LANGSAME ZUKUNFT
Ursprünglich war ich Pfeifenraucher
und konnte den Tabak in der Hand reiben
mich selber lange auf Fotos betrachten
und endlich die Bücher mit ruhigem Zeigefinger
aus dem Regal ziehen
die ich mir zurückgestellt hatte für bessere Zeiten
den dreibändigen Grandville – da lernte ich denken
wie ein Tier und mir vorzustellen die umfassende
Sexualität des Universums
da kannte ich mich aus in Freunden
und in die Musik von Wind und Wetter rief ich
mit meiner Stimme und bewahrte in mir kostbare
Schrecken auf für Zeiten der Zufriedenheit
ich zeichnete in großer Muße Karrenwege und dachte
an das Innere der Welt das ich selbst war
und an das Äußere der Welt das ich auch war
ich war zu sehen in Petersburg und in Ochotsk
wie überall am 60ten Grad nördlicher Breite
die Sonne ließ ich auf- und untergehen nach
Belieben und nannte das Tag und Nacht
und in der Dunkelheit leuchtete mein grünes Auge
ich war ganz natürlich indem ich eine Zeitlang
lebte, der Antiwalfisch zog mein Schiff
mein Taschenmesser klappte auf im Abendrot
und die Antieisenbahn fuhr die Vergangenheiten ab
Nicolas Born
ECHO EINER EXISTENZ
Ein Zimmer in der Luft
Sie sagen, sie kannten Born als Klaus, und sie wollen auch dabei bleiben.
Und dass man ihn ganz schön ärgern konnte mit Klaus Jürgen, Kläuschen, Nikel, Nickel. Und dass es nicht immer leicht gewesen sei mit ihm. Seine Ansprüche. Das herrische Flehen. Die bodenlose hartnäckige Innigkeit.
Die Zwänge, nicht nur zu lesen, was er vorgeschlagen hatte, sondern auch noch unbedingt etwas dazu sagen zu wollen, nur für ihn Bestimmtes, über das er nicht einfach hinwegsteigen würde, das ihn zum Grübeln bringen sollte, das er nie mehr würde vergessen können.
Am umgänglichsten sei er gewesen, wenn er von Selbstzweifeln gemartert war. Ganz zutraulich. In seiner Mansarde. Wachslichter in Puddingschälchen. Dann hörte er auch hin, wenn man etwas offenbarte (umsatteln, auswandern, sonntags liegen bleiben).
Die Mansarde, das Abseits, der sicherste Ort. Eine seltsame Stimmung, vielleicht auch eine kleine Resignation. Die war aber am nächsten Tag wieder weg.
Zu jener Zeit arbeitete man an fünf Tagen in der Woche acht bis neun, und samstags fünf Stunden. In Berufen, die man nicht selbst gewählt hatte.
Und wenn man vorschlug, wieder mal miteinander zu schwimmen, im Baldeneysee, im Friedrichsbad, oder in die Gruga zu gehen, wurde auch was daraus.
Auf Suche, auf Rolle, auf Sehnsuchtsrolle.
Man brauchte einander, um den Tag zu überstehen.
Born wünschte sich schon damals ein Zimmer in der Luft, in dem er in seiner Not arbeiten könne. Recht hatte er. Nur das Wünschen ist wahr, das kann man nicht übertreiben.
„nein nicht nie“ (Sarraute)
Zettel, Fotografien, Briefe, Anfragen, Antworten, Zeitungsausrisse, Bücher, von Sarraute, Robbe-Grillet, Wellershoff, Brinkmann, Elsner, Novak, Rasp, Weiss, Bichsel, Born, Chotjewitz…, Akzente, Merkur…, alles ist 40 Jahre alt oder wenig jünger, alles gehört zum Thema, hat mit früher zu tun, Born und früher, mir, Sarraute und früher. Die drängt sich mir übrigens bis heute alle Jahre wieder auf, weil ihre weichen handlichen Werke nachts, nach heißen Sommertagen verlässlich unsere Fenster offen halten.
Die Zeitungsblätter, vergilbte Lappen, haben sich auseinander gefaltet, wie eine Zudecke auf meinen Schreibtisch gesenkt, und alles Darunter ist verschwunden.
So könnte es bleiben, dachte ich. Chronisten gibt es genug.
Als ich vor einigen Monaten die Einladung zur Mitarbeit an diesem Heft annahm, dachte ich noch, es sei nicht ungewöhnlich.
Je näher der Termin rückte, desto mehr dachte ich an jene Zeit in Essen, an mich und uns in dieser Stadt. Gesichter, Bilder, Ereignisse, Sätze, Farben drängten sich vor. Und zwar furios. Ungeordnet. Selektiv. Einander überschneidend, einander vernichtend, nicht dokumentarisch, nicht praktisch, nicht nützlich, fabellos. So ist es geblieben. Keine Chronologie, keine Kontinuität, mal sehen, was draus wird.
Viele Menschen haben Angst vor so viel Chaos, aber wenn man es zulässt, kann es spannend sein, und es kann einen ein Leben lang bei Laune halten.
Nehme ich es als Vergnügen, vielleicht wird es Vergnügen, die milde beleuchteten unaufgeräumten Gedächtnisspeicher zu durchwandern. Ich versuch’s. Immer mal wieder schwimmen die Augen in aufsteigenden Tränen. Ist da jemand, der mich versteht?
Sarraute hatte ich für mich entdeckt, zufällig. Geklaut in einer Hamburger Villa, Zeitalter des Argwohns, vor über 40 Jahren in Deutsch erschienen. Strafverteidigerin soll sie gewesen sein, was für ein Rüstzeug für Schriftsteller. Ihr Beharrungsvermögen, der Enthusiasmus, mit dem sie ihr eingeschränktes literarisches Programm vertrat, ihr Unterwort-Erkundungsprogramm, ihr Vorsprache-in-Sprache-Verwandlungsprogramm.
Eben hatte sie auf die Frage eines F. Bondy, was die heimischen Sprachphilosophen denn dazu sagen, geantwortet, dass die sie verspotten und vom Vorsprachlichen nichts wissen wollten.
Nie nahm sie an irgendwelchen runden Tischen Platz. Kontakte zu Kollegen? Nie gesucht, nie gewollt… Vorsicht, Misstrauen, Distanz? „nein nicht nie“. Ihre Haltung gefiel mir, das Programm machte mir zu schaffen.
Und zurück
Zu viert hatten sie in Essen einen Club gegründet. Ich kam erst später hinzu. Born und den anderen hatte ich etwas voraus, wenn auch nur für kurze Zeit: zwei Veröffentlichungen, bei V.O. Stomps in der Eremitenpresse, zwei raue graue Leichtgewichte schweren Inhalts. Gedichte mit 22 Jahren, einen „Proroman“, was immer das heißen mochte, mit 23 Jahren.
Und Born kannte die Gedichte. Das führte dazu, dass er mich entdeckte in Essens Baedeker Buchhandlung, ich wollte Sprachgitter von Celan, nicht ohne Grund. Wenn ich endlich in Paris wäre, würde ich ihn besuchen in der Rue Lauriston. Das Buch musste bestellt werden, auch damals schon, ich musste meinen Namen nennen und Born rief, Sie sind die Lyrikerin Hannelies Taschau! Sie machen ganz wunderbare Gedichte! Er jubelte ein paar Zeilen hoch, und dann verriss er sie: So bittersüß dürfe es mit mir aber nicht weitergehen.
Alles laut, mit dem Pathos der Gewissheit, man war längst auf uns aufmerksam geworden.
Ich hatte das heftige Bedürfnis, ihm eine zu schieben und mich dann zerknirscht und wortreich zu entschuldigen. Born hätte Größe zeigen müssen, die er vielleicht gar nicht besaß, und mir verziehen. Dass er zurückschlagen könnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich war Mitte 20, ein hübsches Mädchen, unerschrocken, schon eine Ewigkeit berufstätig, unnahbar, heute nennt man das zickig.
Aber der richtige Zeitpunkt für meine Attacke war verpasst. Born war schon wieder bei sich: Auch er mache ganz wunderbare Gedichte! Und dann sagte er etwas auf, unbefangen, schmucklos, das mir sehr gefiel. Es ist wieder Abend in meiner Straße und in deiner Straße…? War es dieses Gedicht? Allererste Fassung? Könnte doch sein.
Es ist wieder Abend in meiner Straße
und in deiner Straße
überall gehen die blauen Lichter an
und geheime Befehle springen in die Antennen
Wenn es in mir wieder hell wird
dunkelt es draußen
das ist immer dann wenn meine kleinen
Bücher zufallen…
Ich kannte nichts von ihm, und er von mir längst nicht alles. Das müsse sich ändern, das wollten wir beide. Er schrieb mir seine Adresse auf, ein Datum, eine Uhrzeit. Als wir beschlossen hatten, einander unsere Gedichte vorzulesen, ich ihm seine, er mir meine, war ich fast versöhnt.
Es geht um die Zeit vor Berlin, dass das klar ist!
Das ist doch unstreitig, Born ist in Berlin schließlich nicht vom Himmel gefallen.
Es waren wichtige Jahre, wie macht man das deutlich, ich weiß nicht, wie man das deutlicher machen könnte. Diese Jahre sind zusammengeschnurrt auf ein paar Sekunden gefühlte Zeit.
Wenn alle geblieben wären
was wohl geworden wäre, S. sagte unbedacht, alle würden noch leben.
Absurd, kindisch. S. war längst verlegen. Ein greller Gedanke, er komme immer wieder hoch, nun schon jahrzehntelang, und nicht wegzukriegen, sagte er noch entschuldigend.
Das endlich, ein einziges Mal ausgesprochen zu haben, schien ihn nicht zu erleichtern. Würde er es ungesagt machen, wenn er könnte?
Er blieb verlegen, bis wir auseinander gingen. Das tat mir sehr Leid.
Es muss Anlässe gegeben haben
sonst schriebe ich heute nicht; welche es allerdings waren, kann ich kaum mehr bestimmen, sagt Born. Das soll uns vielleicht genügen.
Er vermute, dass die erste Intention ein Produkt des Lesens war, wahrscheinlich jenes Gefühl der Unbefriedigung, das jeder Lektüre folge, fügt er unverbindlich-freundlich an. Sicher. Auch. Gern hätte ich den ersten feststellbaren Ausnahmezustand in Borns Leben gewusst. Gefragt habe ich ihn leider nie. Als unheilbar Betroffene – ich war zwei Jahre alt, als mein Vater starb – vermutete ich damals, es habe viel mit Borns Vater, einem fremden Mann, zu tun. Ich meine, es gab auch jemanden, der ihn stellvertretend für seinen Vater geschlagen hat. „Friebe“?
Ich hatte keine Lust ihn anzubinden wenn er
auf Urlaub war und seine Stimme ganz anders
im Korridor ihn ankündigt als spräche er
in einen Emailleeimer
Vaterdinge sagte er Du du komm her was hast
du denn wo ist
der Junge
…
Friebe kam über mich
gewöhnlich musste ich lange meinen Vater ansehn
bevor es hagelte
und bevor ich mich vor lauter Nasenbluten
bei meinem Vater auf dem Bild entschuldigte:
er sah das alles mit an…
Was sich mir damals dazu aufdrängte: Schiller, das Kind, lebte mindestens zwei Jahre lang ohne den Vater, nur mit der Mutter und der älteren Schwester Christophine in einem einzigen Raum. Der früheste bekannte Ausnahmezustand im Leben Schillers. Wird vermutet. Der habe ihn geprägt, mehr als die militärische Pflanzschule des Herzogs Karl Eugen. Wird behauptet. Und päng entsteht Neues. Spekulationen, Vermutungen sind grenzenlos möglich, gewagtesten Interpretationen stellt sich nichts mehr in den Weg.
Behauptung
Vielleicht, wenn alle geblieben wären, Hartenstein und Hoppe der Graf ein Martin ein Alf und der S., die Rosa bei der Zeitung und die Karin im Jugendzentrum, Born bei Christel, Taschau bei irgendeinem Bruno
vielleicht wäre der Club, dem man schon beigetreten war, wenn man sich ihm auch nur fragend genähert hatte, gar nicht Not leidend geworden?
Vielleicht ist der Club nie wirklich Not leidend gewesen?
Man strebte weg, anstatt sich komfortabel einzurichten, da, wo man war, mit dem, was man hatte. Ernst Meister machte es doch vor und hatte offensichtlich gut zu tun in der Abgeschiedenheit von Hagen. Und auch Dieter Wellershoff machte es vor. Er lebte und schrieb in Köln und betrieb seine Realismustheorie gegen die französische. Während in Frankreich Butors Zeitplan den nouveau roman angeblich bereits aus der Krise geschupst hatte, war Wellershoff wohl noch dabei, nach der Absage an das Überlieferte das Neue zu formulieren.
