PETER RÜHMKORFS WIDERSPRÜCHE
In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Peter Rühmkorf
Die klassische Auffassung vom Gedicht, die in deutschen Landen noch keineswegs ausgespielt hat, nimmt dieses als Ausdruck oder Abdruck einer interessanten Gemütslage eines interessanten vollendeten Geistes. (Vermutlich ist so auch das Interesse an Dichterlesungen begründet.) Der Kunst wird dieser Auffassung zufolge in unserem so unpoetischen Tagen anvertraut und zugetraut, gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herzustellen, weshalb dann als Autor auch nur das große Dichtergenie zugelassen werden kann, das sich von der Gegenwart loswickeln und frei und kühn in die Welt der Ideale emporschweben soll. Mit dieser aristokratischen Argumentation verwarf Friedrich Schiller die Hervorbringungen des Volksdichters Bürger und hob in seiner Antwort auf Bürgers Antikritik noch einmal nachdrücklich hervor, daß die Wahrheit, Natürlichkeit, Menschlichkeit der Gefühle durch die Operation des idealisierenden Künstlers nicht zu leiden brauchen. Schon die Romantik verwarf dieses rigorose Identitätskonzept, wobei sie am reifen Goethe Halt fand:
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich eins und doppelt bin?
(„Gingo biloba“).
In Arnims „Nachtgruß“ werden die kunstvoll (im Duett) gedoppelten Stimmen schließlich ununterscheidbar:
Du sprichst aus mir im Schlafe
Worte, sie sind nicht mein.
Nun ist dieser Befund, der im gegenwärtig hoch dotierten Konzept „Text“ mit aufgehoben ist, noch relativ harmlos, weil er die Vielstimmigkeit /Vielsprachigkeit von Poesie, dem Paradigma „Liebe“ folgend, als Lust und Bereicherung denkt. Zugleich freilich werden in der Romantik schon Zustände weitestreichender Selbstentfremdung dargestellt und die Unfähigkeit/Unmöglichkeit des Subjekts, stets „Abdruck“ der Humanität zu sein, als der zu ihrer einheimischen Form gediehenen Wahrheit, – welche fähig ist, das Eigentum aller selbstbewußten Vernunft zu sein. Die Moderne sieht man gegenwärtig gern durch diesen Anspruch gekennzeichnet, Freiheit als Prozeß der Befreiung, Fortschritt als Erweiterung von Optionen, Naturbeherrschung als Zunahme von Selbstbestimmung, Menschlichkeit und Erfahrungswissen als objektivierbar, homogenisierbar, hypothetisierbar, universalisierbar zu denken.
Die Gegenwartsdichtung und insbesondere die moderne Lyrik folgt dem Typus eines anderen, eines ästhetischen Wissens, wenn sie diese Ansprüche verwirft. Zugleich aber lebt alle zeitgenössische Poesie, die nicht mehr die ewigen Ordnungen als die Grundmächte des Daseins beruft (wie noch die Loerke, Lehmann, Kasack, Weinheber, F.G. Jünger, Langgässer u.v.a.), aus der Verantwortung, nicht auf die traditionalistische Position zu regredieren, sondern die Widersprüche auszuhalten, die mit der Nähe der ästhetischen
Erfahrung zur Denkgewohnheit Mythos (die auf Ausbruch ins Unbedingte, ins zivilisatorisch Unverstellte drängt) und der Gegenstellung der Poesie gegen die Mühen der Reflexion und des historischen Zurechtfindens gegeben sind.
Markt versus Selbstbestimmung
Hellsichtig erscheint der von Rühmkorf trocken konstatierte Befund, daß die Vermittlung zum Markte hin durchaus das Wesen des Kunstwerks selbst tangiere. Im Zeitalter der Medienkonkurrenz nimmt sich das sehr viel brutaler als in der Romantik aus. Peter Rühmkorf:
Die schöne Poetisierung des Daseins und die Versorgung breitester Verbraucherschichten mit Überhöhungsartikeln ist in Hände übergewechselt, die (…) den einen Finger am Puls des Volkes haben, den anderen am Drücker der Repro-Betriebe.
Und Rühmkorf beschreibt mit angebrachtem Zynismus die gegenwärtigen Turnierbedingungen eines Lyrikers. Zu denen gehört, daß er aufs innigste gebraucht wird: als leuchtendes Mahnmal des Unabnutzbaren, das heißt, man legt Wert auf deine Unverwertbarkeit; was zu der ironischen Pointe führt, daß die Art des Brauchens – der Dichter als die letzte Hoffnung auf Non-Affinnatives – ihn gerade erst recht ausschaltet. Er vertritt das einmalige Auftreten, doch ganz auf eigenes Risiko.
