verwandelt, geht verloren, gerät in ein schiefes Licht, es ist, als ob sich Achill plötzlich als stupsnäsiger amerikanischer Schauspieler entpuppte.
Mit jeder neuen Übersetzung wird ohne Frage der Gehalt eines Textes weiter erschlossen und ausgeschöpft, vielleicht auch aus unverständlich gewordenen Zusammenhängen in aktuellere, besser verständliche übertragen, aber es ist die Frage, ob nicht mit jeder Übersetzung der Anspruch verbunden sein müsste, die ultimative zu sein. Gelungene Beispiele für Übersetzungen, die selbst einmalig und klassisch werden können, gibt es ja etwa mit der Ulysses-Übertragung Wollenschlägers oder den Shakespeare-Übersetzungen v. Schlegels, Baudissins usw. und angesichts dessen dürfte vielleicht eine Auffassung mit Fragezeichen versehen werden, nach der ca. alle 50 oder 100 Jahre eine neue Übersetzung notwendig würde.
Ein Werk hat den Anspruch auf Unversehrtheit und, daraus abgeleitet, den Anspruch auf eine möglichst gültige, ihm möglichst nahe kommende Übertragung in eine andere Sprache, und wo sie glückt, wo auch die Übertragung selbst den Rang eines Kunstwerks erreicht, erringt auch diese einen ähnlichen Anspruch. Dann hat auch diese Anspruch auf Schutz davor, mit allen entsprechenden Begleiterscheinungen, den „Stille-Post“-Effekten, den Verschleifungen, dem Wegfall des „unmodern“ Gewordenen durch die Aktualisierungsmaschine genudelt zu werden; Aktualisierungen, wie sie letztlich dazu beigetragen haben mögen, dass aus dem Don Quijote und dem Gulliver Kinderbücher geworden sind.
Die Übersetzung des Wüsten Lands durch Curtius war durchaus nicht übel, wenn vielleicht auch nicht das, was man als „klassisch“ oder ultimativ hätte ansehen können. Hummelt hätte es nicht nötig gehabt, auf Zeitwandel und Ähnliches Bezug zu nehmen, um seine Übersetzung zu begründen: was zählt, wäre das Streben nach der besseren Übersetzung gewesen (er bezieht ja selbst ausdrücklich eine Formulierung Eliots auf das Übersetzen, die nahelegt, dass eine Übersetzung am meisten bei sich selbst ist, wo sie dem Original am stärksten ähnelt). Alles, was gezählt hätte, wäre die bessere Übersetzung gewesen.
B.S. Orthau, manuskripte, Heft 183, März 2009
− Mit The Waste Land – Das öde Land veröffentlichte T.S. Eliot im Jahr 1922 das wohl einflussreichste und berühmteste Gedichts des 20. Jahrhunderts. Es spricht in frischen, ungekannten Tönen von den Umwälzungen eines neuen Jahrhunderts und den dadurch verursachten Schrecken. Zum 120. Geburtstag des Autors erscheint es nun in einer neuen Übersetzung des Lyrikers Norbert Hummelt. −
April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Winter kept us warm, covering
Earth in forgetful snow, feeding
A little life with dried tubers.
[Lesung T.S. Eliot: The Waste Land, Four Quartets and other Poems. Harper Collins Audio Books 1971.]
So las der späte T.S. Eliot sein berühmtestes Werk, das auch er selbst, zusammen mit den letzten dreien seiner Vier Quartette, für sein wichtigstes hielt.
Eliots Versdichtung The Waste Land wurde seit der Veröffentlichung im Jahr 1922 zum wirkungsmächtigsten modernen englischsprachigen Langgedicht. Allerdings war es, wie so oft, nicht die Kritik, die den Weg zum Ruhm eröffnete. Es waren, wie Eliots Biograph Peter Ackroyd betont, „Studenten und junge Schriftsteller, die in dem Gedicht die Offenbarung einer modernen Sensibilität sahen“, woraus sich sogar ein Kult der „Waste Landers“ entwickelt habe.
Das öde Land ist eine zugleich ungeheuer vieldeutige und vielsagende Versdichtung. Sie spricht über die Umwälzungen eines neuen Jahrhunderts mitsamt den dadurch verursachten Schrecken; sie schlug frische, ungekannte Töne an; und sie besitzt jene geniale, magische Aussagekraft, durch die sich ein Mixtum compositum aus subjektiven Empfindungen, beklemmenden Szenen, Beobachtungen und erlesenen wie populären Zitaten unmittelbar als große poetische Reflexion über die Epoche darstellt.
Verschiedene Kritiker haben mir die Ehre angetan, das Gedicht als Kritik an der Gegenwart zu interpretieren, und haben sogar eine gehörige Portion Gesellschaftskritik hineingelesen. Für mich war es nur das Ventil für einen privaten und ganz belanglosen Grant gegen das Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei. [Vorwort Faksimile-Ausgabe, 1971]
T.S. Eliot liebte solche mal ironischen, mal sarkastischen Distanzierungen, wenn man ihm zu nah oder zu simpel auf den Leib rückte. Trotzdem steckt darin ein Stück Wahrheit. Denn tatsächlich stand am Anfang des Stücks Weltliteratur, zu dem The Waste Land wurde, ein geballtes Quantum von privatem Ungemach. Eliot litt an Kopfschmerzen, Erschöpfungszuständen, Angst- und Unruhegefühlen; er hatte Ärger mit der Einkommensteuer, seine Frau krankte dauerhaft an Körper und Seele; Freunde konstatierten ein „sehr trauriges und elendes Aussehen“, sein Arzt diagnostizierte eine nervöse Störung, schließlich war sogar von Nervenzusammenbruch die Rede. Und auch die allgemeine Lage ließ 1921 sehr zu wünschen übrig. Eliots Biograph Peter Ackroyd berichtet:
Das Jahr, in dem Das wüste Land geschrieben wurde, war ein Jahr schlimmster politischer und wirtschaftlicher Unzufriedenheit: Der Nachkriegsboom war zusammengebrochen, es gab zwei Millionen Arbeitslose, und das Wirtschaftschaos wurde noch durch die Unentschlossenheit der Koalitionsregierung verschärft. Eliot verachtete die Demokratie und mit starken Worten beschrieb er die Hass- und Abscheugefühle, die die Zeitsituation in ihm erweckte.
Außerdem brachte der Sommer große Hitze und regenlose Dürre, ganz zu schweigen von einer Grippe, die den Mund austrocknete und mit bitterem Geschmack erfüllte.
Diese Symptome stehen in auffälliger Übereinstimmung mit dem Zustand und der Thematik des literarischen Projekts, mit dem sich Eliot das ganze Jahr abmühte,
schreibt Norbert Hummelt im Nachwort zu seiner Neuübersetzung. Es ist wahr: Eliot musste nicht weit gehen, um aus dem Krisengebiet seines privaten Lebens auf den unwirtlichen Boden des 20. Jahrhunderts zu gelangen, das gerade erst ein höchst brutales Gesicht gezeigt hatte. Der Erste Weltkrieg, Umwälzungen und Revolutionen hatten das Krisengefühl der Moderne zugespitzt. Und Eliot persönlich erging es wie dem Jahrhundert: Noch war er jung und doch schon von Katastrophen zermürbt. Es hat also einiges für sich, wenn Norbert Hummelt The Waste Land charakterisiert als „ein Hoheslied der Bitternis, mit trockener Kehle verfaßt“.
So gesehen wird auch leicht begreiflich, warum in den berühmten ersten Versen ausgerechnet der April, der ja das Frühlingserwachen einleitet, so schlecht abschneidet. In Eliots Augen war es eben ein böses Erwachen, das dieses neue Jahrhundert seinen Zeitgenossen bescherte.
April ist der übelste Monat von allen, treibt
Flieder aus der toten Erde, mischt
Erinnerung mit Lust, schreckt
Spröde Wurzel auf mit Frühlingsregen.
Der Winter hat uns warm gehalten, hüllte
Das Land in vergeßlichen Schnee, fütterte
Ein wenig Leben durch mit eingeschrumpelten Knollen.
Der Sommer kam als Überraschung, über den Starnberger See
Mit Regenschauer; wir flüchteten unter die Kolonnaden,
Die Sonne kam wieder, wir gingen weiter zum Hofgarten
Und tranken Kaffee und redeten eine Stunde.
Norbert Hummelts Version ist die dritte deutsche Übersetzung des Gedichts. Seine Vorläufer Ernst Robert Curtius und Eva Hesse hatten den Gedichttitel eigentlich durchaus einleuchtend mit „Das wüste Land“ übersetzt. Bei Hummelt jedoch führt Eliots Erkundung der von geistigen Bankrotten und seelischen Abgründen gezeichneten Gegenwartslandschaft nicht durch „wüstes“ sondern durch „Das öde Land“. Tatsächlich handelt es sich um eine öde, unfruchtbare, von Dürre geplagte Welt, die Eliot vor Augen stand.
Hier ist kein Wasser sondern nur Fels
Fels und kein Wasser und die sandige Straße
Die Straße windet sich hoch in die Berge
Die Felsgebirge ohne Wasser sind
Wäre hier Wasser könnten wir halten und trinken
Man kann in den Felsen nicht halten noch denken
…
Nicht einmal Stille ist in den Bergen
Nur trockner unfruchtbarer Donner ohne Regen
Nicht einmal Einsamkeit ist in den Bergen
Nur rote mürrische Gesichter höhnen und spotten
Aus Türen rissiger Lehmhäuser
Hummelt, Jahrgang 1962, ist Lyriker, Essayist und Übersetzer. Er rechtfertigt in einer Notiz, die er seinem Nachwort vorangestellt hat, seine deutsche Neufassung mit der Zeitgebundenheit von Übersetzungen und stellt fest:
Doch gilt wohl auch für die Übersetzung, was Eliot über das Verhältnis neuer Stimmen zur Tradition sagte, dass sie dort am meisten bei sich selbst sind, wo sie ihren Vorläufern am stärksten ähneln.
Das kann nur heißen: Hummelt beansprucht eine größere, eine maximale Ähnlichkeit mit dem Original. Das ist ein hoher Anspruch, mit dem er besser etwas vorsichtiger gewesen wäre. Immerhin aber hat er Eliots unprätentiöse, fast anti-lyrische Form des freien Verses der darin angelegten Umgangssprachlichkeit noch näher gebracht als Ernst Robert Curtius in seiner auch schon schnörkellosen, dem Duktus des Originals folgenden ersten Übersetzung von 1927. In jenen Passagen jedoch, wo das Original eine besondere Raffinesse in der Übertragung verlangt hätte, schneidet Hummelt keineswegs besser ab als seine Vorgänger.
