IN DER MITTE DES LEBENS
Nach dem ende der welt
nach dem tode
fand ich mich in der mitte des lebens
ich schuf mich neu
ich baute leben
menschen tiere landschaften
das ist ein tisch sagte ich
das ist ein tisch
auf dem tisch liegt das brot das messer
brot ißt der mensch
menschen muß man lieben
lernte ich tag und nacht
was muß man lieben
ich antwortete menschen
das ist ein fenster sagte ich
das ist ein fenster
hinter dem fenster der garten
im garten sehe ich einen apfelbaum
der apfelbaum blüht
die blüten fallen
früchte schwellen
reifen
mein vater pflückt einen apfel
dieser mensch der den apfel pflückt
ist mein vater
ich saß auf der schwelle
diese alte frau
die eine ziege zieht an der leine
ist wichtiger
und kostbarer
als die sieben wunder der welt
wer meint und fühlt
sie sei überflüssig
ist ein mörder
das ist ein mensch
das ist ein baum das ist das brot
die menschen essen um zu leben
wiederholte ich bei mir
das menschenleben hat großes Gewicht
der wert des lebens
übersteigt den wert aller dinge
die der mensch geschaffen
der mensch ist ein großer schatz
wiederholte ich hartnäckig
das ist wasser sagte ich
ich glättete mit der hand die welle
und sprach mit dem wasser
wasser sagte ich
gutes wasser
ich bin es
ein mensch sprach zum wasser
sprach zum mond
zu den blumen zum regen
er sprach zur erde
zu den vögeln
zum himmel
der himmel schwieg
die erde schwieg
wenn er eine stimme vernahm
die aus erde wasser und himmel
kam
so war es die stimme eines anderen
menschen
Einen Repräsentanten des ersten Jahrzehnts polnischer Nachkriegslyrik zu benennen, fällt nicht schwer. Zwischen der Befreiung von 1945 und dem „polnischen Oktober“ von 1955 gab es nur einen neuen Dichter, der glaubwürdig war: Tadeusz Różewicz.
Er sang sein Lied allein, mitten in einer verwüsteten Landschaft. Man steht vor den lakonischen Lauten seiner Gedichte wie vor Ruinen dorischer Tempel: ergriffen von der Spannung der kargen Reste, der nie ganz lotrechten Säulen und unebenen Stufen.
Ich
einer von vielen
mit einer nummer zum schlachten gezeichnet
wische den schweiß von der stirn
höre ich schritte nachts
und schließe die augen
die viel zu viel gesehen
o menschenleib
du herrlichster staub
„grauer mensch mit einer kleinen vorstellungskraft, die steinern und unerbittlich ist.“
Monoton wie eine Alarmsirene zwingt uns Różewicz mit ihm in den Keller der schlaflosen Nächte hinabzusteigen, sich ihrer noch einmal bewußt zu werden. Er ist von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfolgt, in jedem Gedicht aufs neue erschossen, stets auf der Flucht vor dem „perfekten mörder“ unserer Zeit – dem Mörder in jeglicher Gestalt – und vom Gewissen tyrannisiert bis zur Neurose. Er ist Schauplatz eines erbitterten inneren, niemals entschiedenen Kampfes: dem des Selbsterhaltungstriebes gegen das Nichtleben-Können.
Różewicz ist die Tragödie einer Existenz ohne Alternative, eines Daseins gegen den täglichen Tod; die tägliche Wiederauferstehung zu täglichem Urteil; der Alptraum eines Überlebenden, der die Schuld der anderen trägt wie seine eigene; Ängstlichkeit, Allergie gegen alles und Unfähigkeit, sich erlösen zu lassen.
vergeßt uns
und unsere generation
lebt wie menschen
vergeßt uns …
fragt nicht nach unserer jugend
laßt uns.
Tadeusz Różewiczist am 9. Oktober 1921 in Radomsk, Woiwodschaft Łodz, geboren. Sein Vater
sparte nicht
sammelte keine kippen
kaufte kein häuschen
auch keine goldene uhr
es kam nichts zusammen
er lebte wie ein vogel
singend…
Mit diesem seelischen Erbe überlebte der Dichter die Besatzung – erst als Arbeiter, dann als Partisan. Nach dem Krieg, nach einem kurzen Aufenthalt in Tschenstochau, kam er nach Krakau, um Kunstgeschichte zu studieren. Jetzt lebt er mit seiner Frau und zwei Söhnen in Gleiwitz als Schriftsteller: Lyriker, Dramatiker, Erzähler.