Später hat er über die Vorurteile geklagt, die „wie Krokodile auf ihren Sandbänken lauern und zuschnappen“, wenn er nur das Wort Realismus erwähne…
Ulysses gelesen
und nicht nur den, mit verstellten Stimmen, so laut wir konnten. In der Gruga etwa, oder am Baldeneysee. Beiläufig lernten wir. Von der Natur, dass Lärchen keine Nadelbäume sein können, sondern Laubbäume sein müssen, weil sie im Herbst ihr hellgelbes Laub über uns streuselten.
Von der Sarraute, die sich „Tropismus“ aus der Biologie geborgt hatte. Dort sind die kleinsten Bewegungen der Organismen gemeint. Die Sarraute meinte unwillkürliche, durch ein Wort, einen Blick, eine Geste ausgelöste Gefühlsbewegungen. Ihre Behauptungen, dass Tropismen, diese winzigen Wirbel, zukünftig ebenso geläufig sein würden wie Charaktere oder dass zukünftig nichts mehr zähle, außer der einzelnen kleinen Tatsache, fand ich realitätsfern aber pikant.
Und ihre 24 Mini-Dramen durfte ich auch vorlesen. Am Ende waren die Höflichkeit der Zuhörer und mein Elan verbraucht.
Keine Chance, alte Hexe. Nie soll mir gelingen, betete ich, ein Ding, ein Gefühl, eine Erkenntnis vom Menschen loszulösen. Von allen Stimuli, die das Menschenhirn animieren, wirkt keins so stark wie der Mensch, lebensgroß. Das Wenigste, das Leichteste, Leiseste, ein Hauch, ein Husch, ein Augenblick – macht das beste Glück.
Besuch bei Johannes Bobrowski
in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, mit Tagesvisum, noch von Essen aus. Unter Ausnutzung einer Berlin-Reise der Jungsozialisten des Bezirks Niederrhein. Das hätte ich nicht mehr gewusst. Katharina, Borns jüngste Tochter, hat es herausgefunden anhand des Programms, das sich „auf Hosentaschenformat zusammengefaltet“ in Breese im Schrank mit Borns Nachlass fand.
Dass ich mich zu der Berlin-Reise hatte überreden lassen, dass Walter Hoppe mitfuhr aber nicht mitkam zu Bobrowski, fällt mir wieder ein. Und immer mehr fällt mir ein, während ich dies aufschreibe. Die Aprilöde der Hasenheide, die moderbraune Täfelung des Heidekrugs. Und ich dachte einen Moment lang, ich hätte nur die Fotografien.
In Bobrowskis Badezimmer westliche Markenartikel, Nivea, Creme und Seife, Badesalz aus westdeutschen Bergen, Rasierwasser aus Köln. Ein FDJ-blau gekleideter Neffe wurde von ihm zusammengestaucht, „in dieser Wohnung“ gebe es keinen Kostümzwang.
Ziemlich ernüchternd dieser erste Besuch, und gut für spätere Begegnungen.
Ich betrachte die Fotografien und bin entzückt. Der schöne Ernst in unseren Gesichtern. In Wahrheit eine Folge von weniger als drei Stunden Schlaf in den Nächten, schlechtem Essen, schlechtem Trinken, schrecklichen Seminarstunden, nur durchzustehen mit ein paar Minuten Schlaf, an die Wand gelehnt auf dem Klo im Heidekrug.
„Wen also grüßtest du“
Einmal fuhren wir zu Ernst Meister, nur um ihn zu fragen, ob wir diese vier Wörter haben könnten. Er gab sie uns, förmlich, in die Hand. Aber wir haben sie nicht gebraucht. Ich will nicht erklären, was wir mit ihnen vorgehabt haben. Aber dass Meister uns gern noch eine Weile gequält hat, indem er unverhofft nach dem Verbleib seiner Wörter fragte. Das peinigte uns mindestens so wie die Niederlage, den Plan aufgegeben zu haben. Erst als wir ihm die Wörter zurückbrachten, nach Hagen, sie ihm zurückgaben, förmlich, in die Hand, war das Spiel zu Ende.
War Meister hilfreich? Was meint ihr? Für Born wohl mehr als für mich. Weil Meister uns ernst nahm, mussten wir uns auch ernst nehmen. Er war immer betörend, leicht trunken, wie von seinem eigenen Sturm zerzaust, eindringlich der Blick, fast ohne Lidschlag.
Alles, was Born später über Ernst Meister als Lyriker gesagt und geschrieben hat, erscheint mir unter dem Eindruck der frühen Begegnungen als sekundär. Wie treu Born sein konnte. Erst war es Bewunderung, dann eine erwachsen werdende Freundschaft. Ob er je gelernt hat, Freundschaften zu verhüten?
Schon gut, ich hänge an mir
aber ich weiß was dazu gehört: Namen vergessen, Freundschaften verhüten,
ein Kopfbad nehmen, ausschwitzen die vielen
doppelten unnützen Physiognomien.
Wie sie fallen und…
Ich war dabei, als Else Meister meinte, Born habe das Zeug dazu, berühmt zu werden, aber mit „Klaus“ lasse sich das nicht machen.
Sie hatte auch schon einen Vorschlag: „Nicolas“. Gefiel ihm. Also Nicolas. Ich konnte das nicht mitmachen. Wenn ich mit ihm oder über ihn sprach, sagte ich Klaus, und wenn er sich aufpumpte, auch mal Kläuschen. Geschrieben habe ich an Klaus, Nikel. Nicklas.
Vom Weiterkommen
Was mich wirklich bewegt, lasse ich meine Figuren sagen… An der Kamera vorbei, neben ihm ich, neben mir Alfred Bous, sagte Born das und seine Stimme war heiser vor Beherrschung. Wir waren auf dem Weg zu einer Lesung im Jugendzentrum Essen. Born schien den Fotografen zu kennen und ihn unbedingt zum Schweigen bringen zu wollen. Was der Fotograf gefragt hatte, war nicht zu erfahren. Vielleicht wollte er auch nur erreichen, dass der Jungdichter nicht lacht.
Dass Schreiben ein ordnender Faktor in unserem Leben werden könnte, dass man seine Figuren sagen lassen kann, mit Schmackes und Pathos, was man selber nicht zu sagen wagt, war damals eine wichtige Entdeckung für uns.
Anne ließ ich in „Landfriede“ sagen: „Irgendwo und überall wohin ich gehe, wird sich etwas in Bewegung setzen, irgendwo und überall wird jemand bereit und aufmerksam und voll Erwartung sein, mich zu erleben.“
Auch was die Figuren mit einem machten, wenn man sie gewähren ließ, regte mich auf, dass sie weitertrieben, was man begonnen hatte, sich selber einfach weiterschrieben, rabiat, ohne Vorsicht oder Rücksicht auf das, was man angefangen hatte, eine Tür war aufgestoßen, wohin könnten sie wollen und wie weit würden sie kommen ohne mich!
Dazu Borns herrisches Flehen: Dem darfst du nicht nachgeben, du darfst sie nicht einfach walten lassen, wenn du nicht scheitern willst, es geht doch nicht um persönlichen Spaß beim Schreiben, es geht um Disziplin, wenn du nicht scheitern willst hol sie zurück, du musst sie zurückholen, wenn es sein muss mit äußerster Gewalt, und für die Zukunft gewöhn dir das ab!
War er mir voraus? Ich fragte ihn.
Ich dir voraus! Er reagierte überraschend bissig. Und bissig zitierte er die Sarraute, diese Binsenweisheit, dass Schriftsteller gern ihr eigentliches und einziges Problem verbergen, sie lernen im Grunde nie hinzu.
Ich schwieg tapfer, Schweigen kann höllisch sein. Und irgendwann sagte er, Schon gut. Vergiss es. Oder behalt es für dich.
Und wieder zurück
auf die Wiesen am Baldeneysee. Wir haben einander vorgelesen, laut, je mehr Aufsehen, desto mehr Stimme. Büchner, wahrscheinlich auch Proust, Kafka, da sorgte Born für eine Art literarischer Grundausstattung, mein einsamer Beitrag war die Sarraute. Zwischendurch spielten wir eine Runde besten Völkerball oder S. trieb uns ins Wasser.
Es waren Nichtschwimmer unter uns. Das gestand man längst nicht jedem, nicht schwimmen zu können war damals ein Makel. Und für S., unseren Fisch, mit seiner wasserdichten porenlosen Haut, war das schon eine Art Behinderung. Er selbst war lieber im Wasser als an Land. Das wiederum fanden wir bedenklich und prüften von Zeit zu Zeit, ob ihm schon Schwimmhäute zwischen den Zehen gewachsen waren. Natürlich nahm er sich der Nichtschwimmer an. Mit Feingefühl. So war jeder auf seine Weise gut für den anderen.
Und in meiner Erinnerung waren wir immer wieder kurze Zeit sehr glücklich.
Darauf kommt es an, die Glücksforscher sagen heute, darauf kommt es an.
Damals hatten Problemforscher noch das Sagen, nur die Erforschung der Nachtseiten der menschlichen Existenz schien relevant. Heute ist das absolut Andere, das Wohlbefinden, ins Fadenkreuz des Interesses geraten. Die Häufigkeit positiver Momente, die vielen kleinen Abweichungen nach oben, ins Glück, übertrumpfen die negativen Erlebnisse. In der Reflexion wird daraus Wohlbehagen, weil das Gedächtnis fixer zum frisch Erlebten zurückkehrt, als auf einen der ganz großen aber längst vom Nebel der Vergangenheit verhüllten Glücksgipfel.
Wären alle geblieben
hätte Meister seine Else besser behandelt, weil wir häufiger bei ihm gewesen wären und darauf bestanden hätten, dass er seine Frau wenigstens in unserem Beisein gut behandelt (Fragezeichen?)
hätten einige von uns ihre verschwiegenen Schreibversuche öffentlich gemacht, sie fortgesetzt auf Teufel komm raus, sie als Schüler des Kölner Realismus’ vorwärts getrieben, bis zur Druckreife, bei KieWi (Fragezeichen?)
anstatt die Schreibübungen abzubrechen, wie sie es getan haben, sofort und für immer, nachdem wir auseinander gestoben waren (Fragezeichen?)
„Wer verdiente Zorn um deinetwillen“
Born lud Ulrich O. Berger aus Wolfsburg zu einer Lesung ins Jugendzentrum nach Essen ein.
Ulrich entwarf mit farbigen Tinten und Spucke auf Briefkarten kleine Sensationen, machte Gedichte, kurze poetische Texte für eine Weltmarke auf dem Getränkemarkt und studierte Jura in Erlangen.
Er war ein schlanker Typ von aufbrausendem Wesen. Kehlige Stimme, deutliche Sprache, schöner freier Gang, arrogant auf eine Weise, die wir leicht ertrugen, weil er einiges ungewöhnlich gut konnte. Zum Beispiel erzählen. Als säße er an einem steinzeitlichen Höhlenfeuer und wüsste, wenn er langweilt oder schlecht erzählt, wird er getötet.
Er werde gern Jurist, verkündete er, man lerne, aus einer scheinbar hoffnungslos verworrenen Geschichte einen Sachverhalt zu stechen.
Was ist ein Diebstahl, fragte Born. Du weißt es, blaffte Ulrich, ihr alle wisst es, und zwar parallelwertend in der Laiensphäre. Nur darum kann ich euch auch verknacken, solltet ihr dereinst vor meinem Richtertisch stehen und des Diebstahls überführt werden.
Oder Ulrich erzählte von seinem besten Freund, Studienkollege, Geigespieler, und zwar so eindringlich, dass ich mich in seinen Freund verknallte, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Wir begegneten uns in Erlangen. Wir sind zusammen bis heute.
Ulrich war inzwischen zu einer, die Lilli hieß, zurückgekehrt und freute sich dann doch noch an uns: „Auf daß meine, unsere und eure Liebe nie ende“, schrieb er in einem langen Brief aus Basel.
Er ist überraschend gestorben. Ich floh von der Beerdigung und suchte vergeblich ein Telefon. Ich hatte Born anrufen und ihm Ulrichs Brief vorlesen wollen.
Born hat etliche Nachrufe geschrieben, aber ich vermute, den ersten Nachruf schrieb er für Ulrich O. Berger, ungelenk, wie ertaubt, untröstlich.
Du bist tot gegangen
auf Straßen Brücken die es noch gibt
und wir haben es nicht bemerkt.
Uns trifft kein Vorwurf
aber wir haben dich überlebt.
Was ist Zorn, wer verdiente ihn um dich?
die nicht wir nicht
mit denen du Gedichte angingst…
Männer Verhinderer
weiblicher Selbstverwirklichung? Frauenrecht? Emanzen-Gegacker?