Curtius’ Version war jahrzehntelang maßgeblich, und besitzt nach wie vor unstreitige Qualitäten. Eva Hesse, die leidenschaftliche Vermittlerin der angelsächsischen Moderne, hat ihre Eindeutschung von 1973 allerdings mit allzu starken interpretatorischen Akzenten überformt.
Bereits an den Versionen des ersten Verses lässt sich viel über das jeweilige Arbeitskonzept ablesen. Im Original heißt es: „April is the cruellest month …“ Curtius übersetzte wörtlich: „April ist der grausamste Monat∞“ Bei Eva Hesse klingt es sonderbar: „April benimmt das Herz …“ Hummelt dagegen formuliert umgangssprachlich: „April ist der übelste Monat von allen…“
Damit hat Hummelt das dem Poetischen gemeinhin innewohnende Ausdruckspathos noch um einige Nuancen zurückgenommen und eine prosaische Entspannung des Stils erwirkt, die dem englischen Text zumindest in diesen Tonlagen recht nahe kommt. Im Hinblick auf die Lesbarkeit ist diese neue Fassung mit Sicherheit die am leichtesten zugängliche.
Was Eliot mit sarkastischer Selbstironie als eine „rhythmische Quengelei“ bezeichnete, das zielte in Wahrheit von vornherein und mit größter Entschiedenheit ins Überpersönliche, Exemplarische. Schon der Titel The Waste Land, Das öde Land ist doppelt kodiert. Er setzt die Weltlandschaft der Zwanziger Jahre in unmittelbare Beziehung zu den Sagen vom heiligen Gral, in denen sich das Land eines verwundeten, invaliden Königs in eine unfruchtbare Einöde verwandelt hat. Mit diesem traurigen König identifiziert sich das poetische Ich des Gedichts. Damit zeigt Eliot auch den Dichter als eine traurige, versehrte Gestalt −: auch er kann für sein verwüstetes Land nichts mehr tun. Es ist nicht zuletzt diese Not, welche die vielen zitierenden Rückgriffe in die kulturellen Archive begründet. Wenn da etwa drei Themsetöchter von ihrem üblen Geschick singen, steht dahinter das Vorbild von Wagners Rheintöchtern. Wenn ein Londoner Großstadttableau die durch den Alltag hetzenden Menschenmassen zeigt, dann verbergen sich im doppelten Boden des intertextuellen Schreibens sowohl Verweise auf Baudelaires Metropolenpoesie als auch auf die vielzitierten Höllenwanderungen Dantes.
Unwirkliche Stadt,
Unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens
Glitt eine Menschenmenge über London Bridge, so viele,
Das dacht’ ich nicht, daß derart viele schon verblichen wären.
Gelegentliche kleine Seufzer wurden ausgehaucht,
Und jedermann sah starr auf seine Füße.
Eliot bewunderte den Ulysses von James Joyce, dessen erste Buchausgabe 1922, im gleichen Jahr wie The Waste Land, erschien. Besonders gefiel ihm, wie Hummelt in seinem Nachwort hervorhebt, „jene ‚mythische Methode‘, die er selbst in seinem Gedicht anwendet“. Das Chaos der Gegenwart erhält für den Dichter Struktur und Dimension durch die Spiegelung im großen mythologischen Stoff. Wie Siegmund Freud, Joyce, Ezra Pound, Thomas Mann und andere seiner Zeitgenossen hat Eliot die Wirrnisse der modernen Erfahrung mit dem Rettungsanker der Mythologie an die Grundmuster der Menschheitsgeschichte gebunden. Ganz abgesehen davon, dass diese Autoren schlichtweg mit ihrer humanistischen Bildung arbeiteten, so wie heutige Literaten auf Popmotive oder Systemtheorie zurückgreifen. So kommt es, dass der blinde Seher Teiresias hier, wie schon in Ovids Metamorphosen, als zweigeschlechtlich erfahrener Experte das lausig-lieblose Sexleben in der kapitalistischen Angestelltenwelt begutachtet.
Ich Teiresias, alter Mann mit Schrumpeltitten,
Sah dieses Schauspiel an und weissagte den Rest −
Und ich erwartete auch den bestellten Gast.
Der junge Mann, der Akne-Prinz, erscheint,
Ein kleiner Angestellter, doch mit frechem Blick,
Ein Niederer, dem das Arrogante steht, so ungefähr
Wie ein Seidenhut dem Bradford-Millionär.
Er wagt es, ihr mit Zärtlichkeit zu kommen,
Lust hat sie keine, doch sie schimpft nicht sehr.
Er läuft entschieden rot an, geht zum Angriff über;
Sein Grapschen stößt auf keine Gegenwehr;
Solche Borniertheit braucht kein Gegenüber,
Sie fühlt rein nichts und er sich aufgenommen.
Plaziert noch einen letzten gönnerhaften Kuß,
Macht sich durchs dunkle Treppenhaus davon …
Sie dreht sich um und schaut kurz in den Spiegel,
Denkt an den Lover kaum, der eben durch die Tür;
Ihr Hirn formt nur den einen Halbgedanken:
‚Geschafft, und ich bin froh, jetzt hab ich’s hinter mir.‘
Dem Sex fehlt die Seele, so wie dem „öden Land“ das Wasser. Nein, Gesellschaftskritik im expliziten Sinn ist es nicht, worum es hier geht, da hatte Eliot mit seinem Einspruch recht. Zivilisationskritik schon eher. Denn The Waste Land ist zweifelsohne eine Antwort auf die neuen Weltverhältnisse, in denen Werte und Sicherheiten oft gewaltsam hinweggefegt wurden. Diese Antwort formuliert sich vermittels eines Panoramas von negativen Bildern. Sie sprechen von Untergang, Kulturverfall, von ratloser Verzweiflung, sinnloser Lebensgier, von Angst und Tod. Der Ton ist mal sachlich, mal sarkastisch, oft resigniert, gelegentlich satirisch. „Wir, die lebten, sind nun am Sterben“, heißt es einmal [330]. Eliot meint mit diesem Sterben jedoch keinen endgültigen Untergang. Vielmehr beschwört er durch das Zitieren entsprechender Motive die Ideen des zyklischen Neubeginns, der Auferstehung und der Erlösung. Anhand von anthropologischer Literatur hatte er sich mit Mythologie, Ritualen und Religionen der Völker eingehend beschäftigt. Das Doppelgesicht von Götterfiguren wie Adonis und Osiris, in dem sich Totenkult und Fruchtbarkeitsrituale, Eros und Thanatos verbinden, wurde neben dem Ödland der Gralssage ebenfalls zu einem zentralen Motiv. Eliot setzte es zum Beispiel in modern travestierter Form ein, wenn das poetische Ich des Gedichts einen alten Kumpel frotzelnd befragt, ob der die Saat des Todes auch pflege, damit das Leben wieder sprießen kann.
Da traf ich einen, den ich kannte, und ich rief ihm zu: Stetson!
Der du mit mir zu Schiff vor Mylae lagst!
Der Tote, den du letztes Jahr im Garten pflanztest,
Sprießt er schon? Blüht er noch in diesem Frühjahr?
Oder ist der Nachtfrost ihm nicht gut bekommen?
O halt den Köter fern, der um die Beete streunt,
Sonst buddelt er ihn aus, der Menschenfreund!
Gegen die damals vorherrschende Konvention der einheitlichen poetischen Tonlagen, setzte Eliot plötzlich die Kombination von Monolog, Dialog, Szenen und Figurenzeichnungen. Die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der modernen Erfahrung ging auf diese Weise ein in die Form des Gedichts. Da stehen endzeitliche Landschaften neben Großstadtbildern, Kneipenszenen werden mit mythologischen Zitaten überblendet, Klage und Parodie fallen sich ins Wort, Untergangsschrecken wechseln ab mit Erlösungshoffnungen. Man ahnt heute kaum noch, was in dieser Mischung für umwerfende Innovationen steckten. Edmund Wilson, der Kritiker und Herold der amerikanischen Moderne, nannte Das öde Land „the great knockout up to date“. Einen Befreiungsschlag und Durchbruch ins Jetzt also. Ezra Pound begrüßte das Werk als „die Rechtfertigung der ‚Bewegung‘ unseres modernen Experiments seit 1900“. Schon im Januar 1922 hatte er seinem Freund Eliot hohes Lob ausgesprochen.
„Complimenti, du Hundesohn. Ich bin von allen sieben Eifersüchten geplagt.“
Allerdings hatte Pound keinen geringen Anteil an der endgültigen Form des Gedichts. Von den etwa achthundert Verszeilen, die ihm Eliot zur Begutachtung vorlegte, kürzte er durch Streichen und Straffen ungefähr die Hälfte und stellte dadurch, so Eva Hesse, eine „emotionale“ Einheit her. Pound nannte das „Kaiserschnitt“. Damit verhalf er einer schwierigen Geburt zum glücklichen Abschluss. Tatsächlich bestimmte er nicht allein den berühmten Anfang der Versdichtung sondern auch den Schluss, bei dem sich Eliot ganz aufs Zitieren verlegt hat.
Ich saß am Ufer
Angelte, die öde Ebene im Rücken
Soll ich wenigstens noch meine Lande ordnen?
London Bridge is falling down falling down falling down
Dann barg er sich in reinigender glut.
Quando fiam uti chelidon – O swallow swallow
Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie
Mit diesen Bruchstücken stützte ich meine Trümmer
Warum auch nicht, paßt schon. Hieronymo dreht wieder durch.
Datta. Dayadhvam. Dâmyata.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa Shantih aaaaashantihaaaaa shantih
Fast jeder Vers ist ein Zitat, nur die Zeile „Mit diesen Bruchstücken stützte ich meine Trümmer“ lässt sich als Selbstkommentar interpretieren. Entwaffnet vom Chaos seiner Gegenwart sucht der Dichter die großen hilfreichen Worte, die ihm nicht mehr zu Gebote stehen, in den Quellen der Weltliteratur. Das dreifache „Shantih“ am Ende zitiert die Schlussformel der Upanishaden und besagt in etwa: „Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft“. Als konkrete Erlösungshoffnung ist das noch nicht zu deuten, eher als ein Hineinrufen in die transzendentalen Sphären, ob sich nicht vielleicht doch eine Antwort regen mag.
Doch die einzig richtige Interpretation gibt es bei diesem Gedicht noch weniger als bei anderen. Der Autor selbst bekannte sich zur Offenheit der Bedeutung ganz ausdrücklich. Diese Offenheit wird auch in der Neuübersetzung von Norbert Hummelt nirgendwo vereindeutigt. In erster Linie aber erleichtert die neue deutsche Version die Zugänglichkeit diese Schlüsselwerks der Moderne, wenn auch um den Preis, dass etliche Feinheiten eingeebnet wurden. Was kaum einmal aufblitzt, das ist poetischer Glanz, sei es in Formulierungen, im Rhythmus oder im Klang.
