IV. DER NASSE TOD
Phlebas der Phönikier, seit vierzehn Tagen tot,
Verlernt den Möwenschrei, den Tiefseeschwall
Und das Haben und das Soll.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEin untermeerischer Sog
Nagt wispernd sein Gebein. So auf und ab getorkelt
Durchmißt er die Zeitflucht vom Greis zum Kind
Und geht ein in den Wirbel.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaChrist oder Jud,
O du am Rad, der luvwärts hält, merke auf Phlebas,
Der einst wie du war groß und wohlgestalt.
Aus: Das Wüste Land
Übersetzt von Eva Hesse
Ein Großteil der Übersetzungen in diesem Band 4 von T.S. Eliot. Werke, der zum hundertsten Geburtstag des Dichters revidiert wurde, entstand in den vierziger und fünfziger Jahren, einige Anfang der sechziger Jahre. So erschien Nora Wydenbrucks Übersetzung der Four Quartets bereits 1948 im Amadeus-Verlag, Wien. Rudolf Alexander Schröders Übersetzung von Ash Wednesday kam mit Ernst Robert Curtius’ Übersetzung des Waste Land aus dem Jahr 1927 und K.G. Justs Übersetzung von The Love Song of J. Alfred Prufrock 1951 bei Suhrkamp, T.S. Eliot. Ausgewählte Gedichte, heraus. In der erweiterten Ausgabe 1964, T.S. Eliot. Gedichte, erschienen zusätzliche Verdeutschungen von Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried und von mir. Weitere Übersetzungen wieder von anderer Hand – Hedda Soellner, Christian Enzensberger, Hans Hennecke, Hans-Jürgen Heise, Alexander Schmitz – sowie die älteren „Katzengedichte“ mit ihren vielen Übersetzern (darunter Erich Kästner und Carl Zuckmayer) und meine Neuübersetzung des Waste Land auf Grund der neuen Perspektiven der wiederentdeckten Urfassung wurden 1972 in die Ausgabe der Gesammelten Gedichte 1909–1962 aufgenommen. Dies war die erste fremdsprachige Werkausgabe von T.S. Eliot, die alle bisher in Büchern veröffentlichten Gedichte (mit Ausnahme einiger Jugendgedichte) umfaßte…
I
Es war einmal ein früher Vormittag am vornehmen Russell Square in London. Gelber wattiger Nebel verwischte die Konturen und ließ den Ort menschenleer erscheinen. Da löste sich aus den Schlieren eine hagere, etwas gebückte Gestalt. Sie trug die vorgeschriebene Kleidung der leitenden Angestellten in der City: dunkler Hut und Mantel, Handschuhe, Aktentasche, Schirm. Der Mann trat in den Lichtkegel der Straßenbeleuchtung, tat einen kleinen Luftsprung und verlor sich gemessenen Schritts im blickdichten Nebel. Es war T.S. Eliot, der sich unbeobachtet glaubte, auf dem täglichen Weg in das Verlagsbüro von Faber & Faber.
Der „alte Aar“, wie er sich gern genannt hörte, stand damals in der dritten Phase der stereotypen Laufbahn des entfremdeten romantischen Genies, die da besteht aus den Stationen: Leiden, Durchbruch, Ruhm und Abstieg. Oder war es schon die vierte? 1948 hatte er den Nobelpreis für Literatur erhalten und, was ihm mehr bedeutete, aus der Hand des englischen Monarchen, George VI., den Verdienstorden ‚Order of Merit‘. Die vielen Auszeichnungen wurden ihm nachgerade lästig. In ihrem restaurativen Heißhunger auf irgendeine unbefleckte Autorität verlieh ihm die Bundesrepublik der Adenauerzeit dann 1955 auch noch den hanseatischen Goethepreis und nötigte ihn dadurch zu einem Vortrag über „Goethe den Weisen“, obwohl er schon 1933 über diesen Dichter geschrieben hatte, „er pfuschte in der Dichtung und der Philosophie herum und brachte es in keiner der beiden allzuweit“. Nur kam es bei diesem Anlaß auf das, was Eliot früher geschrieben hatte, kaum noch an. Sein öffentliches Image als Kulturorakel und moralische Instanz der Christenheit verbot jede kritische Hinterfragung seiner Werke ebenso wie seiner Lebensdaten. Das war ganz in seinem Sinn, hatte er sich doch bereits 1925 über den Tod hinaus jede Biographie verbeten und testamentarisch verfügt, daß sein schriftlicher Nachlaß frühestens im Jahr 2020 der Nachwelt zugänglich gemacht werden dürfe…
Eva Hesse, Aus dem Nachwort
Als T.S. Eliot am 4. Januar 1965 gestorben war, da sprach man vom Tod eines der grössten Dichter unserer Zeit. In den wenigen Jahren aber, die seither vergangen sind, verblasste Eliots Ruhm so sehr, dass man sich heute kaum mehr vorstellen kann, welchen Einfluss dieser Lyriker, Dramatiker und Essayist zu Lebzeiten hatte. Eine Ausgabe seiner Werke in Deutschland wäre vor zehn Jahren noch ein literarisches Ereignis gewesen – heute mutet sie schon beinahe wie ein blosser Akt der Pietät gegenüber einem einstmals Berühmten an.
Umso erfreulicher ist es, dass der Suhrkamp Verlag seine Eliot-Ausgabe, die wohl kaum eine gross Resonanz finden wird, nun zum Abschluss gebracht hat: nach einem Dramen-Band und zwei Büchern mit Essays ist nun der vierte und letzte Band Gesammelte Gedichte 1909 bis 1902 erschienen, herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Hesse. Die Ausgabe enthält bis auf drei Gelegenheitsgedichte sämtliche Texte der Collected Poems 1909 bis 1902, ferner das heitere Old Possums Katzenbuch und das frühe Gedicht „Der Tod des Sankt Narzissus“. Alle Gedichte werden im englischen Original und in deutscher Uebersetzung vorgestellt, wobei frühere Uebertragungen nach dem jüngsten Stand der Eliot-Forschung überarbeitet wurden.
Das zentrale Gedicht The Waste Land, bisher in der deutschen Fassung von Ernst Robert Curtius bekannt, wurde anhand der kürzlich entdeckten Urfassung von Eva Hesse neu übertragen. Eine Vielzahl qualifizierter Uebersetzer hat bei dieser Ausgabe mitgewirkt, genannt seien nur Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Hans-Jürgen Heise, Klaus Günther Just und Rudolf Alexander Schroeder. Selbst Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld hat sich unter die erlauchte Uebersetzerschar gemischt und es sich nicht verkneifen können, den Vers Eliots „So if you have business with Faber – or Faber – (Eliot war Verlagsdirektor von Faber & Faber in London) zu übersetzen:
Habt ihr Geschäfte mit Suhrkamp – oder Unseld –
Bemerkenswert ist das Nachwort, das Eva Hesse den Gesammelten Gedichten Eliots angefügt hat – bemerkenswert deswegen, weil hier nicht, üblicher unguter Editoren-Praxis folgend, der Autor auf ein Podest gestellt wird; vielmehr wird Eliots Nimbus entschieden in Frage gestellt. Eva Hesses Bemerkungen sind derart kritisch, dass sie gegen Ende ihres Essays erklären muss, warum „Eliots dichterisches Werk trotz seiner Negativität unsere Sympathie und unser Interesse verdient“.
Die Herausgeberin unternimmt genau das, was sich Eliot selbst – nicht ohne Grund, wie sich zeigt – energisch verbeten hat: sie betrachtet das dichterische Werk unter psychoanalytischer Fragestellung in der Absicht, die Dunkelheit dieses Werks aufzuhellen, die sie weniger als ein gewolltes Stilelement interpretiert, vielmehr als eine Methode, private Emotionen und Erlebnisse zu verschleiern, das zu verschweigen, was Eliot im Kern bewegte. Wenn bei diesem Versuch die Psychoanalyse auch ein wenig überstrapaziert wird, so ergeben sich doch wesentliche Einsichten in Eliots Methode, „ein labiles, überaus konfliktreiches Gefühlsleben hinter der esoterischen Assoziationstechnik seiner Dichtung oder hinter der pedantisch-dogmatischen. Gerechtigkeit seiner kritischen Straf-Expeditionen abzusichern“. Auch Eliots Konversion zur anglikanischen Kirche 1927 erscheint hier in neuem Licht als „intellektuelle Selbsthilfe aus seelischer Not“.
Was Eva Hesse etwa von Triebsublimierung und Desexualisierung in freudscher Terminologie sagt, mag gelegentlich allzu forsch klingen: immerhin bringt es Aufschlüsse über Eliots Wendung gegen Humanismus und liberale Demokratie und für sein Christentum, das mit Liebe, Freude und Erbarmen wenig zu tun hatte, das sich an Dogmen und Rituale hielt, eine Religiosität aus dem Intellekt war. Diese Feststellungen Eva Hesses haben nichts mit indezenter Neugier zu tun, sie dienen dem Verständnis des Werks, das, wie bei nicht wenigen Dichtern der Moderne (Celan, Eich) in weiten Teilen eine in der Dichtung aufgehobene Autobiographie ist. Und Eva Hesse könnte sich sogar auf Eliot selbst berufen. Zwar hielt der Nobelpreisträger, Millionär und siebzehnfache Ehrendoktor sein Privatleben geheim, zwar finden sich nur ganz selten offen autobiographische Spuren in seiner Dichtung – ein Huldigungsgedicht an seine zweite, 38 Jahre jüngere Frau ist eine Ausnahme in diesem Werk –, doch hatte Eliot 1956 in einem Vortrag gesagt:
Ich will nicht behaupten, Persönlichkeit und Privatleben eines nicht mehr lebenden Dichters seien geheiligter Boden, den kein Psychologe betreten darf. Der Wissenschafter muss die Freiheit haben, alles Material zu untersuchen, das seiner Neugier des Erforschens wert erscheint.
Der Band der Gesammelten Gedichte beginnt mit den Prufrock-Gedichten, der ersten Lyrik-Publikation Eliots, die durch Initiative Ezra Pounds 1917 erschien; es sind vom Symbolismus noch beeinflusste Verse, die desillusionierend und bitter ein Leben zeichnen, das in Banalität vertan wird und in dem es nur im Traum („Ich hörte die Meermädchen singen“) zu einer Erfüllung kommt. Nach weiteren sarkastischen Gedichten folgt 1922 Das wüste Land, jener inzwischen als Magna Charta der modernen englischen Lyrik kanonisierte grosse, mythendurchwobene hermetische Gesang von der Hohlheit und Hoffnungslosigkeit, der Oede, dem Verfall und der Suche nach Erlösung.
1927 war Eliot, der gebürtige Amerikaner, britischer Staatsbürger geworden, 1928 wurde er Anglikaner, und 1930 erschien die Sammlung Aschermittwoch, der lyrische Ausdruck seiner Konversion. Der einstige literarische Rebell und Nihilist Eliot hat später bekannt, politisch sei ei Monarchist, in Fragen der Aesthetik Klassizist, religiös Anglikaner. Im Zeichen dieses Bekenntnisses steht sein späteres Werk, doch zeigen sich dem aufmerksamen Leser immer wieder Risse und Brüche in diesem „Westminster Abbey aus Pappmache“, wie Eva Hesse nicht ohne Schärfe sagt. Noch in den Four Quartets finden sich 1940 Spuren des Zweifels an den so bitter errungenen dogmatischen Gewissheiten („– War unser einstiges Erbteil ein Rezept für Betrug?“).