Einmal war ich zufällig dabei, als Emanzen einer bekannten Kollegin behilflich sein wollten, ihren Mann zu verlassen.
Sie lag eingeölt und duftend auf einem gepolsterten Tisch, als wir in die Wohnung eindrangen, ihr Mann knetete sich bereits die Hände warm. Entschuldigt, sagte sie mühsam, zur Zeit kann er mehr als ich.
Die Emanzen zogen durch, was verabredet worden war. Aber sie nahmen mehr Bilder von den Wänden, als die Kollegin haben wollte. Sie waren so stolz auf sich und konnten doch nicht verhindern, dass die Kollegin sich schon nach zehn Tagen klein und arm ohne diesen Mann fühlte.
Ich erzählte die Geschichte den Freunden und war der Meinung, dass sie zu ihm zurückgehen dürfe und sich das auch gut begründen lasse. Nur Born stimmte mir zu, und zwar sehr erfreut über meinen Sinn für Nuancen. Darum erzähle ich das überhaupt. Weil er wusste, dass ich eigentlich mit seinen Entwürfen weiblicher Figuren, diesen Allegorien negativer Eigenschaften, schwer zurechtkam.
Und Ursel? Zugegeben, Ursel ist anders. Aber sie ist erst später dran. Außerdem ist sie ein Mädchen. Tochter des Ich-Erzählers in Die erdabgewandte Seite der Geschichte, der etwa sagt, er glaube, dass alle einer Dramaturgie folgen, dass kaum ein Gefühl wahr sein könne, weil das Bewusstsein alles verderbe. Ursel fragt, wie viele Pfannekuchen willst du, er sagt, zwei, und sie sagt, dann mach ich drei für dich und zwei für mich.
Sie ist verantwortlich für die vielen kleinen friedlichen Erschütterungen, die die manische zerstörerische Beschreibungs-, Analysier- und Wahrnehmungswut des Erzählers und Vaters unterbrechen. Er versucht „mit aller Gewalt, noch einmal ernst zu nehmen; was jeder Mensch in seinem Leben schon einige Male verloren hatte…“
Pegelstände
Was wäre, wenn. Wir den gemeinsamen Nenner wirklich wollten, Born, die Sarraute, ich und alle anderen. Schreiben, um gelesen zu werden? Au Backe, sagt man im Ruhrgebiet. Ich lass das mal so stehen.
Ein Roman soll die Welt nicht spiegeln sondern verwandeln, und nichts anderes etwa habe Balzac getan. Sagt Sarraute. Da fällt Zustimmung noch leicht. Aber nur Theorien, nicht Proben zeitgenössischer Dichtung zeigen Gemeinsamkeiten.
Die vexatorische Alternative (Muschg?) zwischen Kunst ansich und Kunst zumgebrauch wurde wieder einmal diskutiert, für uns zum ersten Mal. Dazu Wörter, Anti-Lind, Pro-Lind, die Lyriker die Federballspieler…
Handke empfand es als scheußlichste Verlogenheit, sein Engagement zu einem Gedicht zu verarbeiten (Nerlich?).
Gustafsson frägelte, ob Gemeinsamkeiten herleitbar seien aus marxschen oder kierkegaardschen Begriffen.
Muschg verweigerte sich: Steinalt sei der Streit, und selten seien es die Künstler selbst gewesen, die sich darüber ereiferten.
Grass hatte sich zwischen Anna und Anna für Anna entschieden.
Rühm schwärmte, dass die sone die erde belouxtet unt erwermt unt das leben auf ihr erhelt…
Bienek sah Lyrik oder Literatur an sich tief in einem neuen Akademismus stecken.
Hans Mayer zitierte (wen?), „Unvollkommen ist diese Welt, unvollkommen ihre Beleuchtung“ (fast alles Akzente, 1/67).
Nicht jeder kann atmen in der dünnen Luft der Theorien. Der Hinweis Walter Benjamins auf die Prostitution des Dichters, die unumgängliche, im Zusammenhang mit dem Markt als objektiver Instanz und dem Kunstprodukt als Ware – tät’s der nicht auch?
Born wusste längst, dass er nichts als Schriftsteller sein wollte. Vier Monate Berlin, als Stipendiat der Ford Foundation, als Teilnehmer am ersten Lehrgang des Literarischen Colloquiums, und die Weichen für seine Zukunft waren umgelegt.
Ich lebte inzwischen in Paris, wohnte am Trocadero, ging jeden Morgen in die Alliance Française, verdiente meinen Lebensunterhalt bei einem Rechtsanwalt, der sich Maître nennen ließ und strebte in der mir verbleibenden Zeit nach Flows. Heute tu ich das offen. Damals tat ich das heimlich, es war angebracht. Schon ein Lachen mit blanken Zähnen war unerwünscht, wenn man als Dichter lachte.
Ein paar Straßenbreiten von mir entfernt lebte Celan. Ich las von ihm, was ich kriegen konnte, aber sehen musste ich ihn nicht, es war nicht mehr notwendig.
Hinter meterhohen Eisentoren, mit Löwen und Engeln, in sechs Zimmern, im ersten Stock, Blick auf den Eiffelturm, lebte die Sarraute.
Wer da wohnt, wer so wohnt, zieht nie mehr weg, sagte Renée, erste Sekretärin vom Maître. Gesehen habe ich die Sarraute im Café, zwischen ihren Füßen Tüten. Sie schrieb dort täglich drei Stunden, mit kalter Tinte, an neuen Tropismen, woran sonst, seit 1939, mit anderen Mitteln auf andere Weise. Undicht, fahrig, bis auf die Einkaufstüten unwirklich, was ich sah, eine Gestalt wie von Rosalba Carriera gemalt.
Françoise Sagan hatte ihr fünftes Buch in die Welt gesetzt und bediente bereits die Regenbogenpresse.
Verhängnisvoll ist nicht, dass sie sich alle Wünsche erfüllen kann, sondern dass sie es tut (Renée). Zum Beispiel mal eben nachts barfuß mit einem frisierten Sportwagen zum Spielen nach Cannes zu fahren und wieder zurück.
Fünf Bücher, und nur zwei Jahre älter als ich.
Renée, für die nur Bonjour tristesse zählte, sagte luzide, Fass dich, ihr Abstieg hat schon begonnen. Er wurde wahrhaftig quälend und dauerte lange.
Sartre und Beauvoir waren zu besichtigen an zeitig bekannt gegebenen Orten, Chet Baker und andere zogen durch die Keller, einige kannte ich noch aus der Grugahalle. Mit Yves Montand konnte man sich auf den Weg zu seinem Konzert am Trocadero machen. Ich saß in der ersten Reihe, es gibt einen Mitschnitt als Schallplatte mit Gelächter am Anfang, das ist meins. Edith Piaf sang vom Eiffelturm auf mich herunter, de Gaulle winkte mir staatsmännisch zu, Jean Marais neben mir, sich spiegelnd im Schaufensterglas, Renée sagte, weil ich aussähe wie ein Knabe. Deutsch sprach sie mit starkem Akzent, wie die Deutschen es mögen, also „Knabe“ mit diesem Rest-E, das immer zu spät kommt und unterwegs fast verloren geht.
Born war wieder aus Berlin zurückgekommen, für kurze Zeit.
Gegenüber vom Haus Sommerburgstraße Nr. 33, am Waldrand, auf rotem Splitt, schob er gelegentlich mit Christel, seiner ersten Frau, Tochter Undine im Kinderwagen vorbei und fragte meine Mutter, wann ich zurückkäme.
Ich war drauf und dran, in Paris zu bleiben, und es änderte sich einiges. Die Haare wuchsen, enge kurze Röcke statt angeklebter Hosen waren angesagt. Langsam langsam übersetzte ich meine Gedichte ins Französische und Celan ins Deutsche, nur für mich. Erste Aufzeichnungen entstanden für den Roman Die Taube auf dem Dach. Born hat ihn später in der „NRZ“ besprochen, die Pariser Szene sei mit einer Konturenschärfe im Detail beschrieben, die dem Leser wirkliches Entsetzen verursachen müsse, stellte er fest und verkniff sich, mich einer Theorie zuzuordnen. Andere, etwa die „FAZ“, ernannten mich kurzerhand zur „Adeptin des nouveau roman“. Lob hin, Lob her, ich war darüber viel zu lange richtig sauer.
Kurz vor ihrem 90. Geburtstag
das war 1990, hat sich die Sarraute übrigens noch einmal fotografieren lassen, da kennt sie kein Erbarmen mit uns. Und sie hat gespöttelt, „große alte Dame des nouveau roman, neunzigjährige Jubilarin… Worte, die nichts wissen von diesem profunden Gefühl, nichts zu sein, ein Neutrum zu sein, weder Frau noch Hund…“
Ihr Gesicht wie wild zerkratzt und aufgeritzt, aber gut verheilt die Wunden, zwischen wimpernlosen Lidern wache Maulwurfaugen, der Mund wie zugenäht, die Lippen eingezogen. Ihr Mann tot, nach 61 gemeinsamen Jahren gestorben. Wäre es nicht besser, das Interview (für Die Zeit) nicht zu machen, fragte sie und „der Besucher“, wahrscheinlich Iris Radisch, schnappte nach Luft.
Einmal war ich in Berlin
ein paar Tage oder Wochen, unbezahlter Urlaub von der dpa.
Aus Paris war ich nach Essen zurückgekommen, nicht nur wegen der Mutter: Eine französische Mehrheit zutiefst konservativ, eine französische Fähigkeit, zu verachten, Rassen ebenso wie Anschauungen – und andere gute ungnädige Gründe. Erkenntnis: Die Entscheidung, das Land zu wechseln, hätte ich früher treffen müssen.
Inzwischen arbeitete ich bei der dpa in Essen und dachte, so könnte es vorerst bleiben.
In meiner Erinnerung sind die Berliner Dichter großgewachsen, ein wenig verwahrlost, einander in ihrer stabilen vitalen Verstimmung ähnelnd, Klaus mittendrin.
Eine Szene schien sich um sie herum entwickelt zu haben. Mädchen folgten ihnen überall hin, gut sahen sie aus und waren fast stumm, sie kicherten nicht mal. Ihre vorgetäuschte stinkige Überlegenheit sollte sie wohl davor schützen, in akademisches Geschwätz verwickelt zu werden. Über Artikulationsformen, die sich nicht damit begnügen, immerzu auf ihren Kunstcharakter hinzuweisen, sondern die diese durch und durch gemachte Welt und uns in ihr intellektuell und emotional erlebbar machen? Über Möglichkeiten, polysemantisch zu schreiben? Könnte doch sein.
Die Mädchen verschwanden ohne Ansprüche, andere erschienen. Die Dichter blieben. Intimfeinde, Intimfreunde. Sie tanzten miteinander, tranken, stritten, arbeiteten miteinander und manchmal kochten sie füreinander.
Ich wollte nicht über Schreiben reden, nicht einmal mit Uwe Johnson. So kamen wir auf das Berliner Wohnen und auf die Ernährung.
Ich erklärte ihm, dass ich eher auf blendendes Wohnen als auf eine Kochgelegenheit zu verzichten bereit sei. Meine Selbstversorgerei beeindruckte ihn als spezifische Form weiblicher Unabhängigkeit. Nachdem ich vergeblich nach anderen Formen weiblicher Autarkie gesucht hatte, fragte ich Johnson nach seiner Lieblingsspeise.
Born kam hinzu und die beiden buchstabierten an mir herum. Welche Folgen meine Ignoranz dem literarischen Betrieb gegenüber für mich haben könne, habe oder längst gehabt habe. Nichts Böses, nicht der Anflug von Feindlichkeit, daran würde ich mich erinnern. Ich redete ein bisschen über meine Aufgaben bei der dpa, Tagesmeldungen zu verfassen, das Wichtigste steht vorn, gestrichen wird von hinten nach vorn, und ich schwärmte von meiner Serie über Berufe, ihren Jargon und was sie mit Menschen machen. Was blieb den beiden übrig, als sich ein bisschen zu mokieren, über mein „Tänzeln zwischen den Professionen und die Anfälligkeit für diese ganze politisch aufgetischte Faktenscheiße“.
Johnson kam dann doch noch zurück auf meine Frage und nannte Kartoffeln in jeder Form, Born wollte sich nicht festlegen, meine Lieblingsspeise, von Kindheit an, waren Schupfnudeln, geröstetes Weinkraut und Speck, es ergab sich, dass wir die Kartoffelnudel „Artoschupf“ erfanden, wir wollten sie auch mal ausprobieren, wozu es natürlich nicht kam.
Meine Berliner Zeit war zu Ende, gern ging ich wieder zur dpa zurück und dachte, so könnte es vorerst bleiben. „Erlangen“ war später.