Jedenfalls ist es ein Glück, dass Das öde Land mit dieser zweisprachigen Ausgabe nun endlich wieder einmal in unseren Gesichtskreis gerückt wird. Denn Eliots Gedicht ist noch immer frisch und auf der Höhe der Zeit. Und es ist, nebenbei gesagt, um einiges radikaler, als vieles, was heute geschrieben oder gesampelt wird.
I sat upon the shore
Fisching, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?
London Bridge is falling down falling down falling down
Poi s’ascose nel foco che gli affina
Quando fiam ut chelidon – O swallow swallow
Le Prince d’Aquitaine à la tour abolie
These fragments I have shored against my ruins
Why then Ile fit you. Hieronymo’s mad againe.
Datta. Dayadhvam. Dâmyata.
Shantih shantih shantih
− Lässt sich T.S. Eliot aktualisieren? Sein Epochengedicht The Waste Land ist bei uns nie so ganz angekommen. Der Lyriker und Übersetzer Norbert Hummelt will das nun mit seiner Fassung ändern. −
Klassiker müssen von Zeit zu Zeit neu übersetzt werden, auch die der Moderne. Wie fern – und nah? – ist uns T.S. Eliots Waste Land von 1922! Fern durch seinen abgehobenen Status als Monument eines Kulturschocks, mehr anzitierter Titel als gelesenes Buch; als alexandrinischer Echoraum eines verlorenen Bildungskanons und Tummelfeld für philologische Kärrner; denkbar fern auch im Hinblick auf das lyrische Befindlichkeitsgeplausche und die Poetry Slams der Gegenwart. Nah vielleicht doch durch seine Brüchigkeit und Montagetechnik, durch Zynismus, radikale Zivilisationsskepsis und metaphysische Sehnsüchte. Und was die Abgehobenheit angeht: Auch bei den deutschsprachigen „modernen“ Dichtern ging es seinerzeit oft recht verstiegen zu – wie hoch schwang sich der Kammerton von George, Hofmannsthal, Borchardt oder Rilke (die Duineser Elegien erschienen ein Jahr nach dem Waste Land) über die Niederungen des Expressionismus. Doch aus europäischer Sicht gehören diese Lyriker wohl eher zum fin als zum debut de siècle.
Eliots Kurzepos bezieht dagegen in raffinierter stilistischer Antiphonie und unablässig wechselnder Vielstimmigkeit hohe und niedere Stil- und Lebenslagen aufeinander. Die zentralen Themen von Dürre und Durst, Leidenschaft und Liebesverrat, Nihilismus und Sinnsuche werden mit Anklängen an Buddha, die Bibel, antike Mythen, die Gralssage, Dante, die elisabethanischen Dramatiker oder Baudelaire durchgespielt – aber auch in jazzartigen Rhythmen, im Pub- und Cockneymilieu, in parodistischen, von fremdsprachigen Zitaten durchschossenen, schroff gegeneinandergesetzten Sprachblöcken.
Das zum Fragment stilisierte Ganze, vom Autor abwiegelnd als „Stück rhythmischer Quengelei“ bezeichnet, ist nicht zuletzt auch Zeugnis einer privaten Ehe- und Lebenskrise – und zugleich das große Nachkriegsgedicht Europas im Angesicht seiner Zertrümmerung. In einem editorischen Geniestreich hat Ezra Pound, der Freund und Förderer, mehr als die Hälfte des zunächst ausufernden Textes gnadenlos gestrichen und so seine dichterische Größe, seine ureigene Rhythmik und Bildwelt erst richtig ans Licht gebracht. Der Leser ist aufgerufen, sich höchst aktiv auf dieses faszinierend vertrackte Konglomerat einzulassen, unterstützt (oder verwirrt) durch den umfänglichen Anmerkungsteil, den der Dichter gleich mitliefert; er sei viel populärer geworden als der Text selbst, bemerkt Eliot einmal mit einem Seitenblick auf das Heer seiner akademischen Ausleger.
Es versteht sich, dass ein solches Werk enorme Anforderungen an seine Übersetzer stellt. Insgesamt ist die deutsche Eliot-Rezeption einigermaßen diffus verlaufen. Die letzte Ausgabe seiner Gesammelten Gedichte nennt im Impressum nicht weniger als achtzehn verschiedene Übersetzer; entsprechend schwankend ist die Qualität der Sammlung. Weder die achtbare frühe Übertragung des Waste Land durch Ernst Robert Curtius noch die spätere, ausdrucksstarke, aber zuweilen zwischen Preziosität und Schnoddrigkeit schlingernde Version von Eva Hesse konnte das Gedicht bei uns einbürgern. Ein gewisser übersetzerischer Handlungsbedarf war also gegeben. Früher oder später musste sich eine neue Generation an dieser poetischen Herausforderung bewähren.
Norbert Hummelt, geboren vierzig Jahre nach Erscheinen des Waste Land, als Dichter eher unaufregend, greift bei seinen Lyrikübertragungen gern nach den Sternen. So hat er die erste Gesamtausgabe von Yeats’ Gedichten betreut und maßgeblich mitübersetzt; vor kurzem legte er im Schreibheft seine Fassung von Eliots komplexem Spätwerk The Four Quartets vor; und dieses Jahr, wieder zuerst im Schreibheft, danach, leicht verbessert, im Nobelclub der Bibliothek Suhrkamp, sein Ödes Land. Die Übertragung verdankt sich einer Ausschreibung des Literaturhauses Bremen für ein im Internet zu realisierendes Projekt. Sie wurde in nur drei Monaten verfertigt und in zwölf wöchentlichen Lieferungen ins Netz gestellt. Lange schon verspürte der Übersetzer die Faszination Eliots, hat die Schauplätze der Four Quartets gewissenhaft bereist und bekennt in einem Gedicht:
leicht angewinkelt nur um
einzuschlafen hör ich bei nacht die eliot-cassetten
halboffnen munds verwundert unverwandt
Georgesche Kleinschreibung, Interpunktionslosigkeit und willkürliche Schnitte, die Prosa in Vers verwandeln, verraten die experimentelle Neigung.
Auf der Rückseite des Suhrkampschen Schutzumschlags prangt als repräsentative Kostprobe des Ganzen der berühmte Auftakt „April is the cruellest month“ in eben der Formulierung, die über dieser Rezension steht. Wrong from the start, möchte man mit Ezra Pound rufen, und Hummelt weiß das auch. In einer seiner Fußnoten im Schreibheft bekennt er den Verstoß der Zeile gegen Rhythmik und Wörtlichkeit, aber die Version „stellte sich ein und will seither nicht weichen“. Mit seinem Adjektiv für die Grausamkeit des Frühlings greift er ebenso beherzt daneben wie wenig später mit der Behauptung, dieser mische „Erinnerung mit Lust“ (mixing memory and desire): solches Begehren quält, statt zu beglücken.
Der vers libre, hinter dem man im Original immer den Blankvers der Shakespeare-Zeit spürt, geht dem Übersetzer auf weite Strecken ganz flüssig von der Feder, nicht ohne hie und da in ärgerliche Arhythmien zu stolpern. Der abenteuerlich verästelte Satzbau großartiger Passagen, im Deutschen ohnehin schwer nachzubilden, wird kurzerhand zurechtgestutzt. Mit gereimten Textstellen kann Hummelt – das hat er bei Yeats und in den Four Quartets zur Genüge bewiesen – leider gar nicht umgehen: Da gibt es fast nur verbalen Krampf oder Reimverlust. Ein ironisches Sonett, das in Parodie des petrarkistischen Liebeskultes eine banale Sexszene schildert, verschwindet bei ihm, was die Form angeht, spurlos.
Zusätzlich zu ihrer besonderen Gedichtform ist die Passage auch noch in recht gehobenem Stil gehalten:
he …
endeavours to engage her in caresses
Which still are unreproved if undesired
… His vanity requires no response,
And makes a welcome of indifference.
Anders als Eva Hesse löst Hummelt die Eleganz in Plattitüden auf:
Er wagt es, ihr mit Zärtlichkeit zu kommen,
Lust hat sie keine, doch sie schimpft nicht sehr …
Solche Borniertheit braucht kein Gegenüber,
Sie fühlt rein nichts und er sich aufgenommen.
Die Plattheit macht an anderem Ort auch vor den raren Ekstasen der Liebe nicht halt: „my eyes failed, I was neither / Living nor dead, and I knew nothing“ wird zu „ich sah auch nichts mehr, ich fühlte mich weder / Tot noch lebendig, und alles war weg.“ Die Antiklimax präsentiert sich als Übersetzer-Zutat.
Die vielen fremdsprachigen Einsprengsel, die weithin sichtbar die triste Gegenwart mit der großen europäischen Tradition überblenden, scheinen Hummelt eher zu stören. So lichtet er die polyglotte Fragmenthäufung in der Coda des Gedichts, indem er einen Dante-Vers eindeutscht, „durchaus mit Unbehagen an Eliots Zitatenberg“, oder er übersetzt, aber nur teilweise, eine Zeile Baudelaires – nach welchem Prinzip? (Dafür dürfen wir Eliots Anmerkungen zweisprachig lesen: sie haben einst die Publikation auf Buchlänge gestreckt, und ihr Original dient hier offenbar demselben Zweck.)
Ein besonderes Problem bieten die häufigen Zitatbezüge auf die ältere englische Literatur, die dem deutschen Leser meist unvertraut sind. Wie soll man sie markieren? Hummelt bringt die Zeit- und Stildifferenz, auf die es ankäme, durch entschlossene Aktualisierung zum Verschwinden. Wenn die Abschiedsworte nach einem Pub-Abend in die Rede der wahnsinnigen Ophelia übergehen („Ta ta. Goonight … good night, ladies, goodnight, sweet ladies“), heißt das bei ihm „Gut’s Nächtle … Gute Nacht, Mädels, gute Nacht, ihr Süßen…“ Wenn der Schluss der schäbigen Verführungsszene Goldsmiths Lied einer Verführten anzitiert, die ihre Schande nicht überleben will („When lovely woman stoops to folly“), so wird daraus, ebenso zeitgemäß wie widersinnig, „Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat…“. „Warum auch nicht, passt schon. Hieronymo dreht wieder durch.“ Dies der unüberbietbare Schlussvers der Übersetzung, dem man seine Herkunft aus einem vorshakespeareschen Drama über Liebe und Wahnsinn nicht mehr ansieht. Na wenn schon – es gibt ja noch die Anmerkungen.