Seine ersten Gedichte schrieb Różewicz noch vor Ausbruch des Krieges; seinen ersten Bucherfolg brachte ihm der Gedichtband Unruhe im Jahre 1947; mit ihm wurde er zum Sprecher der Überlebenden, zum Begründer einer neuen Poetik, dem viele nachzueifern begannen. Im Jahre 1955 wurde Różewicz mit dem Staatspreis, 1959 mit dem Literaturpreis der Stadt Krakau, 1962 mit dem Preis I. Klasse des Kultusministers ausgezeichnet. Inzwischen ist er weit gereist (1949 bis 1964: Tschechoslowakei, Mongolei, Ungarn, China, Bulgarien, Italien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, UdSSR und andere Länder) und weitbekannt. Seine Gedichte wurden übersetzt ins Tschechische, Serbokroatische, Slowakische, Italienische, Russische, Englische, Ungarische, Rumänische, Litauische, Türkische, sie sind in zahlreichen ausländischen Anthologien und in Auswahlbänden zu finden. Seine Stücke wurden aufgeführt in New York, Washington, Belgrad, Stockholm, in der Bundesrepublik. Er schrieb die Texte zu dem von seinem Bruder Stanislaw gedrehten Film Der Geburtsschein, der in Venedig preisgekrönt wurde. Neben einer tschechischen, englischen, italienischen Auswahl seiner Erzählungen erschien 1962 eine deutsche. Różewicz wohnt abseits der großen Kulturzentren Warschau und Krakau, oder ist auf Reisen, er meidet literarische Gruppen und Richtungen, die seiner Meinung nach keine größere Bedeutung besitzen als „zufällige Versammlungen von Menschen in der Straßenbahn, in Bahnhofswartesälen oder beim Zahnarzt“. Różewicz, der zunächst, wie er selbst bekennt, von der Lyrik des Krakauer Avantgardisten Julian Przyboś fasziniert war und ihr Wesentliches zu verdanken hat, der wie kein anderer dessen Ruf – so wenig Worte wie möglich! – wörtlich nahm und Gedichte aus einfachen, nackten Haupt- und Zeitwörtern schuf, fand schon bald seinen eigenen Ton. Es waren nicht ästhetische Motive, die ihn in Gegensatz zu Przyboś stellten, sondern existentielle. Von der Geschichte überrascht und überfahren, überrollt, zum Mißtrauen gezwungen, auf engstem Raum und bei kargem Licht zur Verschwiegenheit erzogen, mußte er ganz von vorn anfangen. Als er anfing, war die Poesie für ihn tot. Er suchte den Wahrheitsgehalt der Worte und scheute jede Poeterei, die den nackten Tatbestand verrücken könnte. Er wollte den Dingen den ihnen gemäßen Namen wieder geben, und da die Dinge zertrümmert waren, waren es die Namen auch. Przyboś folgt den Entwicklungslinien eines hundertjährigen Prozesses, die poetischen Mittel zu komplizieren; Różewicz dagegen vereinfacht das Komplizierte, reduziert es auf ein paar wenige Hauptlinien. Wo Przyboś die Wirklichkeit poetisch umzuformen sucht, um sie zu verdichten und zu deuten, entpoetisiert Różewicz sie, nimmt ihr Schmuck und Beiwerk, das sie zu überwuchern droht, und zeigt sie nackt. Während Przyboś nach dem Zeitlosen strebt, befindet sich Różewicz im Wechselgespräch mit der Zeit und ist dem Augenblick verhaftet. Er verharrt bei der Vergangenheit. Seine Gedichte sind wie Salzsäulen, Mahnmale des Gedächtnisses, entstanden aus Rückwärtsschauen und Nichtvergessenkönnen. „Ich trage in mir ein Verbot, schöne Gedichte zu schreiben…“
Ich begreife nicht, daß Lyrik fortbesteht, obwohl der Mensch, der diese Lyrik – als Zeichensprache, die das Unsagbare aussagen soll – ins Leben rief, tot ist. Grund und Antrieb für meine Dichtung ist der Haß gegen Lyrik. Ich rebelliere dagegen, daß sie das „Ende der Welt“ überlebt hat. Als wäre nichts geschehn. Unerschüttert in ihren Gesetzen, Gebrauchsanweisungen, Praktiken.
Meine eigenen Gedichte betrachte ich mit großem Mißtrauen. Ich habe sie aus dem Rest der übriggebliebenen, geretteten Worte gefügt, aus uninteressanten Worten, aus Worten vom großen Müllhaufen, vom großen Friedhof.
Ich bildete mir ein, ich sei der erste Mensch, der sagt: „Guten Tag“, „Wasser“, „die Sonne geht auf“… Ich schuf Poesie für Entsetzte. Für dem Gemetzel Preisgegebene. Für Überlebende. Wir lernten das Sprechen von vorn. Sie und ich.
Nur ein verzweifelter oder infantiler Mensch kann mit Hilfe ausgesuchter Bilder „die Schönheit“ beschreiben, wo vor unseren Augen die Wahrheit stirbt.
So schleppen sich die Erlebnisse, Erfahrungen, Beobachtungen des Ruhelosen von Strophe zu Strophe fort, damit unter Trümmern die Wahrheit identifiziert werde. Różewicz ist Moralist, und darin liegt die Triebkraft seines Ultra-Realismus, der die Mittel des Surrealismus nicht scheut, und seines hartnäckigen Antisymbolismus, der die Realien zu Symbolen verdichtet. Selbst die grotesken „Masken“ sind, wo sie auftreten – und sie treten häufig auf −, konkret, keine Verallgemeinerungen. Mit Aufrichtigkeit werden die Details bloßgelegt: „nur in der rauhen umarmung / der wirklichkeit / schlägt das herz…“
Ich werde oft in Versuchung geführt, mir als Dichter dadurch zu schaden, daß ich auf all das verzichte, was einem poetischen Werk Reiz, Licht, Schönheit verleiht. Es scheint, als habe sich bei mir die Poesie gegen sich selbst gewandt.
Ich weiß nicht, ob Poesie ohne Metapher möglich ist, und ich bin weit davon entfernt, irgendwem Ansichten dieser Art aufzuzwingen. Doch ich versuche es immer wieder aufs neue und greife das Bild – die Metapher von allen Seiten an, um sie als überflüssiges Dekor auszumerzen. Nach meinen Begriffen ist die Lyrik Ausdruck für den Zusammenstoß des Gefühls mit der Erscheinung, der Empfindung mit ihrem Gegenstand. Das Bild kann es fördern, es ist aber nicht notwendig. Das vom Dichter aufgebauschte, von der Phantasie künstlich genährte Bild vernichtet im lyrischen Gedicht dessen Keim, dessen Kern. Und schließlich vernichtet es sich selbst, ohne das eigentliche Drama, das sich in seinem Innern abspielt, zu offenbaren. Dichtung wird meiner Ansicht nach nicht mit hin- und hergeschobenen Bildern gemacht. Diese bilden nur die äußere Schicht des Gedichts. Je komplizierter, schmuckvoller und überraschender sein Äußeres, desto schlimmer ist es um sein Inneres, um das lyrische Geschehen bestellt, das sich oft durch die vom Dichter fabrizierten Ornamente nicht durchzuschlagen vermag.
Daraus folgt, daß die Kunst, Bilder zu konstruieren, in einem gewissen Stadium keinen Sinn mehr hat, obwohl sie bei uns große Kultur, Fleiß, Originalität und andere von den Kritikern so sehr geschätzte Tugenden voraussetzt. Ich meine also, die Rolle der Metapher „als der besten, schnellsten Mittlerin“ zwischen dem Autor und seinem Leser sei sehr problematisch.