Das Fazit wird von Rühmkorf nicht ohne Wut und Bitterkeit gezogen:
(…) entweder die Kunst geht schnorren (bei Frau, Eltern, Verwandtschaft, DAAD u.ä.) oder betteln (bei Stifterverband), oder sie geht mal eben von Zeit zu Zeit auf den Strich. Ich bin für Strich. Ich halte Nutten nicht für Säue. Wohl aber Luden, die sich aus denen an der Mauer einen guten Tag und ein besseres Gewissen machen.
In seiner Darmstädter Dankrede von 1976 klärt Rühmkorf ein wenig, wie seine entsprechende Lebensführung aussieht. Er hatte den Preis für seine aufklärerische Prosa bekommen und leitet, nach einigen Überlegungen, den materiellen Teil an sein zweites Ich, den Poeten, weiter. Der nämlich lebt vom Schreibmaschinisten. Wenn der Poet etwa drei Jahre für die Erstellung eines Lyrikbändchens veranschlagen muß, ist deutlich, daß da nebenher noch eine andere Schreibkraft tätig sein muß, die sich mit Nutzprosen hier und Gebrauchstexten dort um das einfache tägliche Brot sorgen. Diese Doppelung der Existenz gehört als Konsequenz zu der Tatsache, daß es im marktwirtschaftlichen Abrechnungswesen (…) keinen wirklichen Platz für das gibt, was Kunst ist an den Künsten. Und Rühmkorf zitiert seinen Buchhändler, der sich nur anstandshalber nach neuen Gedichten erkundigt, doch im selben Atemzuge konstatiert: Wir selbst führen ja schon seit längerer Zeit keine Lyrik mehr; die Nachfrage ist gleich Null. Nun ist das vor gut zehn Jahren gesprochen (1975), und die Situation hat sich eine Spur gebessert – doch angesichts der sorgfältigen „Berechnungen“ Rühmkorfs kann das keine Auskunft sein.
Um ein Gedicht von guter oder auch nur mittlerer Qualität wirklich marktfertig zu machen, das heißt, es aus dem ursprünglichen Rohzustand auf jene Hochform zu bringen, die der Kunde heute verlangt, muß bereits eine Vorinvestition von achthundert bis tausend Mark pro Stück geleistet werden. (…) Fragt sich nur, wen (der Poet) praktisch zur Kasse bitten und unter welchen Umständen sein Gedicht die Verauslagungen wieder einspielen soll.
Peter Rühmkorf folgert, daß meine Bücher nicht mich tragen, sondern daß ich meine Bücher tragen muß und daß in jedem verkauften Exemplar soundso viele unsichtbare Entwicklungsgroschen enthalten sind.
Wir alle (Rühmkorf eingeschlossen) sind uns darüber klar, daß es keine Aussichten gibt, die Marginalisierung der Lyrik rückgängig zu machen (auch Erich Fried bleibt bei einer Gesamtauflage seiner Bände von 400.000 auf die Shakespeare-Übersetzungen angewiesen), daß der Schreibmaschinist nicht entlassen werden kann. Frage: Wozu dann die hochstilisierten Klagen? Machen die ihren Verfasser nicht zum Don Quixote, der sein Zeitalter nicht wahrhaben will?
Die erste Antwort wäre, daß Don Quixote nicht einfach sein Zeitalter leugnete (wie die Frage behauptet), sondern für die Gleichzeitigkeit mehrerer Zeitalter, Denk- und Erfahrungsweisen eintrat, also die Inhumanität jener Gleichschaltungsprozeduren andeutet, womit alle Widersprüche liquidiert werden sollen. Die zweite Antwort könnte auf den occasionellen Charakter dieser Äußerungen verweisen. Sie wurden bei öffentlichen Gelegenheiten vorgebracht, und Rühmkorf folgt hier (sozusagen) dem Brechtschen Modell des „soziologischen Experiments“: Man verwickelt eine Gesellschaft in ihre eigenen Widersprüche, indem man sich weigert, das eigene Scherflein zu deren Entknüpfung beizutragen,
Dennoch bleiben, meine ich, einige Widersprüchlichkeiten im Werk wie in der Poetologie und im Selbstverständnis Rühmkorfs bemerklich, die sich nicht dialektisch „aufheben“ lassen und zu Nachfragen an das Werk führen könnten, die gelegentlich eine schwierigere Lesart provozierten als die des flotten Zeitkritikers und/oder elegischen Barden.