Die Adjutante
sei eine Tante, die es dann gebe, wenn er es wolle, das hat Born in Daniels Löwengrube auf der Gemarkenstraße in Essen Holsterhausen auf einen dieser Bierdeckel mit abgerundeten Ecken gekritzelt, um den Schriftzug Stauder Pils herum.
Wer weiß das noch, wer war dabei. Und wieso fällt mir das jetzt ein. Gegenüber singt der Polizeichor, ich öffne das Fenster, ein Vogel kommt in wogendem Flug frontal auf mich los, der Kurde gegenüber verlässt das Haus wie jeden Tag pünktlich um 16.00 Uhr, auf meiner Gardine ein schwarzer Schmetterling, jetzt noch, im September… alles kein Anlass, um an die Adju Tante erinnert worden zu sein. Wo lagern solche Stücke, und, was ich viel dramatischer finde, warum werden sie gespeichert, obwohl doch ungewiss ist, dass sie je wieder abgerufen werden.
Wurde die Tante zum Leben erweckt? Ich kann sie nicht finden. Katharina Born fragen?
Schnell noch Rom
Villa Massimo, Born als Stipendiat. Ich war angereist, um herauszufinden, ob ich das auch könnte, man wartete auf meine Zusage.
Es ließ Born nur scheinbar kalt, von Kritikern für Das Auge des Entdeckers als postsurrealistischer Autor bezeichnet worden zu sein. Wir teilten die Vorliebe für Williams, Creeley (und und und, das schreibe ich ungern, aber es passt hierher), Barthelme und Brautigan las ich an Borns römischem Schreibtisch.
Wir tuschelten über alles Mögliche – über unüberwindliche Vergangenheit, liebste Bücher, Wellershoffs Ein schöner Tag gehörte dazu, über die Sucht, beschreibend bei einem Gegenstand, einem Gefühl oder einer Person zu verharren, bis zur Erschöpfung… Nicht interpretieren, nicht Zusammenhänge herzustellen versuchen, wo es keine gibt, einfach nur lesen, in einem Zug.
Born hatte seine zweite Ehefrau Irmgard und Schätzchen Rieke Marie bei sich in Rom. So lasse es sich aushalten, sagte er und riet mir eindringlich; das vorab für mich mit dem Geigespieler zu klären.
Die Borns zeigten mir die Stadt, wir machten Ausflüge in die Umgebung, Rieke war ein witziges Kind und so klein, dass ich sie bei Autostaus, auf der Via Appia und anderswo, mühelos aus dem Autofenster halten konnte zum Pinkeln. Ich hütete sie wohl auch mal, und die Eltern konnten irgendwohin verschwinden, zum Beispiel mit dem Schiff nach Split.
Brinkmann war auch da. Er begrüßte mich anstatt mit Guten Tag, mit den Worten, und zwar sanft, das ist gespeichert, er habe vieles falsch gemacht. Trotzdem ging ich ihm aus dem Weg, wie die meisten, es war schwer mit ihm auszukommen. Chotjewitz war auf der Höhe, prahlerisch und gastfreundlich wie der Statthalter von Rom.
Die großen Ateliers, der Lichteinfall von oben, alles sehr nach meinem Geschmack, in die Mitte würde ich mich setzen, wenn ich denn käme. Einige Kollegen hatten Probleme mit den großen Räumen, sie saßen mit Blick zur Wand. Mein Problem war Heimweh, Olivenöl in italienischen Dosierungen vertrug ich nicht, und ich fror, mehr als zu Hause.
Was noch. Partys. Und Heimweh. Noch ein paar Tage hielt ich es aus, dann rief ich den Geigespieler an, ich käme vorzeitig wieder nach Hause, das war neu, vorzeitige Rückkehr hatte es bisher nie gegeben. Fasan oder Lamm, fragte er.
Definitiv wollte ich noch wissen, ob er mich in der Villa denn öfter und länger besuchen werde, wenn ich die Einladung annähme.
Definitiv nicht, Dichter seien nur vereinzelt zu ertragen.
Leichten Herzens gab ich die Einladung zurück. Fasan, habe ich gesagt, es könnte irgendjemanden interessieren.
Daß die von Uwe Friesel, Richard Hey, Uwe Timm und mir gegründete AutorenEdition bei C. Bertelsmann erschien, gefiel Born nicht. Mir auch nicht, aber alle anderen Interessenten wollten Kompromisse aushandeln. Damit war Borns Problem nicht gelöst, aber mein Standpunkt geklärt.
Born saß an einem Hörspiel, ich saß an einem Hörspiel; „eine Seuche“ für ihn, nicht für mich, denn ich war eben erst von Hans Naber (SW Baden-Baden) für dieses Medium gewonnen worden und auch gern an Realisierungen beteiligt; wenn der WDR ein Hörspiel kaufte, der DLF es übernahm und vielleicht auch noch der Südwestfunk, brachte das außerdem gutes Geld.
Über Buchprojekte und Politik haben wir anscheinend überhaupt nicht geredet, so gefiel das auch Born.
Die Stimmung war gut. Der Umgang miteinander war vorsichtig.
Die frühe Vertrautheit zwischen uns war geblieben, wir wurden einander nicht fremd. Eine Form der Freundschaft, wie sie wohl von Männern bekannt ist, aber nicht von Frauen. Ich habe das an anderer Stelle schon erwähnt und betone es. Weil es mir wichtig ist. So etwas hat sich mit keinem anderen Mann wiederholt. Und Frauen gelingt das selten. Weil sie nicht viel übrig lassen. Sie sind dafür bekannt, dass sie nur in eine Freundschaft geben, was von der Liebe abfällt.
Zurück und Schluss
Natürlich sind die Dagebliebenen auch auseinander gelaufen, sie hatten die Chance, einander wirklich zu verlieren. Sie waren wieder frei für ganz Anderes. Und irgendwie kamen alle tatsächlich zur Ruhe, das kann man ihnen glauben.
Aber sie haben nicht etwa nur aufgeatmet, sie waren derbe traurig, als es ein Ende hatte, das Vorlesen, das Nachlesen, die Rituale, das Besserwissen, Völkerballspielen, Schwimmen, Kritisieren, mühsam einen Standpunkt erobert zu haben und ihn wieder zu verlieren an Born und seine bodenlose hartnäckige Innigkeit.
So etwas erfährt man nach Jahrzehnten von denen, die man im Grunde ja nie vergessen hat.
Katharina Born hat einige aufgesucht, wenige wollten sich nicht erinnern, die meisten erzählten ihr von Klaus, einem Vater, den sie so nicht kennt.
So bekomme sie, schreibt sie mir, ein immer kompletteres, gleichzeitig immer komplexeres Bild von seinem Leben, das sei schön. Neid Neid. Alle, die ich hätte befragen können zu meinem Vater, sind tot.
Ist wahr, was sie erfährt? Erschlichen? Verklärend? Erfunden? Erstunken? Geliehen? Geschönt und erträumt? Fragt sich das Katharina überhaupt?
Sagte ich zu oft ich ich ich? Ist wahr, was ich erzählt habe? Sind es halbe Wahrheiten? Vielleicht. Aber die eigenen.
Wir haben nicht die Verpflichtung von Chronisten, alles und jedes, ob abträglich, langweilig oder widersprüchlich, zu transportieren um der historischen Wahrheit willen. Wir würden eher schweigen.
Sich zu erinnern: Alle wissen, wie das funktioniert. Das Gedächtnis täuscht und lässt sich täuschen. Das ist schön und aufregend, wenn man es zulässt, schön ist es, zu modellieren, wegzunehmen oder hinzuzufügen, omnipotent, mit äußerster Subjektivität – wenn es gelingt, entsteht vielleicht das Echo einer Existenz.
Hannelies Taschau
– NICOLAS BORN: Gedichte
– HUGO DITTBERNER: Beim Entsichern der Verse. Zu einigen aufgefundenen Gedichten von Nicolas Born
– KATHARINA BORN: „Das nenne ich nicht Resignation“. Über die Arbeit an einer Ausgabe der Briefe Nicolas Borns
– HERMANN PETER PIWITT: Das Land, von dem niemand etwas weiß, außer, „daß das da sowieso nicht funktioniert“. Nicolas Born und die Utopie
– MARTIN GRZIMEK: Die Entdeckung der Wirklichkeit. Zu Nicolas Borns Versuchen in seinen Reden und Aufsätzen, seine Sehnsucht nach einer realen Utopie zu stillen
– FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS: „Lies wenigstens Du es nicht als Schlüsselroman“. Nachträgliche Überlegungen zum Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte
– MICHAEL TÖTEBERG: Die doppelte Fälschung. Volker Schlöndorff verfilmt einen Roman von Nicolas Born
– HANNELIES TASCHAU: Echo einer Existenz
– AXEL KAHRS: Ein paar Gedanken zu Borns Gedicht „Ein paar Notizen aus dem Elbholz“
– ANDREAS MAIER/CHRISTINE BÜCHNER: Schreyahner Nachtigallen
– HANS-JOACHIM JAKOB: Auswahlbibliografie (1965–2005)
– Notizen
„Die Utopie, unser Denken nach vorn, ist nie vorbei.“
Der 1979 mit 41 Jahren gestorbene Nicolas Born galt vielen Kollegen als talentiertester Schriftsteller seiner Generation. Seine Gedichte und Prosatexte zeigen ihn „immer auf der Suche nach einem richtigen, authentischen Leben“ (Dieter Wellershoff). Mit Hilfe von Utopien wollte er die Realität, an der er litt, durchschaubarer machen.
Der Band enthält eine Reihe unveröffentlichter Gedichte und Briefe Borns sowie zum Teil sehr persönliche Beiträge literarischer Weggefährten und Freunde des Autors.
edition text + kritik, Klappentext, April 2006
„Es ist das schlimmste als junger Mann zu sterben“, heißt es in einem bisher unbekannten Gedicht Nicolas Borns. Es fand sich in einem Textkonvolut, das Arnfrid Astel 1974 im Saarländischen Rundfunk gesendet hatte. Acht der zwölf Gedichte stehen nicht in der von Borns Tochter Katharina edierten Gesamtausgabe. Die Originalmanuskripte verbrannten vermutlich 1976 mit dem Haus, das Born sich im niedersächsischen Wendland gekauft hatte.
Daß es schlimm ist, als junger Mann zu sterben, mußte der Dichter selbst erfahren: Er starb, noch nicht zweiundvierzigjährig, am 7. Dezember 1979 an Lungenkrebs. Das nachgelassene Gedicht, das seinen Tod zu antizipieren scheint, ist freilich mehr als eine lyrische Klage. Auf den Vers „Es ist das schlimmste als junger Mann zu sterben“ läßt es, gut dialektisch, diesen anderen folgen:
Es ist auch das schlimmste als alter Mann zu sterben.
Das Nicolas Born gewidmete Heft 170 von Text+Kritik legt die Frage nahe, wie über das Werk eines heute Siebzigjährigen zu sprechen wäre, wenn es diesen Abbruch nicht gegeben hätte. Es markiert den Schmerz über den frühen Verlust. „Sterben ist wie ein Biß, der endlich sitzt“, heißt es in dem schon zitierten Gedicht, und weiter:
Wenn wir ein schönes Leben wollen
dürfen wir kein häßliches Gedicht schreiben.
Die acht bisher unbekannten Gedichte, die das Heft eröffnen, geben ihm einen starken Akzent. Hugo Dittberner kommentiert sie unter dem Titel „Beim Entsichern der Verse“ und stellt sie den Texten Rolf Dieter Brinkmanns als ebenbürtig zur Seite. Ihre Schönheit ist ungeglättet, ihr utopischer Impuls berührt uns wie etwas, das wir verloren haben. Born war jemand, der in dem, was er schrieb, ganz enthalten war. Das wünschte er sich auch von seinen Briefen. Tochter Katharina gibt uns Einblick in ihre Arbeit an einer Briefausgabe, die für 2007 geplant ist.