Es ist heute leichter, den Zugang zum frühen Werk Eliots zu finden als zu den späten Gedichten, die der Poet in den Dienst seiner Ideologie zwang und wo er etwa im Gebet das Lob von „grace and order“ anstimmte. Aufatmend liest man nach solch herb-missionarischen Versen die liebenswert-heiteren Gedichte in Old Possums Katzenbuch, von denen Friedrich Luft einmal treffend gesagt hat, dieses Buch beweise, „wie auch ein Dichter, der sich sonst den schwarzen Mantel des dunklen, des tiefen Poeten umschlingt, durchaus der positiven Albernheit erliegen und fröhlich frönen kann. Der Mann kennt seine Katzen und er kennt seinen Vers. Er streichelt das geheimnisvolle Geschlecht der Hauslöwen mit seinem Spass, seiner Ironie und seiner verdeckten Zuneigung.“
Lyrik sei „memorable speech“ – so W.H. Auden und John Garrett in ihrer Anthologie The Poet’s Tongue (London 1935). Das nicht Greifbare in die Begrifflichkeit einer Definition zu bringen, liefert bestenfalls den qualitativen Maßstab zur Annäherung an das Werk. So entspricht beispielsweise T.S. Eliots bedeutendstes Opus Four Quartets, entstanden zwischen 1935 und 1942, den wesentlichen Anforderungen einer Rede: Aussage ohne Deklamation, Klarheit trotz Dichte, Vielfältigkeit als unerläßliches Strukturprinzip und Kontinuität durch strategische Rhythmisierung des Textes. Die Stränge, an denen sich englische und amerikanische Lyrik entlangentwickelten, sind der deutschen Tradition derart verschieden, daß sich u.a. in Bezug auf das oben wiedergegebene Diktum eine vollkommen andere poetologische Konsequenz ergibt. (Dies hängt nicht zuletzt mit der fast zeitlosen Gegenwärtigkeit der dramatischen Kunst in der englischen Literatur zusammen.) Hierin mag einer der Hintergründe dafür liegen, weshalb die in der Suhrkampschen Ausgabe abgedruckte Übertragung der Quartette durch Nora Wydenbruck, die bereits 1946 zu erscheinen begann, zu einem Unterfangen geriet, dessen Scheitern sich bereits aus der Konzeption hätte ableiten lassen können. Daß diese frühe Fassung nun zum wiederholten Male vorgelegt wird, zeigt, daß es bewußte Politik des Verlages ist, das hiesige Publikum nicht nur so billig wie möglich abzuspeisen, sondern auch durch die unnachgiebige Handhabung der Exklusivrechte an den Werken Eliots für die deutsche Sprache über die mangelnde Qualität etablierter Verdeutschung hinwegzutäuschen. Ein Abschnitt aus dem zweiten der Quartette, „East Coker“, in anonymer Übertragung im zweiten Heft der Zeitschrift Babel (Schondorf 1983) erschienen, bezeugt sowohl die Möglichkeit, Eliot gut zu übersetzen, als auch die bittere Notwendigkeit dazu:
[…] and every attempt
Is a wholly new start, and a different kind of failure
Because one has only learnt to get the better of words
For the thing one no longer has to say, or the way in which
One is no longer disposed to say it. And so each venture
Is a new beginning, a raid on the inarticulate
With shabby equipment always deteriorating
In the general mess of imprecision of feeling,
Undisciplined squads of emotion.
[…] und jeder Versuch
Ist ein ganz neuer Anfang, ein anders geartetes Scheitern,
Denn man hat nur gelernt, die Worte zu meistern
Für das, was man nicht mehr zu sagen hat, oder für die Art, in der
Man es zu sagen nicht mehr geneigt ist. So ist jedes Wagnis
Ein neuer Beginn, ein Angriff auf das Sprachlose
Mit schäbiger Ausrüstung, die immer unbrauchbarer wird
In der allgemeinen Schlamperei ungenauen Empfindens
Unter den disziplinlosen Truppen der Gefühle.
(übertragen von Kevin Perryman)
[…] und jeder Versuch
Ist ein ganz neues Beginnen, eine neue Art von Mißlingen,
Weil man nur gelernt hat, Worte zu meistern
Für Dinge, die man nicht mehr sagen will, oder für Formen,
In denen man sie nicht mehr sagen möchte. Darum ist jeder Versuch
Ein neuer Anfang, ein Vorstoß in das Sprachlose,
Mit schlechter Ausrüstung, die sich immer weiter abnützt
Im allgemeinen Durcheinander unbestimmter Gefühle,
Zuchtloser Haufen von Regungen.
(übertragen von Nora Wydenbruck)
Um die anderen bedeutenden Gedichte, allen voran The Waste Land, ist es kaum besser bestellt. Die angeblichen Korrekturen, die an dieser Neuausgabe vorgenommen wurden, machen genausoviel Sinn wie eine Goldfüllung an einem bereits gezogenen Zahn. Der deutsche Eliot freilich hat nicht nur keine Zähne mehr, sondern darüber hinaus seine Zunge verloren. Die Chancen, große Lyrik in Übersetzung nahezubringen, sind ohnehin gering. Realistisch und erforderlich jedoch ist eine lebendige Auseinandersetzung, deren Erträge sich in neuen Übersetzungen niederzuschlagen haben.
Valerie Eliot, die Witwe des Dichters, zeigte sich ob dieses Zustands besorgt. Auf unabsehbare Zeit wird das lyrische Werk eines der Denkwürdigen dieses Jahrhunderts hierzulande in die Vergessenheit fortgetragen – als Rede, die des Erinnerns nicht wert ist.
Ernst Mannheimer, Park, Heft, 35/36, Oktober 1989
– Zum hundertsten Geburtstag. –
Der hundertste Geburtstag eines Dichters ist zwar Anlaß zu feiern, aber feiern in der Zeit, der Zeitlichkeit. Darum beginne ich nicht mit dem Gedichtwerk T.S. Eliots, welches vom Zeitablauf am wenigsten berührt worden ist, sondern mit Eliots Wirken auf seine Zeit als Literatur-, Kultur- und Gesellschaftskritiker. Da diese Funktion Eliots in sein späteres Dichten, ganz besonders das für die Bühne bestimmte, weitgehend hineinspielte, ist sie auch nur von ganz wenigen seiner Dichtungen ganz trennbar. Für Autoren meiner Generation, die zu schreiben anfingen, als Eliot seine späten Gedichte, die Vier Quartette, veröffentlichte, war sein gesamtes Wirken vorbildlicher – leider auch nachahmbarer – als seine Lyrik. Diesem gesamten Wirken verdankte er die Sonderstellung, die er zu beanspruchen schien und auch für viele von uns einnahm.
Je mehr über das Werk und die Person T.S. Eliots bekannt wird, desto widerspruchsvoller und paradoxer werden beide; damit auch sein gesamtes Wirken, seine vorbildliche Funktion. Wenn selbst seine Gedichte in Großbritannien und Amerika umstritten bleiben, liegt das viel weniger an ihrer Qualität als an der weltanschaulichen Autorität, die sie jahrzehntelang besaßen – nicht ohne Hilfe der in seiner Prosa betriebenen Kulturpolitik. Die von ihm selber geforderte Trennung des „leidenden“ Dichters von dem „unpersönlichen“ Werk wird gerade in seinem Fall immer unvollziehbarer, seitdem sie sich als ein zwanghaftes Versteckspiel herausgestellt hat. Der „unsichtbare Dichter“ des Buches von Hugh Kenner von 1959 ist – zum Beispiel in der Biographie Peter Ackroyds – sehr viel sichtbarer geworden, auf eine fast erschreckende und erschütternde Weise; und das, obgleich die Unpersönlichkeit Eliots dadurch geschützt wurde, daß man Ackroyd das Recht, aus unveröffentlichten Dokumenten zu zitieren; enthielt. Daß indessen auch das intimste Leiden Eliots, jenes an seiner ersten Ehe, auf die Bühne gebracht wurde, sagt mehr über Entwicklungen im englischen Kulturleben als über Eliots Person. Diese Entwicklungen gehören aber zu Eliots zeitlichem Wirken, zu dem, was er damit wollte, und dem, was in seinem Jubiläumsjahr davon übrigbleibt.
Spätestens seit 1927, dem Jahr seiner sogenannten Bekehrung und seiner Aufnahme in die anglikanische Kirche, galt fast das ganze Schaffen T.S. Eliots seinem dreifachen Engagement als „Klassizist in der Literatur, Royalist in der Politik und Anglo-Katholik in der Religion“, wie er es in seinem Essay Für Launcelot Andrewes formulierte. Schon 1927 war diese Erklärung, in einem literaturkritischem Essay, höchst sonderbar und herausfordernd. Daß Eliot in der Kunst das Klassische dem Romantischen vorzog, hatte er schon durch seine Vorliebe für die englische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts bewiesen. (Eine ähnliche Wandlung im Geschmack war auch in den anderen Künsten, der bildenden und der Musik, zu jener Zeit bemerkbar und setzt sich noch immer fort, indem die mit Unrecht vergessenen vorromantisehen Meister wiederentdeckt und gewürdigt werden.) Ob aber eine neue Klassik im 20. Jahrhundert möglich war, ohne jene gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen sich die klassische Kunst ergeben hatte, war eine andere Frage. Die dreifache Erklärung Eliots deutete an, daß er diese gesellschaftlichen Bedingungen restaurieren wollte oder ihre Restaurierung für möglich hielt.
Was den Royalismus betrifft, gab es 1927 in Großbritannien gar keine royalistische Partei oder Bewegung, da die demokratisch eingezäunte – Monarchie fast ohne Ausnahme selbst für Sozialisten als eine selbstverständliche Institution galt. Schon mit diesem Wort bezeugte also Eliot den Einfluß von Charles Maurras und seiner Action Française – einer antirepublikanischen, anti-demokratischen Bewegung in Frankreich, deren Nationalismus nicht verhinderte, daß sie im Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Besatzung kollaborierte. Übrigens hatte sich auch Maurras in seinen Büchern für die Klassik und gegen die Romantik erklärt, weil für ihn die Romantik eine revolutionäre und zersetzende Tendenz war.
Noch 1955 konnte sich aber Eliot so weit mit der Konservativen Partei Großbritanniens identifizieren, daß er der Londoner Conservative Union seine Ansprache Die Literatur der Politik vortrug – ein in England auch zu jener Zeit ganz außerordentlicher Eingriff eines Dichters in die Parteipolitik. Dabei muß man bedenken, daß das Wort „Kulturpolitik“ in Großbritannien ein unübersetzbares Fremdwort war und bleibt, weil Literatur und Kunst dort – anders als in Deutschland, Frankreich oder Italien – zum Bereich der politischen Öffentlichkeit keinen direkten Zugang haben, es darum auch keine Klerisei der Intellektuellen und Künstler gibt. Die Sonderstellung Eliots seit seiner Leitung der Zeitschrift The Criterion ergab sich also zum Teil daraus, daß er trotz seiner Anpassung an britische Konventionen – der oft übertriebenen Anpassung des Konvertiten – eine im Grunde nicht britische Funktion auf sich nahm: jene des Praeceptor Britanniae, eine unerhörte, die ich auch von der nicht unerhörten Bezeichnung „Praeceptor Germaniae“ ableiten mußte.
In dieser Ansprache bezog sich Eliot auf den Dichter und Denker Samuel Taylor Coleridge – zusammen mit Edmund Burke und Disraeli – als geistigen und ideologischen Gründer des neuzeitlichen britischen Konservatismus. (Daß Coleridge ein romantischer Dichter war, brauchte in diesem Zusammenhang von Eliot nicht hervorgehoben zu werden.) Auch 1955 muß allein die Nennung des Dichters Coleridge einige seiner Zuhörer gewundert haben. Ob es in England überhaupt so etwas wie eine konservative Ideologie gab, wurde gerade damals von vielen innerhalb und außerhalb der Partei in Frage gestellt, da sich die Partei – anders als die Labour Party, insofern diese noch sozialistisch dachte – als die pragmatische, nicht ideologisch gelenkte ausgab. Heute jedenfalls haben weder Coleridge noch Burke, nicht einmal Disraeli, etwas in der Konservativen Partei Großbritanniens zu suchen. Eine Ideologie hat zwar diese Partei nun, jedoch eine Ideologie, die sie von einem amerikanischen Wirtschaftstheoretiker aus Chicago übernahm und welche auf dem ökonomischen Konkurrenzethos des „freien Markts“ beruht. Dieses Konkurrenzethos hieß in England einmal „Manchesterism“ und äußerte sich im 19. Jahrhundert nicht unter den Konservativen, sondern unter den Liberalen, der Partei der Fabrikanten und Geschäftsleute – und auch dort nur selten ohne christliche oder humane Vorbehalte. Noch zu Eliots Lebzeiten bekannte sich die Konservative Partei zum Programm des Wohlfahrtsstaats – welche ein Liberaler, Beveridge, ausgearbeitet hatte −, sprach sogar von der „nicht akzeptablen Seite des Kapitalismus“. Von der gegenwärtigen Regierung wird der Wohlfahrtsstaat systematisch, wenn auch stufenweise, abgebaut. Daß dies nun zu Konflikten mit der königlichen Familie und mit der anglikanischen Kirche geführt hat, macht die ganze politische Stellungnahme Eliots noch bei weitem fragwürdiger, als sie schon zu seinen Lebzeiten war. Die anglikanische Kirche – auch jene Richtung in ihr, die mehr den Katholizismus als den Protestantismus in ihrer Geschichte und ihrem Ritual hervorhebt – ist nicht mehr „die Konservative Partei beim Gebet“, wie man früher sagte; und die Monarchie kann man nun als das Prinzip sehen, welches über den Klasseninteressen und der Parteilichkeit steht −, unter anderem auch für Disraelis eine – nicht in Reiche und Arme geteilte – Nation.
