DIE LYRIK KARL KROLOWS
Karl Krolow hat die deutsche Lyrik nach 1945 als Autor, Übersetzer und Kritiker wesentlich mitgeprägt und hat viel Anerkennung gefunden; dennoch sind einige wichtige Aspekte seiner Lyrik bisher nur andeutungsweise in den Blick gekommen. Deshalb sollen in dieser skizzenhaften Gesamtdarstellung der Lyrik Krolows auch Defizite und Einseitigkeiten der bisherigen Rezeption korrigiert werden.
Bedrohte Existenz: „Hand vorm Gesicht“
Wer das folgende Gedicht liest und weiß, daß es 1945 entstanden ist, wird ihm den Bezug auf die aktuelle Situation, die katastrophale deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg, deutlich anmerken.
HAND VORM GESICHT
Hand vorm Gesicht! Sie hält
Kurz nur das Sterben ab.
Grube im Nacken fällt,
Beere am Aronstab.
Rose am leichten Stock
Wird unterm Finger Staub.
Leuchtendes Kirschgeflock
Ist schon des Windes Raub.
Ratloser Mund! Er schweigt,
Ins Schwinden still gedehnt,
Wenn sich mein Schatten zeigt,
Süß an die Luft gelehnt.
Wenn träg die Pappel samt,
Löwenzahnlampe lischt,
Vieles bleibt unbenamt,
Wie sich’s in Trauer mischt,
Wie es sich ungenau
Hin zum Vergehen drängt,
Faltermann, Falterfrau
Mutlos im Lichte schwenkt.
Über mir weiß ich schon
Stimmen aus schwarzem Schall,
Laubhaft gehauchtem Ton,
Und spür den Stirnverfall.
Rückwärts mit leisem Schrei
Stürz ich ins Leere hin,
Hart hinterm Tod vorbei.
Fühl, daß ich’s nicht mehr bin.
Vergänglichkeit und Tod überall, die Geste des Entsetzens und der Verzweiflung steigert sich am Schluß zur äußersten Bedrohtheit, die zum Schwinden der Sinne, zu todähnlicher Ohnmacht führt. Handelt es sich also um eine Art Erlebnisgedicht, das Thematik und Ausdrucksmittel aus der extremen Situation heraus entwickelt? Keineswegs; Natur- und Existenzthematik sind bei Krolow schon früher in ähnlicher Weise verbunden, die ganze ästhetische Konzeption und die Erlebnisdisposition sind bereits bei bestimmten Vorbildern in der modernen deutschen Naturlyrik mit Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann als bekanntesten Vertretern zu finden. Das traditionelle Thema der Vergänglichkeit erscheint individuell aktualisiert, die verschärfte Emotion entdeckt zahlreiche Parallelen aus dem Bereich der Natur. Seine Intensität gewinnt das Gedicht durch den ästhetischen Ausdruck jener Erfahrungen, die in der Existenzphilosophie abstrakt formuliert worden waren. Krolow hat sich mit Heidegger, Jaspers und anderen gründlich beschäftigt.
Kriegsende – Friedensanfang? Zeitgedichte
Blieb im Gedicht „Hand vorm Gesicht“ der Zeitbezug allgemein, so gibt es bei Krolow eine Reihe von sehr viel konkreteren Zeitgedichten, die auf die politische Situation unmittelbar nach dem Kriege reagierten. In den Gesammelten Gedichten findet sich nur wenig davon, man muß schon auf den Gedichtband Heimsuchung (1948) zurückgreifen.
Kennzeichnend ist die Verbindung von Ausdruck des konkreten Schreckens und Leidens, teils mit barocken und expressionistischen Stilmitteln, Mythisierung zentraler Phänomene wie Gewalt oder Tod und Reflexion allgemeiner Fragen wie Frieden, Kriegsschuld und Nation.
Zunächst ein überraschend aktueller Fund, wenn man an die Friedenskonferenz von 1982 mit Stephan Hermlin in Ost-Berlin denkt:
AN DEN FRIEDEN
(Für Stephan Hermlin)
Ich möchte dich in meiner hohlen Hand
Wie einen armen Vogel angstvoll bergen.
Indes Lemuren schweifen überm Land,
Im Kreise hocken auf den Häusersärgen […]
Hermlin hat das Vorwort zu Heimsuchung (1948) geschrieben; später aber gingen beider politische Meinungen weit auseinander.
Die Diskussion über eine Kollektivschuld der Deutschen und die exemplarische Bedeutung der Nürnberger Prozesse faßt Krolow in die Formel
Ich bin das Land, das im Gerichte steht,
Und allen Ländern bin ich das Gericht.
Die Frage, was an National- und Heimatgefühl nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland 1945 überhaupt noch vorhanden sein könne, ist Thema mehrerer Gedichte.