Ware oder Zauber?
Es ist ein Protest gegen den traditionellen „poetischen“ Gestus, wenn Rühmkorf 1946/47 in saloppen, (fast) freien Versen Geld und Lyrik verschränkt sieht. Das Gedicht „Annonce“ beginnt und endet mit Klartext: Kommt gebt mir was zu fressen. Der Titel macht deutlich: Das wird nicht als demütige Bitte vorgetragen, sondern (wie damals üblich) als Tauschgeschäft/ Tauschangebot. Der Gegenwert, die Gedichte, schlägt noch nicht direkt zu Buche (Ich werde später Geld / aus meinen grausigen Visionen schlagen); so wird eine moderne ökonomische Transaktion vorgeschlagen, um dem Tasso-Schicksal, nur sagen zu können, was man leidet, entgehen zu können:
Ich habe keine Lust
Als Frühvollendeter schon zu krepieren
Und noch ist was zu machen
Hier gibt’s was zu verdienen:
Ich gebe Aktien aus auf meine Lyrik
Kommt laßt uns meine Seelenqualen abbaun
Einige Jahre später (1964) ist die Einsicht gewonnen, Poesie stelle den denkbar ungeeignetsten Verkaufsartikel dar. 1972 heißt ihm Lyrik ein Luxus, den ich auf längere Sicht wirtschaftlich gar nicht durchhalten kann, und die Eintragung endet: Wenn diese Gesellschaft sich keine Gedichte leisten kann den Anspruch, ne Kultunation zu sein, werd ich aus eigener Tasche bestreiten?! Gar nichts werd ich. Unter dem Titel „Druse“ taucht die Eintragung dann als Gedicht in dem Band Gesammelte Gedichte (1976) und wiederum in Phönix voran (1987) auf.
Ist Lyrik also ein ungeeigneter Verkaufsartikel, so hilft die Vielfachverwertung immerhin ein bißchen diesem Übelstand ab, und die Vortragstourneen, zumal mit den Vollblut-Musikern Michael Naura, Wolfgang Schlüter, Eberhard Weber oder Leszek Zadlo oder Klaus Thunemann, dürften ganz entschieden ein Ende der spätromantischen Dachstuben-Notromantik/Romantiknot mit andeuten. Der geschulte Blick auf die Verwertungsmöglichkeiten und die berechtigt beiseitegesetzten Skrupel, hiervon Gebrauch zu machen, lassen dann aber die Rede von der Fertigung und die dazugehörigen Kategorien in wörtlicher Bedeutung gelten:
alles einwandfrei gestaltet,
nur der Zauber ausgeknipst.
Muß das Kunstwerk nicht Schaden nehmen, wenn es so konsequent als Ware angesehen/behandelt wird (auch vom Produzenten)? Läßt sich Dichtung mit der Bildhauerei und der Architektur vergleichen? War nicht gerade die Befreiung der Lyrik von den Auftraggebern (Geburtstags- und Leichenbegängnisse) im 18. Jahrhundert die Voraussetzung dafür, daß sich die Ästhetik als Wissenschaft einer besonderen Wahrnehmung, einer eigenen Erkenntnis, eines anderen Wissens etablieren konnte? Wie reimt sich der Vorhalt, daß zu wenig gezahlt wird, mit der Forderung, daß die freie Schriftstellerei frei bleiben solle? Es hat ja etwas Paradoxes, wenn die Kritik an der Gesellschaft ebenso vehement vorgetragen wird wie verlangt wird, daß sie von dieser (im wörtlichen Sinne) honoriert werde. Doch haben wir, im Anspruch wie im Ansprechen, von einer Gesellschaft auszugehen (hier jedenfalls), für die Selbstkritik konstitutiv ist, so selbstverständlich, daß sie auch eine aufklärerische Literatur und Kultur mindestens ermöglicht, wenn nicht sogar ausdrücklich fördert. Die Wirklichkeit sieht anders aus, – was aber gewiß nicht hinzunehmen ist.