Auch der Klassizismus Eliots wird davon betroffen, daß sein Konservatismus nun zu einer – rückwärts gewendeten Utopie geworden ist, weil er sich mit dem Geldwesen nie radikal auseinandergesetzt hat, obwohl er als Bankangestellter, dann als Verleger, einige Erfahrungen darüber gesammelt haben muß. In seiner Streitschrift von 1934, After Strange Gods. A Primer of Modern Heresy, in der er sogar seinen Freund und Mentor Ezra Pound als „Ästheten, Humanitarier, Protestanten“ zu den Häretikern zählte, schrieb er zwar: „Und der ökonomische Determinismus ist heute ein Gott, vor dem wir in die Knie fallen und den wir mit jederlei Musik anbeten“, indem er auch den Einfluß G.K. Chestertons und der amerikanischen Agrarkonservativen in den Südstaaten anerkannte. Aber dabei fiel das Gewicht nicht auf das moderne Geldwesen an sich, sondern nur auf den Anteil daran von ethnisch fremden Gruppen oder Individuen, was ihn zu der Behauptung führte, daß „Gründe der Rasse und der Religion dazu beitragen, eine große Anzahl von freidenkenden Juden unerwünscht zu machen“. Auch diesen Antisemitismus, der schon in seinen frühen Gedichten zum Vorschein kam, hatte er mit Charles Maurras gemeinsam. Das Traditionsideal, welches er in dieser Streitschrift verfocht, war eins „des Blutes, sozusagen, mehr als des Gehirns“. Daß dies ein romantisches Ideal war, scheint er übersehen zu haben.
Fünf Jahre später, in dem Buch The Idea of a Christian Society, setzte er sich, unter dem hinzugekommenen Einfluß Maritains, etwas gründlicher – weil ohne Blut-und-Boden-Irrationalismus – mit der modernen Gesellschaft auseinander, unterschied auch seinen christlichen Konservatismus vom Faschismus, den er als „heidnisch“ kennzeichnete, verwarf – wie Pound – den Wucher im kapitalistischen Geldwesen und erklärte: „Vielleicht wird sich als vorherrschendes Laster unserer Zeit, vom Standpunkt der Kirche, der Geiz herausstellen.“ Zu einem anderen Übel des Jahrhunderts, einer Technik, welche die Massenvernichtung von Menschen und die Zerstörung der Umwelt betreibt, hat sich aber Eliot nie geäußert; auch nicht in der nach dem Kriege und der Atombombe geschriebenen Untersuchung Notes Towards the Definition of Culture, der reifsten und gewissenhaftesten seiner Schriften zur Gesellschaft und Kultur – bestimmt aus Gründen, die damit zusammenhängen, daß er die Humanitarier zu den Häretikern zählte und, wieder schon vor der sogenannten Bekehrung, allen spontanen menschlichen Regungen mißtraute.
Daß die britischen Traditionalisten in der Literatur Eliots Frühwerk als „Kulturbolschewismus“ ablehnten oder bekämpften, lag mehr an ihrem unzulänglichen Verständnis der Tradition und einer oberflächlichen Gleichsetzung stilistischer Neuerungen mit gesellschaftlichen als an Eliots Widersprüchen; zum Teil auch daran, daß Eliots Neuerungen mehr von französischen und amerikanischen Lehrmeistern ausgingen als von englischen, so daß er nicht nur Gedichte auf französisch schrieb, sondern auch zu einem Zeitpunkt erwog, ob er nicht ein französischer Lyriker werden könne. (Ezra Pound, der zu den Lehrmeistern gehörte, emigrierte ja tatsächlich weiter, ohne sich von Amerika innerlich so drastisch lösen zu können wie Eliot.) Noch bis jetzt wird aber Eliots Werk von britischen Lyrikern einer jüngeren Generation aus dem Grund abgelehnt, daß es nicht in die englische Tradition gehöre, während man ihm in Amerika seit William Carlos Williams vorwirft, daß er sich von der amerikanischen abgekehrt habe. Zur Entkräftung der frühen Einwände gegen seinen „Modernismus“ schrieb Eliot einen seiner wichtigsten Essays, Tradition und die individuelle Begabung. Dabei verdeckte aber sein autoritärer, scheinbar objektiver und unpersönlicher Stil, daß er in eigener Sache schrieb, seine persönlichsten Konflikte auf eine Weise darstellte, daß man sie als allgemeingültige Einsichten las – auch noch da, wo er über die Unpersönlichkeit der Kunst schrieb, welche „keine Entladung der Emotionen“ sei, sondern ein „Entrinnen vor den Emotionen“, nicht „Ausdruck der Persönlichkeit, sondern ein Entrinnen vor der Persönlichkeit“, sogar eine „fortgesetzte Selbstaufopferung, ein fortgesetztes Auslöschen der Persönlichkeit“. Daß dies eine genaue Erkenntnis seiner Eigenart als Dichter war, aber keine Darstellung des künstlerischen Vorgehens überhaupt, wurde erst bemerkt, nachdem seine gesamte kritische Prosa mit seiner dichterischen Entwicklung kollationiert worden war und sich das „Entrinnen aus den Emotionen“ als das herausgestellt hatte, was die Lyrik Eliots durchaus nicht gefühllos, aber bis zur Rätselhaftigkeit gefühlsverkleidend und -maskierend macht. Damit wurde es klar, bis zu welchem Grade seine Bewertungen anderer Dichter auf seine persönlichen Anliegen und Vorurteile zurückzuführen sind, so daß er auch als Kritiker bei weitem subjektiver war, als er es als „Klassizist“ sein wollte und durfte.
Wie umfochten die Stellung Eliots in der englischen Literatur noch immer ist, wie weit entfernt von jener eines „Klassikers“, soll ein vor kurzem zufällig gelesenes Urteil belegen. Es stammt von dem Anglisten und Lyriker Professor Philip Hobsbaum, der in der Zeitschrift Words im Januar 1988 bemerkte: „Eine heraufkommende Generation war durch den Ersten Weltkrieg ausgemerzt worden, mit schweren Verlusten in allen Berufen, darunter der Literatur. Aus eben diesem Mangel an Konkurrenz wurde der Amerikaner T.S. Eliot zur führenden Stimme in der englischen Poesie.“ Es versteht sich, daß diese pauschale, pseudo-historische Herabsetzung Eliots nicht weniger parteiisch ist als Eliots Stellungnahme in seinen kritischen Werken. Ich zitiere sie, weil sie für eine nun weit verbreitete Eliot-Feindschaft in Großbritannien typisch ist, erwähne sonst nur noch, daß sich auch Hobsbaum in seinem Aufsatz hauptsächlich mit Eliot als Kritiker befaßt. Weniger pauschal und gerechter polemisierte John Wain kürzlich gegen Eliot, indem er zum hundertsten Todestag Matthew Arnolds diesen Vorgänger Eliots gegen Eliots Abwertung verteidigte. Wie unter anderen auch Milton und Goethe, war Arnold ein Opfer der Kulturpolitik Eliots, weil Arnold einen säkularisierten Kultur- und Humanismusbegriff vertreten hatte und voraussagte, daß „das, was bei uns für Religion und Philosophie gilt, von der Poesie ersetzt werden wird“. Schon in einem frühen, vor der christlichen Stellungnahme Eliots mit einem noch amerikanischen Hintergrund geschriebenen Gedicht hatte Eliot diesen Vorgänger – zusammen mit Emerson – als „Wächter des Gesetzes“ ironisiert. In den Selected Essays von 1932 erschien dann Arnold als „ein Verfechter von ,Ideen‘, dessen meiste Ideen wir nicht mehr ernst nehmen“ – womit Arnold schon für Eliots ehrfurchtsvolle Leser abgetan war. Eine solche Voreingenommenheit gegen einen Autor, der einmal eine ähnliche Autorität wie Eliot genossen hatte, wird nun gegen Eliot selbst gekehrt. Seine scheinbar so abgewogenen oder auch im Plauderton beiläufig fallengelassenen Urteile erweisen sich als strategische Waffen in einem theologisch-moralischen Kriegszug.
Schon 1942, mit 18 Jahren, als ich noch alle Autoren und Werke las, die Eliot irgendwo gelobt oder empfohlen hatte, mußte ich gegen ein solches Urteil von ihm protestieren. Er hatte Goethe als einen Schriftsteller abgefertigt, der „sowohl in die Philosophie als auch in die Dichtung hinein pfuschte und in keiner von beiden sehr viel zustande brachte; seine wahre Funktion war die eines Weltmanns und Weisen.“ Dieses – wohl auf der Lektüre der Gespräche mit Eckermann beruhende – Urteil widerrief Eliot dann in seiner Ansprache zum Hansischen Goethepreis 1955, indem er sich auf meinen Protest bezog, feierte dann aber Goethe noch immer als Weisen, ohne in seiner Rede eine einzige Gedichtzeile von Goethe anzuführen. Seine frühere Antipathie gegen Goethe gibt er zwar zu, erklärt auch, warum es zur eigenen Bildung nötig ist, solche Antipathien zu überwinden, überzeugt aber wenigstens diesen Leser nicht, daß es ihm in Goethes Fall gelungen war. Darum bleibt auch Goethe der Weise eine kulturpolitische Anerkennung des europäischen Ranges Goethes eine diplomatische Leistung Eliots, aber kein Bekenntnis einer späten Umkehr, darum auch ohne Einsicht in das dichterische Werk Goethes.
Wie aber so viele kritische Aussagen dieses vorgeblich unpersönlichen Autors, enthält Goethe der Weise doch ein persönliches Bekenntnis, nämlich einen Hinweis auf das, was Eliot zu einer solchen Umkehr unfähig machte: „Als ich das erwähnte Buch von Dr. Lehrs gelesen hatte und dann gewisse Stellen des Faust noch einmal las, merkte ich, daß ,Natur‘ für Goethe und für Wordsworth fast das gleiche bedeutet hat, daß ,Natur‘ etwas war, was sie erfahren hatten – und ich nicht −, und daß sie beide versuchten, etwas auszudrücken, was selbst für Menschen, die in so ungewöhnlichem Maße mit der Gabe der Sprache ausgestattet waren, letztlich unaussprechbar war.“ Mit diesem parenthetischen „und ich nicht“ bekundete Eliot eine Naturfremdheit, wenn nicht einen Naturhaß, der ihn wie nichts anderes zu einem Sonderfall unter den Dichtern macht; und zwar auch unter den ausgesprochen christlichen Lyrikern vom Mittelalter bis zu unserem Jahrhundert, denen – anders als Goethe und Wordsworth nie eine pantheistische oder „heidnische“ Naturvergötterung vorgeworfen wurde. Selbst der Jesuitenpriester Gerard Manley Hopkins diente seiner Religion dadurch, daß er die Schöpfung mit einer ihm eigenen sinnlichen Intensität und Genauigkeit lobte, und damit auch das, was an den Menschen Natur ist. Kein Wunder, daß Hopkins unter den Vorgängern ist, mit denen Eliot nichts anfangen konnte!
An diesem Punkt trifft das dichterische Werk Eliots mit seinem Wirken in der Zeit und auf die Zeit zusammen; und beide zugleich mit der Persönlichkeit des „unsichtbaren Dichters“, der das „objektive Korrelat“ in der Lyrik erfinden mußte, wieder nur, um die eigene Flucht vor den unmittelbaren Empfindungen und Erlebnissen zu rechtfertigen, indem er aus dieser Eigenart ein Gesetz machte. Die zusammengestückelten Bild-, Zitat- und Gesprächsfetzen in den frühen Gedichten ergreifen zwar den Leser dadurch, daß sie keine Selbstaussage zu vermitteln scheinen – also durch Befremdung, Verblüffung, Schock −, verlangen aber zu ihrem Verständnis eine Zurückführung auf ihr „subjektives Korrelat“. Selbst in The Waste Land kann Eliot nicht darauf verzichten, selber den Leser auf diese Deutungsmöglichkeit hinzuweisen – nämlich gegen Ende des Gedichts, in der Zeile:
These fragments I have shored against my ruins
Wörtlich: Mit diesen Bruchstücken habe ich meine Ruinen abgesteift, eine Zeile, welche zwischen Zitaten steht, aber von Eliot ist, auch keiner anderen Person im Gedicht in den Mund gelegt werden kann und wie ein Schlüssel zu der Collagestruktur des ganzen Gedichts wirkt.