Der Versuch, ,Vergangenheit zu bewältigen‘, wie das später immer wieder hieß, geht im Gedicht „An Deutschland“ über eine leidende Identifikation mit dem zerstörten und gedemütigten Land.
Wo bist du nun? Gestürzt in kalten Mond,
Mit den Ruinen in das Nichts gefahren,
Gespenst du, das im Leichenacker wohnt,
Du fremde Scheuche, Asche in den Haaren
[…]
Du klaffst im Häuserrest, im Bombenloch,
Und hockst als Ohnekopf am Kraterrand.
In deinen Lumpen, deiner Blöße noch,
Die du mir hinhältst, hab ich dich erkannt.
Verrenkt von Krankheit, ausgekehrt zu Dreck
Und Ungestalt, aus der das Leben wich.
Du wüster Traum und bleicher Kinderschreck,
Du letzte Zuflucht mir: verzehre mich!
Ein vierteiliger Zyklus „Vaterland“ mit zwanzig Strophen verschmilzt äußere und innere Landschaft, die Imagination projiziert in die zerstörte Nachkriegslandschaft geographische und mythologische Landschaften, die durch ihre Entlegenheit, ihre Unfruchtbarkeit, ihre Exotik gekennzeichnet sind:
Du fernes Tibet, in das Nichts verschollen!
[…]
Du Reich, verlorener als Feuerland
[…]
Große Ruine nun, Vaterland, sternwärts geschossen,
In die Plejaden geschossen vom Schmerzkatapult […]
Die Vorstellung der Wüste wird besonders eindringlich evoziert:
Einst warst du Kanaan, Seligkeit, bist mir im Traum erschienen
[…]
Aber jetzt lauerst du, furchtbares Land, zeigst die ekle Schabracke,
Gobi der Angst und der Einsamkeit, reichst quer durch München und Mainz,
Wirfst Karawanen ins Taubertal, murmelnde Tote.
Schiffbruch ohne Hoffnung: „Verlassene Küste“
Mit dem Gedicht „Verlassene Küste“ gelingt Krolow einer jener Texte, die man immer wieder liest, weil man sie versteht, aber nicht in allen Einzelheiten auflösen kann. Es ist ein Balanceakt zwischen Simplizität und einer Fülle von Anspielungsräumen, scheinbarer Gelassenheit und eher verzweifelter Situation, Wirklichkeit und Unwirklichkeit: die harmlose nautische Szenerie steckt voller zunächst unauffälliger Paradoxien.
VERLASSENE KÜSTE
Wenn man es recht besieht,
so ist überall Schiffbruch.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPetronius
Segelschiffe und Gelächter,
Das wie Gold im Barte steht,
Sind vergangen wie ein schlechter
Atem, der vom Munde weht,
Wie ein Schatten auf der Mauer,
Der den Kalk zu Staub zerfrißt.
Unauflöslich bleibt die Trauer,
Die aus schwarzem Honig ist,
Duftend in das Licht gehangen,
Feucht wie frischer Vogelkot
Und den heißen Ziegelwangen
Auferlegt als leichter Tod.
Kartenschlagende Matrosen
Sind in ihrem Fleisch allein.
Tabak rieselt durch die losen
Augenlider in sie ein.
Ihre Messer, die sie warfen
Nach dem blauen Vorhang Nacht,
Wurden schartig in dem scharfen
Wind der Ewigkeit, der wacht.
Die Bildlichkeit hält zunächst noch die Vergleichsbereiche etwas stärker auf Distanz, um sie dann völlig zu verschmelzen. Raffiniert werden etwa die Aspekte der Trauer und Melancholie versinnlicht und im Bild schwarzer Honig verdichtet: hier sammeln und verbinden sich die Gegensätze hell und dunkel, süß und bitter, Glück und Unglück.
Mit der Schiffahrtsmetaphorik und besonders mit dem Petronius-Motto ist sofort die Tradition dieses Bildbereichs und seine Beziehung zur Existenzthematik präsent. Das Lebensschiff läuft hier nicht glücklich in irgendeinen philosophisch oder religiös vorbereiteten Hafen ein, Existenz und Scheitern sind eins, Transzendenz wird zwar noch gesucht, bleibt aber leer. Die Hoffnungslosigkeit solch absurder Situation wird nicht verzweifelt, sondern eher unterkühlt registriert.
Moderne Naturlyrik: „Pappellaub“
Nachdem deutlich geworden ist, wie Krolow Zeitbezug realisiert, politisch aktuell aus der Nähe oder skeptisch-nihilistisch aus der Distanz, muß noch die andere Komponente von „Hand vorm Gesicht“ untersucht werden.
Krolow selbst hat sich über seine Beziehung zur Naturlyrik geäußert:
Ich lernte […] die frühen Gedichte Wilhelm Lehmanns kennen. Das war im Jahr 1935 […]. Über Lehmann bin ich dann auf Oskar Loerke gestoßen, überhaupt auf den ganzen literarischen Bereich, den man später und heute noch als die neue deutsche Naturlyrik bezeichnete. […] Lehmann wies mich damals jedenfalls auf einen mir unerschöpflich scheinenden Stoff, auf Natur, hin […].