Tatsache ist laut Rühmkorf, daß jene, die eine sehr wohl systematisch verunklärte Gesellschaft zu entnebeln und zu drainieren trachten, nichts als Widerstand zu gewärtigen haben. In seiner Rezension zum „Elend des deutschen Förder- und Auszeichnungswesens“ (1979) folgert Peter Rühmkorf, daß es durchaus eine Radikalenregelung in der bundesdeutschen Dichter- und Gelehrtenrepublik gebe. Die Tendenz heiße:
Ermunterung, wo es gesellschafts- oder kommunalpolitisch opportun scheint, und Unterdrückung, Hintertreibung, Ausgrenzung, wo ein Talent die ungeschriebenen Wohlverhaltensregeln außer acht läßt.
Zeitgedicht versus Kunstwahrheit
Vielleicht ermäßigt ein oft vorgetragener Widerspruch so seine Schärfe: Die Kritik am Markt sei streng und vehement, und doch trage Rühmkorfs Dichten ausdrücklich die Tradition und Poesie zu Markte.
Dieser Widerspruch ist gewiß gravierend, deutet auf nicht im Handstreich lösbare Widersprüchlichkeiten in unserem Gesellschaftssystem, läßt sich aber auch nicht einfach auf solche abschieben. Wollt Ihr den totalen Markt? variiert Rühmkorf eine bekannte Frage und macht sich ein wenig lustig über die Schar von lyrischen Überlebenskünstlern, die sich in den mittleren Sechzigern anschickte, die Kunst lieber zu Markte als zu Grabe zu tragen, Rühmkorfs Ironie geht vom Wissen aus, daß die Gesellschaft in Wirklichkeit keinen Platz für Lyrik hatte.
Zugleich ist Rühmkorfs Streben, wie das jedes Publizierenden, darauf gerichtet, den Marktanteil für Rühmkorf-Texte sei’s zu halten, sei’s zu erweitern, jedenfalls nicht schrumpfen zu lassen, Wie alternde Geliebte auf ihren Kurswert taxiert werden („Vorschlag für eine alternde Geliebte“), so überprüft Peter Rühmkorf auch regelmäßig die lyrischen Bestände („Um die Bestände zu überprüfen“):
Ich bin seit Hellas ziemlich heruntergekommen,
ich hänge mein HeIZ an alles, was mir durch die Finger rinnt –
Das Elend der Welt ist größer als angenommen,
und köstlicher der Wind.
Rühmkorfs Gesammelte Gedichte (1976) bezeugen stets aufs neue den Versuch, ältere lyrische Weisen so aufzumotzen, daß sie auf dem gegenwärtigen Markt Figur machen können. Es gibt Lieder, Oden, Variationen, den Walther-, Klopstock-, Heine-Ton, doch stets sind die Texte mindestens doppeltönig, versuchen z.B. dem Reim, der heute kaum mehr zählt, eine letzte Kunstanstrengung zuteil werden zu lassen.
Entsprechend bearbeitet Rühmkorf das berühmte Lied vom „Zerbrochenen Ringlein“ des Freiherrn Joseph von Eichendorff mit neuen Reimen, die möglichst unerhört, ja einmalig und unverwechselbar sein sollen: Kollergang – Zusammenhang, Romantik – Himmelsatlantik, nicht treu – Stirnenspreu, Effendi – in statu nascendi, intro-vertiert – herumgrührt usw. Doch zugleich wird deutlich, daß sich diese Reimlust, dieses Bestehen auf dem poetischen Gesellungsmittel, diese fast manieristische Wortversessenheit nicht ausreichend als Verwandlung des Rohzustandes „Tradition“ in die vom Kunden verlangte Hochform „Gegenwart“ beschreiben lassen. Ich möcht am liebsten sterben, zitiert Rühmkorf den Romantiker und endet sein Lied: Was klirren so muntere Scherben / in meiner Bessemer-Brust?!
