– Zu Christine Lavants Gedicht „Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt…“ aus dem Sammelband Fabjan Hafner und Doris Moser (Hrsg.): Christine Lavant: Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. –
CHRISTINE LAVANT
Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
so schön und rot vor meiner Fensterscheibe;
wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe,
wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt,
und niemand wärmt dann meine kalten Finger.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger
und kommen sicher auch zu meinen Schwestern.
Ein wenig bin ich trauriger als gestern,
doch lange nicht genug, um fromm zu sein.
Den Apfel nähme ich wohl gern herein
und möchte heimlich an der Schale riechen,
bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt.
Das Wiesel duckt sich wild und aufgeschreckt
und wird vielleicht nun doch zum Nachbar kriechen,
weil sich mein Herz so eng zusammenzieht.
Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?
Den Apfel hat schon jemand weggenommen…
Doch eigentlich ist meine Stube gut
und wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee.
Mir tut auch nur der halbe Schädel weh
und außerdem geht jetzt in meinem Blut
der Schlaf mit einer Blume auf und nieder
und singt für mich allein die Sternenlieder.
Hier sitzt eine in der Stube, sieht zum Fenster hinaus, sieht die Wintersonne, sie fiebert und friert. Es ist der 6. Jänner, der Dreikönigstag, an dem die Kinder von Haus zu Haus ziehen. Und es wird eine Zeit gegeben haben, in der sie als Lohn dafür Äpfel bekommen haben, und ein paar Nüsse und eine einzelne Orange vielleicht.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger, drei Kinder, als Könige verkleidet, manchmal die Gesichter angemalt. Sie folgen dem Stern, den sie auf einem Stecken vor sich hertragen. Lieder singen sie und sagen Sprüche auf. Verkünden ihre Botschaft und schreiben mit Kreide den Segenswunsch auf die Türstöcke der Häuser. Heute auch über die Türen der Schwestern: C+M+B. Während der Sonnenapfel hängt, ist alles ein Singen: jede Zeile ein zehn- und elfsilbiges Singen, in umschließendem und in Paarreim notiert, das sich als Enjambement über die Zeilen hinauszieht.
Manchmal, in den 50er Jahren, als Christine Lavant ihr Gedicht geschrieben hat, ist an einem 6. Jänner die Landschaft so voll Schnee gewesen, ein Dorf so eingeschneit, eine Alm so „übergossen“, wie es in einer österreichischen Sage heißt, dass man, wenn man zum Fenster hinausgesehen hat, nur ein- oder zweimal am Tag diese Farbe gesehen haben mag: das Rot der Sonne, wie sie aufgeht am frühen Morgen und wie sie am Abend untergeht. Wie ein Apfel ist sie dann gehangen vor der Fensterscheibe, nämlich so schön und rot.
Doch weil es Winter ist, wärmt diese Sonne heute nicht. Es wärmt die kalten Finger nur das Fieber, das, wenn es vertrieben würde, sich als Wiesel flink, „dämmerungsaktiv“, zum Nachbarn trollte.
Die Fiebernde, Frierende, die zum Fenster hinaus sieht, ist an jenem 6. Jänner trauriger als am Tag zuvor. Ein wenig, aber lange nicht genug, um fromm zu sein. Nicht genug, als dass Traurigkeit zu Rechtschaffenheit führte? Zur „Ehrfurcht vor und dem Gehorsam gegenüber den Ordnungen des Lebens“? – Nicht genug, für diesmal nicht: keine Ordnung, so lange die Sonne ein Apfel ist und das Fieber zum Wiesel wird. Denn hereingenommen würde der Apfel zudem gern, seiner Versuchung würde nachgegeben, nicht sehr fromm. Nur heimlich würde an seiner Schale gerochen, bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt. Bloß ja, nur. Bloß für dieses bisschen Wissen um den Geschmack des Himmels.
Angesichts des Gierens nach Erkenntnis – durch Riechen an der Paradiesfrucht – duckt sich das zum Wiesel gewordene Fieber. Es duckt sich nicht scheu, sondern wild, versteckt sich nicht, wird aufgeschreckt, kriecht vielleicht davon. Das ist ein Hochschnellen und Sich-Kleinmachen zur gleichen Zeit: es duckt sich wild. Vielleicht ist das als Geste und Bewegung so paradox, wie den Apfel hereinnehmen zu wollen, um an der Schale zu riechen, dies aber bloß heimlich.
Aber gleich ist man zu schwach, der Himmel müsste höchstselbst niederknien, um die Schwache – erst Schwach-Gewordene – wissen zu lassen, wie er schmeckt, und gleich ist auch der Apfel weggenommen von jemandem, der das heimliche Geschehen eben doch gesehen hat. Der Nachbar gar?! Und so findet man sich ein in die Umstände: Die Ehrfurcht vor und der Gehorsam gegenüber den Ordnungen des Lebens wird, nach einer knappen Pause von drei Punkten, „…“, sprechend hergestellt: Doch eigentlich ist meine Stube gut.
Das klingt wie ein Sich-gut-Zureden mit Abstrichen: die Stube sei wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee, von dem die Äpfel bereits im Herbst geerntet worden sind. Doch wärmt die kalten Finger, die vorhin nach dem Apfel greifen wollten, eine Stube, die bloß wärmer als ein Baum voll Schnee ist? Und ist ein Schädelweh denn keines, wenn nur der halbe Schädel schmerzt? Und sind es Sternenlieder, wenn sie vom Schlaf gesungen statt von den Kindern, für mich allein, mit einer Blume statt mit einem aufgesteckten Stern?
Alles ist ein Singen in diesem Gedicht von Christine Lavant. Sie selbst hat darin nur ein einziges Fragezeichen typografisch gesetzt. Dort, wo es die Frage danach stellt, ob der Himmel nicht doch niederkniete, zu uns herunter, gesetzt den Fall, wir wären zu schwach, zu ihm hinaufzukommen. Eine Frage, vage hoffend, ausbüchsend wie ein Wiesel. Gestellt mit einem Herzen, das sich so eng zusammenzieht.
Eine Fensterscheibe trennt die Fragende vom Sonnenapfel.
Es riecht nach Schnee.
© Teresa Präauer, aus Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser (Hrsg.): Drehe die Herzspindel weiter für mich, Wallstein Verlag, 2015
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