T.S. Eliot lieferte den Stahl, das Feuer und die Glut, Ezra Pound führte den Hammer. Zum 120jährigen Geburtstag von T.S. Eliot legt der Suhrkamp-Verlag eine Neuübersetzung des berühmtesten Gedichts des 20. Jahrhunderts vor. Eine Verneigung vor einem der größten Dichter seiner Zeit.
Grad in der Mitte unserer Lebenskreise,
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren hatte.
(Auftakt zu Dante Alighieri’s Inferno in der Göttlichen Komödie)
Im November 1921 befand sich Thomas Stearns Eliot in eben diesem dunklen Walde abseits des rechten Weges, als er seinem amerikanischen Dichterfreund Ezra Pound ein Blätterkonvolut in die Hände gab und ihn um kritische Durchsicht bat. Eliot befand sich auf dem Weg nach Lausanne, um dort Ruhe in seiner Lebens- und Sinnkrise zu suchen, als er in Paris Zwischenstation machte. Was Pound in diesem November in die Hände bekam, ist noch heute das Dokument einer höchst ambivalenten und zugleich höchst faszinierenden Zeitkritik eines Geistes, der mit sich selbst und seiner Welt in Ungnade steht – The waste land. Das öde Land.
Dieses als Gespräch angelegte Poem ist dabei mindestens ebenso in der Vergangenheit verhaftet, wie es in der Gegenwart fußt und in die Zukunft schaut. Es bewegt sich in der literarischen Tradition von Vergil, Dante Alighieri, William Shakespeare und James Joyce – und in der Neuübertragung und zeitgemäßen Interpretation durch Norbert Hummelt erstreckt es sich dann sogar bis in die groovigen Höhen des amerikanischen Jazz. Dabei hat Eliot das Kunststück vollbracht, etwas Ureigenes aus dem Bekannten zu schaffen. Eliots Verswerk ist eine Sammlung aus Zitaten und Anspielungen, Übertragungen und Schlüssen, Traditionen und Innovationen, das sich mit den Werken der oben aufgeführten schreibenden Granden an einem wahrlich revolutionären Fundus der Literaturgeschichte bedient. Er macht den Kulturverfall an der Hochkultur deutlich, zeigt was einst war und nun nicht mehr ist und verdeutlicht, was bereits erkannt und dennoch ignoriert wurde. Doch allein dieser Bezug zur kulturellen Tradition erklärt nicht die Faszination und Genialität dieses Werkes T.S. Eliots. Es ist die Reflektiertheit in der eigenen Verbitterung kombiniert mit einem geradezu unglaublichen Wissen um die Errungenschaften der europäischen Dichtung, die Eliots düstere Poesie in ihrer Destruktion derart anziehend machen. In Eliots intonierter Apokalypse schwingt stets die schmerzhafte Erkenntnis beziehungsweise die Erkenntnis im Schmerz, die sich schon durch die Werke Friedrich Nietzsches zog. „Erst der große Schmerz, jener lange langsame Schmerz … zwingt uns Philosophen in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmütige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohin wir vielleicht unsere Menschlichkeit gesetzt haben, von uns tun.“, heißt es bei Nietzsches Abrechnung mit seinem einstigen Freund Richard Wagner.
Diesen großen, langsamen Schmerz empfand Eliot in besonderer Weise nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Während im Ersten Weltkrieg einfach alles auseinandergefallen war, was sie „im Innersten zusammenhält“, brach Eliot selbst zusammen und vollzog die Tragödie dieses kulturell-zivilisatorischen Erdbebens im eigenen Nervenkollaps, von dem er sich über den Jahreswechsel 1921/1922 in der Schweiz erholen wollte. „An den Wassern des Genfer Sees setzte ich mich hin und weint…“, heißt es in der „Feuerpredigt“ des waste land in Anspielung auf seinen Zustand, in dem er zugleich wieder Schaffenskraft fand und dort den abschließenden letzten Teil des Gedichts verfasste.
Die Blättersammlung, die er im Laufe des Schaffensprozesses Pound übergab, enthielt neben den ersten vier Kapiteln noch einiges an zusätzlichem Material. Pound befreite es davon, strich mehr als die Hälfte des ursprünglichen Texts, ohne dabei aber die Hochachtung für das Geschaffene seines Freundes zu verlieren. Erst diesem radikalen Eingriff ist es zu verdanken, dass The waste land mit dem berühmten „April ist the cruelest month…“ beginnt. Der amerikanische Dichterfreund legte das Konzentrat von Eliots wüsten Gedankennotizen frei und schuf, eine hochkonzentrierte Essenz, die sich sämtlicher Versmaße spielerisch bedient, sie ineinander fließen lässt und zu einem gewaltigen Strom der Kraft vereint. Eliot widmete Pound daher auch sein Werk: il miglior fabbro, dem besten Schmied. Eliot lieferte Stahl, Feuer und Glut, Pound führte den Hammer.
In Eliots Weltgedicht kann der Leser den vom Autor tief empfundenen Niedergang der Kultur und Zivilisation im Ersten Weltkrieg nachvollziehen. Mit diesem Wahnsinnspoem wollte er nicht nur feststellen, sondern auch Linien nachzeichnen und erkennbar machen. Insofern stellt The waste land nicht nur ein Abbild seiner Zeit, sondern auch ein Abbild des Innenlebens T.S. Eliots dar. Schon im Titel dieses Weltgedichts steckt sein programmatisches Konzentrat. Es geht um die Leblosigkeit der Moderne, um die Entindividualisierung in der Überindividualisierung, die geistige Entleerung, um das Leben im undefinierbaren Überall, welches nur noch durch den flackernden Schleier der für Eliot als unerträglich wahrgenommenen industriellen Moderne erkennbar ist. Eliot konnte in der immer gleichen Wiederkehr der urbanen Tristesse nur noch die alles Leben negierende Einöde der modernen Großstadt erkennen. Dabei bewies er fast seherische Qualitäten, liest man doch von über die Steppe schwärmenden „vermummten Horden“, von roten „Fackellichtern“ auf Schweißgesichtern und von „fallenden“ und „umgestürzten Türmen“. Steht noch was aus?: „London bridge is falling down falling down falling down“, heißt es am Ende von The waste land – düsterste Visionen von Verderben und Untergang. Dabei läuft es immer wieder eiskalt den Rücken herunter, scheint doch Eliot die Zivilisationsbrüche der vor ihm liegenden Zukunft geradezu geahnt zu haben.
Eliots The waste land wirkt auf den Leser, wie das Höllentor in Dantes Göttlicher Komödie, als es den Wanderern entgegenruft: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, durch mich geht man zu dem verlornen Volke.“ Dieses verzweifelte Hohelied konfrontiert uns wie kaum ein anderes Dokument mit den Niederungen der Moderne und dem sinnfreien Sein unserer Zeit. Es wäre geheuchelt, alle Neuerungen der Moderne sofort zu verdammen, aber es wäre mindestens ebenso naiv, sich der Erkenntnis zu verweigern, dass jeder Verheißung der Moderne nicht auch der Sündenfall innewohnt. Dieser Erkenntnis hat sich Eliot nicht verwehrt, er hat sich ihr geradezu ergeben – nachzulesen in dem grauenhaft grandiosen Weltgedicht der Trostlosigkeit The waste land.
− T.S. Eliots Jahrhundertgedicht verflacht in Norbert Hummelts Übersetzung. −
T.S. Eliots Langgedicht The Waste Land gehört zu den Marksteinen der literarischen Moderne. Das mag Norbert Hummelt dazu motiviert haben, seine deutsche Übersetzung sprachlich in die Gegenwart zu transponieren; dem Gedicht freilich ist das nicht gut bekommen.
Es war nicht zuletzt der Konflikt zwischen dem idealen Dasein als Dichter und dem realen Alltag als Bankangestellter, der T.S. Eliot gegen Ende 1921 in eine depressive Krise stürzte. Bei einer Kur am Genfersee versuchte er, expatriierter Amerikaner aus England, sich zu erholen, und arbeitete dabei an einem angefangenen Gedicht weiter: Schon Geschriebenes setzte er neu zusammen, weitere Passagen fügte er hinzu, um aus diesem lyrischen Material schliesslich ein Ganzes zu machen. Es entstand ein Manuskript von etwa 50 Seiten, das er seinem Freund Ezra Pound überliess, mit dem er sich auf dem Rückweg nach London in Paris traf. Pound, der Aktivist der modernen Lyrik, kürzte, änderte, stellte um. Weihnachten 1921 schrieb er an Eliot:
Es sind 19 Seiten, und wir können sagen, es ist das längste Gedicht in der englischen Sprache. Versuch nicht, alle Rekorde zu brechen, indem Du es noch um drei Seiten länger machst.
Eliot nahm alle inhaltlichen, formalen und sprachlichen Änderungsvorschläge an und widmete das fertige Gedicht mit einem Dante-Zitat dem Freund als dem „miglior fabbro“, dem besseren (Sprach-)Schmied.
Literarische Pioniertat
Unter dem Titel The Waste Land erschien Eliots Gedicht im Oktober 1922 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift The Criterion in London und gleich danach im November in der New Yorker Zeitschrift The Dial; dann kam es im Dezember – ergänzt durch umfangreiche Anmerkungen, welche die literarischen Zitate und Anspielungen entschlüsselten – im amerikanischen Verlag Liveright und schliesslich im September 1923 im Verlag The Hogarth Press von Leonard und Virginia Woolf in London heraus.
Der Titel spielte auf die fragmentierte moderne Welt an und implizierte, dass diese Welt die Wüste sei, die man durchwandern müsse, um zum Heil zu gelangen. Die „unwirkliche Stadt“ ist, wie schon in Eliots vorangegangenen Prufrock-Gedichten, der Hauptort eines zusammenhangs- und sinnlosen Daseins. Symbolträchtig steht der blinde Seher Tiresias für das menschliche Leben und Leiden schlechthin: Er ist eine Art Hauptfigur in dem Gedicht, das Mythologisches mit Alltäglichem verbindet und mit einem hinduistischen Friedenssegen schliesst.
Dieses Gedicht, in dem Handlung, Beschreibung und Reflexion sich abwechseln, besteht aus fünf Teilen, die nach Umfang, Inhalt und Form verschieden sind. Zusammengehalten werden sie ebenso durch die Thematik – den Versuch nämlich, einer undurchschaubar, werte- und sinnlos gewordenen Welt durch kulturelle Deutung einen Sinn zu geben – wie durch die literarische Strategie, eine unterkühlte Diktion durch religiöse, literarische und alltagssprachliche Konnotationen mit poetischer Intensität aufzuladen.
Die englischsprachige Lyrik wurde durch Eliots Gedicht grundsätzlich verändert. Sie wurde formal freier und zugleich inhaltlich gewichtiger, spielerischer und zugleich ernster, traditionsbewusster und zugleich traditionszertrümmernd. Wie kaum ein anderes modernes Gedicht wurde The Waste Land geradezu populär und blieb doch hermetisch: Zeilen daraus gingen in die Alltagssprache ein, während die Entschlüsselung der Zitate, Entlehnungen und Hinweise die Akademiker herausforderte.