Der englische Ingenieur Sir Henry Bessemer erfand (laut dtv-Lexikon) 1856 den Bessemerprozeß, d.h. die Entkohlung des flüssigen Roheisens, wobei dieses in den sog. Bessemerbirnen (mit bis zu 60 Tonnen Fassungsvermögen) von unten mit Luft durchblasen wird. Wenn das keine gute Beschreibung für diesen Dichtungsvorgang ist! Entsprechend versteht Rühmkorf die „Entkohlung“ alterzener Gedichte nicht nur als Dienst am Kunden, sondern auch am Text, den er „intertextualisiert“, d.h. mehrsprachig macht. Das muntere Klirren Rühmkorfs ist vom romantischen Waldhornton, vom seraphischen Trompetenton Klopstocks, vom stillen Celloton des Matthias Claudius deutlich unterschieden, aber setzt diese anderen Töne durchaus voraus. Oftmals ist es ein Buchstabe, der die Verkehrung der Perspektive bewirkt, wie in der „Variation auf das ,Abendlied‘ des Matthias Claudius“ der Wechsel von a zu e: Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Diese Veränderungen gehen von der Einsicht in die Historizität, die Zeitbedingtheit auch der großen Lyrik aus und wollen solche Wahrnehmung fördern helfen. Dieses Verfahren, das sich als Kontrafaktur, Parodie, als Antithese und Verkehrung, Paradox und Oxymoron, als Negativposition also einen guten Namen gab, ist vom Verramschungsprozeß von Kultur, dem man heute überall begegnen kann – Rühmkorf analysiert ihn (wie Enzensberger) an der SPIEGEL-Sprache -, durchaus zu unterscheiden.
Am Spiegel kritisierte Peter Rühmkorf das leichtfertige Einschwenken auf eine kapitalistische Kulturrevolution, die auf diesen ganzen handvermittelten Überlieferungsbetrieb tunlichst verzichten sollte, um das, was einmal Bildungsgut oder ähnlich hieß, als mobilen, schnellerwerblichen und leichtverderblichen Konsumstoff anzuerkennen. Durch die wöchentlich fortschreitende Transsubstantiation von Kunst zu Cocktailhäppchen oder von Kultur zum Freizeitvergnügen werde jeder traditionelle Kulturbegriff bis zur Fassungslosigkeit aufgelöst. Und in einer Biermann-Rezension (die gewiß Recht hat) hält Rühmkorf diesem die billigen Reime vor: Vermutlich kann man gewisse Ausdrucksmittel doch nicht über ein Jahrzehnt lang im Repertoire haben, ohne daß sich Abnutzungserscheinungen zeigen. (Das gilt, teilweise wenigstens, vielleicht auch für die Lyrik Rühmkorfs.) Seine Biermann-Rezension fährt fort: Die Crux liegt dabei gewiß gar nicht bei Biermann allein. Daß die Einstellung zu der Gesellschaft, in der er lebt, sich nicht geändert hat, geht zu gutem Teil zu Lasten eben dieser Gesellschaft.
Nun ist festzuhalten (ohne den Widerspruch damit zukleistern zu wollen), daß Rühmkorf (im Essay wie im Zeitgedicht, explizit wie implizit) diese Problematik regelmäßig reflektiert hat: Wir, höchstpersönlich, haben lange Jahre mitwirken helfen an einem Abweichungsmodell (sc. von Lyrik), das statt auf Gesellschaftskritik zu zielen die Erwartung gesellschaftlichen Prestiges implizierte. Das ist für die frühe Lyrik gesagt, die den kritischen Im puls gelegentlich verbummfiedelte, doch etwas davon gilt auch noch für die ironisch-mimetische Technik der späteren Gedichte (vgl. „Undine“, „Reisender“ u.a.), die freilich nie zum Voyeurismus entartet, wie es Peter Rühmkorf dem Spiegel vorhält.
Rühmkorf nimmt für sich das Zeitgedicht in Anspruch, und da gilt wohl, daß er auch da hindurch muß, der Poet. In dem frühen Aufsatz „Einige Aussichten für Lyrik“ (1963) sind Einsichten formuliert, die auch für diesen hier besprochenen Widerspruch zu bedenken sind:
Und wer wollte einen Enttäuschten schmähen, der gegen die Welt der Faktenschieber und Gewaltanwender hoffärtig eine eigene auszuspielen trachtet aus Wort- und Wetterleuchten? Und doch gibt es für ihn und seine Kunst nicht diesen schlichten Freispruch auf immerdar. Es gibt kein Sesamwort. Es gibt die reine Löseformel nicht, die das Gedicht entbindet und seinen Autor, jenseits von Zorn und Anteilnahme, in Freiheit setzt. Artistik jedenfalls rechtfertigt keinen ganzen Mann mehr, und das nun wirklich nicht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, sondern weil es eben diesen ganzen Mann gar nicht mehr gibt. Weil diese Vorstellung vom ungeteilten Individuum, das sich in Sprache, das in Kunst sich realisiert, längst selbst als Ideologem einer Stillhaltegesellschaft erkennbar geworden ist, und weil das sogenannte lyrische Ich sich überhaupt nur dialektisch noch seiner selbst versichern kann. Mag es immerhin möglich sein, daß in der Auseinandersetzung zwischen dem, was Kunst sein will, und dem, was Anstoß stiften möchte, nicht das Zeitgedicht das letzte Wort behält; mag man es gleichwohl für möglich erachten, daß einer auszieht, die Wahrheit zu schreiben, und doch am Ende im Zwielicht dasteht und seine Zweifel hochhält; eins freilich scheint mir unbestreitbar. Daß nämlich auch eine artistische Lösung gar nicht mehr denkbar ist, es sei denn über den Widerstreit mit Hoffnungen und Absichten, die nicht primär dem Gedicht gelten, sondern den Zuständen in einem Lande, das wahrlich des Angstschweißes der Edlen wert ist.