Die 105 Gedichte, welche Krolow vor 1945 veröffentlichte, sind fast immer durch Naturthematik bestimmt und oft auf die Jahreszeiten bezogen, wie einige Titel aus dem Jahr 1940 zeigen: „Ende des Sommers“, „An einen Herbst“, „November“, „Schneenacht“ usw. Die Besonderheit der modernen deutschen Naturlyrik, und dadurch setzt sie sich deutlich von der ,Feld-, Wald- und Wiesenlyrik‘ ab, besteht in der Entindividualisierung – gegenüber der Natur tritt das Subjekt stark zurück −, in einer Konzentration auf Details – präzise, bedeutungsvoll stilisierte Naturbeobachtung statt gewaltiger Themen – und in der Komprimierung von Raum und Zeit, mit der magische Intensität erreicht werden kann. Die Beschäftigung mit der Natur ist ja immer auch eine Beschäftigung mit der menschlichen Existenz, die Frage nach dem Sinn der Dinge, dem Geheimnis der Welt wird immer neu gestellt, man denke zum Beispiel an Günter Eichs Gedicht „Die Häherfeder“, in dem es heißt
Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?
Ähnlich faßt Krolow in „Pappellaub“ das Zittern des Pappellaubs als Ausschlag eines empfindlichen Instruments, eine Geringfügigkeit gewinnt große Bedeutung:
PAPPELLAUB
Sommer hat mit leichter Hand
Laub der Pappel angenäht.
Unsichtbarer Schauder ist
Windlos auf die Haut gesät.
Zuckt wie Schatten Vogelbalg,
Spötterbrust, als winzger Strich:
Ach, schon wird es Überfall,
Wie sie blätterhin entwich!
Luft, die unterm weichen Flug
Kurzer Schwinge sich gerührt,
Schlägt wie blaue Geißel zu,
Die die dumpfe Stille führt.
Grüne Welle flüstert auf.
Silbermund noch lange spricht,
Sagt mir leicht die Welt ins Ohr,
Hingerauscht als Ungewicht.
Optische und akustische Oberflächensignale werden als Sprache der Dinge verstanden, die aber nicht übersetzbar ist und sich sofort verflüchtigt.
Poetik im Gedicht: „Ode 1950“
Die „Ode 1950“ ist eines jener zahlreichen Poetik-Gedichte Krolows, in denen er seine theoretischen Vorstellungen lyrisch formuliert und dem Leser eine Interpretationshilfe gibt, die sich wesentlich stärker auf die Rezeption auswirkt als alle sonstigen Äußerungen.
ODE 1950
Nicht mehr das traurige Stichwort: – Bequeme Parabel
Ist die Rede vom Nichts wie von herbstlichem Laub, das zersetzt
Sich zu brüchigem Rost. Die unbarmherzige Vokabel
Schreckt nicht mehr als der Fisch des Tobias zuletzt,
Wenn sie verbraucht ist im Munde, die als gespenstische Mode
Wie ein Feuer im Heu war und noch einmal Geist wird als Ode.
Aber was bleibt zu tun
Vor der trägen Gewalt
Des Daseins als auszuruhn,
Listig und mannigfalt:
Flüchten mit leichten Schuhn
In die Fabelgestalt
Oder auf äschernen Flüssen
Langsam treiben, von Küssen
Umarmenden Windes benommen,
Der aus der Höhe gekommen.
Formel der Früchte: wer nennt sie? Auf tönenden Tischen
Der Tage gebreitet, in silbernen Schalen der Nacht!
Sinnlich und nah und zu greifen. Ich suche mit Worten inzwischen
Die Flüchtigen aufzuhalten: mit einer Algebra, zart erdacht
Aus atmenden Silben, einem Bündel Gedanken, die baden
Im steigenden Halbmond wie das Geflecht der Plejaden.
Aber mit diesen Namen aus Zauber
Ist nichts erwiesen:
Der gurrende Tauber,
Die süßen Geräusche
− Erhört wie bewußtlos −
Vergehen. Ich täusche
Sie vor als ein Sinn bloß
In Worten, in Zeichen,
Die keinen erreichen.
Also wieder ein Abgrund? – Kein Abgrund: Versuchung schon eher
Und ein zärtlicher Hinterhalt, dem man erliegt,
Poetische Falle, gestellt, wenn im Mittag der Mäher
Oder im Abend aus Schilf es melodisch sich biegt,
Das Bewußtsein, die Fähigkeit, zuversichtlich und heiter
Gewähren zu lassen, den Geist aus den Geistern zu ziehn
Und die Zeit zu erkennen, die vorbeijagt – phantastischer Reiter
Durchs Gewölk der Geschichte, in dem die Verhängnisse fliehn.