Ein akademischer Philologe war es denn auch, der als Erster das Gedicht 1927 ins Deutsche übertrug: Der Romanist Ernst Robert Curtius erkannte hinter Eliots modernistischem Gestus die klassische Versspur Dantes und geht mit den Baudelaire- und Verlaine-Zitaten ebenso souverän wie mit Anspielungen aus der Artussage um. Sprachkundig, stilsicher und literaturgeschichtlich versiert, dabei bemerkenswert uneitel verpasste Curtius dem englischen Gedicht unter dem Titel Das Wüste Land ein gut sitzendes deutsches Sprachkleid.
1972 legte die renommierte Übersetzerin Eva Hesse, die vor allem Pound und E.E. Cummings im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hatte, eine zweite Übersetzung vor und unterlag dabei dem Eliotschen Manierismus, wenn sie ihn durch bemühte Archaismen wiederzugeben versuchte und wenn sie sich mehr um den philologischen Gehalt als um den Rhythmus kümmerte. War Curtius’ Übersetzung unspektakulär gelassen, so war diejenige von Hesse angestrengt preziös. Nun gibt es eine neue Übersetzung. Der Lyriker, Essayist und Übersetzer Norbert Hummelt will das Jahrhundertgedicht sprachlich auffrischen und setzt sich dafür immer wieder über Reim und Rhythmus hinweg, verändert oder ignoriert die literarischen Schichten des Originals und wählt eine banale, manchmal geradezu triviale Diktion.
„Warum auch nicht, passt schon“
„April is the cruelest month“, lautete die berühmte Anfangszeile. „April ist der grausamste Monat“, hatte sprachlich und rhythmisch genau Curtius übersetzt, während Hesse das Prädikat zur Apposition machte: „April, der ärgste Monat“. Bei Hummelt dagegen ist April „der übelste Monat von allen“, womit er Metrum und Semantik missachtet, aber doch noch die Stimmung trifft. Wenn er aber aus dem „typist“ des Originals eine „Tippse“ werden lässt und ihre „combinations“, ihre Unterwäsche also, in „Bodys“ verwandelt, wenn er einen Vers von Oliver Goldsmith von 1766 („When lovely woman stoops to folly“ – Wenn schöne Frauen dem Laster verfallen), mit einer Anspielung auf Hollywood befrachtet, in eine Mischung aus Deutsch und Englisch überträgt („Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat“) – dann macht er aus einem kunstvollen Spracharrangement, das eine Liebes- und Sexszene zeigt, ein Stück Trivialliteratur. Und wenn er dann „O O O O Shakespearean Rag“ des Originals durch „No No No No Shakespeare hat den Groove“ wiedergibt, verkennt Hummelt Beziehung, Aussage und Rhythmus und stellt sich gegen die lyrische Vernunft.
Hummelt pflegt den Gestus der Slam- und Gebrauchslyrik und verfehlt so immer wieder die subversive metaphorische Dichte der Eliotschen Verse. Aus einer der letzten Zeilen, einer Anleihe bei dem Shakespeare-Zeitgenossen Thomas Kyd, „Why then Ile fit you“ (Nun dann, ich wird’s Euch richten), wird bei Hummelt „Warum auch nicht, passt schon“. Und so kommt diese Übersetzung daher: unbekümmert in ihren Fehlgriffen und selbstbewusst in ihren Fehldeutungen. So wird aus dem „wüsten Land“ als dem Urort der lyrischen Moderne ein „ödes Land“ als Unort eines modischen Lyrismus.
T.S. Eliot (1888–1965) schrieb dieses wohl berühmteste Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts während eines Kuraufenthalts, den er 1921 mit seiner Frau Vivien in Kent verbrachte. Damals arbeitete Eliot noch als Bankbeamter und litt an nervösen Erschöpfungszuständen. Im Januar 1922 reiste Eliot nach Paris, um die rund 800 Zeilen Ezra Pound zu zeigen. Der war begeistert, setze aber Streichungen durch, die das Poem auf rund die Hälfte schrumpfen liessen. Das Original tauchte 1968 in einer New Yorker Bibliothek auf. – Man hat The Waste Land wegen seines desperaten Tones oft als Gesellschaftskritik verstanden, doch genau gleich wie Joyces Ulysses, so gelingt auch Eliots Gedicht der sinnstiftende Durchgriff vom Chaos der Gegenwart zur geistigen Tradition der Vergangenheit, ja im Unterschied zu Ulysses geht Eliot mit Hilfe von Mythologie, Religion und psychoanalytischer Symbolforschung sogar auf archaische Muster zurück. Das Zeitlose und das Zeitgebundene in ihrer Durchdringung, offen sichtbar durch die Unmenge von Zitaten, die Eliot in den Anmerkungen selbst nachweist: Die Bibel, Wagner, Shakespeare, Dante, Augustinus, Ovid, Vergil, Spenser und Milton, um nur einige wenige zu nennen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es ein Ding der Unmöglichkeit, die 400 Zeilen der Intention des Dichters gemäss zu verstehen, ja man müsste alle Werke, die Eliot anführt, zum selben Zeitpunkt wie er gelesen haben und darüber hinaus noch dieselben Schlussfolgerungen machen. Das wäre Unsinn und führt zu zwei anderen Aspekten moderner Dichtung: Sie steht auch für sich selbst und kann jedem bei der Lektüre eigene und immer wieder neue Bilder schaffen. Zweitens, und das scheint mir für die Neuübersetzung wesentlich zu sein, bei derart verkürzten Bildern wird es nie eine gültige Übersetzung geben und jeder Anlauf ist ein Kind seiner Zeit. The Waste Land ist im Original ohnehin nicht so schwierig zu verstehen (i.e. der primäre Wortsinn auf Oberfläche), so dass die deutsche Fassung assistiert, Lesehilfe ist und einem mit dem Blick nach links auf die Sprünge hilft. Ich habe die Übersetzung von Norbert Hummelt mit der von Ernst Robert Curtius (1951) und Eva Hesse (1973) verglichen und bin mehr als zufrieden, denn im Unterschied zu Curtius ist Hummelt aktuell und gegenwärtig, ohne in eine zu einfache Alltagssprache zu fallen, ferner ist er – und das erstaunt mich wirklich – an manchen Stellen näher am Original. Hut ab! Nur das um 25 Jahre ältere Vorwort von Hans Egon Holthusen in der Curtius-Version überzeugt mehr als das Nachwort von Hummelt.
Zu hoffen ist also, dass die eben bei Suhrkamp erschienene zweisprachige Ausgabe samt „Notes“ und Nachwort einen frischen Rezeptionsschub in Gang setzt. Die Voraussetzungen dafür sind nun endlich gegeben, denn die neue Übersetzung von Norbert Hummelt trifft den Ton des Gedichts. Diese scheinbar schlichte Feststellung umfasst eine Fülle bewältigter Schwierigkeiten. Die Übersicht über 433 Verse, deren Spannweite von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, von Ovid bis zu den Upanishaden reicht, erfordert einen ebenso scharfen wie weiten Blick. Sie in ein ihnen, aber auch uns gemäßes Deutsch zu übertragen, gelingt wohl nur einem Lyriker wie Hummelt, der „Stimmen“ bis in die Halbtöne hören kann. Nichts wäre beispielsweise fataler, als ein Bildungsgesäusel anzustimmen und etwa aus Unreal city eine „Wahnschaffne Stadt“ zu machen wie Eva Hesse 1972. Nüchternheit, Genauigkeit, Sinn für Absurdes und Komik sowie der Durst nach Transzendenz verbinden sich bei Eliot (darin ähnelt er Kafka) und halten den Text jung. Hummelts Übersetzung betont diese Modernität, spricht beispielsweise schon beim ersten Zitat nicht von „Knaben“, sondern von Jungs und ermöglicht dem Leser einen direkten, unverkrampften Zugang. Im ebenso sachlichen wie sensiblen Nachwort bringt Hummelt das Kunststück fertig, auf neun Seiten den biographischen wie den heilsgeschichtlichen Rahmen des Gedichts zu umreißen und damit der Lektüre ein sicheres Fundament zu bieten, soweit das bei einem solchen Text überhaupt möglich ist. Und da, last but not least, das Englische inzwischen jedermanns zweite Heimat ist, wird nun auch endlich die Musik des Originals hörbar und fühlbar.
Gisela Trahms, titel-magazin.de, 29.9.2008
der Jahrhunderte herum, während er gleichzeitig heimatlos durch seine eigene Zeit streunt. Dabei herausgekommen ist eine Ikone der Moderne. Das Langgedicht The Waste Land (1921) Die Lektüre von Shakespeares Sturm, von Bibel, Baudelaire, Augustinus, Dante, Hesse, um nur Weniges von Eliots verinnerlichter Bibliothek aufzuzählen, hat bei Eliot unauslöschliche Bilder in der Seele hinterlassen, die heute noch bis zu uns herüber leuchten, weil er dafür eine Sprache fand. Eliot war einer, der sich bezog auf das, was auf ihn eindrang, egal ob es sich dabei um die Stimme des blinden Sehers Teiresias aus der Antike oder das Stimmengewirr in der U-Bahn, egal, ob es sich um den Jazz Rhythmus aus einem Pub, oder das rhythmische Erlebnis beim Lesen von Terzinen handelte. Und das alles hat er in ein „Stück rhythmischer Quengelei“ verwandelt, sagte er selber. Diesen Kulttext hat jetzt Norbert Hummelt (Jahrgang 1962) mit dem Titel DAS ÖDE LAND neu übersetzt. Mir gefällt diese Übersetzung. Sie ist direkt, fast flapsig. Sie wird in zwanzig Jahren – aber welche Übersetzung hat das Schicksal nicht? – auch überholt sein. Sie ist es jetzt schon fast schon, willentlich und wissentlich, denn sie lehnt sich an die Sprache der achtziger Jahre an. Die Übersetzung nimmt die Bewegung und Bewegtheit des ersten Lesens von Hummelts Generation wieder auf und setzt Eliot nicht auf eine Kunstsäule, die mehr Respekt abverlangt als der Dichter der „rhythmischen Quengelei“ es selber je wollte.
From such chaotic misch-masch potpourr
What are we to expect but poetry?
When restless nights distract her brain from sleep
She may as well write poetry, as count sheep.
Aus solchem Chaos, Mischmasch-Potpourri,
Was sonst erwartet uns als Poesie?
Wird nachts ihr Hirn mit Schlafentzug gequält,
Bleibt ihr nur Verseschreiben oder Schafezählen.