Das, was das ganze Gedichtwerk, auch das dramatische, Eliots durchzieht, trotz einer Entwicklung, die tatsächlich in die Richtung der Objektivität, auch der Didaktik, ging, weil Eliot immer mehr aus der individuellen, privaten Sphäre der Lyrik in jene der Öffentlichkeit vordrang, ist seine schon erwähnte Negation des Natürlichen, wozu für ihn in der gefallenen Menschennatur vor allem die Sexualität und Sinnlichkeit gehörten – wie in der Kunst das rein Ästhetische. Inwiefern sich diese Abneigung aus der puritanisch-protestantischen Erziehung Eliots in Amerika ergab, inwiefern aus individueller Anlage, möchte ich nicht entscheiden, überhaupt die psychoanalytischen Spekulationen seinen Biographen überlassen. Unvermeidlich ist aber die Feststellung, daß Eliot noch lange nach seinem Übertritt zum anglo-katholischen Glauben der Erotik, auch innerhalb der Ehe, keine positive Bewertung einräumte und zu einer Mystik der Entsagung und Askese neigte, die ein von ihm vor sein fragmentarisches Melodrama Sweeney Agonistes gestelltes Zitat aus Johannes vom Kreuz zusammenfaßt: „Daher kann die Seele nicht besessen sein von der Einheit mit Gott, eh sie sich der Liebe zu Geschöpfen entkleidet hat“. Daß es innerhalb der katholischen Orthodoxie eine dem entgegengesetzte Frömmigkeit gibt, wie die franziskanische, scheint Eliot erst sehr spät erkannt zu haben. Erst in dem Gedicht East Coker, welches 1940 erschien, feierte er
The association of man and woman
In daunsinge, signifying matrimonie −
A dignified and commodious sacrament.
Two and two, necessarye coniunction,
Holding eche other by the hand or the arm
Whiche betokeneth concorde.
Die Vereinigung von Mann und Frau
Im Reigen, welcher den Ehebund darstellt −
Ein würdiges und wohltätiges Sakrament.
Zu zwei und zwei, in notwendiger Conjunctio,
Halten sie einander bei Hand oder Arm
Welches Eintracht bedeutet.
Auch dieses ist aber eine doktrinäre Bejahung der Liebe, als beispielhaftes altenglisches Zitat angeführt und ohne jene Leidenschaft, die Eliot in früheren Gedichten wie „La Figlia Che Piange“ nur der entsagten geschlechtlichen Liebe entgegenbrachte. Ein eigentliches Liebesgedicht schrieb Eliot erst mit über 70 Jahren, als sein lyrischer Impuls schon versiegt war: die Widmung an seine zweite Frau im Theaterstück The Eider Statesman:
Der ich die hüpfende Freude verdanke,
Die meine Sinne bei unserem Erwachen erfrischt,
Und den Rhythmus, der den Frieden unseres Schlafes beherrscht,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas Atmen der Übereinstimmung
Von Liebenden, deren Körper nacheinander riechen,
Die dieselben Gedanken denken ohne die Notwendigkeit von Worten
Und dieselbe Sprache schwatzen, ohne die Notwendigkeit von Bedeutung.
Kein mürrischer Winterwind kann erfrieren und
Keine erbarmungslose Tropensonne kann verdorren
Die Rosen im Rosengarten, die uns und nur uns gehören.
Doch diese Huldigung ist da, damit andere sie lesen:
Sie enthält private Worte – an dich gerichtet, in der Öffentlichkeit.
Dieses – auf eine rührende Weise unliterarische – Gedicht ist auch das einzige unverdeckt und unmittelbar persönliche im gesamten lyrischen Werk Eliots. In der 1959 gedruckten englischen Originalfassung fehlen nicht nur die zwei letzten Zeilen – welche Eliots Bewußtsein dieser Ausnahme mit beklemmender Aufrichtigkeit bezeugen −, sondern auch die von ihm noch als zu physisch empfundenen Worte: „Whose bodies smell of each other“ und die Zeilen mit dem Winterwind, der tropischen Sonne und den Rosen. Dieser Rosen- und Blumengarten hatte für Eliot eine ganz besondere Bedeutung, kommt auch immer wieder in frühen und späten Gedichten vor – nämlich als Ort der durch den Sündenfall verlorenen Unschuld, daher auch der einzigen Naturhaftigkeit, die Eliot gelten ließ. Daß er sie gegen Ende seines Lebens, durch ein persönliches Glück, wiederfand, gibt die 1959 gedruckte Fassung nicht zu. Das Gedicht endet so:
To you I dedicate this book, to return as best I can
With words a little part of what you have given me.
The words means what they say, but some have a further meaning
aaaaaFor you and me only −
Dir widme ich dieses Buch, um so gut wie ich kann
Mit Worten zurückzugeben ein kleines Teil von dem, was du mir gabst.
Die Worte bedeuten, was sie sagen, aber einige haben eine weitere Bedeutung
aaaaaNur für dich und mich −
bezog sich also auf das seiner Frau gewidmete Theaterstück, wieder mit Preisgabe der früher für sich (und andere Dichter) beanspruchten Unpersönlichkeit des Kunstwerks.
Immer sind die Widersprüche in den Texten eines Dichters das Aufschlußreichste an ihnen, weil sie uns zeigen, wo die Spannungen und Konflikte liegen, und weil Gedichte, wie Yeats sagte – wenigstens in einem nichtklassischen Zeitalter – aus des Dichters „Streit mit sich selbst“ entstehen. Das Erschreckende und Erschütternde an der Biographie Eliots von Peter Ackroyd ist, daß sie die Leiden, Krankheiten, Verzweiflungen, Stockungen und Gewissenskrisen Eliots aufdeckt, aus denen er in die Unpersönlichkeit, den äußerlichen Konformismus und die literarische Vorbildlichkeit flüchtete. So erfahren wir, daß Eliot jahrelang an einem obszönen Gedicht arbeitete, welches nie veröffentlicht werden konnte; auch daß die körperlichen Grobheiten dieses Gedichts mit antisemitischen vermischt sind. Diese Vermischung erklärt manches an den frühen Gedichten Eliots, deren Misanthropie – die Kehrseite seines Puritanismus – er nur stufenweise überwinden konnte. Die anstößigen Zeilen in dem veröffentlichten Gedicht „Burbank with a Baedeker: Bleistein with a Cigar“, welche den Juden tiefer als die Ratten stellen, mußte Eliot später damit entschuldigen, daß er beim Schreiben des Gedichts krank gewesen sei, konnte aber die Anstößigkeit nicht dadurch mildern, daß er in späteren Ausgaben diesem verallgemeinerten Juden einen großen Anfangsbuchstaben vergönnte. (Der kleine Buchstabe, den ich einmal durch eine andere Deutung zu erklären versuchte, ergab sich wohl doch aus der in Amerika einmal üblichen Kleinschreibung des Wortes „negro“ oder „nigger“, womit diesen Opfern der sich christlich nennenden Gesellschaft die Zugehörigkeit zum Menschentum entzogen wurde.)
Überhaupt wird man nun die Großstadtszenen und Porträts in den Gedichten bis zum Waste Land kaum mehr lesen können, ohne sich Fragen nicht über deren Personen, sondern über die Person des Autors zu stellen, nämlich über dessen vorherrschend negative Sicht jeder darin vorkommenden Lebensführung. Solche Fragen gehen nämlich weit über die Gesellschaftskritik hinaus, obwohl sich die frühen Gedichte Eliots unter anderem durch eine in der englischen und amerikanischen Lyrik bis dahin unvergleichbaren Schärfe in der Wiedergabe von Einzelheiten aus dem täglichen Leben auszeichnete. Immer aber dienen solche sprachlich oder visuell mimetischen Einzelheiten dazu, mehr als eine bestimmte Gesellschaftsform oder -schicht zu karikieren. Schon in dem „Portrait of a Lady“ – welches mehr an die Romane von Henry James anknüpft, als an irgendein lyrisches Vorbild – sind die Bemerkungen des ironischen Porträtisten seltsamer und beunruhigender als das, was die alternde Dame über sich sagt; etwa dort, wo plötzlich Eliots Blumen- und Gartenkomplex eine für ihn charakteristische Gedankenfolge auslöst:
With the smell of hyacinths across the garden
Recalling things that other people have desired
Oder daß der Geruch von Hyazinthen aus dem Garten weht
Und Dinge in mir schwingen läßt, die andere begehren
Oder in den „Preludes“ („Präludien“) – die sich wie fast alle frühen Gedichte in einem Dämmerungslicht abspielen nach den nur beobachteten Einzelheiten aus der Großstadtstraße plötzlich das „subjektive Korrelat“ dazu:
You dozed, and watched the night revealing
The thousand sordid images
Of which your soul was constituted;
Du harrtest, auf dem Rücken liegend
Im Halbschlaf, und die Nacht enthüllte
Dir tausend abgeschmackte Bilder,
Die Grundbestände deiner Seele;
Für Eliots Subjektivität kennzeichnend sind auch schon die Anfangszeilen des Waste Land:
April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain…
April benimmt das Herz, er heckt
Flieder mit der toten Flur, verquickt
Erinnern und Verlangen, langt
Taube Wurzeln an mit Lenzregen…
Weil hier die Übersetzung Eva Hesses gerade die Anspielungen auf Geburt, Fruchtbarkeit und Sexualität durch ihre gehobene Wortwahl verschleiert, gebe ich noch eine schlichtere, wörtlichere:
April ist der grausamste Monat, gebärt
Flieder aus totem Land, vermischt
Erinnern mit Begierde, regt
Schlaffe Wurzeln auf mit Frühlingsregen…
Denn mit dem „cruellest month“ stürzt Eliot die ganze romantische (und auch vor-romantische) Frühlingspoesie um, weil er die darin mitschwingende Erotik mit der ihn auszeichnenden Drastik verdammt. Einen erklärenden Nachtrag zu der Grausamkeit des Aprils bringt die Stelle in dem späteren Drama The Family Reunion (Der Familientag), wo Harry sagt:
Is the spring not an evil time, that excites us with lying voices?
Ist der Frühling nicht eine böse Zeit, die uns mit lügenden Stimmen erregt?
Dieselbe Grausamkeit zeichnet dann auch die gesellschaftlich mimetischen Liebesszenen in den späteren Teilen des Waste Land aus, wie das Pub-Gespräch über Abtreibung oder die Parodie des Gedichts von Goldsmith in der Szene mit dem „furunkulösen jungen Mann“. Daß alles aus dem modernen Stadtleben Geholte dann an mythischen, theologischen, historischen und literarischen Texten aus der Vergangenheit gemessen wird, ist nicht nur für The Waste Land charakteristisch, obwohl diese zum Teil von Ezra Pound übernommene Technik in dem langen Gedicht mit der größten Konsequenz durchgeführt wurde. Wenn sich auch Eliot hier für die Erlösung aus der Sinnlosigkeit mehr auf altindische Lehren berief als auf christliche, deuten beide auf seine Wahl der Entsagung und der Askese. Darum sprach ich von seiner „sogenannten“ Bekehrung, die nach dem Waste Land erfolgte: auch in dem Frühwerk kam für ihn keine andere Überwindung des Nihilismus als eine religiöse in Betracht; und seinem Christentum fehlte es bis in die späten Jahre hinein an der Liebe, der Nächstenliebe und dem Mitleid.
Darum haben auch in seinen Dramen die Personen eine mehr allegorische oder typische als individuelle Beschaffenheit – ganz im Gegensatz zu dem von ihm so verehrten Shakespeare. Wo eine dramatische Person – wie der Erzbischof in Murder in the Cathedral oder Harry in The Family Reunion – etwas von einer nicht nur repräsentierenden Individualität aufweist, geschieht das, weil sich Eliot mit ihr zu einem ungewöhnlichen Grade identifizierte. Die Furien, welche Harry verfolgten, waren das Schuldgefühl, welches Eliot nach seiner ersten Ehe fast bis zur Selbstvernichtung trieb. Aus diesem Grund werden sich seine früheren Dramen – von dem leider fragmentarischen, aber höchst vitalen Sweeney Agoniotes bis zur Family Reunion – wohl als haltbarer erweisen als die weniger poetischen, wenn auch technisch geschickteren aus der Spätzeit, in denen sich die religiöse Allegorie hinter den Konventionen des realistischen Gesellschaftsstücks versteckt. Aus ähnlichen Gründen wie Hofmannsthal in der deutschsprachigen Literatur zog es Eliot zu dem Modell des Welttheaters, Mysterien- und Moralitätenspiel hin, auf welche The Rock und Murder in the Cathedral zurückgehen. Hofmannsthal war auch einer der ganz wenigen deutschsprachigen Dichter, mit welchen Eliot eine geistige Verwandtschaft verband. Eliot schrieb kurze Vorworte zur englischen Hofmannsthal-Auswahl. Ackroyd erwähnt sogar, daß er einmal vorhatte, Hofmannsthal zu übersetzen – was er aber später, als ich zwei Bände dieser Auswahl herausgab und mit ihm über Hofmannsthal sprach, nicht erwähnte. Mit Ausnahme einer späten Erwähnung Gottfried Benns als monologischer Lyriker, beeinflußten sonst unter deutschsprachigen Schriftstellern Eliot eigentlich nur die kulturhistorischen und theologischen Essayisten – Theodor Haecker, Ernst Robert Curtius und Josef Pieper, später auch der aus Ungarn stammende Soziologe Karl Mannheim.