„Ich wüßte keinen Freund, der so vielen ein Freund war“, schrieb Friedrich Christian Delius nach Borns Tod. Zur Freundschaft gehörte auch, daß man wechselseitig Kritik übte und Kritik vertrug. Als die Literatur totgesagt wurde, wehrte Born sich gegen die aufkommende Ideologisierung. „Vielleicht kann Literatur das Gefühl der Weltsicherheit erschüttern“, hoffte er. Der Schreibende, heißt es einmal, sei selbst ein Erbärmlicher. Gegen solche Skepsis bringen Hermann Peter Piwitt und Martin Grzimek noch einmal die Utopie in Stellung, sichtet Delius den Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte auf die weiterführenden Elemente in Borns Werk. Michael Töteberg dagegen erzählt die Geschichte einer „doppelten Fälschung“, nämlich die Umstände der ebenso ambitionierten wie mißlungenen Verfilmung von Borns Fälschung durch Volker Schlöndorff. Weitere Texte bringen Lokales, also Wendländisches, und Persönliches. Als „Echo einer Existenz“ versteht Hannelies Taschau, mit Born seit frühen Essener Tagen bekannt, ihre Erinnerungen. So erzählt sie die Geschichte von den vier Wörtern, die sie und Born für irgendein Projekt von Ernst Meister haben wollten. Meister gab ihnen hintersinnig die Wörter „Wen also grüßest du“ in die Hand. „Aber wir haben sie nicht gebraucht“, schreibt Taschau. Und so fuhr man reumütig nach Hagen und gab Meister die vier Wörter zurück. Aus dem Spiel wurde Ernst, weil Meister die jungen Leute ernst genommen hatte. Born ging nach Berlin und erkannte:
Mit zunehmender Meisterschaft wird alles schwerer.
Auch das eine Zeile aus dem eingangs zitierten Gedicht, das, wie das ganze Heft, nicht so schnell auszuschöpfen ist.
In einem Gedicht brauche ich nichts zu beweisen.
(Hans Magnus Enzensberger)1
Kammermeier hebt hervor, es gebe kein einheitliches Selbstverständnis der Lyriker jener Neuen Subjektivität:
Der Begriff Neue Subjektivität hat nur einen praktischen Nutzen, insofern er der Charakterisierung einer Tendenz dient.2
Zwecks Erhellung dieser literarischen Tendenz isoliert Kammermeier für die Lyrik der Neuen Subjektivität zwei Positionen, die auf eine jeweils unterschiedliche Konstitution des Ichs rekurrieren:
Die einen wollen Subjektivität einbringen in die literarische Aneignung der Realität, um ein Mehr an Wirklichkeit erfassen zu können. Für die anderen ist das Subjektive am Verhältnis zur Wirklichkeit das entscheidende Kriterium ihres Realitäts- und Literaturverständnisses.3
Beide Positionen eint die deutliche Hinwendung zum eigenen Ich, deren jeweilige Konstitution sich indes als geradezu diametrale Ausprägungen identifizieren lassen:
Hinsichtlich der ersten Variante spricht Kammermeier von einer neuen Identität des lyrischen Ichs, dessen Konstitution im wesentlichen nicht problematisiert wird, da es Ergebnis der Subjektivierung im Zuge der Studentenbewegung ist und nunmehr die bewußte Synthetisierung von Subjekt und gesellschaftlichen Bedingungen gelingt. Diese Lyriker seien, so Kammermeier, gar bemüht, „die Errungenschaften der einstigen Revolte im Gedicht zu konservieren, zu wiederholen […]“.4 In der Folge ist nicht länger am „Erkenntniswert eines Gedichts [zu] zweifeln, das die empirischen Wahrnehmungen dieses Subjekts zusammen mit den eindeutigen Reaktionen dieses Subjekts auf das Wahrgenommene als jeweiligen Erfahrungsausdruck ungebrochen wiedergibt.“5 Das Subjekt und seine gesellschaftliche Wirklichkeit werden als Parameter begriffen, die – dialektisch verbunden – aus der lyrischen Rede hervortreten. Kammermeier erkennt hierin einen „historisch bedingten Typ des politischen Gedichts“.6 Das so geartete Ich wird als ein „Organ der lyrischen Mitteilung“7 definiert, das Kammermeier in der Hauptsache an Jürgen Theobaldys Lyrik nachweist,8 zu dessen Verfahren lyrischen Sprechens Kammermeier schreibt:
Quasi reflexionslose, unmittelbare Ich-Aussprache sei jeweils auch schon als Mitteilung über die gesellschaftliche und politische Situation zu dechiffrieren, in der das Subjekt sich befindet; jedes Erlebnis des Subjekts sei, wenn dieses Subjekt sich nur in seiner empirisch-disparaten Ganzheit mitteile, erlebte gesellschaftliche Realität.9
Durch diesen arglosen Rekurs auf ein Subjekt, das auf die Authentizität von Sprache und Wahrnehmung vertraut, gerät die lyrisch vermittelte empirische Realität, so stellt Kammermeier fest, „nicht selten zum verbrauchten Gefühlsklischee oder zur unverbindlichen sozialkritischen Erklärung – oder zum Ineinander von beidem.“10
Demgegenüber erkennt Kammermeier eine weitere Ausprägung lyrischen Sprechens. Sofern man dieser Konstitution des lyrischen Ichs folgt, ist ihr Nicolas Born, aber auch Rolf Dieter Brinkmann, zuzuordnen, bei der das Subjekt – als ein „zwie- oder mehrspältiges Wesen“,11 das eben nicht Ergebnis einer neugewonnenen Identität ist – in seiner Identität stets in Frage gestellt wird. Hierbei ist das Gedicht „wesentlich mitbestimmt von der Frage nach der Möglichkeit von Subjektivität“.12 Die eindeutige sprachliche Darstellbarkeit empirischer Wahrnehmung eines vorgeblich ungebrochenen Subjekts wird bereits durch dessen Sprechweise in Zweifel gezogen, so daß Subjektivität „zum Zweck lyrischen Sprechens“13 gerinnt, sieht sich das Subjekt doch als „Produkt der Entfremdung“.14 Im weiteren wird von der grundsätzlichen Richtigkeit der Zuordnung Borns ausgegangen: Born gibt sein jeweiliges lyrisches Subjekt zwar als „kollektive Rolle“ (WM, S. 83) aus, jedoch hegt er zugleich Mißtrauen sowohl gegenüber den dargestellten Zusammenhängen als auch seinem perspektivischen Vermögen. Hierauf wird im Zusammenhang mit der leitmotivischen Verarbeitung des Schreibens in Borns Lyrik – als eines konstitutiven Prozesses der Realitätsaneignung schlechthin – an anderer Stelle näher eingegangen. Born selbst gibt sich erstaunt:
Aus einem gewöhnlichen Schrecken ist ein ungewöhnlicher geworden, ein tickendes gefährliches Ding. Ich frage mich oft, wie so etwas Poesie werden kann. (WM, S. 137)
Auch Brinkmann muß hier angesiedelt werden, der sich gleichfalls staunend dazu äußert, „wie fremd alltägliches Leben ist“15 und zu dessen Verfahrensweise Korte anmerkt:
Im fixierten Moment ist eine Positionsbestimmung des lyrischen Subjekts enthalten, das Erfahrungen beschädigter, orientierungsloser Existenzen formuliert. Brinkmanns Reproduktionsmodell geht damit nicht in bloßer Alltagsschilderei auf, sondern konturiert jene Erfahrungen, ohne sie freilich zu deuten und in Sinnkontexte zu stellen.16
Der disparate Gestus offenbart sich für Bernward Vesper im Akt des Schreibens, jenem Erschöpfungszustand, der zwischen den Phasen der Praxis liege.17 Eine einheitlich zu vermittelnde Subjektivität bleibt folglich illusorisch: „Schreib, was du willst, bitte. Momentane Wahrnehmung addiert sich zu jener Totalität, die zeigt, daß du ein Fragment bist“,18 heißt in dem Romanessay, einem ebenso fragmentarischen Zeitzeugnis. So muß zunächst jeder Versuch zur Konstitution dieses gebrochenen Ich „als erste Leistung gesellschaftlicher Praxis angesehen werden“.19 Diese Autoren „schreiben, um schreibend sich selbst zu erfahren – und damit jene ,Instanz‘, die Wirklichkeitserfahrungen vermittelt“. Ihnen gerät „gerade der Widerspruch zwischen der gesellschaftlich abverlangten Identitätsbildung […] auf der einen Seite und nicht unterdrückbarer Subjektivität auf der anderen Seite zum Problem“.20 In Anspielung an Borns Gedicht „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“ (G, S. 187) faßt Kunert diese an Ambivalenzen reiche, da symbiotische, Beziehung zwischen dem Subjekt und dem kritisierten gesellschaftlichen Ganzen zusammen:
Die Industriezivilisation schafft erst die Menge, und zugleich auch – und darin besteht der große Widerspruch – ruft sie überhaupt erst das Individuum in Mengen auf den Plan.21
In seinem Beitrag „Phantasie an die Macht. Literatur als Utopie“ erkennt Born im Realitätsprinzip die Tendenz zur „totale[n] Identität eines jeden Wesens und Dings mit sich selbst, ohne jede irritierende Vorstellung“ (WM, S. 59), eine Tendenz, der im übrigen Borns Erzähler aus der erdabgewandten Seite nachdrücklich entgegenzutreten versucht, indem er die Subjekte als „Fragmente von Geschichten“ (ESG, S. 123) enttarnt. Vermittels einer derart konzipierten Subjektivität wird zugleich vermieden, „die Erfahrungen mit sich und mit der Wirklichkeit einem vorgegebenen anderen Verwendungszweck – ,Selbstbestimmung einer solidarischen Gruppe‘ – unterzuordnen.“22 Im Jahre 1978 äußert sich Kunert in einem Brief an Born zur fragmentarischen Verfahrensweise:
Beim Schreiben, auch beim Briefeschreiben, findet man ja seine Identität, bildet sie erst aus oder glaubt es doch zumindest. Sonst ist man sich doch häufig, vielleicht sogar immer fremd und des eignen Ichs ziemlich ungewiß, überbrückt diesen Zustand im Grunde nur dadurch, daß man ihn aus dem Bewußtsein verdrängt. Man vergißt es einfach.23
Und im Antwortschreiben entgegnet Born:
[…] eine Geschichte zu erzählen, erscheint als das Provisorium schlechthin. […] Lust, ja, auf das Realitätsprinzip zu pfeifen, auf die Angebote von Staat wie von Gesellschaft zu pfeifen, vor allem auf das Identitätsangebot in reicher Auswahl zu pfeifen. Lieber keine Identität.24
In dem Gedicht „Licht an“ (G, S. 175) stehen die Zeilen „Mit dir mach ich / das Licht aus. / Wir sind dann fast nur noch Wörter.“ im Widerspruch zum Gedichttitel, so daß jede Selbstgewißheit der Subjekte aufgelöst wird. Brinkmann bietet in seinem Roman Keiner weiß mehr einen Gedanken seiner skeptischen Hauptfigur an: „Im Dunkeln wäre ihre Stimme ein Loch, in das er hineinfallen würde.“25 In Borns Gedicht „Was meinst du“ (G, S. 74) tritt der lyrische Sprecher in einen Dialog mit „Rasha, den ich Rasha nenne“ – möglicherweise abzuleiten von dem englischen Wort „rash“:26
ist der Gedanke gut genug
ihn zu beschreiben
treffen wir nur Vorbereitungen
und
kann man es einfach so sagen?
Doch sein alter ego entgegnet:
gib mir mal Geld für Bier
ich finde du mußt das entscheiden
du bist der Dichter nicht ich
Das lyrische Ich zweifelt beim Versuch, „unser Leben“ – noch „unberührt“ –, in Sprache zu gießen, denn – so Kunert in seiner Besprechung dieses Gedichts – „zwischen Angst und Verzicht siedelt die dichterische Existenz“.27 Das Gedicht fingiert ein Zwiegespräch „zwischen unseren vielen möglichen Ichs und dem Ich, das aus uns geworden ist“ (WM, S. 90), worin sich das gebrochene Subjekt deutlich dokumentiert. Vor allem jedoch für die beiden letzten Gedichtbände Das Auge des Entdeckers und Keiner für sich, alle für niemand gilt die von Rühmkorf formulierte Maßgabe:
Erst ein fragwürdiges Ich, und nicht das als rein und in sich ruhend vorgefaßte Ich hat Anrecht auf unser Interesse.28
Born führt zum Verhältnis von Subjekt und rekurrierter Wirklichkeit aus, „daß die Sprache eine Balance halten muß, eine Identifikationsmöglichkeit lassen muß, aber die leichte Identifikation auch irritieren muß, daß da ein ständiger dialektischer Gebrauch in Gang bleibt zwischen der Identifikation und der Irritation, eine ständige Balance und ein Spannungsverhältnis, das nie verläßlich wird und nie simpel schwarz auf weiß wird als eine Funktionsfalle von Sprache und sich dieser Polarität immer bewußt ist“ (WM, S. 103). So bringt in Borns Gedichten „das Erproben der Identität keine umstürzlerische Sprechweise mit sich.“29 Mit dem Aufsatz „Ist die Literatur auf die Misere abonniert? Bemerkungen zu Gesellschaftskritik und Utopie in der Literatur“ gibt sich Born 1972 zum direkten literarischen Eingriff ins politische Ressort distanziert:
[…] wo in Einzelfällen revoltionärer Elan leerläuft, ist immer noch das Provisorium Literatur da, das wenigstens die revolutionäre Attitüde gestattet. (WM, S. 47)
Insbesondere im Band Das Auge des Entdeckers stellt Born die gebrochene Identität, teilweise ironisiert, zur Schau. In einer Zeile des Gedichts „Ort der Versammlung“ (G, S. 132) summiert Born die Problematik treffend:
Ich bin nur Stücke von mir.