Dies ist ein gestrichener Vierzeiler aus T.S. Eliots Manuskript zu seinem Jahrhundertpoem The Waste Land, er findet sich in den Originalentwürfen, die heute zum Inventar der Berg Collection an der New York Public Library gehören. Die frühesten Skizzen datieren von Ende 1919, als der Plan zu einem Langgedicht in ihm reifte, damals noch unter dem seltsamen Arbeitstitel „He Do The Police In Different Voices“. Nachkriegseuropa, Streiks und Wirtschaftsnöte, und ein Amerikaner, Oxford-Absolvent, versucht sein Glück in England, ist längst der bessere Brite, in Manieren und Aussprache mustergültig assimiliert. Als Mensch aber ist er nervlich am Ende, er steckt in seiner schwersten Lebenskrise, die alle Aspekte des bürgerlichen Daseins umfaßt, Stellung und Einkommen, Ehe und Geschlechtsleben, Freizeit und Freundschaften. Sinnentleert seine Funktion, er fühlt sich als einer von Millionen Nobodys, Mieter einer Reihenhauswohnung, mit der Aussicht auf ein Wochenende mit Landpartie, als Gefangener einer verkehrsreichen europäischen Metropole, wie ferngesteuert absolviert er den ereignisarmen, geregelten Alltag eines kleinen Bankangestellten. Photos aus dieser Zeit zeigen ihn mit Stock und Melone, ein Mann von hoher, leicht gekrümmter Statur, ein Fragezeichen im Fließtext der Straßen Londons, unauffällig, doch hinter der gebügelten Karosserie darbt ein hochidiosynkratisches Künstler-Ich.
Im Januar 1922 kehrt Eliot von einem längeren Kuraufenthalt in der Schweiz nach London zurück. In Lausanne am Genfer See war er zum Schreiben gekommen, ein Anfall plötzlicher Produktivität. Er übergibt Ezra Pound, seinem Dichterfreund und Förderer in allen Lebenslagen, ein Konvolut von 54 Seiten. Pound wird zum Geburtshelfer (wie es in den Chroniken seither salbungsvoll heißt), indem er etwa zwei Drittel des ursprünglichen Texts wegstreicht. Eine Kaiserschnittoperation, aber sie zog ans Licht, was wir heute als das bedeutendste Langgedicht der modernen und nicht nur englischsprachigen Dichtung kennen – die Mona Lisa der neueren Poesie. Pound ist es zu verdanken, daß uns die berühmten Auftaktzeilen nun für immer ins Ohr gehen wie der Beginn von Chaucers Canterbury Tales:
April is the cruellest month…
Wäre es nach dem Verfasser gegangen, hätte das Ganze mit der weitschweifigen Schilderung einer Kneipentour begonnen und kein Mensch hätte sich dafür interessiert.
„Eliot kam aus Lausanne von seinem Arzt zurück, sah OK aus; und mit einem verdammt guten Gedicht in seinem Koffer“, schrieb der euphorische Kompagnon selbstlos.
Könnte dazu führen, daß der Rest von uns seinen Laden dicht machen kann.
Tief verneigt er sich vor dem Landsmann:
Complimenti, du Hurensohn. Ich bin von allen sieben Eifersüchten geplagt.
Eliot dankt es ihm später mit der vorangestellten Widmung „il miglior fabbro“ – dem besten Schmied, einer Dante-Anspielung unter Kennern. Nicht nur für sie, auch für den Dritten im Bunde der Pioniere englischer Literatur, James Joyce, wird die Göttliche Komödie zur Magna Charta ihrer Innovationen. Man kommuniziert in Anspielungen, ist Mitglied eines regen Zitierkartells.
Es gibt andere Stellen als die eingangs erwähnte im Waste-Land Manuskript, die dem Rotstift zum Opfer fielen. Darunter sind Passagen, die weitere Perspektiven eröffnen, ganze Schauplätze und Figuren fallen weg. Auch Eliot, als Meister der Rollendichtung, in verschiedene Personae schlüpfend, beherrscht den inneren Monolog, die neue Technik des Bewußtseinsstroms, wie sie Virginia Woolf in Mrs Dalloway’s Party leichthin improvisiert und Joyce im Ulysses perfektioniert. Schade um manches, was davon geopfert wurde, so ein ganzes Kapitel mit dem Titel „Der Tod der Herzogin“. Auch ein Klagelied, eine kleine Elegie, muß ausscheiden, von Teil vier bleibt lediglich ein Zehnzeiler zurück, der Nachruf auf einen gewissen Phlebas, den Phönizier, in der Art eines Epitaphs, wie sie die Anthologia Graeca zu Hunderten überliefert. Eliots New Yorker Anwalt John Quinn, sein langjähriger Gönner, bedauerte den Verlust so vieler klingender Verse. Die Kritik aber ist sich einig, daß erst Pounds dramaturgischer Kahlschlag dem Gedicht die ultimative Fassung gegeben habe. Was uns vorliegt, ist ein kompakter Torso. Man staunt ein wenig über Pounds Treffsicherheit, bedenkt man, wie ausufernd formlos er in eigenen Angelegenheiten verfuhr. Hätte nicht Eliot umgekehrt auch einen kritischen Blick auf die Entwürfe zu den Cantos werfen, den Freund beraten sollen mit dem Instinkt des Klassizisten, nach dem Prinzip des Hilfst-du-mir-helf-ich-dir? Manche Durststrecken in dem zyklopischen Epos wären der Nachwelt erspart geblieben. Die Firma Pound-Eliot hätte zweifelsohne florieren können, wie man an der schnörkellosen Waste-Land-Endfassung sieht.
Unter den wuchtigen Schlägen des Lektors war ein Gebilde wie aus einem Guß zum Vorschein gekommen. Ein Sprachkunstwerk, aber seine innere Dynamik paßte zu den Manifesten der Vortizisten, einer Künstlergruppe mit Pound als Wortführer im Zentrum, die sich die Bildhauerei zum Vorbild nahmen – vortex war ihr Losungswort, und es meinte soviel wie Wirbel, Strudel, eine futuristische Zauberformel. Auf einmal konnte Lyrik, ein Stück geformter, gehärteter, konzentrierter Sprache, skulpturale Qualitäten entwickeln, plastisch hervortreten, das Gedicht ein Steinblock, gewaschen, wie Celan einmal forderte:
im Wasser wirklicher Worte.
Waste Land ist eine schroffe Montage aus Verskadenzen. Die Bindungskraft seiner Strophen und Abschnitte verleiht dem Textganzen die Kompaktheit und das Verschachtelte kubistischer Gemälde. Seine innere Spannung erwächst aus der Abfolge wechselnder Tonlagen, Zitate und Fetzen wörtlicher Rede, an deren Bruchkanten das Schweigen und das Rauschen der realen Großstadt hörbar werden. Eine Atmosphäre namenloser Intimität trägt zur Verunsicherung bei, manches wirkt wie aus Selbstgesprächen abgelauscht, wie Gemurmel im eigenen Kopf. Die Zeilen öffnen sich, Außenwelt schlägt durch die Buchseite, Vergangenes wird gegenwärtig, und wie ein Psalmen-Refrain springt den Leser aus allem ein Tua-res-agitur an. So jedenfalls haben Zeitgenossen es damals empfunden. Man erschrak vor dem Echo aus der inneren Hohlheit und ahnte die Krankheitsdiagnose darin: metaphysische Leere. The Waste Land ging unter die Haut, sein Erscheinen erzielte im Bewußtsein großer Leserkreise Effekte, von denen die Surrealisten später nur träumen konnten. Seither ist in der Lyrik nichts mehr, wie es war.
Was im Oktober 1922 in einer kleinen Zeitschrift erschien (gemeinsam übrigens mit einem Prosastück von Hermann Hesse), war ein Konzentrat in fünf Teilen und 434 Zeilen. Auf den ersten Blick sah das Ganze wie eine Folge kurzer Dramenszenen ohne Regieanweisung aus. Man hört verschiedene Sprecher, allmählich weitet die Partitur sich zu einer Stimmen-Collage, die stellenweise sich steigert zur Polyphonie. Was sie von Anfang an so hypnotisch macht, sind die drängenden Metren, auch sie variabel, scheinbar kühl gesteuert von einer überlegenen rhythmischen Intelligenz. Eliot gehört zur Handvoll Dichter im zwanzigsten Jahrhundert, die von Prosodie und metrischer Vielfalt so gut wie alles gewußt haben – sein Gedächtnis für Versmelodien aus allen Zeitaltern englischer Dichtung muß phänomenal gewesen sein. Er hatte das komparative Gehör des Sprachmusikers, dem die klassische Kadenz ebenso leicht zuflog wie die Jazz-Nummer mit exakten Synkopen, ein schlichtes Liedchen, das Geklimper freier Verse oder der Alexandriner aus dem französischen Barock. Es war im Grunde dies, ein Talent für die spezifischen Versmelodien im Wandel der Zeiten, was ihn auf seine Theorie vom historischen Sinn in der Literatur brachte. Die eigenartige Qualität seiner Zeilen ist ihre fast augenblickliche Memorierbarkeit. Sie ist das Betriebsgeheimnis der Eliotschen Dichtung. Auf seine lyrischen Produkte gibt es, wenn nicht alles täuscht, eine Garantie von etlichen Jahrhunderten. Es wimmelt bei ihm von geflügelten Worten. Kein zweiter Moderner ist dem Englischen so schnell ins Blut gegangen wie er. Er hat das Kunststück fertiggebracht, vielzitiert und doch schwerverständlich zu sein, ein populärer Hermetiker. Es wird berichtet, Studenten in Oxford hätten Waste Land als erste laut intoniert, es nachts aus ihren Collegefenstern mit Megaphon über die mittelalterlichen Dächer geschrien. Bald schon hatte das sperrige Stück Kultstatus, war Partygespräch und wurde zur heimlichen Liturgie der Intellektuellen.
Richtig gealtert, aus der Mode gekommen, scheint es bis heute nicht. Seine Spur zieht sich, mal deutlicher, mal verborgener, durch die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts, über Länder- und Kulturgrenzen hinweg, durch verschiedene Sprachen und literarische Schulen. Es ist eins dieser Werke, die zum Grundriß wurden für vieles, was seine Derivation von dorther nicht einmal ahnt. Eine seltsame Leseerfahrung, die sich mit den Jahren nur verstärkt hat, kann ich hier mitteilen. Je öfter man diesen Text vornimmt im Lauf der Jahre, um so mehr zerfällt er in seine Partikel, die als freie Radikale sich an immer neue, aktuelle Ereignisse und Tagesinhalte binden. Ich kenne kein anderes Langgedicht (von so überschaubarer Größe), das in seinen Teilen so polyvalent schillert, mit der Zeit so viele Nebenbedeutungen offenbart. Die prophetischen Elemente sind unübersehbar. Noch gegen Ende, im fünften Teil, der doch immerhin tröstlich mit einem buddhistischen Friedensgebet schließt, finden sich Untergangsvisionen, Bilder der Zerstörung von Zivilisation. Wenn es heißt „Fallende Türme / Jerusalem Athen Alexandria / Wien London / Unwirklich“, wer denkt da nicht unwillkürlich New York und seine gefallenen Türme mit? Es gibt gute Poesie, die ohne solche nostradamischen Qualitäten auskommt, die des Waste-Land-Verfassers jedenfalls ist so katastrophenbeständig, daß sie auch nach den nächsten Tagesthemen noch mitreden kann.