Das ganze Werk und Wirken Eliots ist von zwei entgegengesetzten Impulsen beherrscht – einem äußerlichen zur Anpassung an die geistigen, gesellschaftlichen und auch sprachlichen Überlieferungen oder Konventionen, und einem innerlichen zur Welt- und Selbstverneinung, die alles Zeitliche abstreift und auflöst. Wenn man ihn als Dichter nicht mehr als Klassizisten, sondern als einen späten Praktiker der romantisch-symbolistischen Kunstrichtung sieht, liegt es daran, daß die Anpassung nicht gelingen konnte – schon weil sie mit einer zu großen Anstrengung betrieben wurde, aus dem Bewußtsein einer kaum zu ertragenden Fremdheit und Einsamkeit. Keine Mimesis oder Mimikry konnte Eliot aus dieser Lage befreien, wenn er auch seine britische Assimilation so weit trieb, daß er „Nonsense-Verse“, sein Katzenbuch, schrieb – ein Werk, welches für mich deshalb ungenießbar ist, weil es die Katzen auf eine Art vermenschlicht und typisiert, die ihre Wesenheit verfälscht – da er ja für die Natur, die tierische wie die menschliche, so wenig übrig hatte.
So wie unter Eliots Bühnenwerken das unverhohlen religiösbekenntnishafte Murder in the Cathedral hervorragt, weil es eine reinere, unvermischte Poesie enthält als die späteren Theaterstücke, erreichte Eliot meines Erachtens seinen lyrischen Höhepunkt nicht in dem so berühmten The Waste Land, sondern in den darauf folgenden Gedichten – vor allem Ash Wednesday und den kürzeren Gedichten aus derselben Periode, seinen mittleren Jahren. Ash Wednesday hat eine einheitlichere Bewegung als das – von Ezra Pound redigierte und aus gesammelten Bruchstücken zusammengesetzte – The Waste Land.
Freilich ging auch Ash Wednesday aus einer übernommenen Verszeile hervor, erstaunlicherweise aus einem Liebesgedicht des späten Mittelalters von Cavalcanti, variiert aber die entlehnte Anfangszeile so, daß daraus etwas ganz eigenes und ganz anderes als ein Liebesgedicht wird. Schon Eliots Übersetzung der Anfangszeile
Because I do not hope to turn again
ändert den Sinn der Cavalcanti-Zeile:
Perch’i non spero di tornar giammai,
weil dort das „tornar“ den Sinn von „ritornare“, einer örtlichen Rückkehr hat.
Aus den wunderschönen, aber ganz anders gearteten Anfangszeilen Cavalcantis
Perch’i non spero di tornar giammai,
ballatetta, in Toscana,
va tu, leggera e piana,
dritti a la donna mia
che per sua cortesia
ti fara molto onore…
Weil ich nicht hoffe, je zurückzukehren,
meine Ballade, nach Toscana,
geh du, ganz leicht und leise,
direkt zu meiner Dame,
die mit ihrer Höflichkeit
dir viel Ehre wird erweisen…
wird durch Permutation und Zerstückelung, auch Verinnerlichung:
Because I do not hope to turn again
Because I do not hope
Because I do not hope to turn
Desiring this man’s gift and that man’s scope…
Wörtlich:
Weil ich nicht hoffe, noch einmal zu kehren
Weil ich nicht hoffe
Weil ich nicht hoffe, noch zu kehren,
Was dieser hat und jener kann begehrend…
Diese Umkehrungen und Variationen des Zitats beherrschen dann die ganze Struktur des ersten Teils des Gedichts, eines Gedichts der Entsagung, aber auch der Steigerung, des Ersteigens einer geistigen und geistlichen Wendeltreppe. Viele der Wendungen führen in Eliots zutiefst persönliche Bedrängnisse, wie diese:
Because I know I shall not know
The one veritable transitory power
Because I cannot drink
There, where trees f1ower, and springs flow, for there is nothing again…
Und weil ich weiß, ich werde niemals kennen
Die einzige wahre der vergänglichen Mächte
Weil ich nicht trinken kann
Da, wo die Bäume blühn, die Quellen fließen, denn dort ist wieder nichts…
Diese „einzige wahre der vergänglichen Mächte“ kann nur die Natur sein, damit wieder jene geschlechtliche, wenn auch noch so verfeinerte Liebe, welche Cavalcanti feierte, Eliot aber vor seinen letzten Lebensjahren nicht bejahen konnte was noch schmerzlicher in einem späteren Passus, mit Eliots immer wiederkehrenden Blumen- und Gartenbildern, hervortritt:
The single Rose
Is now the Garden
Where all loves end
Terminate torment
Of love unsatisfied
The greater torment
Of love satisfied…
Die eine Rose
Ist nun der Garten
Da alle Liebschaft endet,
Die Marter wendet
Ungestillter Liebe
Größere Marter
Gestillter Liebe…
Übersetzung von Rudolf Alexander Schröder
Gerade daß die eine Rose zum Garten, dieser Liebesgarten zum verlorenen Paradies wird, verherrlicht dann doch die menschliche Liebe durch deren Entsagung, obwohl der Aufstieg des Gedichts einer zur göttlichen Liebe ist.
Ohne Naturbilder kommen auch die gelungensten der kürzeren Gedichte Eliots nicht aus, wie das Gedicht „Marina“ von 1930 – ein ebenfalls aus der Literatur geholtes, diesmal von Shakespeare, und trotzdem ganz Eliots Gedicht in seinem unnachahmbaren, unverkennbaren Ton. Ich kann nur das Ende des Gedichts zitieren, in dem – wieder über Verlust und Entsagung – sogar eine Hoffnung gewonnen wird:
aaaaaBowsprit cracked with ice and paint cracked with heat.
I made this, I have forgotten
And remember.
The rigging weak and the canvas rotten
Between one June and another September.
Made this unknowing, half conscious, unknown, my own.
The garboard strake leaks, the seams need caulking.
This form, this face, this life
Living to live in a world of time beyond me; let me
Resign my life for this life, my speech for that unspoken,
The awakened, lips parted, the hope, new ships.
aaaaaWhat seas what shores what granite islands towards my timbers
And woodthrush calling through the fog
My daughter.
aaaaaBugspriet geborsten von Eis, Tünche geborsten im heißen Schwall
Ich schuf dies, ich hab vergessen
Und erinner.
Die Taklung schlapp und das Segelzeug zerfressen
Zwischen einem Juni, einem anderen September,
Schuf dies unwissend, halbbewußt, unbekannt, mein eigen.
Die Kielplanke leckt, man muß die Fugen kalfatern.
Diese Gestalt, dies Antlitz, dies Leben
Lebend in einer Welt von Zeit zu leben über mich hinaus; laß mich
Mein Leben für dieses erlegen, meine Sprache fürs Ungesprochne,
Das erwachte, Lippen auf, die Hoffnung, die neuen Schiffe.
Welch Meere Küsten welch Graniteilande wider mein Gebälk
Und Walddrossel ruft durch Nebel
Meine Tochter.
Übersetzung von Franz Baermann Steiner
In diesem Gedicht findet eine für Eliot bezeichnende Verschmelzung von Angelesenem mit persönlichen Erlebnissen statt. Die Marina des Gedichts, die wie aus dem Tode auferstandene Tochter, ist eine von Shakespeare erfundene Gestalt. Eliot war und blieb kinderlos. Die nautischen Kenntnisse, die Landschaft, auch die Walddrossel kommen aber aus Eliots Jugendaufenthalten an der nördlichen Ostküste der Vereinigten Staaten. Die von Shakespeare übernommene Gestalt und Situation erweckten in Eliot eine Gefühlswucht, die andere Lyriker aus der unmittelbar eigenen Erfahrung und Lage schöpfen. Dichterisch erlangt aber Eliot die Unmittelbarkeit wieder durch die konkreten Einzelheiten aus dem eigenen Erlebnis.
Darum wird Eliots Lyrik nicht davon beeinträchtigt, daß es ihm als Person eben an der Unmittelbarkeit und Spontaneität fehlte. (Sein Bekannter Siegfried Sassoon sprach von Eliots „tiefgekühlter Menschlichkeit“.) Noch in seinem Spätwerk, den Vier Quartetten, in denen er seinen Drang nach maßgebender Unpersönlichkeit bis zur Trockenheit gehen ließ, gibt es Stellen wie diese aus „East Coker“:
I said to my soul, be still, and wait without hope
For hope would be hope for the wrong thing; wait without love
For love would be love of the wrong thing; there is yet faith
But the faith and the love and the hope are all in the waiting.
Wait without thought, for you are not ready for thought:
So the darkness shall be the light, and the stillness the dancing.
Whisper of running streams, and winter lightning.
The wild thyme unseen and the wild strawberry,
The laughter in the garden, echoed ecstasy
Not lost, but requiring, pointing to the agony
Of death and birth.
Ich sprach zu meiner Seele: sei still und warte, ohne zu hoffen,
Denn Hoffen wäre auf Falsches gerichtet; warte ohne zu lieben,
Denn Liebe wäre auf Falsches gerichtet; da ist noch der Glaube,
Doch Glaube und Liebe und Hoffen sind alle im Warten.
Warte ohne zu denken, denn zum Denken bist du nicht reif.
Dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz.
Geraune fließenden Wassers, Wetterleuchten im Winter,
Der ungesehene Thymian, und die Walderdbeere −
Das Lachen im Garten, seliger Widerhall – all dies
Nicht verloren, aber fordernd, ein Zuspitzen auf die Pein Von Tod und Geburt.
Solche Dichtung bleibt sogar für Leser gültig, die weder die Orthodoxie des Autors noch das ihm eigene Leiden teilen, wie auch der Kritiker Eliot erkannte, als er von der „Aufhebung des Unglaubens“ beim Gedichtlesen schrieb. Darum sagte ich am Anfang, daß Eliots Lyrik am wenigsten vom Zeitablauf berührt worden ist. Manches andere an seinem Wirken mag sich nicht bewährt haben, und zwar dadurch, daß weniger seine Interessen als seine Sympathien zu persönlich bedingt und eingeengt waren. In einem so verworrenen und bedrohten Zeitalter genügt es aber ganz, wenn einem Dichter das Eigenste gelang. Denn auch ohne Bemühungen um Unpersönlichkeit geht in einem guten Gedicht die Bedeutung des Persönlichsten immer weit über die Persönlichkeit des Dichters hinaus.
Michael Hamburger, Europäische Ideen, Heft 70, 1989
T.S. Eliots erster Gedichtband Prufrock and Other Observations, von The Times Literary Supplement verrissen und von der übrigen Kritik kaum beachtet, erschien durch die Initiative Ezra Pounds 1917 im Londoner Verlag The Egoist – in einer Auflage von 500 Exemplaren. Die Texte dieser Sammlung, die teils an der symbolistischen Poesie, teils am Imagismus geschult worden sind, vermögen heute – zusammen mit den Arbeiten der späteren Phasen – wegen ihrer Realitätsverwobenheit und ihres mannigfachen, in- und miteinander verzahnten Verweisungscharakters dazu beizutragen, Eliots Poesie aus dem werkimmanenten Interpretationsbereich des new criticism herauszulösen und etwas über das Wesen des Dichters zu ermitteln, der zwar ein erklärter Gegner von ins Persönliche gehenden Recherchen war, der aber andererseits in „East Coker“, dem 1940 entstandenen zweiten Teil der Four Quartets, deutlich zum Ausdruck gebracht hat, daß er Lyrik für anderes und mehr hielt als für „Eine dichterische Umschreibung in überholter Form“. Poesie, unter den Händen Eliots, wurde ein Instrument transzendierender Existenzdeutung („In meinem Anfang ist mein Ende“, „In meinem Ende ist mein Anfang“) und gelegentlich auch – dies allerdings gegen die poetologische Überzeugung des Autors – ein Mittel pointierter Selbstdarstellung:
Hier bin ich nun auf dem halben Weg, nachdem ich zwanzig Jahre –
Zwanzig meist vergeudete Jahre, die Jahre entre deux guerres –
Bestrebt war, den Umgang mit Worten zu lernen, und jeder Versuch
Ist ein ganz neues Beginnen, eine neue Art von Mißlingen,
Weil man erst lernt, die Worte zu meistern
Für Dinge, die man nicht mehr sagen will, oder für Formen,
In denen man sie nicht mehr sagen möchte. Darum ist jeder Versuch
Ein neuer Anfang, ein Vorstoß in das Sprachlose,
Mit schlechter Ausrüstung, die sich weiter abnützt
Im Durcheinander unbestimmter Gefühle,
Ungezügelter Truppen des Herzens. Und was zu erobern wäre
Durch Kraft und Gehorsam, wurde bereits ein-, zweimal
Oder gar öfter entdeckt von Meistern, denen zu gleichen
Ein vermessener Wunsch ist – doch hier geht es nicht um Wettstreit –
Der Kampf geht nur um das Wiedergewinnen des Verlorenen,
Wiedergefunden und immer wieder verloren: und nun unter Bedingungen
Die denkbar ungünstig scheinen. Doch vielleicht geht es weder um Gewinn noch Verlust.