Daß Born einer ungebrochenen Subjektivität und damit jenem fraglosen „Organ der lyrischen Mitteilung“30 widersteht, macht er im weiteren deutlich:
Der gesellschafts- und systemkritische Autor wird nur verstanden, wenn er sich an dem vorgestanzten Realitätsbegriff orientiert, der für ihn selektive Wahrnehmung bedeuten muß, und zwar im Sinne des Systems, das er kritisieren will. (WM, S. 49)
Ein Affront muß nach Born gerade unter Verzicht auf den Realitätsbegriff gelingen und jede hermetisch sich gebärende Sinnhaftigkeit muß lyrisch durchbrochen werden, denn „verlegen um den Sinn der Wirklichkeit sind ja vor allem ihre Verwalter“ (WM, S. 203). Das Ich in Borns Lyrik stellt heraus, daß es „schließlich mehr sei als ein Ensemble von Gesetzen und Strukturen“.31
Vormweg schlägt zur Abgrenzung der lyrischen Tendenz ,Neue Subjektivität‘ vor, nicht von Erlebnisdichtung, statt dessen von „Wahmehmungs-gedichten“32 zu sprechen. Denn diese Gedichte „zielen nicht mehr aufs Allgemeine und Typische, wollen den Leser nicht mehr auf sich einstimmen. Eher weisen sie ihn auf sein eigenes, anderes Erleben hin und stimulieren ihn, dieses in seiner scheinbaren Bedeutungslosigkeit als etwas Konkretes wahrzunehmen.“33 Im Vergleich etwa zu den Landschaften in der Erlebnisdichtung Goethes, in der Stimmungslyrik der Romantiker versagt bei den Lyrikern der Neuen Subjektivität letztlich der „Glaube an innere Harmonie von Ich und Welt“.34 Der Verdacht auf Erlebnislyrik wird aber auch dadurch entkräftet, daß „die Gedichte der Neuen Subjektivität, auch ohne ausdrücklich politisch zu sein, entschieden zeitbezogen und aktuell sind“.35 Im weiteren nennt Lamping zur deutlichen Abgrenzung der Neuen Subjektivität von klassischer Erlebnislyrik ein für Born relevantes Moment, demzufolge „diese Gegenstände dem Ich auch nicht unbedingt so unmittelbar wie die Natur in der klassischen Erlebnisdichtung“ begegne. Daher seien „die Dinge vielmehr oft schon vermittelte, zumal wenn sie keine natürlichen Objekte sind, vermittelt vor allem durch die neuen Medien und hier wiederum besonders durch den Film und die populäre Musik und ihre ,Trivialmythen‘“36 Lamping zufolge, der – gewollt oder ungewollt – Kammermeiers Auffassung vom „Zweck lyrischen Sprechens“37 das Wort redet, ist diese Lyrik keine des potenzierten, sondern des reduzierten, des gefährdeten Erlebens. Sie stelle den Versuch dar, die „subjektive Erlebnisfähigkeit angesichts einer erdrüc??kenden ,Erlebnisarmut‘ zu erhalten oder allererst zu erlangen – und darin hat sie auch krisenhafte Züge“.38
Borns lyrisches Schaffen nun auf persönliche Gedichte zur „wahre[n] Selbsterfahrung“39 stutzen und dieser Subjektivität einen „kompensatorischen Zweck“40 anheften zu wollen, kategorisiert dessen Lyrik in unzulässiger Weise und führt unversehens weg vom utopischen Projekt, hin zu ausschließlich individuellem Widerschein, der dem Lyriker Born allein Anschluß an je aktuelle Trends zu finden einräumt. Sein lyrisches Werk zeige jedoch, so Vormweg, „daß Gedichte auf sehr einfache und direkte Art etwas mit der aktuellen Wirklichkeit zu tun haben können.“41 Weder bedeutet Borns Projekt eine bloße „Notwehr“42 gegenüber dem Bestehenden, noch reagiert der Autor auf das Realitätsprinzip mit esoterisch-poetischer Autarkie, wie der Begriff der „erdabgewandte[n] Seite der Geschichte“ (G, S. 203) glauben machen könnte. Das jeweilige Gedicht Nicolas Borns ziele vielmehr darauf ab, „im Aufzeigen der Rituale das eigene Ritual [zu] erkennen und sich davon [zu] befreien“.43 Nicolas Born intendiert, „Stimmung auf eine dichte Schicht von Wirklichkeitspartikeln und auf die entfremdete Alltagsrede samt ihren Schamlosigkeiten gleichsam dünn aufzutragen.“44 Buch deutet das subjektiv orientierte Vorhaben in einem Interview:
Ich meine aber, daß Engagement und Betroffenheit an den persönlichen Impuls gebunden sein müssen, will ein Autor auch politisch überzeugen45
Gleichwohl sind die Gedichte Borns nicht gemacht, „um allgemeine Schlüsse aus ihnen zu ziehen, sondern um im Sprechen den Umgang mit Wahrnehmungen und Sachen neu zu üben.“46 So ist – ganz im Sinne Brechtscher Verfremdung – „nicht das Vertraute und Gewohnte [realistisch], das man wiederzuerkennen glaubt, sondern der Blick, der das Bekannte neu und wie etwas Fremdes sehen läßt“47 Eine solche Entschleierung des Spätkapitalismus eröffnet dem Künstler schlechthin Optionen „zu lehren, was die heutige Welt hinter dem ideologischen und materiellen Schleier wirklich ist und wie sie geändert werden kann“.48 Born entwirft dabei ein lyrisches Ich zur „Verallgemeinerung der persönlichen Erfahrung“,49 deren Weltsicht „auf scheinbar mühelose Weise in Gedichte verwandelt“50 wird. Die Etikettierung ,Gedicht‘ trage für Born „offenbar eine veränderte Bedeutung. Es klingt anders als gewohnt: sachlich, sozusagen anspruchslos, wie ein zufällige Vokabel zur Unterscheidung einer bestimmten Art und Weise, etwas aufzuschreiben und so mitzuteilen. Wie ein Wort also, das […] man wieder einsetzen darf, ohne frühere hohe Bedeutungen auf den Plan zu rufen.“51 Das lyrische Ich jener Gedichte ist vielfach ein – systemimmanent bedingt – entpersönlichtes, deutlich mit Verweisen auf offene und latente gesellschaftliche Widersprüche. Die Suche nach der „Beziehung zur Mitwelt“52 indes scheint als individuelles Kapitel abgeschlossen, zumal der jeweilige lyrische Sprecher bei Born die vermeintlich private Sphäre längst von öffentlichen Imperativen durchsetzt weiß.
Der Vorwurf, daß die Neuen Subjektiven über das Einvernehmen mit dem Leser in bezug auf verhandelte Erfahrungen nicht hinauskämen und diese Literatur unpolitisch, gar affirmativ sei, gilt – das soll im folgenden an seinem lyrischen Werk nachgewiesen werden – nicht für Nicolas Born. Seine besondere lyrische Perspektivierung tritt dadurch hervor, daß Born zur allseits verkündeten Realität auf gehörige Distanz geht und sie gleichzeitig zum besonderen Sujet erklärt. Born betont, daß ihm Innerlichkeit ohne Verweis auf die Wirklichkeit nicht möglich scheint, ferner der konsequente Einbezug der das Subjekt verstrickenden Realität zu gewährleisten ist, soll blanke Selbstbespiegelung im Schreibprozeß vermieden werden.53 Diagnostiziert Raddatz für Borns prosaische Sprache eine „monologische Struktur“,54 so richtet sich das lyrische Ich Borns regelmäßig an ein Gegenüber, das stellvertretende Funktion hat, wobei Sprache in Borns Gedichten zielsicher vom vordergründig dominierenden Sprecher wegführt. Wo die jeweiligen Protagonisten seiner Romane sich als facettenreiche Charaktere präsentieren, die in ihrer Selbstreflexion gefangen scheinen und deren psychische Konstitution den Zugang zur subjektiven Weltsicht nicht unmöglich macht, aber nun doch erschwert – in der „erdabgewandten Seite“ geradezu monumental55 –, entpuppt sich das Ich im lyrischen Werk Borns oftmals als ein dialogisierendes Medium, das zudem deutlich mehr einschließt als lediglich Expression singulär-subjektiver Verlautbarungen. Entsprechend bescheinigt Vormweg dem Lyriker Born eine „außerordentliche, ganz der Erfahrung (statt dem eigenen Ich) sich zuwendende Sensibilität“.56 Born bekräftigt zeitlebens eine solche „Sensibilität, zu der wir uns bestenfalls und nach gewissen Kalkulationen zwingen können.“57 In dem Gedicht „Es ist Sonntag“ (G, S. 129) etwa beglaubigt der lyrische Sprecher die Implikationen seiner Wahrnehmung:
Diese Dunkelheit mitten im Grünen
dieses Tun und Stillsitzen
aaaadieses alles ist
der Beweis für etwas anderes
Zugleich entsagt er in seinen frühen Gedichten allzu sperrigem Tiefsinn und hermetistischer Akrobatik: Er verarbeitet sehr plastisch Zitate, Personen, Szenerien und überwindet die Barriere zwischen Autor und Leserschaft. Mit der weiteren Untersuchung der Lyrik Nicolas Borns kann die These Gnügs entkräftet werden, derzufolge die verhandelten Dinge „nichts anders [bedeuten]“58 als die Dinge an sich. Nach Gnüg eröffne sich in der Lyrik der Neuen Subjektivität eine „Flächenwahrnehmung, die nichts mehr hinter den Dingen sucht“.59 Dieser Auffassung tritt Born entgegen:
Der spontane Ausdruck im Gedicht ist nicht einfach das Ergebnis der Spontaneität des Autors. Er muß erarbeitet werden mit oft gegensätzlichen Anstrengungen: mit Geduld und anhaltendem Mißtrauen gegen jeden sprachlichen Automatismus. […] Die Gegenstände selbst sind die Zeichen endgültiger Bedeutungslosigkeit (die Gedichte darüber sind der prinzipielle Widerspruch; sie verfallen diesem Zustand nicht). (WM, S. 123)
Die Praktiken der Darstellung, wie sie für Brinkmann verschiedentlich ausgeführt wurden, resultieren gleichfalls bei Born aus einem engagierten, aber gebrochenen „Subjekt der Kameraführung.“60 Was sich dabei thematisch im Kreis zu drehen scheint, stets aufs neue variiert wird, ist dem Autor Born jedoch nicht lyrische Übung, sondern ein seismographisches Verzeichnis gesellschaftlicher Phänomene, die ihre Widerspiegelung in alltäglichen, minutiösen Beobachtungen und Nachzeichnungen jener Jahre in Gedichten erfährt. Borns Lyrik ist „realitätsbezogen, ohne daß sie in Realität aufginge, etwa indem sie dies in der Form bloßen lyrischen Oberflächenrealismus ,widerzuspiegeln unternähme“.61 Born, so benennt es Kunert in bewußter Tautologie, umschreibe die „Realität realistisch“.62 Gegen einen Vorwurf der bloßen „Flächenwahrnehmung“63 sprechen bereits die jeweiligen Titel der Neuen Subjektiven, in denen grundsätzliche Anschauungen ausgedrückt werden – so beispielsweise in Jürgen Beckers Ende der Landschaftsmalerei64 oder Borns Verschwinden aller im Tode eines einzelnen (G, S. 185).