Ich lasse die summenden Drähte, das klingende Gitter
Der Worte zurück auf dem Grunde des Seins. Er ist leuchtend und bitter.
Dichterische Existenz wird hier verstanden als ständige Herausforderung, die Wirklichkeit sprachlich zu fassen, Erkenntnis zu formulieren. Dabei kommt es nicht auf das Ergebnis an, denn Wirklichkeit entzieht sich der Sprache immer wieder, sondern auf den Prozeß selbst. Noch deutlicher wird dieser zentrale poetologische Gedanke Krolows im Gedicht „Worte“; der Prozeß der Annäherung führt nicht zu einer theoretisch ablösbaren Erkenntnis, sondern endet wiederum bei den Phänomenen selbst:
Vokale – geringe Insekten,
Unsichtbar über der Luft,
Fallen als Asche nieder,
Bleiben als Quittenduft.
Als leuchtend und bitter wird die Essenz der Wirklichkeit am Schluß der „Ode 1950“ bezeichnet, und dem entsprechen die poetische Phantasie – „Flüchten mit leichten Schuhn / In die Fabelgestalt – und die poetische Melancholie – auf äschernen Flüssen / Langsam treiben“. Phantasie, Imagination und Melancholie sollen aufgehoben werden durch die intellektuelle Komponente: „Zuversichtlich und heiter […] den Geist aus den Geistern zu ziehn“. Damit ist jener poetologische Grundansatz entfaltet, den Krolow in die Formel der intellektuellen Heiterkeit faßt.
Notizen zur frühen Lyrik
Zur besseren Orientierung kann man mindestens drei wichtige Phasen in Krolows Entwicklung unterscheiden, wenn auch die Übergänge fließend sind: Anfänge und erste Nachkriegslyrik bis Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre, Vorbereitung und Entfaltung der Position als ,Klassiker der modernen Lyrik‘ etwa bis Mitte der 60er Jahre, Rückzug auf lakonisches und scheinbar einfaches Sprechen seither. Mit Beginn der 80er Jahre wird allerdings eine erneute Veränderung von Stil und Haltung sichtbar.
Krolow war 1933 achtzehn Jahre alt, aus seiner geistigen Auseinandersetzung mit der Tradition und der zugänglichen Gegenwartsliteratur kann man im nachhinein vier Einflußbereiche herausgreifen, die zum Teil erst nach 1945 in seinen Texten wirksam wurden.
Aus der deutschen Lyrik-Tradition sind es einerseits Rilke, andererseits der deutsche Expressionismus mit Trakl und Heym, die Krolow besonders beeindruckten. Von der sogenannten ,Inneren Emigration‘ hat die moderne deutsche Naturlyrik mit Lehmann, Loerke und den Autoren um die Zeitschrift Die Kolonne großes Gewicht. Dazu gehören aber auch humanistische Positionen, wie sie etwa Ernst Wiechert vertrat.
Die Existenzphilosophie, vor allem Martin Heideggers, hatte zeitweise großen Einfluß. Durch Übersetzungen eignete sich Krolow auch die Ausdrucksmittel der französischen und spanischen Moderne an, besonders der Surrealismus wirkte nach 1945 faszinierend auf ihn. Seit 1940 hat Krolow, breit gestreut in Zeitschriften und Zeitungen, fast ausschließlich Naturgedichte veröffentlicht, die nicht immer die Ansprüche der modernen deutschen Naturlyrik erfüllten. Das wenige, was Krolow aus dieser Zeit gelten ließ und in seine Gesammelten Gedichte aufgenommen hat, war unveröffentlicht geblieben und wurde zum Teil erst 1952 gedruckt. Ähnlich wie in „Hand vorm Gesicht“ zeigt sich die irritierte Existenzerfahrung in „Der Nächtliche“ oder in „In der Fremde“. – Von den sechs Gedichten des kleinen Bandes Hochgelobtes gutes Leben wurden nur vier in Nachkriegsbänden erneut abgedruckt.
Unmittelbar nach 1945 setzt sich die naturlyrische Produktion fort, wird aber zeitweise überlagert von Zeitgedichten wie „Vaterland“ oder „An den Frieden“. Am aktuellsten war dabei der Band Heimsuchung; Gedichte und Auf Erden enthalten sehr viele ältere Gedichte. Die Naturlyrik wird zwar fortgeführt, dabei versucht Krolow aber die botanische Detailfülle etwas fernzuhalten.
Wie souverän Krolow über surrealistische Mittel verfügt, ohne in Beliebigkeit zu verfallen, zeigt das Gedicht „Im Rückspiegel“. Die Traumatmosphäre läßt sich zunächst durchaus auf eine reale Ausgangssituation beziehen, nämlich auf Beobachtungen im Rückspiegel eines Autos.