Für uns gilt nur der Versuch. Der Rest ist nicht unsere Sache.
Nicht ein primäres Interesse am Sprachlich-Konstruktiven oder gar am Ästhetisch-Dekorativen lag Eliots Bemühungen zugrunde. Vielmehr setzte eine verborgene motorische Kraft das poetische Sprechen in Gang. Und bei einem Ausleuchten des Hintergrundes wird erkennbar, daß es bei Eliot ein lebenslanges – für das Werk allerdings außerordentlich fruchtbares – Schwanken zwischen Bekenntnisdrang und Mitteilungsscheu gegeben hat. „Ich möchte nicht behaupten“, hieß es beispielsweise in The Frontiers of New Criticism, „daß die Persönlichkeit und das Privatleben eines nicht mehr lebenden Dichters geheiligter Boden seien, den der Psychologe nicht betreten darf. Der Wissenschaftler muß die Freiheit haben, alles Material zu studieren, das seiner Neugier als erforschenswert erscheint –.“ Doch diese Worte stehen in einem bemerkenswerten, wenn auch letztlich verständlichen Widerspruch zu der Tatsache, daß der Dichter in einem Zusatz zu seinem Testament das Erscheinen biographischer Werke über sich selber auch nach seinem Tode zu verhindern getrachtet hat.
Eliot war von Anfang an ein Autor, der die Abbildung innerer Erregungen zum Thema machte. Und Exegeten gegenüber, die The Waste Land in den Rang eines kalten kulturkritischen statement erheben wollten, hat er bemerkt:
Für mich war es nichts anderes als die Entlastung von einem privaten Herumnörgeln am Leben; es ist lediglich ein Stück rhythmischen Grollens.
Nachdem Eliot eine Reihe lyrischer Etüden in der Manier der unterschiedlichsten Dichter verfaßt hatte, stieß er 1908 auf Arthur Symons’ Buch The Symbolist Movement in Literature, und es war besonders die sanft-ironische Poesie Jules Laforgues, die ihn unverhofft in die Lage versetzte, seiner eigenen Gefühlswelt Ausdruck zu geben. Laforgues Meinung „Im Grunde ist die Frau ein gewöhnliches Wesen“ war etwas, das in Eliot sogleich tiefe Resonanz fand. Das wird besonders von dem 1909 entstandenen Poem „Conversation Galante“ ablesbar, einem sich zwischen Mann und Frau abspulenden Dialogtext, der sogar in formaler Hinsicht direkt an Laforgues Autre Complainte de Lord Pierrot beziehungsweise an dessen Vorbild, an Rimbauds „Les reparties de Nina“, anknüpft. Die Animosität der Geschlechter oder, genauer gesagt: die sensible und abwehrende Einstellung allem Weiblichen gegenüber bleibt lange Zeit hindurch das zentrale Motiv Eliotschen Dichtens:
HYSTERIE
Sobald sie lachte, wußte ich mich in ihr Lachen mitverstrickt und teil davon, bis ihre Zähne nur noch Zufallssterne waren mit einer Gabe zum Rekrutendrill. Ich wurde von kurzen Japsern eingesaugt, eingehechelt bei jeder flüchtigen Erholung, schließlich verschlagen in die dunklen Höhlen ihrer Gurgel, aufgeschlürft vom Laufkrampf unsichtbarer Muskeln. Ein älterer Kellner schlug hastig mit zittrigen Händen ein weißrosa gewürfeltes Tuch über dem angerosteten grünen Blechtisch auf und sagte dabei: „Wenn die Herrschaften den Tee im Garten nehmen möchten, wenn die Herrschaften den Tee im Garten nehmen möchten…“ Ich kam zu dem Ergebnis, daß, ließe sich das Schütteln ihrer Brüste nur beruhigen, einige Scherben des Nachmittags noch einzusammeln wären, und wandte mein Augenmerk mit Umsicht und Scharfsinn diesem Zwecke zu.
Dieses Prosagedicht, vom Autor vorübergehend unterdrückt, begnügt sich nicht damit, Protokoll eines – unterschwellig-aggressiven – Parlierens zu sein, eines Aneinander-vorbei-Redens, wie man es noch aus „The Love Song of J. Alfred Prufrock“ kennt, worin ein eingespieltes gesellschaftliches Ritual den liebessüchtigen Helden nicht zum Agieren oder auch nur zum Aussprechen seiner Empfindungen kommen läßt, sondern ihn vielmehr in eine Kette ebenso banaler wie formaler Zwangshandlungen von lächerlichem Ersatzcharakter verstrickt. In „Hysterie“ hat sich die Situation weiter zugespitzt. Das Nervengift verfeinerter Kultur und guter Erziehung hat das Subjekt förmlich paralysiert, und so meint der Titel denn auch nicht die Partnerin, sondern das sensationierte Ich, das, zu keiner kontrollierten Auseinandersetzung mit der Umwelt mehr fähig, von allen Ereignissen und Wahrnehmungen lediglich noch auf übersteigerte und deformierte Weise Kenntnis erhält; so daß es völlig ungesichert bleibt, ob die mitgeteilten Angaben Realitätsgehalt besitzen oder nur Produkte einer frustrierten männlichen Phantasie sind.
Ein peinigendes Berührungsverlangen, das später in den „Sweeney“-Gedichten und im Wüsten Land aus dem Stadium der Angsthemmung in das einer obszönen Entfesselung tritt, ist – in Verbindung mit erheblichen Dissoziationserscheinungen – das hauptsächliche Kennzeichen von Eliots früher Lyrik, die, soweit sie nicht Vereitelung und Entsagung abbildet oder (in Sweeney Agonistes) den Charakter von Lustmordvorstellungen trägt, einen modern-frivolen Ton anschlägt, wie etwa in dem französisch geschriebenen „Lune de Miel“ und in der – wohl den Paroxysmus der Enttäuschung darstellenden – erotischen Episode von The Waste Land:
Bedenklich zum Trocknen übers Fensterbrett drapiert
Ihr Schlüpfer, den der Sonne letzter Strahl berührt.
Ein Wust gestapelt auf dem Diwan (nachts ihr Bett)
Strümpfe, Pantoffel, Woll-Leibchen und Korselett.
Ich, Teiresias, Greis mit schrumpeligen Zitzen,
Besah den Schauplatz und wußte alles Weitere im Vorhinein –
Auch ich erwartete den Gast daheim.
Der junge Mann, furunkulös, trifft ein,
Ein kleiner Angestellter mit naßforschem Air,
Einer von diesen Lackeln, denen Unverfrorenheit ansteht
Wie der Zylinder einem Ruhrpott-Millionär.
Es ist so weit, ihn dünkt, es dürfte flutschen,
Das Mahl verzehrt, die Stimmung lau und müd,
Auf Probe fängt er an mit ihr zu knutschen,
Avancen, lustlos aufgenommen, denen sie sich nicht entzieht.
Am ganzen Körper fliegend stürzt er sich auf sie,
Fummlige Finger nesteln überall;
Doch seine Eitelkeit verlangt kein vis-à-vis,
Noch Apathie zählt ihm für Widerhall.
Zwischen der Frau und dem Mann, der sich oft nur noch gefoppt und lächerlich vorkommt („Ich werde alt… Ich werde alt… / Hochgekrempelt trag ich meine Hosen bald“), hat sich ein als irreal empfundener gesellschaftlicher Abgrund aufgetan, der Prufrock Tee trinken und Gebäck knabbern läßt und ihn, während er sich als Prinz Hamlet inszenieren möchte, in die Rolle des Haushofmeisters zwingt. Doch indem er so mit Nichtigkeiten seine Zeit vergeudet („Ich vertat mein Leben kaffeelöffelweis“), sinkt das Bewußtsein unter die Oberfläche ab. Und was er im konkreten Leben nicht greifen kann, kommt ihm als Tagtrauminhalt entgegen:
Ich hörte die Meermädchen singen, hin und her.
Ich glaube nicht, daß ihr Gesang mir gilt.
Im Prufrock-Gedicht, das, obwohl es einzig von Enttäuschung handelt, ironischerweise als Liebeslied bezeichnet wird, entwickelt der junge Eliot bereits jenen Sarkasmus, dem er später in „Gerontion“ (diesmal ohne jede spielerische Attitüde) Ausdruck geben wird. In „Gerontion“ erreicht Eliot – mehr noch als in dem hermetischen und mythologiebefrachteten Waste Land – die volle, weil noch nicht religiös gebundene Autonomie modernen Bewußtseins. Der Protagonist sieht sich, „an old man in a dry month“, schaler Alltäglichkeit ausgeliefert. Wie Prufrock, der verwinden muß, daß ihm nur der Part des Polonius zugefallen ist, erblickt auch dieses reflektierende Ego keine Chancen, die Existenz zu intensivieren und zu vertiefen. Keine durchstandenen Schlachten; nichts Abenteuerliches, das erlebt wurde. Lediglich das Haus, das zerfällt, ein altes Mietsgebäude. Und die einzigen Gefährten sind eine hustende Ziege am Hang und eine Frau, die in der Küche wirtschaftet, niest und im Ausguß stochert, während die Welt irdisch und unerlöst bleibt, erbarmungswürdig verloren: „Zeichen gelten für Wunder. ,Gib uns ein Zeichen!‘“
Nur einmal, in Mr. Apollinax (1915), hat Eliot versucht, eine Figur zu erschaffen, für die das Leben keine Last und das Fleischliche kein Problem, sondern ein bewältigter, ein ausbalancierter Zustand ist. Das Trieb-Geist-Pendel – hier verharrt es nicht auf der Verzichtseite, aber es schlägt auch nicht, wie in den folgenden Sweeney-Gedichten, bis zum äußersten Ende der Lustskala, bis zum Polymorph-Perversen aus. Mr. Apollinax, der ebenso gebildete wie vitale Europäer, für den Bertrand Russell, der angebliche Freund von Eliots erster Frau Vivien, das Modell geliefert haben soll, verfügt über ein gesundes Lachen, das sehr wohl imstande ist, die Teetassen, die ewigen Utensilien neuenglischer Geselligkeit, erklirren zu lassen. Aber weil Mr. Apollinax die Barrieren, die Lebensangst und Unnatur errichtet haben, zu durchbrechen versteht, erschrecken die Menschen, die ihn in ihrer Mitte bewirten, über seine Erscheinung und über seinen Habitus, so daß sie ihn mit small-talk-haften Bemerkungen („,Er ist ja so charmant‘ – ,Aber, trotz allem, was meinte er?‘“) kommentieren und monieren müssen, indes der Beobachter der Geschehnisse einen ähnlichen Schock erfährt wie bei der Begegnung mit der als Mänade empfundenen Dame in dem Gedicht „Hysterie“, wenn er auch diesmal sichtlich darum bemüht ist, nicht abzukippen, sondern mit Hilfe eines gesteuerten Humors die Diskrepanz zwischen seinen Affekten und der vergleichsweise harmlosen gesellschaftlichen Situation erkennbar bleiben zu lassen. Dennoch gerät Mr. Apollinax, indem er in Relation zu Priapus, zu einem lachenden Fötus, zu einem Unterwassergeist sowie zu Centauren gebracht wird, unversehens in den Umkreis europäischer Mythen, einfach wegen seiner (tatsächlichen oder auch nur unterstellten) natürlichen Einstellung zur Sexualität.
Eliot, der mit Teiresias, der zwitterhaften Voyeursgestalt von The Waste Land, das Hauptproblem des puritanischen Menschen, die körperliche Annäherung der Geschlechter nur metaphorisch, nur trickhaft durch einen Rückgriff auf ein Sinnbild zu lösen vermochte, brachte es erst im hohen Alter fertig, mit „A Dedication to my Wife“ ein Gedicht zu schreiben, in dem direkt und ohne VorbehaIte ein weibliches Wesen angeredet wurde:
… diese Huldigung ist da, damit andere sie lesen:
Sie enthält private Worte – an dich gerichtet, in der Öffentlichkeit
Der Adressat dieser Botschaft war Eliots zweite Frau Valerie, die er 1957, im Alter von fast siebzig Jahren geheiratet hatte, nachdem Vivien, die erste Lebensgefährtin, die anderthalb Jahrzehnte in einer Nervenklinik zubringen mußte, gestorben war.