Die systematische Reduktion des Menschen auf Funktionalität, so schreibt Kunert zwei Dekaden nach Borns Tod, „schafft die Gefühle nicht gänzlich ab, verbannt sie aber ins Unbewußte, wo sie zu schlafen scheinen. Doch eines Tages melden sie sich zurück, und meist auf katastrophale Weise.“65 Nach Born kann Literatur die Gedanken an eine Tat zur Veränderung von Wirklichkeit vorbereiten helfen. Das utopische Potential und der Anspruch von der „Phantasie an die Macht“ (WM, S. 55ff.) kommt insbesondere in Borns Lyrik zum Ausdruck, und dies hängt mit der Gattung per se zusammen: Zwar sind utopische Energien in der Literatur gut aufgehoben, „da sie hier einen institutionell abgesicherten Freiraum vorfinden, der sie davor schützt, mundtot gemacht oder kriminalisiert zu werden […]“.66 Vergleicht man aber Epik und Dramatik: mit der subjektivsten aller literarischen Gattungen, so kann der Autor von Lyrik mit geringeren Restriktionen durch das Realitätsprinzip rechnen. Hingegen wiegt bei epischen und dramatischen Texten die Konkurrenz mit den realen Daten zur Behauptung ihres fiktionalen Raumes schwerer. Eher noch der Lyriker besitzt die „Gelegenheit zu einer Rede, der von außen nur bedingt widersprochen werden kann, da der Geltungstransfer der im poetischen Text jeweils vorgenommenen Deutungen die Grenzen der Fiktion nicht überschreitet“.67 Gedichte seien, so faßt Rühmkorf zusammen, „gänzlich anderen Wesens als die rational gelenkten Prosaarbeiten“.68 Mit Blick auf die ausgehenden sechziger Jahre, die deutlich unter dem Einfluß der Frankfurter Schule standen, tritt Buch als nachdrücklicher Fürsprecher der Gattung auf den Plan:69
Die entscheidende Bedeutung, die Autoren wie Habermas und Marcuse bei der Radikalisierung der Studentenschaft zukam, ist nicht zu übersehen: daß langatmige epische Entwürfe, deren Geschäft eher die passive Kontemplation des Bestehenden ist als Aufrufe zu kritischem Handeln, in diesem Augenblick zurücktreten, überrascht kaum noch. Hier hat die Lyrik ihre Chance: sie springt ein als notwendige Ergänzung zur bloßen theoretischen Kritik an der Gesellschaft, als spontane, persönliche ad hoc Stellungnahme zu den Mißständen des öffentlichen und privaten Lebens; sie macht das Allgemeine im besonderen Detail sichtbar. [nicht kursiv im Original, d. V.]70
Folgt man Adorno, so ist allein der ästhetische Raum noch nicht vollständig dem Verwertungszusammenhang unterworfen. Den Künstler sieht Adorno befähigt, seine Werke als Negation zum Bestehenden zu entwerfen, indem sie davon sprechen, was die Ideologie verbirgt. Hierdurch emanzipiert sich das Kunstwerk von der Realität, wird autonom und setzt sich ab vom vordergründig engagierten Kunstwerk, ebenso vom Herrscherlob, vom Parteigedicht. Dementsprechend mahnt Rühmkorf:
Nein, entweder das Gedicht eröffnet sich selbst als utopischer Raum, in dem die Erdlasten für ein paar Atemzüge aufgehoben erscheinen, oder der Herr Perspektivenzeichner hat seine ästhetische Sendung verpaßt.71
Denn „nur in Gedichten, in denen es nicht gelungen ist, ein eigenes Magnetfeld aufzubauen, erscheint die Utopie fast regelmäßig ausgelagert“,72 schreibt Rühmkorf in seinem Gedichtband Haltbar bis Ende 1999, das ein Kapitel mit poetologischen Anmerkungen enthält. Das hingegen autonome Kunstwerk offeriert – geradezu ein Topos Bornscher Lyrik – die Vorwegnahme utopischer Zustände: „,Ich bin Realist‘ sagte einer erfolgreich / ,Dann stirb doch‘ habe ich ihm geantwortet“, heißt es im Gedicht „Hier angekommen“ (G, S. 105). Kunert, der das literarische Vermächtnis Nicolas Borns in bemerkenswert zahlreichen Beiträgen hegt, lobt seinen verstorbenen Kollegen in einem Nachruf:
Etwas wie Utopie, aber jenseits gesellschaftstheoretischer Festlegungen, […] ist in vielen seiner Gedichte wirksam: die Utopie des Alltäglichen. […]73
Born verschreibt sich hartnäckig der Überzeugung, daß jeder Eindruck, Geschichte komme einer linear fortzuschreibenden Antizipation des bestehenden Stoffwechsels gleich, subversiv zu zerstreuen ist. Diese Überzeugung ist ihm etwas derart Existentielles, Manifestes, daß er mit jeder Absage an das utopische Potential den individuellen als auch den Kollektivtod, welchen die Mega-Maschine verkündet, beschleunigt sieht. So fragt Born:
Sieht es denn nicht so aus, als müßten unsere Kinder bald ein Leben führen, das keine Erinnerung mehr an Leben enthält, an Geschichte […]? (WM, S. 199).
Indem Borns Gedichte „Wort gewordener Widerstand“74 sind, widersetzt der Autor sich dem beharrlichen und erdenschweren Fixgeschäft namens Realität. Zugleich warnt Born eindringlich vor politischen Abzählreimen:
Ich weiß, wogegen ich bin. Aber ich kann keine Position finden, in der ich mich selber zu einer moralischen Instanz aufwerte.75
Utopie als literarische Verhandlungssache meint bei Born nicht politischen Kanon: Kein Gedicht bewirke nämlich, sagt Born, eine meßbare Veränderung der Gesellschaft, aber Gedichte könnten, wenn sie sich an die Wahrheit hielten, subversiv sein (WM, S. 84). In ähnlicher Manier mißt Rühmkorf dem aufklärerischen Zeitgedicht die gesellschaftliche Funktion als „Lügendetektor“76 bei. „Indem sie ein Medium schafft und sich in ihm bewegt, worin das Abwesende dargestellt wird“, schreibt Marcuse, „ist die dichterische Sprache eine der Erkenntnis – aber eine Erkenntnis, die das Positive unterhöhlt.“77 Doch will Born die Realität nicht einzig als eine „gräßliche Bescherung“ (WM, S. 86) literarisiert wissen, sondern mehr noch als die Jämmerlich sich verwirklicht habende Möglichkeit der Geschichte“ (WM, S. 62), sie folglich als Produkt gewachsener Strukturen begreifen:
In der hiesigen Realität sind eine Vielzahl denkbarer historischer Möglichkeiten enthalten.78
Vor allem für die Gedichte aus Das Auge des Entdeckers und der Gedichtsammlung Keiner für sich, alle für niemand gilt mit den Worten Adornos: Es zeige sich die Lyrik „dort am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte.“79 Insofern Born weder realpolitische Erdlasten noch deren engagierten Widerpart zum alleinigen ästhetischen Maßstab erhebt, gelingt durch die imaginative Autonomie im Gedicht eine – nochmals mit Adorno gesprochen – subtile in „Objektivität umschlagende Subjektivität“.80 Wider die eindeutige Verwertbarkeit von Literatur denkt Rühmkorf hierbei an „ein heimliches Wasserzeichen, einen kaum sichtbaren Kennungsfaden“,81 der das Gedicht durchzieht. Bereits der Erzähler in Borns Fälschung stellt die Gratwanderung dieses utopischen Geschäfts heraus:
Er [gemeint ist Laschen, d.V.] wollte nur einen Zustand beenden, den des Fälschens ebenso wie den der moralischen und kritischen Empörung, diesen Zustand beenden, ohne völlig der Gleichgültigkeit zu verfallen, das war das Kunststück. (F, S. 308)
Als gängige Praxis der Neuen Subjektivität ist mit Sicherheit die Einarbeitung biographischer Momente und Datierungen auszumachen. Vielfach kann im subjektiven Gedicht der siebziger Jahre „das Leben des lyrischen Ichs nur beschrieben werden, indem eine Reihe von gewöhnlichen, alltäglichen Verrichtungen aufgezählt wird“82 Eine augenfällige Besonderheit nicht nur in Borns Gedichten83 ist nun doch die namentliche Nennung von realen Personen, so daß die Ästhetik der Gedichte eine besondere Qualität erfährt. So sind bei Born Gedichte zu finden, in denen die Personen selbst zu Wort kommen, wie etwa in den folgenden Auszügen: „Es ist so sagt Piwitt / jetzt kaufen wir ein damit wir / was zu essen haben“ (G, S. 72), „Vorhin rief Piwitt an / […] / wie Haufs kommt er wieder nach Berlin und ich kann mir nicht vorstellen daß sie / nicht meinetwegen kommen“ (G, S. 98). Oder:
Piwitt fragt mich ob er hier vorkommt
ja sage ich aber nur als Name
er ist zufrieden und bricht auf
zu einer Wanderung (G, S. 95).
Namen und Ort stimmen mit der Vita Nicolas Borns überein. Die derart unverstellte Verarbeitung realer Personen aus dem ganz persönlichen Umfeld des Autors könnte folglich der These widersprechen, es würde in der Lyrik Borns individuelles Erleben aufbereitet, das sich in allgemeine Erfahrungen transzendieren ließe. Doch Born greift dabei auf eine besondere Fiktionalität innerhalb der lyrischen Rede zurück, aus der – nach Gnüg – das „authentische Ich“84 als Medium spricht. Indem Born in diesen Gedichten eine „Utopie, die das Subjekt auf stereotype Handlungs- und Verhaltensweisen reduziert […], niederlegt, wird auf indirekte Weise der Wunsch sichtbar, daß das Leben mehr sei als bloße Routine und Wiederholung.“85 Durch die Verwendung solcher Namen wie Born (G, S. 42, 140 und 174), Piwitt (G, S. 72, 95, 98 und 183), Haufs (G, S. 98), Enzensberger (G, S. 108), Röhler (G, S. 183), Buch (G, S. 161 und 183), Meister (G, S. 168), Hamm (G, S. 174), Handke (G, S. 174), Grass (G, S. 184), Neruda (G, S. 197 und 199) und Maier (G, S. 204) sowie der Initialien P. B. (G, S. 44)86 – also Namen von Personen der empirischen Realität – erhöht Born den Charakter einer möglichen, soll heißen: imaginativen, Wirklichkeit, die jedoch auf keiner tatsächlich überprüfbaren Authentizität zu gründen vorgibt. Die Wirkung dieser lyrischen Rede liegt vielmehr darin, daß die Gedichte eine alltäglich scheinende Wirklichkeit behaupten und zugleich dem Rezipienten abverlangen, die im Gedicht beschriebenen Namen zu referenzialisieren, da es die Personen durchaus ,wirklich‘ gibt.87 Eine Überführung der – in der Tat weiterhin – fiktionalen lyrischen Behauptung bzw. fiktiven Sprechweise in die Realität kann als entscheidendes Moment der Lyrik Borns angesehen werden, denn nun gelingt die letztliche Intention, eine Verknüpfung von imaginärem Raum und Wirklichkeit beim Leser durchzusetzen. Die lyrische Vergegenwärtigung des fiktional Beschriebenen, als behauptete Wirklichkeit, verstärkt somit den Anspruch auf eine Urheberschaft im Subjekt, welches der Autor innerhalb des Gedichts sehr wohl sein kann – zumal sich Born vereinzelt als identisch mit dem lyrischen Ich zu erkennen gibt88 –, im weiteren Bedeutungsgehalt der lyrischen Rede aber nicht zwingend sein muß.89 Im Umgang mit dem subjektiven Ich der siebziger Jahre legt sich Kammermeier wie folgt fest:
Zwar ist die Absicht der Autoren [Kammermeier spielt vor allem auf Theobaldys Versuch an, den Unterschied zwischen empirischem und lyrischem Ich aufzuheben, ihn gar für irrelevant zu erklären, d. V.], das Gedicht mit empirischen Erfahrungen aufzufüllen, ernst zu nehmen, doch entbindet dies den Lyriker nicht davon, seine empirische Erfahrung sprachlich zu verarbeiten: Ein Gedicht entsteht. In diesem schlichten Sinn wird […] weiterhin von einem lyrischen Ich gesprochen, auch wenn durchwegs empirische Erfahrungen präsentiert werden.90
Einer Abtrennung des empirischen Ich vom lyrischen Sprecher widerspricht auch das Ich respektive Ludwig Fels im Gedicht „Binsenweisheiten“, in dem eingangs klargestellt wird:
Ich bin der L. F.91
Inwieweit die empirische Urheberschaft in Borns Gedichten realen Erlebnissen folgt, soll an dieser Stelle nicht weiterhin untersucht werden. Diese Frage ist für die Lyrik Nicolas Borns sogar zu vernachlässigen, da es im Gegensatz etwa zur traditionellen Erlebnisdichtung nicht darum geht, ein konkretes Erlebnismoment des Lyrikers biographisch zu datieren und innerhalb des Kunstwerks zu ästhetisieren. Statt dessen geht es Born darum, eine explizite Betrachtung des Details, eine einzelne Bewegung im lyrischen Augenblick auf ein Subjekt zurückzuführen. Daß Born sich und andere reale Personen hierfür ins Spiel gebracht hat, ist auf dem Hintergrund behaupteter Wirklichkeit innerhalb der lyrischen Rede nicht etwa ein Widerspruch, sondern verleiht dem lyrischen Konzept erst die angestrebte Glaubwürdigkeit. Born fügt in seine Gedichte zwar Namen ihm bekannter Persönlichkeiten ein, dennoch trägt das Werk nicht bloße biographische Initialien. In der amerikanisch beeinflußten Lyrik, so hält Hartung für die Lyriker Born und Brinkmann fest, erscheint der Autor „nicht mehr maskiert als repräsentatives ,lyrisches Ich‘, sondern als durchaus empirische Privatperson und bringt auf eben diese privat-zufällige Weise die Namen von Freunden und Zufallsbekanntschaften ins Gedicht.“92 Born äußert zu diesem Verfahren:
Ich habe das [die namentliche Nennung von Freunden aus dem persönlichen Umfeld, d. V.] gemacht, weil ich es von amerikanischen Beispielen her kenne. Also vielleicht bin ich hier der Urheber der Literarisierung von Freunden, ich nenne die Dinge und Menschen beim Namen (lacht). […] Das bedeutet nicht mehr oder weniger, als daß man seine Freunde mal an den Platz bringt, wo man sie gern sieht. Solange die Freunde in der Wirklichkeit da sind, gibt es keinen Grund, daß sie in den Gedichten plötzlich nicht da sein sollen.93
Wenig ergiebig zum Verständnis der Lyrik Borns scheint indes die Maßgabe Theobaldys, wonach dem Gedicht „soviel wie nur irgend möglich vom wirklichen Leben mitzugeben [ist], dem es letztlich entstammt.“ Folglich brauche der Lyriker ebensowenig zu „verheimlichen, wer sein Gedicht geschrieben hat“, denn „viele der neueren Gedichte sind, ohne daß das Ich des Schreibers darin vorkommt, gar nicht denkbar.“94
Letztlich scheint mir in bezug auf die subjektive Lyrik Nicolas Borns eine positivistische Verfahrensweise ebensowenig ergiebig, solcherart Formulierungen wie „meine Tochter ist vier Jahre alt“ (G, S. 155) oder die Datierung „Bahnhof Lüneburg, 30. April 1976“ (G, S. 212) im Leben Borns zu orten und durch eine autobiographische Faktizität zu beglaubigen. Ein solches Vorgehen leistete der Anschauung Vorschub, es verkünde das Subjekt im Gedicht sich – und vorrangig sich. In dem Gedicht „Geschichte“ (G, S. 121) finden sich statt dessen „ironisch-übertriebene Definitionsversuche[] des Subjekts“:95
Ich bin es. Ich bin es immer gewesen.