Aber dabei bleibt es nicht, die optische Ebene wird mit der akustischen verbunden und schließlich in einen psychologischen Rückblick verwandelt, in die Optik der Erinnerung…
IM RÜCKSPIEGEL
Auf goldener Scheibe
Dreht sich uns im Rücken
Die Stadt aus Glas
Mit langschenkeligen Häusern,
Bewegungen der Autos
Vor zarten Mauern.
Die Spiegelbilder ihrer Straßenzüge
Stehen in der Luft wie Flamingos
Und kröpfen die Stille: −
Apokryphe Tiere…
Durch deine Augen – lebendige Teiche −
Sprengt lautlose Reiterei.
Hinter deinem Mund
Hört alles Lächeln auf,
Beginnt die Ratlosigkeit der Welt,
Beginnt die Sprachlosigkeit der Welt…
Dein leichtes Profil
Wird zur Wolke.
Die Flamingos werden sie lieben,
Indes ich zurückbleibe mit meinen Händen,
Die ich zum Ruf an die Lippen halte.
Abschiedsgedichte, Liebesgedichte schreibt Krolow immer wieder, man denke an die Zyklen „Gedichte von der Liebe in unserer Zeit“, die „Liebesgedichte“ oder auch an den größeren Teil des Bandes Von Null bis Unendlich. Gewissermaßen wörtlich genommen hat Krolow das Gefühl des Schwebens, wie es mit dem Glückserlebnis verbunden sein kann.
ZIEMLICH VIEL GLÜCK
Ziemlich viel Glück
Gehört dazu,
Daß ein Körper auf der Luft
Zu schweben beginne
Mit Brust, Achsel und Knie,
Und auf dieser Luft
Einem anderen Körper begegne,
Wie er
Unterwegs.
[…]
Glücklichsein beginnt immer
Ein wenig über der Erde.
Aber niemand hat es beobachten können.
Die Kraft der Imagination: „Das Schweigen“
Eine Gruppe von Gedichten ist für Krolow Mitte der fünfziger Jahre besonders typisch, imaginierte Vorgänge, Hugo Friedrich nannte sie „lyrische Anekdoten“. Scheinbar surrealistisch und alogisch, ist ihr Spezifikum meist eine verschärfte Emotion, deren konkreter Anlaß nicht sichtbar wird. Einige Beispiele seien genannt: „Die Einsamkeit“, „Begegnung auf der Straße“, „Verrufener Ort“, „In meinem Zimmer“. Besonders spannungsgeladen wirkt der folgende Text.
DAS SCHWEIGEN
Ehe der letzte Gast
Das Café verläßt,
Umarmt er stumm die Frau
Auf dem alten Foto
Im Hauseingang.
Der Mittag, die Morgue der Pflanzen,
Bricht lautlos von draußen herein.
Er faßt nach den Brüsten, die sich
Wie das Lichtbild
Vergeblich wehren.
Das Schweigen fällt mit Spinnen
Über die Tische her.
Den Reisenden zeigt es
Den falschen Weg, so daß sie
Sich im Licht verirren.
Ihre vom Sommer entblößten Körper
Hängen tot
Im Schatten eines Walnußbaums.
Die Imagination konstruiert und suggeriert hier durch Setzung neuer Kausalzusammenhänge eine beängstigende verbrecherische Szenerie. Übersensible Wahrnehmung läßt das Spiel von Licht und Schatten, die Stille der Mittagsstunde und die Rast unter einem Baum besonders bedrohlich wirken. Dieter Schlenstedt faßt solche Verfahren Krolows als bildlichen Ausdruck von Entfremdungsstrukturen, welche die Unbegreiflichkeit und Bedrohtheit der Wirklichkeit wiedergeben, und zwar indirekt. Die Emotionalstruktur entspreche zwar dem Verhältnis des Individuums zur Wirklichkeit, sei aber ganz ins Bild verlagert; auf eine konkrete Auseinandersetzung mit der Realität werde verzichtet.
Politische Dimension: „Die Gewalt“
Nachdem Krolow noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit Gedichte über die politische Situation geschrieben hatte, tritt dieses Thema später für lange Zeit scheinbar völlig zurück. Das unveränderte Engagement für die Sache des Menschen verbindet sich nur selten mit aktuellen Anlässen. Die allgemeine politische Skepsis, besonders aber das Gefühl der Undurchschaubarkeit und des Ausgeliefertseins bringen ihn dazu, Politik meist nur noch auf einer hohen Verallgemeinerungsebene zu thematisieren. Seine Einstellung dazu formuliert er folgendermaßen:
Gesellschaft ist ein hochkomplizierter Organismus, der nicht nur durch eine Reihe ebenso empfindlicher Reaktionen, Mechanismen erkennbar wird. Der Schriftsteller wiederum ist der sensible Einzelne, der sich solchem monströsen, reizbaren Organismus schon längst nicht mehr gegenüber sieht, sondern der vom Leviathan geschluckt wurde. Um mich in einem weiteren Bilde auszudrücken: er ist jemand, der – so scheint es mir jedenfalls oft – seine Stimme bereits im Bauche des Ungeheuers erhebt. Er wurde – wie anderes – konsumiert, während er noch mit seiner Individualität haderte und ihre Feinheiten anzubringen versuchte.