Różewicz lyrisches Grundmotiv ist die Unruhe. Sie durchpulst sein Lebenswerk. Was nicht besagen will, daß dieses Werk keine Entwicklungsphasen, Schwankungen, Akzentverschiebungen kennt. So dominiert zum Beispiel in den bis zum „Oktober“ und kurz danach entstandenen Gedichten die physiologische Unruhe der Kreatur Mensch; später, vor allem in der Sammlung Formen (1958) die poetologische Unruhe des nach neuen Gesetzen, nach den „zerrissenen fäden“ suchenden Künstlers; schließlich in der dritten Periode, die in den Dramen und im „Nichts in Prosperos Mantel“ besonders deutlich wird, die philosophische Unruhe des Bürgers, der einst Opfer des Krieges war und nun dank der „kleinen Stabilisierung“ Beute eines fragwürdigen Friedens zu werden droht. 1945 waren es „Masken“, „kleine schwarze köpfe / grausame mit gips zugeklebte lächeln“, später traten die im „Gespräch mit dem Fürsten“ gestellten Fragen nach den „neuen gleichnissen“, nach den noch möglichen Formen der Sagbarkeit in den Vordergrund, und nun wird das prosperierende Nichts zur Geißel des Gewissens:
nichts gebiert nichts
nichts zieht nichts groß
nichts lebt üppig im nichts
… nichts verurteilt
nichts begnadigt
Kreatur, Künstler, Bürger – Moralstück, Drama, Groteske – Seelenkunde, Ästhetik, Soziologie – Erlebtes, Bedachtes, Surreales – das sind die Komponenten der drei Entwicklungsstufen im Werk von Różewicz. Ein zeitkritischer Pessimismus ist ihre Summe, ein negativer Narzißmus ihre Wurzel.
Polnische Kritiker nennen Różewicz’ Gedichte das Geflüster, welches Schrei wurde oder auch Lyrik der gewürgten Gurgel. Realismus mit Moral als Untertext, engagierte Moritat, eine Poesie, die ihre Wirkung aus der naiv, episch und dramatisch, manchmal auch grotesk gehandhabten Alltagssprache bezieht. Treffend hat man gesagt, die Arbeitsweise von Różewicz sei eine lebensgefährliche Poesie auf des Messers Schneide: die kleinste Unsicherheit kann sie in Banalität und Prosa ausrutschen lassen. Das beweisen die Różewicz-Epigonen, die meinen, seine Gedichte seien leicht zu machen, und an dieser „Leichtigkeit“ scheitern.
Różewicz’ Bedeutung für die polnische Nachkriegslyrik bleibt unbestritten. Er hat aus den Trümmern Reste moralischer Werte hinübergerettet ins Wort – damit dem Buchstaben wieder Würde verliehen. Er hat aus der Sprach-Wirrnis den einfachsten unbequemsten Weg gewiesen: den Weg des Gewissens. Er hat die Tümpel entsumpft und die Fundamente gelegt, damit der Turmbau von Babel immer wieder aufs neue unternommen werde; Różewicz war einer der ersten dabei.
Karl Dedecius, Nachwort
repräsentiert wie kaum ein anderer die polnische Nachkriegslyrik. Diese Auswahl ermöglicht es auch den deutschen Lesern, ein Werk kennenzulernen, das für unsere Zeit charakteristisch ist.
„Man hat die Lyrik auf der Jagd nach Originalität und Unwiederholbarkeit lächerlich gemacht, aus ihr ein kinderspielzeug, ein avantgardistisches kalb mit zwei Köpfen gebastelt. Also mußte man das alles begraben und die Erde darüber festtreten. Es half keine künstliche Atmung, keine Manipulation. Die Lyrik mußte, um wiederauferstehen zu können, sterben.“ Tadeusz Różewicz
Wilhelm Heyne Verlag, Klappentext, 1979
Ich denke zurück an das Jahr 1945. Ich war damals in Krakau und begann an der Jagiellonen-Universität Kunstgeschichte zu studieren. Im späten Herbst schaffte man Ordnung in den Räumen des Schriftstellerverbandes und warf dabei einen Stoß alter Zeitschriften hinaus. Darunter waren Jahrgänge der Zeitgenössischen Rundschau (Przegląd Wsółczesny) von 1936–1939. Ein paar Beiträge und Abhandlungen darin erregten meine Aufmerksamkeit. Der Beitrag von Borowy über Eliot, der von Zawodzínski über „Polnische Lyrik in der Krisenzeit“, der von Tatarkiewicz über „Kunst und Poesie“…
Ich erinnere mich, daß ich damals an einem Gedicht schrieb, das ich niemals beendet habe – es war ein Gedicht vom Wiederaufbau der Krakauer Marienkirche. Die Tatsache, daß die Denkmäler des alten Krakau objektiv vorhanden waren, war für mich keinesfalls Bestätigung für ihre Realität.
Und hier der Plan jenes Gedichts:
… Passanten meinen, die Marienkirche stünde noch unversehrt da, sie sehen nicht, daß sie ein großes Prisma aus Ziegeln und Steinen ist. Die Kirche liegt in Trümmern. Die Kirche ist zerstört in meinem Innern. Dieser Bau, den ich betrachte, ist keine Kirche, kein Denkmal der Architektur, kein Kunstwerk, sondern eine verwüstete, zertrümmerte Bude, ein Haufen Schutt…
Es hatte einen Grund, daß ich Kunstgeschichte studieren wollte. Ich wollte Kunstgeschichte studieren, um den gotischen Tempel wieder zu errichten. Um diese Kirche in mir Stein auf Stein aufzubauen. Um den Menschen – Element für Element – zu rekonstruieren. Beides war untrennbar miteinander verbunden. Das Gedicht selbst sehe ich wie durch einen Nebel, aber an seine Absicht erinnere ich mich genau.