Der Dichter hat, offensichtlich, seine Misogyoie nur sehr langsam abbauen können, und zumindest bis hin zu Sweeney Agonistes gab es gefährliche Krisen durchzustehen, wie die beiden – zauberspruchartig verwendeten – Motti ahnen lassen, die er seinem Szenen-Fragment, einem frühen Beitrag zum absurden Theater, vorangestellt hat:
Orestes: Ihr seht sie nicht, ihr nicht – aber ich sehe sie: Sie erjagen mich, ich muß weiter.
Choephoroi
Daher kann die Seele nicht besessen sein von der Einheit mit Gott, eh sie sich der Liebe zu Geschöpfen entkleidet hat.
Juan de la Cruz
Eine dauernde moralische Angespanntheit, der zweifellos ein Syndrom von Aggressionsabsichten und Schuldgefühlen zugrunde gelegen haben muß, brachte Eliot dazu, seine innere Problematik fortwährend zu überhöhen – ganz im Sinne des um 1915 entstandenen Gedichts „The Death of Saint Narcissus“, das (in assoziativer Nähe zu einem Entwurf, in dem die Worte life, wife und sacrificial knife vorkommen) einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Opfertod und sexueller Befriedigung herstellt:
So wurde er Gott zum Tänzer.
Er tanzte auf dem heißen Sand
Weil sein Leib verliebt war in die Feuerpfeile,
Bis die Pfeile kamen.
Und da er sie empfing, gab seine weiße Haut sich dem Rot des Blutes hin und er fand Befriedigung…
T.S. Eliot, der seine eigene poetische Position und damit seinen existentiellen Standort frühzeitig in theoretischen Verlautbarungen zu erkunden versuchte und zu umschreiben verstand, begann seine Karriere als Kritiker bereits vor seiner Durchsetzung als Lyriker, die erst nach der Publikation von The Waste Land erfolgte. Der Dichter, der in der – von ihm selber seit 1917 redigierten – Zeitschrift The Egoist eine erste Plattform für seine öffentliche Literaturbetrachtung fand und der, zusammen mit Pound, die Devise „To make it new“ befolgte, polemisierte nicht nur gegen die Romantiker („Wir haben es nie gelernt, Keats, Shelley und Wordsworth zu kritisieren, deshalb haben wir nun die Georgianer…“); er tadelte auch, wo ihm das nötig erschien, die lmagisten. Und er setzte aller zeitgenössischen Poesie bald das Exempel John Donne entgegen, den er auch über exzellente Gestalten anderer Epochen stellte:
Tennyson und Browning sind Dichter, und sie denken; aber sie fühlen ihr Denken nicht so unmittelbar wie den Duft einer Rose. Für Donne war ein Gedanke ein Erlebnis; er wandelte sein Gefühlsleben.
John Donne war eine Persönlichkeit, die Eliots Temperament entsprach. Denn dieser bedeutendste der metaphysical poets, der sich zunächst als weltlicher Lyriker, als Verfasser raffinierter Liebeslieder geübt hatte, entwickelte sich unter Lebensumständen, die in ihm Empfindungen von Schuld und Sündhaftigkeit wachriefen, bekanntlich nicht nur zu einem sittenstrengen Gläubigen, sondern auch zu einem hohen Würdenträger der anglikanischen Kirche.
In Eliot, dem Autor provokanter Verse, in denen jedoch unter dem Firnis der Ironie die puritanische Sexualmoral virulent blieb, bereiteten sich allmählich jene Wandlungen vor, die ihn über den synthetischen Mythos von The Waste Land (1922) und über das frustrierte Intermezzo von The Hollow Men (1925) sowie über die Katerstimmung von Ash-Wednesday (1930) in die Bezirke spiritueller Geborgenheit eindringen oder, genauer gesagt, zurückweichen ließen und die in Four Quartets (1935-1942) ihren reifsten sprachlichen Ausdruck fanden. Da ist im Schlußabschnitt von „The Dry Salvages“, dem dritten der Quartette, ein Passus, der deutlich erkennbar werden läßt, wie das frühe Interesse des Dichters am Aberglauben, das schon in Titel Waste Land anzutreffen gewesen war („Das, sprach sie, / Ist Ihr Blatt: der ertrunkene seefahrende Phönikier“), mit der Zeit in eine metaphysische Einstellung überging, die sogleich zur Dogmatisierung neigte, jedoch nur bedingt die Züge eines spezifisch christlichen Konfessionalismus annahm:
Mit Mars verkehren, Zwiesprache halten mit Geistern,
Das Verhalten der Seeschlange beschreiben, Horoskope stellen,
Wahrsagen aus Eingeweiden oder Kristall,
Krankheiten in Unterschriften sehen, Lebensläufe
Aus den Linien der Hand konstruieren und Tragödien
Ablesen an den Fingern; Omen heraufbeschwören
Durch Zauberei oder in Teeblättern, das Unentrinnbare
Aus Spielkarten heraussieben, mit Pentagrammen tändeln
Oder mit alchimistischen Essenzen das wiederkehrende Innenbild
In vorbewußte Schrecken zerlegen –
Den Mutterschoß, das Grab, den Traum durchwühlen: all dies ist üblich
Als Zeitvertreib, Narkotikum und Pressesensation.
Es wird auch immer so sein, und im erhöhtem Maße,
Wenn den Völkern wird bange sein auf Erden, wenn sie zagen,
Sei es an asiatischen Küsten oder in einer Straße von London.
Die Neugier des Menschen durchforscht Vergangenheit und Zukunft
Und klammert sich an das Zeitliche. Jedoch den Punkt,
Wo sich Zeitloses schneidet mit Zeit, zu erkennen,
Ist eine Beschäftigung für Heilige –
Eliot, der seine literarische Kritik zunehmend von einem, wie er sagte, „eindeutig ethischen und theologischen Standpunkt aus“ betrieb und der sich als Subjekt im Prozeß des Dichtens unausgesetzt zu eliminieren trachtete („Die Entwicklung des Künstlers besteht in einem unaufhörlichen Selbstopfer, einem ständigen Verlöschen der eigenen Persönlichkeit“), entledigte sich – im Gegensatz zu Ezra Pound, der ein eher zu schwaches Ich mit fremden Schicksalen und externen Erlebnismaterialien auflud und bereicherte – einer emotionalen Überkompression von zutiefst erotischer Beschaffenheit. Und was für Eliots Poesie gilt, das trifft auch, und zwar in gleichem Maße, für seine Essayistik zu, die nicht nur eine Rechtfertigung seiner intuitiven Methode war, sondern die selber ein Wirkungsfeld echter Eingebungskraft darstellte: „… wenn das Wort ,Inspiration‘ irgendeinen Sinn haben soll“, heißt es 1951 in „Vergil und die christliche Welt“, „so muß es der sein, daß der Sprechende oder Schreibende etwas ausdrückt, das er nicht ganz versteht – oder sogar falsch auslegt, sobald die Inspiration von ihm gewichen ist.“ Eliot bedurfte einer Triebhemmung, einer Gelegenheit zum Vergeistigen der ihn überwältigenden sinnlichen Anmutungsfülle. Und seine Konversion versetzte ihn in die Lage, zu abstrahieren und Distanz zu den Einzelerscheinungen zu gewinnen:
… Du bist nicht hier,
Um zu bewahrheiten, dich zu unterrichten, deiner Neugier zu frönen
Oder Bericht abzustatten. Du bist hier um zu knien,
Wo Gebet einst gültig war. Und Gebet ist weit mehr
Als eine Anordnung von Worten…
Wenn die Entwicklung zu dieser in den Quartetten formulierten Einstellung im Dichter auch schon lange als eine latente Möglichkeit bestanden hatte, so erforderte die Konkretisierung des Glaubens doch noch eine Selbstöffnung und ein antizipierendes Verfahren, das die erwünschten Inhalte dem Bewußtsein einverleiben mußte. Auf den Mechanismus, des Rückwirkungseffekts vom projizierten Ideal auf das – bis zum Augenblick der erfolgten Übertragung ideallose – Subjekt hat W.B. Yeats hingewiesen, indem er sagte:
Wenn wir uns selbst nicht anders denken könnten als wir sind, oder es nicht fertigbrächten, ein zweites Selbst für uns anzunehmen, wären wir auch nicht fähig, uns eine eigene Disziplin aufzuerlegen, obwohl wir von anderen eine übernehmen mögen. Die aktive Tugend ist darum – im Unterschied zur passiven Hinnahme eines Sittenkodexes – theatralisch, bewußt dramatisch, das Vorhalten einer Maske.
Schon Eliots (in „Tradition and the Individual Talent“ einsetzendes) Bemühen, die komplexe Apparatur einer verpflichtenden, aber sich mit jedem neuen bedeutenden Dichter verändernden Überlieferung bereitstellen zu wollen, war durch den Wunsch geprägt worden, das Ego und sein irritierendes Agieren im Kontext einer universellen Ordnung unterzubringen. Und mit dem Rückgriff auf Dante und Vergil gab es auch einen Anlaß, die englischsprachige Geisteswelt zu verlassen und an Geschehnisse und Zusammenhänge anzuknüpfen, die freskenhafte Sinnbezüge von gesamteuropäischem Umfang herstellten:
Bei Vergil werden wir mehr als bei irgendeinem anderen lateinischen Dichter – denn Catull und Properz wirken neben ihm wie grobe Naturburschen, und Horaz hat, mit ihm verglichen, etwas Plebejisches – einer gewissen gesellschaftlichen Verfeinerung inne, die aus einer Zartheit des Empfindens entspringt.
Sodann führte Eliot in seiner Ansprache „What is a Classic?“, die er 1944 hielt, weiter aus, daß er Shakespeare und Milton den Titel Klassiker vorenthalten müsse, weil beide jeweils nur einer Literaturgattung, nicht aber der englischen Sprache insgesamt den Glanz höchster Vollendung zu geben vermocht hätten:
Es gibt im Englischen keinen Klassiker; daher kann jeder lebende Dichter sagen: es ist noch Hoffnung, daß ich…, daß wir etwas schreiben, was des Bewahrens wert ist.
Eliot benötigte Vergil als die Figur des überragenden abendländischen Dichters, weil es ihm – „The poetry does not matter“ und „… human kind / Cannot bear very much reality“ – im Verlauf seiner Entwicklung immer weniger um Kunst an sich als um eine Beruhigung des Emotionalen durch ein (nun freilich auf ein liturgisches Niveau gebrachtes) „rhythmisches Grollen“ zu tun war. So drang Eliot, der (Prufrock) als ein etwas schüchterner Properz begonnen hatte, über einen Lebensabschnitt rigoroser Enthüllungen und Provokationen (Sweeney) vor zu seinem Alterswerk, das er insgeheim als ein Analogon zum Opus des Klassikers aller Klassiker gemeint bat:
Dieses Gefühl des Schicksalhaften nun bietet sich in der Äneis beständig dem Bewußtsein dar. Äneas selbst ist von Anfang bis Ende ein ,Mensch im Schicksal‘: weder Abenteurer noch Pläneschmied, weder Landstreicher noch Streber, sondern ein Mann, der sein Schicksal erfüllt… An sich wäre Äneas lieber in Troja geblieben, aber er wird zum Landflüchtigen, und zwar in einer größeren und bedeutungsvolleren Weise als irgendein anderer, der ins Exil geht. Sein Exil dient einem höheren Zweck, als er selber es wissen kann; einem Zweck jedoch, welchen er anerkennt.
Vergil und Äneas sind Masken Eliots, der mit seinem Überwechseln von Amerika nach England eine seelisch-geistige Irrfahrt unternommen hat, die erst in den Vier Quartetten ihre endgültige Beschreibung fand. Doch war Äneas ins Unbekannte aufgebrochen, hatte er Neuland annektiert, so blieb die Aktivität Eliots von Anfang an darauf gerichtet, Vergangenes zurückzugewinnen und problematisch Gewordenes den zugreifenden Fragen der Naturwissenschaft und dem Umgestaltungswillen politischer Kräfte zu entziehen. Zwar sagte der Dichter in „Little Gidding“: „Wir können alten Parteigeist nicht neu beleben, / Noch ein altes Programm wieder aufwärmen / Oder einer antiken Trommel folgen“; doch setzte er selber, der seine christlich-spekulativen Ambitionen aus verborgenen griechischen und altindischen Quellen speiste, den meßbaren Wandlungen und Veränderungen das Postulat eines parmenidisch-statischen Denkens entgegen, demzufolge nur die trügerischen Erscheinungen wechseln, die Urstoffe in ihrem Hell-Dunkel-Gegensatz aber auf ewig unberührt und unverändert bleiben – als die Träger eines transzendental und extemporär gedachten Seinsgrundes :
Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt. Weder Fleisch noch Geist;
Weder fort von ihm noch zu ihm hin; am steten Punkt ist der Tanz,
Doch weder im Einhalten noch in der Bewegung. Und nenn es nicht Stillstand,
Wo Vergangenes und Zukunft vereint sind. Weder Fortgehn noch Hingehn,
Weder Steigen noch Fallen. Wäre der Punkt nicht, der ruhende,
So wäre der Tanz nicht – und es gibt nichts als den Tanz.