1956 schreibt er während des Ungarnaufstandes das Gedicht „Die Gewalt“, in dem keine Namen genannt werden und keine Schuld beurteilt wird. Das Wesen der Gewalt erscheint personifiziert. Der politische Zusammenhang, der von uns heute erst einmal nachkonstruiert werden muß, war allerdings für die Leser des Erstdrucks in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im November 1956 evident.
DIE GEWALT
Sie kam aus ihrem Versteck
Und erweckte totes Metall zum Leben.
Die letzten Unterhändler
Streiften die Handschuhe über ihre Finger
Und gingen. Ihr Lächeln
Zahlt sich in keiner Münze mehr aus.
Sie kam aus ihrem Versteck.
Der Erdstrich, auf den ihr Blick fällt,
Ist verloren.
Die Türen springen auf.
Die Fenster zerbrechen.
In die Augen streut man
Asche und Mörtel.
Lippen schließen sich
Unter Faustschlägen.
Die unreine Nacht hält
Überfälle und schwarze Minuten bereit.
Bald werden die Herzen
Aufhören zu schlagen
Hinter dem Vorhang von Ruß.
Sie kam aus ihrem Versteck.
Sie wird Hand an uns legen.
Noch dürfen wir die Häuser verlassen
Und in den Glühbirnen-Himmel sehen.
Aber in den Vorstädten
Sind schon Spruchbänder gespannt.
Bald werden die Straßenkämpfe
Uns erreichen.
Bald werden wir allein sein
Mit den Gewehrmündungen.
Wer unter uns ist der erste,
Der an seinem Tische
Vornüber sinkt?…
Dialektisches Selbstbildnis: „Auf der Flucht“
Von den zahlreichen lyrischen Selbstbildnissen Krolows sei nur eines herausgegriffen, das einen wesentlichen Zug seiner Persönlichkeit veranschaulicht, nämlich die Dialektik von Annäherung und Distanzierung, Flucht.
AUF DER FLUCHT
Das Streichholz zerfiel,
Das man seinem Gesicht näherte.
Er floh. Doch ließ er zu,
Daß wenigstens Zehen und Finger
Durch die Wand wuchsen,
Die ihn von anderen trennte.
Jeder durfte im Mörtel
Das Bild ergänzen,
Das er sich von ihm machte.
So erschien manchmal ein Eber,
Dem ein fremdes Insekt
Oder ein Vogel folgten.
Die Gestalten wechselten, in denen
Er sich auf der Mauer zeigte.
Nachts lag sein Flüstern
Auf dem Glas benachbarter Fenster.
Von fern beobachtete er die Wirkung
Auf die Träume der Mädchen.
Aber von ihm wird niemand mehr
Gewahren als die Spuren
Einzelner Glieder
Im lotrechten Weiß des Kalks.
Nach und nach verschwinden sie…
Zwar steckt darin der Anspruch, daß sich der Dichter ständig verwandelt, daß er auch in seinen einzelnen Werken nicht zu fassen ist, sich ständig weiterentwickeln und Distanz halten will. Gleichzeitig aber wünscht und beobachtet er Kommunikation. Solche Paradoxie ist gewollt, sie ist ähnlich bei der Stilisierung zum heiteren Zauberer, denn auch hier ist immer das Gegenteil mitzudenken, der Druck der Alltagserfahrung, gegen den das Spielerische als Abwehr und Distanzierung gesetzt wird. Die Lage läßt sich mit einer Lieblingswendung Krolows benennen: dem Spieler wird mitgespielt.
Ironisiertes Naturerlebnis
Das Thema Natur hat Krolow immer beschäftigt und ist in diesem Überblick quantitativ unterrepräsentiert. „Eine Landschaft für mich“ heißt ein Gedicht, in dem seine verschiedenen Formen realer und ästhetischer Auseinandersetzung mit der Natur fast aphoristisch pointiert formuliert sind.
In ihr
Minerale und Adjektive
sammeln.
Baumschatten lassen
verschiedene Beschreibungen zu.
Der Mittag verzehrt in ihnen
einen Fisch
mit geometrischer Flosse.
[…]
Die Fläche schwarzer Oliven,
gestern von Euklid geordnet.
Ich lasse sie
vor meinen Augen
im trockenen Licht schweben.
[…]
Kreuzfahrten durch Grün:
sein Schweigen
ist unübertragbar.
[…]
Die Selbstmordrosen duften
nach vergangenen Gedichten.