Es war, als wohnten in mir in dieser Zeit zwei Menschen. In einem war die Bewunderung und die Achtung für die „schönen“ Künste, für Musik, Literatur und Lyrik… im anderen das Mißtrauen zu den Künsten. Das Feld, auf dem der Kampf zwischen diesen Personen ausgetragen wurde, war meine poetische Praxis. Ich bewunderte gläubig die Werke der Kunst (das ästhetische Erlebnis ersetzte mir das religiöse Erlebnis), aber gleichzeitig wuchs in mir immer mehr die Verachtung der „ästhetischen“ Werte. Ich fühlte, daß etwas für mich und für die Menschheit für immer zu Ende war. Etwas, das weder die Religion, die Wissenschaft, noch die Kunst gerettet haben… Ich begriff zu früh die Worte von Mickiewicz, der sagte, es sei „schwerer, einen Tag gut zu leben als ein Buch zu schreiben“, ich begriff zu früh den Satz Tolstojs, der meinte, der Entwurf eines Schulbuches habe für ihn eine größere Bedeutung als alle genialen Romane zusammengenommen.
Ich wandte mich damals ab von den ästhetischen Quellen. Quelle der Kunst – dachte ich – kann nur die Ethik sein. Aber beide Quellen, die eine wie die andere, waren versiegt:
der mörder hatte darin seine hände gewaschen.
Ich versuchte also wiederherzustellen, was mir für mein Leben und für das Leben der Poesie am wichtigsten schien. Die Ethik. Und weil sich für mich seit meiner Jugend Politik mit Ethik verband, und nicht mit Ästhetik… bekam meine Kunst politischen Akzent.
Das betrifft vor allem meine ersten, gleich nach Kriegsende geschriebenen Gedichte.
Für mich war die Lyrik also eine Aktion, und kein Schreiben schöner Gedichte. Meine Sache waren nicht Gedichte, sondern Fakten. Ich schuf – so dachte ich und so denke ich immer noch – bestimmte Fakten, und nicht (mehr oder weniger gelungene) lyrische Gebilde. Ich reagierte auf Ereignisse mit Fakten, die ich in Gestalt von Gedichten formte – und nicht mit „Poesie“. Deshalb haben mich, obwohl ich bei den Meistern des Worts gelehriger Schüler war, niemals die sogenannten „poetischen Schulen“, ihre Märkte und ihr Feilschen um Versmaß oder Metapher interessiert… Um meine Ansichten genauer darzulegen und jenen seelischen Zustand zu bestimmen, zitiere ich, was François Mauriac gesagt hat:
In Anbetracht der politischen und militärischen Ereignisse erscheint alles andere nichtig… gerade sie lenken mich von der literarischen Fiktion ab. Im Warteraum liest man höchstens Zeitungen…
Aber zurück zu den Jahrgängen der Zeitgenössischen Rundschau, zu der Abhandlung von Professor Tatarkiewicz. Im vierten Teil vom „Begriff Schönheit“ sagte Tatarkiewicz:
der griechische Schönheitsbegriff… hatte einen anderen Inhalt als der unsere, er war viel geräumiger, reicher, sei es um die Ethik, sei es um die Mathematik. Meistens bedeutete ,schön‘ soviel wie ,anerkennenswert‘ und nur eine feine Nuance unterschied es davon, was man als ,gut‘ verstand. Vor allem bei Platon umfaßte der Schönheitsbegriff die ,moralische Schönheit‘, also die Vorzüge des Charakters, die wir heute unberücksichtigt lassen, mehr noch, sogar aufs peinlichste von den ästhetischen Vorzügen trennen…
In jener Zeit, also im Jahre 1945, einige Monate nach dem zweiten Weltkrieg, schienen mir solche Bezeichnungen wie „ästhetische Erlebnisse“, „künstlerische Erlebnisse“ lächerlich und verdächtig. Danach, im August, wurde die erste Atombombe geworfen. Und heute scheinen mir die sogenannten „ästhetischen Erlebnisse“ immer noch lächerlich, wenn auch nicht mehr verachtungswürdig. Die Überzeugung davon, daß das frühere „ästhetische Erlebnis“ tot ist, ist die ständige Plattform meiner literarischen Praxis. Das Sprechen „direkt“ sollte zur Quelle hinführen, zur Wiedergewinnung des banalen Glaubens, der banalen Hoffnung, der banalen Liebe. Der Liebe, die den Tod überwindet, und der Liebe, die vom Tod überwunden wird. Um so einfache Dinge ging es mir. Gedichte, in denen ich auf die Originalität, die Unwiederholbarkeit, die Überraschung setzte, haben für mich zweitrangige Bedeutung. Auch wenn sie möglicherweise vom Standpunkt des „ästhetischen Erlebnisses“ besser sind als die anderen.
Die Dogmatiker der „Avantgarde“ haben unter den „Detaillisten“ und Epigonen eine solche Verheerung angerichtet, daß es für mich nur eine Medizin gab, den sogenannten „poetischen Sinn“ durch den gewöhnlichen Sinn, das heißt den gesunden Menschenverstand zu ersetzen. Ich mußte der „Banalität“ ihr Recht wiedergeben.
Im Jahre 1948 sprach ich – während des Kongresses junger Schriftsteller in Nieborów – viel mit Tadeusz Borowski. Es war unsere zweite Begegnung. Wir sprachen damals von verschiedenen Dingen, darunter auch von Lyrik. Borowski überlegte, ob man in Gedichten solche Wendungen noch gebrauchen könnte, wie zum Beispiel „der Mond scheint“… „Daraus läßt sich heute wohl kaum noch ein Gedicht machen, oder?“, hatte er gefragt. „Ich weiß nicht“, antwortete ich, „aber versuchen könnte man es“. Ich erinnere mich, daß ich mich nach der Rückkehr aus Nieborow daransetzte, es zu versuchen. Ich schrieb das Gedicht „Der Mond scheint“.
Der mond scheint
die straße ist leer
der mond scheint
ein mensch flieht
der mond scheint
ein mensch fällt
ein mensch erlischt
der mond scheint
der mond scheint
die straße ist leer
ein totengesicht
eine wasserlache.