Ich kann nur sagen: dort, waren wir, doch nicht wo.
Ich kann nicht sagen, wie lange, denn das stellte es in die Zeit.
Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974
Man entgleitet der eigenen Zeit. Weitab vom motorway kommt man durch eine Landschaft, in der Weißdornsträucher und hohe Hecken schmale gewundene Straßen säumen. Überall Bartnelken und wilde Hyazinthen. Kleine Dörfer mit unwahrscheinlichen Namen, eiserne Wegweiser, die vor wer weiß wie langer Zeit auch schon dort gestanden haben. Mai, saftiges Grün, fruchtbares Land, Bäume wie Türme, Blüten, wohin man schaut. „East Coker“ heißt das dritte lange Gedicht aus den Four Quartets, ein Ortsname, aber der dazugehörige Ort will sich nicht finden lassen. Wir fahren weiter durch das grüne Labyrinth, verirren uns, und da ist es auf einmal doch, das Dorf, nicht weit von Yeovil. Der Dichter, den wir suchen, muß bei oder in der St. Michael’s Church begraben sein; erst gegen sieben sind wir dort, aber es ist noch ganz hell. Wir stehen auf der Grasfläche, die die Kirche umgibt. Hohe, alte Grabmäler, deren Inschriften die Zeit ausgelöscht hat, wer da liegt, ist doppelt tot. Aus der Kirche dringt hoher, frommer Gesang. Deshalb trauen wir uns erst nicht hinein, als wir es dann doch tun, stellen wir fest, daß gerade eine Chorprobe stattfindet. Daß der Dichter nicht draußen am Kirchhof beerdigt ist, haben wir schon festgestellt, die Gräber dort sind zu alt, auch für jemanden, der 1965 gestorben ist. In einer kleinen Enklave am Rande des Friedhofs ruht eine adlige Familie, dort findet man ihn also auch nicht. Ganz hinten in der Kirche, an der Westwand, ist eine ovale Gedenktafel angebracht, und darauf stehen der erste und der letzte Satz aus „East Coker“:
In my beginning is my end
In my end is my beginning.
Dazwischen eine inständige Bitte:
Of your charity pray for the repose of the soul of Thomas Stearns Eliot, poet, 26th september 1888 – 4th january 1965.
Davor, unter dem Fußboden, wurde seine Asche bestattet. Ein richtiges Grab hat er also nicht, dies ist alles. Unter der Tafel steht eine Vase mit Blumen. In diesen Winkel fällt das Licht durch ein Fenster, das von einem anderen Eliot gestiftet wurde, einem Verwandten. Und jetzt verstehe ich auch, warum er hier beigesetzt werden wollte: Seine Urahnen waren im 17. Jahrhundert von diesem Ort aus in die neue Kolonie im fernen Amerika aufgebrochen, und er, der späte Nachkomme, kehrte zurück, das war, als hätte ein ganzes Geschlecht nach langen Irrfahrten wieder nach Hause gefunden. Auch als sie fortgegangen waren, hatte hier schon diese Kirche gestanden; die Tür, durch die ich eingetreten bin, ist mehr als siebenhundert Jahre alt, als die Eliots die Kirche zum letztenmal verließen, gab es diese Tür also seit dreihundert Jahren. Ich lese die steinernen Zeugnisse der hiesigen Feudalgeschichte; Grundherren, Adelsgeschlechter, das Wappen Wilhelms III. von Oranien achtunggebietend über der Tür, Dieu et mon Droit. Er liegt hier gut, dieser Thomas Eliot, das ist das Paradox des in der Tradition wurzelnden Erneuerers, des Modernisten in einem Grab aus soviel Vergangenheit.
Ich habe mich auf eine Bank neben dem uralten Taufbecken gesetzt. Die Stimmen des Chors, ein paar Männer und Frauen aus dem Dorf, schwingen sich jubilierend auf:
My God, and is Thy table spread
And does Thy cup with love o’erflow…
Später lese ich auf einem Rundgang die vielen kupfernen Gedenktafeln. Frühere vicars, gefallene Offiziere, sogar ein richtiger Seeräuber ist dabei, William Dampier, buccaneer, explorer, hydrographer. Als der letzte Gesang verklungen ist, gehen alle zusammen hinaus, und wir stehen mit den Chorsängern zwischen den Gräbern. Man stellt mich Lady X vor, sie ist „die Tochter von Daphne du Maurier“, eine zarte ältere Dame in diesem typischen blassen Rosa und Lila, die sehr gut aus Eliots Cocktail-Party stammen könnte, und irgendwie scheint das alles zusammenzupassen, die Asche in der Kirche, die Namen der Toten zweier Weltkriege, die Sänger mit ihren Hymnen und ihrer so unterschiedlichen sozialen Herkunft, das Mädchen auf dem Pferd, das an der Friedhofsmauer vorbeireitet, die Grabsteine, die nicht mehr zu entziffern sind, und der Kastanienbaum voller weißer Blütentürmchen, aus deren Fruchtknoten im Herbst wieder Kastanien werden. Der Abend schleicht auf die Grasfläche, und später im Gasthof des Ortes lese ich noch einmal die Zeilen des Dichters, der wünschte, daß seine Asche in dieser Kirche bestattet würde:
EAST COKER
In meinem Anfang ist mein Ende. Nacheinander
Erheben Häuser sich, zerfallen, werden angebaut,
Abgetragen, zerstört, renoviert oder an ihrer Stelle
Kommt freies Feld, eine Fabrik, eine Autobahn.
Alte Steine werden Neubau, altes Haus neue Feuer.
Einstige Feuer Asche und Asche wird Erde,
Die schon beseht aus Fleisch, Fell, Fäkalien,
Gebein von Mensch und Tier, Stroh und Laub.
Häuser leben und sterben: Bauen hat seine Zeit,
Leben und Zeugen hat seine Stunde.
Zu seiner Zeit bricht der Wind die gelockerte Scheibe,
Rüttelt an der Wandvertäfelung, worin die Feldmaus trabt,
Reißt am verschlißnen Gobelin mit dem schweigenden Sinnspruch.
Heimat ist das wovon man ausgeht. Wenn wir älter werden,
Wird die Welt immer fremder, verworrener das Gefüge
Von Totem und Lebendigem. Nicht der gesteigerte
Augenblick, losgelöst, frei von Gewesenem und Künftigem,
Sondern das ganze Leben, glühend in jedem Augenblick,
Und nicht nur das Leben eines Menschen allein,
Sondern das der ältesten Steine, die keiner mehr entziffert.
Es gibt eine Zeit für den Abend im Sternenlicht,
Und eine Zeit für den Abend im Lampenlicht
(Am Abend, wenn man im alten Album blättert).
Liebe ist noch am ehesten echt,
Wenn das Hier und Jetzt einem nichts mehr ausmachen.
Alte Männer müßten stets Kundschafter sein,
Hier und dort sind sie einerlei.
Wir müssen still sein und dennoch vorangehen,
Mit vertiefter Empfindung
Zu neuer Vermählung, tieferer Vereinigung,
Durch kaltes Dunkel, trostlose Verödung,
Brausen der Wellen, Heulen des Winds, wüste Gewässer,
Wo Sturmvögel streichen. In meinem Ende ist ein Anfang.
Übersetzt von Nora Wydenbruck
Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008
Ernst Robert Curtius: T.S. Eliot, Merkur, Heft 11, Januar 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
Eva Hesse: T.S. Eliot Schwierigkeiten beim Leben. „Gerontion“ als Selbstinterpretation des Dichters, Merkur, Heft 203, Februar 1965
Eva Hesse: T.S. Eliot Schwierigkeiten beim Leben (II). „Gerontion“ als Selbstinterpretation des Dichters, Merkur, Heft 204, März 1965
Norbert Hummelt: Die verlorene Technik, Sinn und Form, Heft 6, November 2024
VERSE AUF DEN TOD T.S. ELIOTS
1
Er starb im Januar. Das Jahr begann.
Stand im Laternenscheine Frost am Eingang.
Natur geriet nicht mehr ihm vorzuführen
die Reigen ihrer grünen Ballerinen.
Vom Schnee wurden die Fenster enger.
Stand im Laternenschein der starre Herold.
Den Kreuzungen froren die Pfützen zu.
Die Tür verschloß er mit der Jahre Kette.
Bankrotts nicht zeihen wird der Musen Sippe
das Erbe dieser Tage. So verwaist
ist alleweil die Poesie gegründet
auf Gleichheit gleich vergehnder Tage.
Ins Aug ergossen, aufgelöst in Lymphe,
ist sie verwandt nur der äolschen Nymphe
wie Freund Narziß. Doch im Kalendervers
ist andren sie gewiß noch mehr erkenntlich.
Von bösen Mienen, bös Gedanken frei, nimmt
Frau Tod sich nicht aus all den Herrlichkeiten
des Großen Katalogs die Stil-Schönheiten,
zu tun ist ihr nur immer um den Sänger.
Sie braucht die Felder und die Haine nicht,
das Meer auch nicht in seinem prächtgen Glanze.
Ungeizig ist sie, da auf kleinem Raume
sie Herzen aufzuhäufen sich erlaubt.
Auf freien Plätzen lohten schon die Tannen,
und Abfall wurde aus der Tür gefegt,
die Engel in die Fächer eingeordnet.
Als Katholik hielt er bis Weihnacht aus.
Doch wie das Meer zur lauten Zeit der Tiede
zerspellt am Wellenbrecher, rechtens dann
zurück die Wellen einsaugt, ist er eilig
vor seinem Trumpf und Ruhm davongegangen.
Ihn ruft nicht Gott, ihn ruft die Zeit, die Zeit.
Das junge Volk der Riesen-Wellen hebt
jenes Bewegung Last zum Rande leicht
der blütenreichen Franse, und
im Abschiednehmen schlägt es an den Rand
der Erde. Lacht im Überschuß der Kräfte.
Und durch den Januar ragt jenes Bucht
ins Wesen dieser Tage, da wir bleiben.
2
Gesichterdeuter, Magier, wo seid ihr?
Hierher! Und unterstützt die Aureole:
Zwei trauernde Figuren schauen nieder.
Sie singen. Ähnlich sind sich ihre Weisen!
Zwei Jungfraun – kann man aber sagen Jungfraun?
Denn Schmerz, nicht Leidenschaft macht das Geschlecht aus.
Es ist die eine Adam ähnlich halb
uns zugekehrt. Doch sind’s die Haare – Evas…
Gebeugt die schläfrigen Gesichter stehn
Amerika, da er geboren,
und Anglia, da er gestorben, trübe
an einer Seite je von seinem Grabe,
und an dem Himmel fahrn der Wolken Schiffe.
Doch ist ein jedes Grab der Rand der Erde.
3
Deinen Kranz nimm ab, Apoll.
Eliot zu Füßen leg
Kranz und Grenze allen Ruhms,
den die Körperwelt enthält.
Schrittgeräusch und Lyra-Klang
erinnern wird der Wald ringsum.
Dem Gedächtnis dienen wird
das allein, was weiterlebt.
Erinnern wird dich Wald und Tal.
Erinnern dich höchstselbst Äol.
Erinnern wird dich jeder Halm,
wie’s Horatius Flaccus wollt.
Thomas Stearns, fürcht keine Geiß!
Ungefährlich ist die Mahd.
Noch der Löwenzahn – kein Stein –
dein Gedächtnis schließet ein.
Dergestalt geht Liebe fort.
Rückkehrlos. In fremde Nacht.
Unterbrach Geschrei, Gespräch.
Wurde unsichtbar – und lebt.
Du gingst fort zu andren. Wir
nennen Reich der Finsternis
jenes Land, das uns verhüllt.
So befiehlt uns Eifersucht.
Erinnern wird dich Wald und Au.
Erinnern alles dich ringsum.
Wie der Leib – ist leer die Welt? –
Kuß und Hände stets behält.
Joseph Brodsky
T.S. Eliot liest The Waste Land.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 1/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 2/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 3/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 4/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 5/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 6/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 7/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 8/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 9/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 10/11.
T.S. Eliot – Eine biographische Dokumentation, Teil 11/11.
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