Eliots Waste Land ist zum modernen Klassiker geworden, grundstürzend und schulemachend zugleich. Es gehört, in seinem vielfachen Ausdruckssinn, seinem Einflußreichtum, in dieselbe Klasse von Schlüsselwerken der Moderne wie Picassos Mädchen von Avignon oder Strawinskis Balletmusik Le sacre du printemps. Charakteristisch für sie alle war ihre Auftaktwirkung, das Überraschungsmoment, der Skandal.
Dazu eine Stimme aus den fünfziger Jahren. Der Berliner Theater- und Literaturkritiker Julius Bab, in New York lebender jüdischer Emigrant, bemerkt in seiner Portraitsammlung Amerikas Dichter der Gegenwart zum Problem Eliot:
Dabei sei nicht geleugnet, daß einzelne Zeilen des langen Gedichts auch für den Uneingeweihten einen dichterischen Ton haben – es ist immer der Ton der Chaotik, der sinnlos gewordenen Welt, der Auflösung. Aber das Ganze, wechselnd zwischen rüdestem Realismus und literarisch hochgestelltem Pathos, macht uns nur seekrank. Ein Schlag auf den Hinterkopf würde annähernd dieselbe Wirkung tun – aber er wäre keine dichterische Leistung!
Es ist, bei aller Unbedarftheit, ein freimütiges Urteil, eines, wie man es heute, da Eliots Werk kanonisiert ist, nicht mehr zu hören bekäme. Bemerkenswert ist daran der Unwille, den Anspielungsreichtum und die Tendenz zur Formauflösung im Kritiker erzeugen, ein Unwille, wie er vielfach auch gegenüber der neuen Musik geäußert wurde, etwa gegen die Atonalität Arnold Schönbergs. Der Vorwurf lautet: schwerverständliche Gelehrtenpoesie, esoterisches Gehabe, literarischer Wissenskult anstelle des persönlich Erlebten. Gerade letzteres aber wird man Eliot kaum absprechen können. Wie wir aus den Biographien wissen, war The Waste Land das Resultat einer tiefen inneren Krise. Eliot ist in dem Maße zum Dichter geworden, wie er die Erschütterungen der westlichen Kultur nach dem Ende des Ersten Weltkriegs persönlich als Nervenzusammenbruch durchlitt. Die dröhnende Leere des endgültig nachmetaphysischen Menschen: Zum ersten Mal war sie in heutigen Worten, in der neuen Umgangssprache hörbar geworden, Eliot hatte ihr einen Hallraum verschafft. Sein Gedicht ist im Grunde ein einziger Stoßseufzer über die Belanglosigkeit des modernen Daseins. Der Titel spricht es offen aus: Hier wird eine Dürrezone betreten, es geht um die Austrocknung der westlichen Kultur, um Impotenz, Existenzangst, innere Verödung. Eliot zitiert darin Richard Wagner, aus Tristan und Isolde die Stelle „Öd und leer das Meer“, aber gemeint ist Nietzsche mit seiner Warnung aus dem Zarathustra:
Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.
Worüber die Soziologen allmählich zu forschen begannen, was Freud in diesen Jahren als Unbehagen an der Kultur beschrieb, was einen Krieg später der philosophische Existentialismus zum Befund erhob: Hier hatte ein Dichter es früh in einer Vision vorausgesehen. Er war der erste, der zögernd Schritte gesetzt hatte in diese neue, noch unbeschriebene Landschaft, die dann von vielen erkannt wurde, kaum war sie einmal kartographiert. Wieviel Intuition im Spiel war, bezeugen des Dichters Abwehrversuche, dem das Gewese um sein schwieriges Poem bald selbst unheimlich wurde. Am Ruhm seines Jahrhundertwurfs, seiner erstaunlichen Popularität über alle bloßen Dichterzirkel hinaus hat er auch nichts mehr ändern können. Die Sache war zum Selbstläufer geworden, so gern Eliot sie in späteren Jahren herunter spielte:
Für mich war es nur das Ventil für einen ganz belanglosen Grant gegen das Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischer Quengelei.
Wovon handelt nun dieses Jahrhundertgedicht? Eine Kurzfassung könnte etwa so lauten: Es hebt an in Aprilstimmung mit einer Urlaubserinnerung, Kurgäste am Starnberger See, dem folgt die Vision einer Staubwüste. Eine Wahrsagerin wird aufgesucht, sie legt dem Erzähler die Tarockkarten, dann ein Gang durch London, auf dem in dem wimmelnden Ameisenhaufen zwei alte Bekannte einander begrüßen. Teil zwei schildert als gespenstische Unterwasserphantasie ein Schachspiel, zwei Eheleute im Endstadium ihrer Beziehung, dann kommt eine Kneipenszene, bei der zwei Busenfreundinnen sich über die abwesenden Männer, Kriegsheimkehrer, verständigen und eine die andere über ihre ehelichen Pflichten belehrt, eine Kleinbürgerhölle in wörtlicher Rede. Im dritten Teil kommt die Themse ins Bild, Londons Wasserader in Vor- und Rückblenden, zu Königin Elisabeths Zeiten wie in der Gegenwart der zwanziger Jahre. Folgt die minutiöse Schilderung eines tristen Schäferstündchens zwischen einer Tippse und einem kleinen Angestellten, im Film würde man heute von einer Sexszene sprechen. Der vierte Teil ist der Nachruf auf einen ertrunkenen Seemann, ein klassisches Epigramm. Teil fünf schließlich kombiniert in wenigen Zeitrafferszenen die Passion Christi mit Bildern von Brachland und namenlosen Wüsten, streift den Untergang antiker Metropolen und findet zuletzt, in verdächtigem Ritardando, mit einem buddhistischen Gebet seinen Ausklang. Soviel man weiß, war es das erste Mal, daß in einem Gedicht reale Vogelstimmen auftauchen, in der exakten Lautschrift der Ornithologen.
Hierzulande war das Poem, in stetiger Nachauflage, bislang in zwei Übersetzungsvarianten erhältlich. Eine erste Fassung, schwungvoll und philologisch fundiert, erstellte 1927 bereits der Romanist Ernst Robert Curtius. Er war es, der im deutschen Sprachraum als erster auf Eliot aufmerksam machte. Curtius, ein erklärter Europäer, im Elsaß geboren, sah in Eliots Dichtung den französischen und italienischen Hintergrund, die Versspur Dantes, Baudelaires, Verlaines und die Motivwelt eines gewissen Laforgue, der bis heute nur ein Name unter Eingeweihten ist – für den jungen Eliot das entscheidende Bildungserlebnis. Curtius’ Übertragung Das Wüste Land hat als Pioniertat ihre Gültigkeit, als Orientierungshilfe war sie lange Zeit unverzichtbar. Handwerklich sauber, frei von Manierismen, entstanden aus früher Begeisterung, das Liebhaberstück eines Literaturwissenschaftlers, dem das Goethe-Deutsch noch vertraut war, der aber auch die Mot-juste-Poetik eines Flaubert kannte und bei Joyce das Wort als Suggestionsmittel in seiner Klangmagie kennengelernt hatte. Eliots historisierender Wortgebrauch sprach ihm, der mit Goethe sich über 3.000 Jahre Literaturtradition Rechenschaft geben wollte, aus dem Herzen. Die mythologische Gelehrsamkeit kam ihm entgegen, der Alexandrinismus des mit allen Wassern gewaschenen Modernisten. Er hatte sein Vergnügen an den lässig hingeworfenen Allegorien, an der nervösen Metaphernsucht, den Spaziergängen durch das kollektive Unbewußte der Epoche. „Die Abfälle werden von dieser Poesie nicht eliminiert, sondern galvanisiert. Sie symbolisieren die schalen Rückstände verbrauchter Zeit“, schrieb er mit der klammheimlichen Freude des mitwissenden Provokateurs – ein Doppelgänger des respektierten Professors und Lehrstuhlinhabers.
Die zweite Übersetzung stammt aus der Feder von Eva Hesse, die den meisten besser bekannt sein dürfte als Ständige Vertretung Ezra Pounds in Deutschland. Wahrscheinlich waren es die Hebammendienste ihres Meisters, die das Interesse geweckt hatten. Von einem Sinn für „die Rhythmen und den Wechsel der Rhythmen“, wie er Curtius beflügelte, ist bei ihr wenig zu spüren. Auffällig sind die verwegenen Archaisierungen, mit denen sie Eliots Ausflügen ins Altenglische beizukommen versuchte. Wer ihre Cantos-Übersetzungen kennt, wird den hausbackenen Gebrauch des Verfremdungseffekts wiedererkennen. Streckenweise liest sich Das Öde Land wie der Versuch einer Amateurarchäologin, den Scherbenhaufen einer unbekannten Kultur in eine halbwegs museale Ordnung zu bringen. Von echter Revision konnte damals, 1972, keine Rede sein.
So sprach vieles dafür, das Waste Land dreißig Jahre später, mit der Unbefangenheit einer neuen Generation, ein weiteres Mal anzupacken. Norbert Hummelt, gelernter Anglist, aber, was hier mehr ins Gewicht fällt, selbst Dichter mit langer Erfahrung, machte als dritter sich an die Arbeit. Sein Wahlspruch, im Nachwort furchtlos verkündet, lautet:
Übersetzen ist die intensivste Form des Lesens.
Wir leben im Zeitalter der Remakes und Retrospektiven, warum also sollte einer sich nicht an das berühmteste Langgedicht des zwanzigsten Jahrhunderts wagen – „to make it new“, wie Ezra Pound, der futuristischste unter den Traditionalisten, es vom modernen Dichter verlangte?