Das Produzieren der „Schönheit“, um „ästhetische Erlebnisse“ auszulösen, finde ich eine unschädliche, aber lächerliche und kindische Beschäftigung…
„Manifeste“ und Definitionen hemmen unsere Bewegung, versteifen unsere Haltung. Deshalb möchte ich unterstreichen, daß auch diese Bemerkungen die Quelle meiner Politik nicht erschöpfen, sie nicht einmal beleuchten. Sie bleiben fragmentarisch. Ähnlich wie meine im Jahre 1958 publizierten Notizen über den Klang und das Bild in der Gegenwartslyrik nur ein Beitrag zur Beschreibung einer bestimmten Auseinandersetzung waren. Eine noch andere Beleuchtungsprobe ist das Gedicht, das ich am Ende dieser Betrachtung anführen möchte:
MEINE LYRIK
übersetzt nichts
erklärt nichts
sagt nichts aus
umfaßt keine ganzheit
erfüllt keine hoffnung
schafft keine neuen spielregeln
nimmt an keinem vergnügen teil
sie hat einen bestimmten platz
den sie erfüllen muß
wenn sie nicht esoterisch ist
wenn sie nicht originell ist
wenn sie nicht staunen macht
dann muß es so sein wahrscheinlich
sie folgt der eigenen notwendigkeit
den eigenen möglichkeiten
und beschränkungen
unterliegt sich selbst
sie ersetzt keine andere
kann von keiner anderen ersetzt werden
ist offen für alle
ohne geheimnis
sie hat viele aufgaben
die sie nie erfüllt
Tadeusz Różewicz, in Akzente. Zeitschrift für Dichtung, Heft 1, Februar 1967
MAN KANN
Ich erinnere mich früher
schrieben lyriker „lyrik“
man kann noch viele viele jahre
gedichte schreiben
man kann auch
andere dinge betreiben
Der Komponist Artur Honegger sagte vor ein paar Jahren, die Musik würde sterben, ähnlich wie die Lyrik. Wer hätte heute noch den Mut, seinen Beruf mit „Dichter“ anzuzeigen. In einem Brief an Bernard Gavot schrieb derselbe Komponist (im Buch Ich bin Komponist):
… So muß ich also verkünden: „Ich bin Komponist!“ Stellen Sie sich bitte das Gelächter einer Hörerschaft vor, der ein Herr eröffnen wollte: „Ich bin Dichter“…
Wie wir wissen – starb Gott – was Nietzsche herausfand; später (nach verschiedenen Metamorphosen) starb der Teufel; noch später starb der Mensch. Schließlich – wie Honegger feststellt – starb der Dichter… Aber wir leben. Wir sind Zeugen des posthumen Lebens von Gott, Teufel, Mensch… und Dichter. Der Dichter starb. Dies stellte Honegger kurz, klar, brutal fest. Wenn aber der Dichter starb, was tue ich – hier und jetzt – unter Euch? Redet Ihr mit einem Toten? Wer steht, sitzt vor Euch, was liest er, wovon spricht er? Soll ich Euch erzählen, wie das Lehen eines Dichters nach seinem Tode aussieht?
In dieser Siuation, aus dem „Jenseits“, habe ich von meiner Konzeption der Lyrik zu sprechen. Ich bin weit davon entfernt, Honeggers Ausspruch als einen Aphorismus, als einen Wortwitz abzutun. Ganz im Gegenteil: auch ich glaube, daß der Dichter tot ist. Ich glaube auch an Gottes Tod, an den Tod des Teufels, an den Tod des Menschen. Mir scheint, es ist Zeit, die neue Lage des Lyrikers und der Lyrik zu bestimmen. Das Problem ist nicht „Der Poet und die Polis“, sondern das Problem ist „Der Poet und die Nekropolis“.
Im Augenblick als ich diese Worte in der schönen Donauhauptstadt schreibe, werden Vorbereitungen zum Festival der Lyrik getroffen, das unter der Losung steht „Poezja nie jest martwa poezja nie może umrzeć! Die Lyrik ist nicht tot, die Lyrik kann nicht sterben! La poesie n’est pas mort, elle ne peut perir!“ Unter dieser Losung kommen hundert oder auch zweihundert Lyriker aus den sozialistischen und den kapitalistischen Ländern zusammen. Sie diskutieren, streiten, lesen ihre neuen Gedichte, sind selber Beweis für die Vitalität der Lyrik und für ihr ewiges Leben. „Die Lyrik ist nicht tot, die Lyrik kann nicht sterben.“ Ich sehe ein Gremium von Lyrikern, die lebendiger Beweis dafür sind, daß nicht nur die Lyrik unsterblich ist, sondern daß auch die Lyriker leben und allen Beschwerden zum Trotz weiterschaffen.
Indessen ist diese literarische Geschäftigkeit nichts als ein Leben nach dem Tod. Jawohl, meine Herren, ja, liebe Kollegen der Feder, meine Freunde, meine Leidgenossen. Lyrik ist sterblich, Lyrik kann sterben und die Lyriker der Lächerlichkeit überantworten. Das ist kein makabrer Einfall, das ist die unschöne Wahrheit, die ich übrigens nicht zu beweisen gedenke. Denn was soll’s? Gott starb und starb nicht, ebenso der Teufel, auch der Mensch starb und lebt weiter, was starb da sonst noch und was lebt trotzdem? Kultur, Zivilisation, Humanismus, Lyrik?! Mit einem Wort, man sollte das alles nicht allzu tragisch nehmen. Um keine allzu „schwarzen“ und somit ein wenig langweiligen, sogar verdächtigen Stimmungen und Gedanken aufkommen zu lassen, bezeichnete ich mich selbst nicht als einen toten, sondern als einen gewesenen Lyriker. Lebendig, aber gewesen. Auf diese Art schaffe ich Kontakt. Und vermeide das Gelächter. Obwohl ich bekenne, daß es mir schwer fällt, auf meine Idee vom „Jenseits“ zu verzichten. Ich hätte Lust, Euch da von zu erzählen, wie ein Lyriker nach seinem Tode lebt. Das wäre „etwas“! Das wäre ein Einfall.