Der mit Wohnungsschlüsseln spielt
[…]
und Briefe schreibt an die Zukunft.
Dies kann nach Allkemper „nicht als positive Bestimmung eines harmonisch-geglückten, selbstsicheren Einverständnisses von Ich und Welt gelesen werden, sondern vielmehr als hinterlistige Verspottung abstrakt allgemeiner Geschichtsmetaphysik durch triviale Konkreta. Damit bleibt es bei der Feststellung: ,Gesucht wird ICH‘. (G, S. 117)“.96 Zugleich wird einmal mehr deutlich, daß Born sich an dem Projekt zur Aufhebung der Differenz zwischen Kunst und Leben beteiligt, indem sich bei ihm empirisches und lyrisches Ich sehr wohl annähern. Hingegen sind Borns lyrische Sprecher – die sich im Band Das Auge des Entdeckers deutlicher zu erkennen geben als in den Bänden zuvor – nicht als je singuläres Ich zu ermitteln, das womöglich authentische Erfahrungen widerspruchsfrei vorzuführen sich imstande glaubt. Und schließlich wirft Kremp in bezug auf eine autobiographische Lesart für Borns „erdabgewandte Seite“ die Frage auf, „ob der hergebrachte Subjektbegriff überhaupt noch verfügbar ist.“97
In seiner Rezension zum Band Das Auge des Entdeckers verdächtigt Heise den Lyriker Born einer „ideologie-inspirierten Dichtung“,98 die einer bürgerlichen Privatheit entspringt. Mit Borns Gedichten trete das private Moment, so glaubt Heise ferner, „keinesfalls immer als stellvertretendes Exempel für den gesamten Bereich des unterdrückten Menschlichen auf. Vielmehr ist es in vielen Passagen Inhalt und Ausdruck eines sehr persönlich aufgefaßten Lebens, das in pseudobescheidener Egozentrik zu einer exquisiten Biographie im unwiderstehlich-schicken Literatenmilieu gedeiht“.99 Dieser von Heise erhobenen Kritik wird mit der Herausarbeitung des gebrochenen Ich an einzelnen Gedichten nachgegangen. Hingegen macht Schramm den dialogisch-empirischen Gestus als Vorzug aus, gewinnen Borns Gedichte doch an „Intensität und Genauigkeit, wenn Figuren ins Gedicht kommen.“100 So verstärkt gerade die direkte Rede in den Versen die dialogische Intention der Gedichte, zugleich manifestiert diese Rede das in Zitate gepreßte soziale Phänomen.
Eine weitere Auffälligkeit in Borns Lyrik ist die Leseranrede, die vor allem mit dem Band Das Auge des Entdeckers in den Vordergrund rückt. Spricht der Journalist Laschen noch vom „Gespenst, der sogenannte Leser“ (F, S. 219), so legt es Born in der lyrischen Rede bewußt darauf an, Polarisierungen und Begrenzungen zwischen Produzent und Rezipient aufzuheben. Seine Gedichte wirken „über die Existenz des ursprünglichen Dialogs. Sie sind nicht absolut an die Person Born gebunden, aber an einen, der redet […].“101 Folgt man Hartung, so kommt in dem Gedicht „Anfassen“ (G, S. 101) „das utopische Moment solcher Berührung“ zum Ausdruck und aktualisiere die „expressionistische O-Mensch-Gebärde“.102 In dem betreffenden Gedicht dialogisiert der Sprecher (G, S. 101):
Weißt du was Leser
aaaaaich möchte dich anfassen
ich küsse dich Leser
ich frage dich ob wir beide noch da sind
oder ist das schon die Hölle
aaaaawenn du dein Gesicht
aaaaain meinem erkennst?
sind wir verrückt Leser
aaaaasind wir verrückt Leser?
Auch jener Kuß, so versichert Hartung, der „nicht der ,ganzen‘ Welt, sondern dem Leser als einzelnem, Vereinzeltem [gilt], ist irreal. Aber das genügt, um alles fraglich zu machen. So wird in diesen Versen auch das illusionäre Moment der Verbrüderung deutlich, das Erschrecken darüber, daß die andern – im Sinne Sartres – die Hölle sind oder sein können.“103 Dittbemer erkennt in Borns Gedichten einen „Subjektivismus der ersten Person Plural“.104 Im Nachwort zum Band Das Auge des Entdeckers schreibt Born entsprechend:
Jeder eine ist auch jeder andere. (WM, S. 88)
Allerdings artikuliert der lyrische Sprecher Borns das ,Du‘ und ,Wir‘ keinesfalls – wie Kammermeier für den maßgeblichen Teil der subjektiven Lyrik ausmacht – in einer „kumpelhaften Absicht, den ins Auge gefaßten Rezipientenkreis um so sicherer in die Seh- und Denkweise der lyrischen ersten Person hineinzubeziehen“.105 Vielmehr fällt bereits für den Band Marktlage von 1967 „der häufige Gebrauch des lyrischen ,wir‘ [auf], wodurch Born den Leser in seine Kritik des bundesdeutschen Wohlstandes einbezieht“.106 Insofern Born jenem „zielgruppenorientierten Wir“107
Du drückst Nummern in die Tasten. Du machst Briefköpfe. Du unterschreibst. Du formulierst Rechtsbriefe. Du trittst stellvertretend auf […] Du bist nicht einmal Konfetti. Du bist nicht einmal eine Papierschlange. Du bist ein Leser. (Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2, S. 56). Wellershoff schreibt über Brinkmann: Und der Autor scheint auch nicht vorgehabt zu haben, sich verständlich zu machen. Er war gleichgültig gegen den Leser. (Dieter Wellershoff: Das Verschwinden im Bild, S. 151) widersteht, das sich – um Einvernehmen mit den Rezipienten bemüht – innerhalb der lyrischen Rede auf die widerspruchsfreie Teilbarkeit empirischer Wahrnehmung verständigt, fungiert die Leseranrede, aber auch der lyrische Plural, als implizite Verständigung auf die defizitäre Darstellung von – wohlgemerkt gemeinsamer – Wirklichkeit. Kammermeier konstatiert für die Lyrik der Neuen Subjektivität, daß „der subjektive Emanzipationsprozeß, der während der Hinwendung zum Proletariat abrupt abgebrochen wurde, nun im Gedicht oder auch im Gedicht vollendet, besser: als vollendet ausgegeben werden [soll]. [kursiv im Original, d. V.]“.108 Wenn Born mit dem in G, S. 114 enthaltenen Appell „du bist […] / der Autor des Laufs der Geschichte“ das Subjekt mit dialektischen Attributen ausstattet, so macht dies einmal mehr die Widersprüchlichkeit in Borns lyrischer Rede aus, die er nicht selten in den Kontext des Unernstes stellt. Denn Borns Leseranrede und sein lyrisches Wir sind keineswegs „Zeichen des Verlangens nach Nähe zu Lesern, zu Menschen, die sich vielleicht noch einmal wie ehedem […] zum gemeinsamen Aufbruch zusammentun.“109 Handke schreibt in seinem Nachwort zur Suhrkamp-Ausgabe, das ,wir‘ in den Gedichten des dritten Gedichtbandes ist „nicht mehr das der Paare und der Kumpane, sondern jenes des Sprechers, wenn nicht für alle, so doch für die vielen, und daß er nun so auftritt, kann er sich erlauben, denn er hat, anders als ein politischer Agitator, für die vielen keine sie einpferchende Doktrin oder Strategie, sondern ein sie zusammenbringendes, rhythmisierendes, die einzelnen dabei klar auseinanderhaltendes Bild“.110 Nach Naaijkens offenbart sich etwa im Band Das Auge des Entdeckers eine „Pluralisierung des Subjekts“,111 wobei Born „die Unmöglichkeit, ein einheitliches Selbstbild zu entwerfen, in eine Utopie vom multiplen Ich umsetzt“.112
Abschließend bleibt zu betonen, daß sich bei den Neuen Subjektiven ein Realismus formiert, „dessen Subjektivität jedoch nicht unbedingt schon grammatisch durch die Ich-Form der Rede konstituiert wird“.113 So zeigt etwa Borns Gedicht „Das Brautpaar“ (G, S. 88), inwieweit die Zurücknahme des Ichs gelingen kann, ohne den subjektiven Blickwinkel zu verwerfen. Zur dialogischen Funktionsweise im Gedicht weist Rühmkorf denn auch auf ein implizites Subjekt hin:
Praktisch in jedem Gedicht ist ein angesprochenes Du anwesend und nicht nur in der Form des geduzten Selbst. Wie das Ich durchlässig wird für allerlei kollegiale Ansprachen, so öffnet das Du sich andererseits dem mitfühlenden Ich des Zuhörenden.114
Im folgenden soll anhand der zwischen den Jahren 1967 und 1972 erschienenen Gedichtbände sowie der 1978 vorgelegten Gedichtsammlung die Kontinuität, aber auch der programmatische Werdegang Borns weg vom betont realistischen Prinzip, das die poetisierte Wirklichkeit kritisch vorzuführen versucht, hin zum Prinzip utopischen Sprechens – als den jeweilig genetischen Endpunkten der Lyrik Nicolas Borns – aufgezeigt werden.115
Jörg Eggerts, aus Jörg Eggerts: Langsam kehrten die Farben zurück. Zur Subjektivität im Romanwerk, im lyrischen und literaturtheoretischen Werk Nicolas Borns, Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, 2002
Friedrich Christian Delius: Einer fehlt, mehr denn je
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Peter Handke: Wenn ich an Nicolas Born denke,…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Rolf Haufs: Jugend und Weiße Blume
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Reinhard Lettau: Für Essen für Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Hans Joachim Schädlich: Nicolas Born
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Ingo Plaschke: Nicolas Born: Der politische Poet, der viel zu früh starb
Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung, 28.12.2017
Hilmar Klute: Eine Welt für alle
Süddeutsche Zeitung, 21.12.2017
Ruth Johanna Benrath: RUNDLING ANERDE, Schreyahn an Damnatz
fixpoetry.com, 31.12.2017
Axel Kahr: „Weh mir“ – Nicolas Borns erste „Hälfte des Lebens“
literaturblatt.de, Januar/Februar 2018
Dieter Wellershoff: Die Fremdheit des Lebens
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Grass: Nicolas Born stirbt…
Günter Grass: Kopfgeburten, 1980
Bernd Jentzsch: Lieber Nicolas
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Günter Kunert: Alle Worte der Trauer…
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: Worte am Grab
Literaturmagazin, Heft 21, 1988
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