Natürlich weiß Hummelt um das Grundproblem jeder literarischen Übersetzung. Tradutore – Traditore, wie das italienische Wortspiel lautet: Übersetzer – Verräter. Vermutlich kennt er auch Robert Frosts hartes, sehr puritanisches Diktum: Das erste Opfer beim Übersetzen von Poesie sei meistens die Poesie selbst. Ist Übersetzen also nicht strenggenommen unmöglich, wie Ortega y Gasset behauptete? Fest steht, es gibt keine absolute Übereinstimmung im Denken, Sprechen und Phantasieren zwischen der einen und der anderen Sprache, erst recht nicht, wo es sich um ihre höchstentwickelte Ausdrucksform, die Dichtung, handelt. Hierzu hat, radikal wie immer, Vladimir Nabokov sich in aller Deutlichkeit geäußert. In seinem Gedicht „Vom Übersetzen des Eugen Onegin“, Bekenntnis seiner Sünde, Puschkins Meisterwerk ausgerechnet in ein Phantasie-Kalifornisch transponiert zu haben, heißt es in übertriebener Reue:
What is translation? On a platter
A poet’s pale and glaring head,
A parrot’s screech, a monkey’s chatter,
And profanation of the dead.
(Zu deutsch etwa:
Und Übersetzung? Was ist’s andres
Als auf dem blassen, blanken Dichterhaupt
Ein Papageien-Kreischen, äffisches Geplapper,
Das noch dem Toten seine Würde raubt.)
Solche Argumentation gehört heute zum Standardrepertoire auf Übersetzerkolloquien. Weitaus seltener sind dagegen gewitzte Konzepte, wie man das Übersetzungsdilemma geschickt überspringt. Der Logik des späten Barock folgend, überraschte ein gewisser Charles Perrault, Gegner des berüchtigten Kunstrichters Boileau, das Publikum mit der These, die Wortwahl sei in der Kunst der Rede nebensächlich, da es doch hauptsächlich auf den Sinn des Gesagten ankomme. Man könne einen Autor also besser nach seinem Übersetzer beurteilen, so schlecht er auch sein möge, als durch die Lektüre im Original.
All diese Einwände, die ernsten wie die kindischen, waren Hummelt bekannt, lange bevor er sich ans Werk machte. Man kann sagen, zum Glück für uns und für die Muttersprache, dieses wandlungslustige, einfallsreiche, launische Wesen. Noch einmal nötigt er uns, ein fremdes Meisterwerk, das längst abgehakt war, en détail zu betrachten, mit dem plötzlichen, gratis erworbenen Kennerblick des Leserbriefschreibers. Er lockt den Beckmesser aus seiner Deckung, bringt den Haarespalter in Wallung. Einer von diesen Burschen hat noch in jedem Kritiker gesteckt.
Nehmen wir nur die Sexszene zwischen dem Schreibmaschinenfräulein und dem kleinen Agenturmitarbeiter, das Kernstück des Poems, wie Eliot einmal unvorsichtigerweise zugab. Der Seher Teiresias begegnet uns da, jene Mythenfigur, die für die erotische Erfahrung beider Geschlechter steht, weil sie, im griechischen Metamorphosenreigen einzigartig, nacheinander Mann und Frau gewesen ist. Aus ihrer Perspektive wird der trostlose Vorgang berichtet, der Vers bekommt eine erzählerische Note, von ferne klingt ein Balladenton an. Hummelt aktualisiert hier am stärksten. Die blaue Stunde wird bei ihm zum schnellen Geschlechtsakt einer Londoner „Tippse“ mit ihrem billigen „Akne-Prinzen“. Heißt es von ihr in den Augenblicken vorher: „Gewagt, wie auf dem Fensterbrett / Im letzten Sonnenlicht sie ihre Bodys trocknet“, so wird nach kurzem Gerangel („Sein Grapschen stößt auf keine Gegenwehr“) die Sache im Original von ihr damit besiegelt, daß sie ihr Grammophon anwirft. Auch Hummelt betont das Mechanische, holt aber die Frau post coitum in eine Fast-Gegenwart, wenn er nachdichtet:
Und legt noch einmal die Cassette ein.
Und siehe da, der coole Jambus ist so bis in die achtziger vorangetrottet, im Disko-Zeitalter angekommen. Dann aber folgt eine Kühnheit, die eine ganze Dimension zum Verschwinden bringt. Eliots Dichtung beruht, wie gesagt, auf einer Echolotung quer durch die europäische Poesie, sie ist ein Anspielungssystem, in dem die Geschichte des englischen Verses gleichsam mitvibriert, wie in Hegels Phänomenologie die des abendländischen Geistes. Eines der wiederkehrenden Motive des Waste Land ist das der verlorenen Unschuld. Blanker Sarkasmus blitzt auf, wenn Eliot den Fall der Typistin mit einer Liedzeile von Oliver Goldsmith aus dem Vikar von Wakefield beschließt, einem der europäischen Erfolgsromane des achtzehnten Jahrhunderts:
When lovely woman stoops to folly and.
Der junge Goethe mochte das Liedchen im Ohr gehabt haben, als er, geschwind zu Pferde, unterwegs war zu seinen verliebten Treffen mit der Pfarrerstochter Friederike Brion in Sessenheim. Es ist ein trauriges, ein moralisches Lied, im Kern enthält es schon den halben Werther und das ganze Gretchen aus dem Urfaust. Hummelt verpaßt ihm eine Drehung in Richtung Hollywood-Kino:
Wenn Pretty Woman sich getäuscht hat.
Aus dem Jahrhunderte währenden Drama der Frau ist romantische Komödie geworden, ein Registerwechsel, der nicht ohne Verluste abgeht.
Es gibt noch mehrere dieser Brüche und Übersprünge, und da sie gewollt sind, mag man in ihnen die Handschrift des Übersetzers erkennen, Einfallsreichtum und Frische eines lebendigen Menschen. Vom Fragmentcharakter des großen Opus hat Literaturtheorie viel Aufhebens gemacht, von seiner Faktur aus zerbrochenen Bildern, zerrissenen Klängen. Hier wird Hummelt oft spielerisch. So paraphrasiert er die Schlagerzeile aus dem zweiten Teil („O o o o that Shakespeherian Rag“), sehr gedehnt vorzutragen als Chorus, mit einem popmusikalischen Tagesausdruck:
No No No No Shakespeare hat den Groove –
Der Anklang an Hamlet entfällt. Seine letzte Äußerung im Stück ist bekanntlich:
The rest is silence.
In der ersten Gesamtausgabe nach Shakespeares Tod folgt dem aber noch ein vierfaches O, in späteren Editionen als Scherz eines betrunkenen Setzers getilgt. Eliot weiß, warum er den Schmerzenslaut des sterbenden Hamlet hier einfügt. Und Hummelt weiß um den Doppelsinn der Zeile, nämlich Zitatfetzen und Ohrwurm im Jazzstil des Ragtime zu sein – und zieht ihm die Aktualisierung vor. Ein andermal scheint es, als hätte Günter Grass ihn beiseite genommen, wenn aus dem gashouse am trüben Kanal ein Gasometer wurde. Aus Eliots Bekenntnis zur Collagetechnik nimmt Hummelt sich die Freiheit zur gelegentlichen Neukombination. Eines der letzten Worte lautet denn auch konsequent:
Warum auch nicht, paßt schon.
Hummelt hat manches gewagt, sich insgesamt aber wohltuend zurückgenommen. Erstaunlich bleibt, daß er das überhaupt durfte. Man kennt den Eliot-Trust und seine strenge Lizenzvergabepolitik. Nach dem Erfolg des Musicals Cats, zu dem Old Possums Katzenbuch, eine von Eliots genialen Gelegenheitsdichtungen, die Vorlage lieferte, ist einigen Leuten aufgefallen, wie gewinnträchtig Lyrik sein kann.
Mit seiner Neufassung hat er, auf seine ruhige, hintergründige Weise, ein Musterstück mimetischer Übersetzungskunst geliefert. Sein Vers hält sich strenger an Duktus und Metrik des Originals und folgt ihm dabei doch unauffälliger als seine Vorgänger Curtius und Hesse. Hummelt agiert übersetzerisch wie der ideale Beschatter, ein geschmeidiger Scotland-Yard-Agent, der, gut getarnt in der Menge, dem Poem auf den Fersen bleibt auf seinem Gang durch das London der Zwischenkriegszeit. „Glitt hügelan und abwärts zur King William Street“ heißt es einmal, und genauso geschmeidig gleitet auch sein Vers dahin, ein Fußgänger, der hier und da innehält und meditierend in den Abgrund der Zeiten starrt. Wer Übersetzungen braucht, kann sich hier nun auf eine besonders gut lesbare verlassen.
Durs Grünbein, aus Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate, Suhrkamp Verlag, 2019
Wieland Freund: „April ist der grausamste Monat“
Steffen Damm: Wenn sich die Zeiten gleichen
Ein Abend zu T.S. Eliots Aktualität mit Johannes Ungelenk und Rike Scheffler am 2.12.2022 im Lyrik Kabinett, München. Moderation: Tobias Döring
Ernst Robert Curtius: T.S. Eliot, Merkur, Heft 11, Januar 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
Eva Hesse: T.S. Eliot Schwierigkeiten beim Leben. „Gerontion“ als Selbstinterpretation des Dichters, Merkur, Heft 203, Februar 1965
Eva Hesse: T.S. Eliot Schwierigkeiten beim Leben (II). „Gerontion“ als Selbstinterpretation des Dichters, Merkur, Heft 204, März 1965
Norbert Hummelt: Die verlorene Technik, Sinn und Form, Heft 6, November 2024
Durs Grünbein und Norbert Hummelt im Gespräch über T.S. Eliot.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 1/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 2/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 3/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 4/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 5/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 6/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 7/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 8/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 9/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 10/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 11/11.
Hummelts Übersetzung ist nicht so besonders und gegenüber der von Curtius keine Verbesserung. Man könnte vielleicht sagen, sein Streben nach Aktualisierung hat ihn in die Irre geführt, er macht aber auch sachliche Fehler. In IV. Tod durch Wasser heißt es z. B. im Original “Forgot the cry of gulls” und Hummelt übersetzt ohne Zögern: “Vergaß den Möwenschrei”, obwohl er so gut wie jeder andere, der mal an der Küste war, wissen sollte, dass ein Möwenschrei nie allein daher kommt.
Sehr viel stimmiger, genauer und auch sprachlich eleganter ist die von Orthau (www.eXperimenta.de), auch weil sie Eliots Tonfall und seine wenigen Reime erhält. Sie lautet zu IV:
Phlebas, der Phönizier, zwei Wochen tot,
Vergaß das Möwengeschrei und das Rollen der Wogen
und Gewinn und Verlust.
Eine Strömung
nahm wispernd sein Gebein. Aufsteigend, hinab gezogen,
Durchlief er sein Leben, Alter und Jugend
Und trieb in den Strudel.
Jud‘ oder Christ
O du, der du das Rad drehst und windwärts schaust,
Denk an Phlebas, stattlich, groß einst, wie du es bist.