Ich gestehe, daß ich eine Zeitlang darunter litt, keine Idee und keine Konzeption zu haben. Die Erfinder des „happening“ haben mich in Versuchung geführt; ich dachte: „womit trete ich hin vor mein Publikum, vor meine Kritiker, vor…“ womit trete ich auf im Jahre 1966 nach Christi Geburt?! Mit Gedichten? Oder? Soll ich den Saal im Handstand betreten, mich auf den Kopf stellen, meinen Übersetzer erschießen, oder eine vielversprechende Lyrikerin in kleine Stücke reißen und ihre Körperteile, in meine Sonette gewickelt – (unbedingt Sonette!) – in den Saal streuen! Ich war verlegen, weil ich nur einen Kopf besaß und nicht zwei, wie irgendein Wunderkalb; es war mein altes „ich“, der „lebendige“ Lyriker, der traurig war über die Art, wie seine Lyrik und seine Lyriker-Existenz wirken. Man müßte Lyrik schaffen so überraschend wie ein Kalb mit zwei Köpfen, sie dann enthäuten, vierteilen und… verkaufen!
Ich stellte mir vor, daß die Leute nach unserem Treffen sagen würden:
Mein Lieber, mein Lieber denke nur, ich habe heute einen Lyriker mit zwei Köpfen gesehen er heißt Tadeusz Różewicz… seine Lyrik ist „einzigartig“.
Und ich bin in Versuchung geführt worden vom Dämon des Hochmuts… er hat mir geraten, ein Gedicht mit dem linken Fuß und mit geschlossenen Augen zu schreiben, das Wort zu demolieren, das Wort – zu erfinden, das Wort – zu ehebrechen. Schließlich riet er mir, mich aufzuhängen. Mir zu Füßen lag ein ganzes Königreich der Avantgarde und des Experiments. Aber lassen wir das. Wir Lyriker von heute – die (scheinbar) lebenden und die toten, kranken und sterben alle an der allzu großen Eigenliebe. Wir möchten originell, bewundert, einzigartig sein. Niemand von uns möchte langweilig, uninteressant, passeistisch sein… und eben das ist die große Sünde und das Geheimnis unserer geweißten Gräber. Aber ich merke, wie ich bereits selber fast geistreich und fast „einzigartig“ werde. Wehe!
Außer dem posthumen Leben der zeitgenössischen Lyriker bedrängte mich und bedrängt mich immer noch diese andere, schlimmere Sache, nämlich die Lächerlichkeit. „Stellen Sie sich bitte das Gelächter einer Hörerschaft vor, der ein Herr eröffnen wollte: ,Ich bin Dichter‘…“ „Ich bin Dichter.“ Was ist daran lächerlich? Macht sich denn jemand, der bekennt, er sei Kaplan, Minister, Polizist, Metzger, Friseur, Physiker, Holzfäller… etwa lächerlich? Nein! Schlimmer natürlich ist es mit solchen Berufen wie Henker, Schinder, Fälscher, Dieb… das zu gestehen ziemt sich nicht, so etwas sagt man nicht… ebenso stellt sich niemand einer Versammlung als Sadist, Sodomit, Philosoph, als impotent vor… aber Dichter? Würde da wirklich Gelächter ausbrechen im Saal?
Offensichtlich haben Veränderungen stattgefunden, die es nicht erlauben, sich öffentlich zu bekennen… ja, zu dieser Schuld zu bekennen. Zu dieser Verstümmelung, zu dieser intimen Krankheit… Was ist geschehen? Warum konfrontiert uns ein zeitgenössischer Komponist mit dieser Frage so offen und so klar? Das Rätsel hat mich lange geplagt und ich habe es nicht gelöst. So sind wir also lächerlich. Wir dürfen uns zu unserem Beruf, bei Gefahr der Lächerlichkeit, nicht bekennen.
Meine Konzeption der Lyrik, der Dichtkunst? Was für eine Erleichterung, welche Befreiung! Ich besitze keine Konzeption. Natürlich besaß ich im Laufe der 25 Jahre verschiedene Konzeptionen, definierte und bestimmte in Gedichten und theoretischen Überlegungen meine Poetik, meine „Lyrik“ und „Antilyrik“. Und jetzt ist mir alles egal: Reim oder kein Reim, Metapher oder keine Metapher, Bild oder kein Bild, „Einfall“ oder kein Einfall, das spielt keine RoIle… Nur auf eines bin ich noch bedacht: auf das Wort. Darauf verzichte ich nie. Menschen, die mit Wörtern spielen, halte ich für dumme und unglückliche oder glückliche und unterentwickelte Wesen. Nicht durch das Stottern, Zerschlagen, Martern der Wörter, der Silben, der Laute…, sondern durch das Wort und den „ganz normalen“ Satz kann man jemanden, den die Situation der sogenannten „Lyrik“ interessiert, ansprechen…
Ich versuchte das im Gedicht mit dem Titel „Saison 1966“ auszudrücken.
Lange schon ist die saison
im „Le Paradis du Langue“ zu ende
zwanzig jahre lang sprach ich davon
unseren wörterschaffern
wortvergießern wörtersprengern
jetzt erst beginnen
die wirklichen schwierigkeiten
beim schreiben der gedichte
ihr werdet sehen
noch in dieser saison
wird man das gedicht
dieses zugetragene ei
austragen müssen
nicht in die spreu aus wörtern
sondern direkt
in den abgrund ins nichts
das ist das problem
würdig eines poeten:
wie unterläßt man gedichte zu schreiben
wie unterläßt man
noch ein gedichtchen
Mir schwebt eine Lyrik ohne Eigenschaften vor. Eine Lyrik, die wieder anonym, wieder „Die Stimme des Anonymus“ wäre. Das strebte ich all die Jahre an.