Das Gedicht „Neues Wesen“ zeigt eine Position, welche die Natur als Gegenstand nicht mehr direkt angehen kann. Es werden die teilweise auch durch literarische Klischees bedingten Erwartungen thematisiert, und zwar indirekt, durch Anspielungen und Ironisierung.
NEUES WESEN
Blau kommt auf
wie Mörikes leiser Harfenton.
Immer wieder
wird das so sein.
Die Leute streichen
ihre Häuser an.
Auf die verschiedenen Wände
scheint Sonne.
Jeder erwartet das.
Frühling, ja, du bist’s!
Man kann das nachlesen.
Die grüne Hecke ist ein Zitat
aus einem unbekannten Dichter.
Die Leute streichen auch
ihre Familien an, die Autos,
die Boote.
Ihr neues Wesen
gefällt allgemein.
Ironie geht durch das ganze Gedicht, denn das neue Wesen ist ja nur ein oberflächlicher Anstrich, Schein statt Sein. Die Frühlingsbegeisterung des lyrischen Ich wirkt müde, als habe sich das Phänomen durch die häufige Wiederholung abgenutzt. Mit der zitierenden Erinnerung an Mörike ist es nicht genug, die Natur selbst ,zitiert‘ aus der Literatur, Realität und Fiktion scheinen zusammenzufallen.
Notizen zur Lyrik seit den 50er Jahren
Seit den 50er Jahren gewinnt Krolows Lyrik immer mehr Profil. Die Naturlyrik wird vorsichtig zurückgenommen, die Bildlichkeit virtuos weiterentwickelt. Abstraktion, Entsubstantialisierung, spielerische Imagination und kühne Metaphorik: das sind die ästhetischen Mittel, mit denen Krolow Offenheit und Leichtigkeit dominieren läßt. Speziell unter Anregung durch die moderne spanische Lyrik nutzt Krolow auch den spröden Bereich der Mathematik zur Stilisierung:
Drei Orangen, zwei Zitronen: −
Bald nicht mehr verborgne Gleichung,
Formeln, die die Luft bewohnen,
Algebra der reifen Früchte!
(„Drei Orangen, zwei Zitronen“)
Mit dem Büchner-Preis (1956), der hohen Einschätzung durch Hugo Friedrich, der Betreuung durch den Suhrkamp-Verlag verstärkt sich der äußere Erfolg, mit dem bis dahin eindrucksvollsten Gedichtband Fremde Körper droht eine endgültige Einordnung als Klassiker der Moderne.
So ist es nicht verwunderlich, daß Krolow nicht nur auf die allgemeinen und die literarischen Veränderungen in den 60er und 70er Jahren, sondern auch auf das eigene Image reagiert. Die alten Themen bleiben, aber sie werden bilderärmer, lakonischer, skeptischer oder ironischer formuliert, wie dies die Bände seit den Alltäglichen Gedichten zeigen.
Auch diese Linie bleibt hier quantitativ unterrepräsentiert; immerhin ist mit „Neues Wesen“ ein typisches Beispiel vertreten, und „Freier Fall“ markiert einen Punkt, an dem es nicht mehr weiter zu gehen scheint.
Ohne Illusionen und Illuminationen: „Freier Fall“
FREIER FALL
Und überhaupt: gib auf.
Aber hänge nicht gleich am Kleiderhaken
oder an der Dusche im Bad,
verschwinde noch nicht um die bekannte Ecke,
wenn es auch für dich
nichts mehr zu tun gibt.
Es ist noch etwas zu früh,
die Zunge zu zeigen
und mit steifem Glied zu baumeln.
Vorläufig scheust du noch
diesen Anblick und wartest ohne Panik
auf einen freien Fall,
der nicht endet.
Die wache Nüchternheit, mit der hier sozusagen dem Tod ins Auge gesehen wird, schafft Distanz. Das Bild vom Sturz ins Leere – vergleiche „Hand vorm Gesicht“ – ist geblieben, wird aber als freier Fall gefaßt. Dieser Begriff aus der Physik ist einem vor allem geläufig durch die artistischen Leistungen von Fallschirmspringern während der kurzen Zeit, in der sie ohne Schirm fallen können. Aus dieser Perspektive gewinnt die Komponente der Freiheit im freien Fall besondere Bedeutung. Viele Gedichte des Bandes Sterblich sind wie dieses von Todesnähe und einer gewissen Egozentrik bestimmt.
Engagierte Zeitgenossenschaft: „Da kommt die Müllabfuhr“
Danach überraschte Krolow mit einer modifizierten Grundhaltung und einer deutlichen Stilveränderung. Herbstsonett mit Hegel. Gedichte, Lieder etc.: schon der Titel wirkt etwas salopp.