Als ein solches Zeitgedicht müssen wir die „Variation auf ,Gesang des Deutschen‘ von Friedrich Hölderlin“ lesen. Und zugleich als Negativ-Poetik, indem die Dichtung, wenn sie den gesellschaftlich-politischen Auftrag (ein neu Gemythe) verweigert, auf Kippe und Schweigen landet:
Auf Kippe und Gedeih, daß nie und keiner
die Kreise jemals störe, Wanderer, kommst du nach
Deutschland, sage du habest uns hier
unterliegen sehen, wie es der Vorteil empfahl.
Solche Zeiterfahrungen erlauben es nicht, an einem bestimmten (von wem und für wen bestimmten?) Dichtungskonzept festzuhalten. Adorno hat in seinem Antwortbrief auf Rühmkorfs Festschriftbeitrag noch einmal auf die Bedeutung des Kunstanspruchs hingewiesen, der mit dem l’art pour l’art-Konzept gegeben ist:
(…) daß die Kunst gerade in ihrem Wahrheitsgehalt, der schließlich mit Praxis konvergiert, um so reiner und kräftiger ist, je weniger sie diesen Wahrheitsgehalt zu Thesen macht. (…) Die von Ihnen geforderte Beziehung auf mögliche Praxis muß in dem Gedichteten liegen, nicht in dem „message“, Das Gedichtete aber ist notwendig durch Form vermittelt.
Der Hinweis auf die Kontrafaktur war Hinweis auf ein Formprinzip; eine intertextuelle Lesart, die das „Klirren“ verständlich zu machen suchte, würde ebenso auf die Form führen wie die Analyse der Reimtechnik, der Neologismen, der rhetorischen Figuren, der Zeilenbrüche und rhythmischen Fügungen. Das Spannungsverhältnis zwischen Artistik und Zeitbezug ist damit freilich keineswegs aufgehoben.
Hochseil oder Abfallkippe? Das Problem Pathos
Peter Rühmkorf plädiert für das Zeitgedicht und findet eine artistische Lösung gar nicht mehr denkbar. Doch er hält am pathetischen Kunstanspruch fest, allen selbst vorgetragenen Relativierungen und Neigungen zum Trotze. Wie verträgt sich das miteinander?
Gegen die verherrlichte Konsumentenfreiheit, gegen die Abstimmung an der Ladenkasse, in deren Verfolge eine doch wohl ziemlich singuläre Größe wie Goethe einfach durch das Sieb fällt, werden z.B. jene dichterischen Wahrworte gesetzt, die dem Verramschen widerstehen könnten. In seinem Goethe-Vortrag „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern“ (1982) konstatiert Peter Rühmkorf:
Ein gewisses Bildungskontinuum (…) scheint ein für alle Mal unterbrochen, abgerissen, verstört, und das „Bleibende“, das angeblich „die Dichter stiften“, endgültig den Styx hinunter, falls überhaupt noch jemand weiß, was das mal für ein Flüßchen war.