So lange formte ich
mich
zum bild und ebenbild
des nichts
formte dieses antlitz
zum bild und ebenbild
von allem
endlich verwischen sich die züge
meine worte
bestaunen einander nicht mehr
Das, was den „Neuerern“ aller Schattierung als das Fegefeuer, ja die Hölle erscheint, die Anonymität, der Mangel an schöpferischer Persönlichkeit, das Fehlen jeder Erkennungsmarke – ist meine Reinigung. Man hat die Lyrik auf der Jagd nach Originalität und Unwiederholbarkeit lächerlich gemacht, aus ihr ein Kinderspielzeug, ein avantgardistisches Kalb mit zwei Köpfen gebastelt. Also mußte man das alles begraben und die Erde darüber festtreten. Es half keine künstliche Atmung, keine Manipulation. Die Lyrik mußte, um wiederauferstehen zu können, sterben.
In dem bestimmten und begrenzten Bereich, der mir durch die Geburt und das Leben gegeben ist, kann dieser Vorfall untergehen wie ein ins Wasser geworfener Stein. Möglich aber, daß meine Erfahrung nicht spurlos verschwindet; daß mein Erfahrungskreis die Erfahrungen anderer Lyriker aus fernen und nahen Ländern, die ich besucht habe oder die ich niemals sehen werde, berührt. Und in dieses Schicksal willige ich ein mit Demut und mit Freude, die mir das Wissen von der Situation des Lyrikers in der heutigen Welt bereitet.
Tadeusz Różewicz, in Akzente. Zeitschrift für Dichtung, Heft 1, Februar 1967
Wrocław, 4. März 1985
Ich betrachte das Bild – kein Abbild! – des St. Hieronymus von El Greco und denke an Dich. Weshalb? Das ist mein Geheimnis. Ich bin kein Professor, kein Doktor, Dozent, Assistent, nicht einmal Magister, ich bin kein Philosoph, kein Strukturalist… Ich bin… „Nur Narr! Nur Dichter…“ Wir kennen uns wie zwei alte Droschkenpferde, ich gebe also diesem Brief eine teils scherzhafte, teils sentimentale Form. Wir gehören der gleichen Generation an, wurden im gleichen Jahr – 1921 – geboren, und durch eine merkwürdige Fügung des Schicksals unterrichtete uns (wenn auch in verschiedenen Schulen und nicht zur gleichen Zeit) derselbe Polonist, Janiga. Und offenbar war er ein guter Lehrer… denn ich bekam bei ihm nur „befriedigend“.
Du bist in unserer Zeit ein seltenes Exemplar, Karl – Du kannst, wie Hieronymus, mit reinem Gewissen über Dich sagen: „Durch tägliche Arbeit und im Schweiße meines Angesichts verdiene ich mein Brot“, in Erinnerung an das Wort des Apostels:
Wenn jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.
Ich erinnere mich – nach schwerer Krankheit, nach einer Operation, standest Du mit einem Bein „in jener Welt“, warst vom Fleisch gefallen, und Deine irdische Hülle ähnelte Lazarus… Aber Deine ersten Worte betrafen unsere gemeinsamen Interessen, Übersetzungen, neue Bücher. Mit einem Glanz, besser gesagt, mit Licht in den müden Augen sprachst Du darüber. Du bist von der Arbeit besessen. Weißt Du noch? Oftmals wollte ich Dich zum „Schwänzen“ überreden, zum Faulenzen, zum süßen Nichtstun; Du hast nur nachsichtig gelächelt, die Ärmel hochgekrempelt und Dich an die Arbeit gemacht. Dabei wurde und wird diese Arbeit oft mit Undank belohnt. Du hast mit Poeten, Literaten, Kritikern zu tun… „Genus irritabile poetarum“! Der eine ist sauer, weil von ihm drei Gedichte in der Anthologie sind, der andere, weil fünf, der dritte, weil weniger als vom fünften, der fünfte, weil weniger als vom sechsten, der siebte, weil kein einziges Gedicht von ihm drin ist… Natürlich sind sie alle böse auf Dich, sind beleidigt, sprechen Dir die „Option“ ab, obwohl sie es Dir verdanken, daß sie in dieser Welt, auf diesem Markt existieren… Aber Du bist nicht beleidigt oder bist so kultiviert, daß Du Deinen Groll verbergen kannst. „Genus irritabile poetarum“! Aber nicht nur das… Du hast mit Politikern, Funktionären, Mäzenen zu tun, die Dein Werk mit gar zu primitivem Werkzeug untersuchen und beurteilen. Aber Du bist unter den Künstlern ein rara avis! Denn Du bist ein Mensch, der sein Handeln in Kunst verwandelt. Du bist ein Dichter, der nicht eine Sprache, sondern viele Sprachen beherrscht, Du bist also ein Kind vieler Völker und vieler Kulturen. Wenn ich an Dein Schaffen denke, denke ich an alle diese Aspekte… „Handeln als Kunst“ – das wäre ein guter Titel für ein Buch über Dich. Unzählig sind Deine Arbeiten, Deine Briefe, denn wie St. Hieronymus an den Mönch Heliodor und an Julian, den Diakon von Aquileja, an Florentinus und Eustochium geschrieben hat, so schreibst Du an Julian Przyboś, an Ewa Lipska, Urszula und Wisława. Dein geistiger Schutzherr schrieb an Paula, an Papst Damasus, an Theodosius und an andere Einsiedler, und Du schreibst an Johannes Paul II., an Miłosz, an Zbigniew, Kornel und Tadeusz… Und um nicht zu weit vom Thema abzukommen, kehren wir wieder zu St. Hieronymus zurück, der – im Jahre 384 – an die Jungfrau Eustochium schrieb:
… Vor vielen Jahren verließ ich Heimat, Eltern, Schwestern und Verwandte und verzichtete, was noch schwieriger ist, auf meinen wohlgedeckten Tisch und machte mich auf nach Jerusalem, um ein Gott geweihtes Leben zu führen. Die Bibliothek aber, welche ich mir zu Rom mit großer Mühe und viel Arbeit erworben hatte, glaubte ich nicht entbehren zu können. Ich Elender fastete also, während ich den Tullius las. Nachdem ich manche Nacht durchwacht und viele Tränen vergossen hatte, welche die Reue über meine früheren Sünden gelöst, nahm ich den Plautus zur Hand. …