Die skeptische und resignative Tendenz, die zu einer fast quälenden Einengung geführt hatte, wurde überwunden. Krolow verschaffte sich Luft und Freiheit einerseits durch starke Einbeziehung von Straßensprache, Redewendungen und respektlosen Zitaten aus Klassik und Volkslied, andererseits, und das war noch auffälliger, durch ungenierte Benutzung von Reim und Strophenformen wie Sonett oder Terzine. Inhaltlich wurde Krolow deutlicher in seiner Zeitkritik. Nimmt man das alles zusammen, kann man sich vorstellen, wie riskant die ganze Mischung ist, zumal man ständig auf ein Umkippen der Stimmung gefaßt sein muß. So gelangt er zum Beispiel auf Umwegen zu einer bitterbösen Anklage des Umgangs mit Minderheiten in der Bundesrepublik.
DA KOMMT DIE MÜLLABFUHR
Da kommt die Müllabfuhr.
Wie gut sie es wieder macht.
Das gibt endlich Bewegung.
Man sieht es sich an und lacht.
Das feine Essen von gestern
in den Eimer, Gott sei Dank,
mit Zigarettenkippen
schön auf den Abfallhang.
Ab in die Gegend jetzt!
Keiner spielt hier Gitarre.
Jemand steht hinter dir,
hebt ruhig eine Knarre.
Wie heißen die Leute bloß,
auf die sich schießen läßt?
Die Namen wechseln ständig.
Das gibt ein richtiges Fest.
„Ausverkauf“
Krolow hat sich im Gedicht nur selten konkret zeitkritisch geäußert, aber man kann da durchaus einiges entdecken, Angesichts einer Landschaft und Erinnerung an Preußen in den Gedichtbänden, das recht radikale Gedicht „Republik“ von 1963 und das scharfe „Militärstück“, beide 1963, allerdings nur in Literaturzeitschriften.
„Ausverkauf“, ein langes Gedicht im Band Zwischen Null und Unendlich ist in seiner Rückhaltlosigkeit vielleicht auch durch die Altersperspektive geprägt, man denke nur an die aus Notwehr aggressiv-ironischen Texte des späten Günter Eich oder an die zivilisationsmüden elegischen Diagnosen des späten Benn.
Mit diesem Text hat Krolow deutlich gemacht, daß ihm nach wie vor sein ganzes Spektrum lyrischer Äußerungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, und daß auch hinter den vielen Selbstporträts, die sich auf die Geste einfachster Selbstvergewisserung reduzieren können – zum Beispiel „Ich gehe über die Straße“ oder „Sich vergewissern“ – immer die gesamte Erfahrung eines Autors steht, der sich nicht nur mit künstlerischen Vorstellungen, sondern auch mit gesellschaftlichen Problemen befaßt.
Ausverkauf meint hier das Aufgeben von Ballast im Hinblick auf den Tod, meint aber gleichzeitig böse ironisch die Abwertung all dessen, was Menschlichkeit heißt. Einbezogen sind so konkrete Zeitereignisse wie Abschreibungsskandale, Arbeitslosigkeit, Chemieschäden, Auf- und Abrüstung, Sozial-Partnerschaft. Vom Handschlag bis zum Handkantenschlag ist es da nicht weit.
Die Vögel singen langsam, wenn die Taschen geleert sind.
Da war was zu holen, nach dem Handkantenschlag −
vielen Dank! – nach dem richtigen Griff oder dem Tritt
ins Gemächte: guten Morgen! Bedient euch. Besitzen ist Zufall.
Oder wer spricht jetzt von geleisteter Arbeit?
Der mit dem Partner-Gesicht ist erledigt.
Das betroffene Individuum sieht sich um:
[…] ich bin noch am Leben. Ich atme erschrocken
mit Wenn und mit Aber, auf Abbruch – am Leben.
[…]
Mit entspannten Kiefern, offenem Mund
staunt man, wie es weiter geht in der physikalischen Welt
unter Schlaflosen, die verkaufen, verkaufen:
deutsche Reden, Leistungsprinzip, Emanzipation,
alle Geschichten mit Knoten, diese vertikalen Horizonte −
eine Schaumlöffelwelt, unerschöpfliche Leere,
da reicht keine Vorstellung aus.
Rolf Paulus
− Karl Krolow: Herodot oder der Beginn von Geschichte
− Jürgen Landwehr: Formen der Mimesis im Gedicht
− Rolf Paulus: Die Lyrik Karl Krolows
− Gerhard Kolter: Typen der Lyrikrezeption
− Gerhard Kolter / Rolf Paulus: Gespräch mit Karl Krolow
− Karl Krolow: Melanie. Geschichte eines Vornamens
− Walter Helmut Fritz: Karl Krolows Prosa
− Ursula Steuler: Krolow als Übersetzer
− Gerhard Kolter: Liebe, Eros, Sexualität. Zu Karl Krolows Bürgerlichen Gedichten
− Vita Karl Krolow
− Rolf Paulus: Kommentierte Auswahlbibliographie
− Notizen
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
Schreibe einen Kommentar