Du, Karl, mußtest natürlich weder auf Dein Haus, noch auf Deine Frau, Deine Kinder, Deine Schwiegermutter oder Großmutter verzichten, noch auf Deinen wohlgedeckten Tisch (darüber wacht die liebevolle und unermüdliche Elvira), und doch bist auch Du – entgegen allem Anschein – ein Einsiedler. Nur dem Anschein nach lebst Du in einer modernen Großstadt, in Wirklichkeit aber lebst Du in der Wüste Chalcis, in der Einsiedelei, eingeschlossen in Tausende von Büchern, Zeitschriften, Drucke, Bildbände, eigene und fremde Manuskripte, Briefe… Wenn ich mit Dir in dem von Blumen übersäten Garten in der Reichsforststraße sitze und wir über Gedichte, über Bier, über Malerei reden, vor uns hin träumen – dann vergesse ich, daß ich mit einem Menschen zu tun habe, der zehn (vielleicht gar zwölf!) Stunden am Tag arbeitet, der nicht krank wird, nicht simuliert, nicht streikt, kein dummes Zeug faselt, sondern geduldig und systematisch eine Brücke zwischen unseren Völkern baut, die unzerstörbar ist. Du bist ein Mensch, der gegen Schwäche und Krankheit eine zuverlässige Arznei gefunden hat – die Arbeit; der daraus nicht nur die Mittel zum Lebensunterhalt schöpft, sondern auch seine Heiterkeit, einen Humor frei von Gift und Bitterkeit und ein liebenswürdiges Lächeln, mit dem er an der gastfreundlichen Schwelle seines Hauses nicht nur willkommene Gäste begrüßt, sondern auch unerwartete, lästige, langweilige. Ich stelle mir Deinen ersten Tag als Rentner, im Ruhestand oder wie das heißt, vor. Bis jetzt sind wir noch keine Rentner, denn wir sind zusammen 128 Jahre alt. Erinnerst Du Dich? Vor noch nicht langer Zeit schrieb ich Dir, daß wir zusammen 110 sind! Dann 120… Tatsächlich, alle meine Kollegen (der schreibenden Zunft), meine Altersgenossen, sind schon im mehr oder weniger verdienten Ruhestand, man kann sagen, der Ruhestand ist gerade „in“, und Leute, die zehn oder gar zwanzig Jahre jünger sind als wir, sind schon in Rente; selbst die Studenten träumen schon von der Rente… Ja, Karl! Wenn man daran denkt, daß Gedankenlose uns „die vom Tode verseuchte Generation“ nennen! Was für eine dumme Bezeichnung! Wir, die Kriegsgeneration, sind vom Leben, von der Arbeit durchdrungen, von der Liebe zum Leben. Schließlich haben wir uns nach der Gefangenschaft, dem Militär und dem Partisanenkampf an die Arbeit gemacht, an den Wiederaufbau Europas! Ohne Schuhe und oft ohne etwas zum Anziehen, mit leerem Magen haben wir uns aufs Studium gestürzt! Die Jungen werfen uns oft vor, daß wir diese Welt schlecht eingerichtet hätten; so langsam nähert sich unsere Generation dem Jenseits, wir werden sehen, was unsere Kinder fertigbringen! Bis jetzt sieht es nicht besonders aus… Aber wir sind optimistisch, nicht wahr?
Ich beende meinen Brief, denn ich werde pathetisch. Ich kehre also zu dem verlorenen Faden zurück. Du bist schon ein angesehener Rentner, und ich komme Dich besuchen. Nach der ersten Begrüßung, den ersten Fragen, Umarmungen entschuldigst Du Dich für „einen Moment“ und verschwindest in Deinem Arbeitszimmer – der Einsiedelei… Ich schaue mir Zeitungen an, gucke zum Fenster raus, horche – aber Du kommst nicht zurück. Beunruhigt gehe ich die Treppe hinauf… und höre ein Klopfen… das geschäftige monotone Klopfen einer Schreibmaschine… Ich öffne die Tür und sehe Dich am Arbeitstisch… Berge von Papieren, Stöße von Büchern… und der Rentner Karl! Was machst Du denn da? frage ich. Ich bin gleich fertig, sagst Du, setz Dich und lies… Mensch, sage ich, Mensch! was machst Du? Für die Gesundheit, antwortest Du, das tut mir gut; gleich bin ich fertig, dann gehen wir ein Bier trinken… Ich schau Dich böse, erstaunt, aber auch stolz an, und wieder denke ich mit den Worten Deines geistigen Vaters und Schutzherrn St. Hieronymus, der an Papst Damasus „über Seraphim und glühende Kohle“ schrieb: „Als dann beim Bau des Turms (zu Babel) Gott beleidigt wurde, weswegen er auch eine Vielfalt von Sprachen hervorbrachte, verwirrte sich die Sprache aller Nationen…“, und im Zusammenhang damit kam ein Kind auf die Welt, dem man den Namen Karl gab, und dieses Kind wurde ein fleißiger Mann, ein Übersetzer, der im Schweiße seines Angesichts versucht, die Sünde unserer Vorfahren gutzumachen, und die verworrene Sprache verschiedener Völker so lange in für diese Völker verständliche Sprachen übersetzt, bis diese Völker ihre Literaturen und einander liebgewinnen.
Diesen Brief lege ich wie einen Lorbeerkranz um Deine grauen Schläfen mit den Worten Vergils:
Laboromnia vinci tim pro bus – übermäßige Arbeit besiegt alles.
Ich mache Schluß, altes Haus, Doktor honoris causa, und wünsche Dir Gesundheit bis zum Jahr 2000! (Dann sehen wir weiter.)
Dein Tadeusz
Übertragen von Renate Schmidgall-Trojansky
Aus Elvira Grözinger und Andreas Lawaty (Hrsg.): Suche die Meinung. Darl Dedecius dem Übersetzer und Mittler zum 65. Geburtstag, Otto Harrassowitz, 1986
Doris Liebermann: Tadeusz Różewicz – die Stimme der polnischen Nachkriegsgeneration
Deutschlandfunk, 9.10.2021
Tadeusz Różewicz bei einer Lesung am 10.10.2007 in Wrocław.
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