(Mein Vorhalt war, daß Rühmkorfs Lyrik bei dieser Verflüssigung etwas zu keß mittut.) Nun ist festzuhalten, daß Rühmkorf das Zeitgedicht durchaus relativiert und keineswegs bereit ist, selber auf allen lyrischen Zusammenhangszauber zu verzichten. Auch unsere Gegenwartspoesie hat ohne Zweifel mit Magie und Zauberwesen zu tun, selbst dann, wenn sie mit der Entzauberung einer von Fetischglauben und Irrationalismus verdunkelten Gesellschaft beschäftigt scheint. Rühmkorf geht im folgenden der Annahme einer allgemein magischen Funktion der Dichtkunst nach – die Frankfurter Poetik-Vorlesungen machen das selbst zum Hauptthema –, ohne ihre prä- und paralogischen Denkformen gleich zu verteufeln, und dabei kommt er zu Formulierungen, die eine Annäherung an den (klassischen) Typus des Erlebnisgedichts darstellen. Das Gedicht habe wie keine Gattung neben ihm mit dem Ich-persönlich zu tun und stelle so etwas wie ein Austragungsorgan seiner intimsten Spannungen und Regungen dar. Nur im Gedicht spreche das Ich mit einer unzerteilten Zunge, (…) egal, wie viele Kräfte vorher an ihm hemmgewirkt haben mögen und welche gegensätzlichen Kräfte von innen her an ihm zerren. So gilt denn auch der persönliche Ton wieder als Inhalt und Sache und Fakt und Substanz und Erbaungsstoff. Getreu dem Ansatz, die Widersprüche so zu lösen, daß nun Widersprüchlichkeit als Rühmkorfs persönlicher Ton erscheint (etwa in Abgrenzung von Erich Fried), beschreibt Rühmkorf sein Gedicht als ein ganzes Konglomerat von scheinbar unvereinbaren Wertvorstellungen, Interessen und Gemütsbewegungen, ohne daß das lyrische Subjekt viel mehr als eine fundamentale Zerrüttung anzuzeigen fähig wäre.
Das ist weniger, als Rühmkorf in Wirklichkeit leistet, weniger auch, als seine Theorie zu leisten imstande ist. Was an dieser Stelle fehlt (an anderen gibt es dazu einige Hinweise), ist der Versuch, das Verhältnis von Text – Subjekt Gesellschaft anders als nach dialektischem Muster (dem Dualismus der Repräsentation) zu denken, Auch bei Rühmkorf gibt es Tendenzen, das Bewußtsein zu betrachten wie einen Text, dessen Autor unbekannt ist, also auf das Konzept eines sinnstiftenden Subjekts zu verzichten, wie es einem traditionellen Aufklärungsglauben zugehört. Julia Kristeva hat diese Einsicht (von Jacques Lacan her) so gewendet, daß sie (wie Rühmkorf auch) die Sprachzersetzung in der Literatur der Avantgarde als Ausdruck einer kulturellen Krise der bürgerlichen Gesellschaft deutet; darin bilde sich freilich ein neuer Typ von Subjektivität aus, der es gestattet, ein Subjekt zu konzipieren, das in der Textpraxis spielerisch sein Unbewußtes erkunden kann.
Entsprechend denkt Rühmkorf Subjekt, Text und Markt/Gesellschaft zusammen, wenn er insistiert: Unsere eigene Lebenswahrheit beginnt dort, wo etwas durch uns hindurchgeht, und dort auch ist der Platz der modernen Poesie. Text, Subjekt, Gesellschaft findet er entsprechend gezeichnet, aber nicht verloren. Theoretisch führt Rühmkorf diesen Gedanken freilich nicht weiter, sondern spielt persönliche Betroffenheit, die Eintrübungen des Subjekts gegen das sogenannte Positive aus. Seine theoretische „Lösung“ ist traditioneller, als es seine Gedichte erwarten lassen. Das magische Wort der Poesie, das Gedicht, soll dem Subjekt ein Austragungsorgan seiner intimsten Spannungen und Regungen darstellen, soll die bis in ihre Grundfesten erschütterte Person (…) zur Anerkennung ihrer selbst ermutigen. Nicht zuende gedacht ist dabei das Dilemma: das Subjekt einmal als Vielheit zu denken, das Wissen also, daß die mittlerweile als gesellschaftlich erkannten Widersprüche nicht durch schöne Worte zu überwinden sind; und zugleich die Stimmen des lyrischen Ich als ein Unisono zu postulieren (was auf Kayser, Staiger, Friedrich und die ihren verweist):
Nur im Gedicht äußert sich ein literarisches Subjekt ganz ohne epische Begleitmassen oder dramaturgisch bereitgestellte Gegen- und Nebenstimmen. Nur im Gedicht spricht das Ich mit einer unzerteilten Zunge, (…) konstituiert sich augenfällig oder akustisch beweiskräftig so etwas wie die Einheit der Person (…).
Vermutlich sollte man den Lyriker Rühmkorf nicht ohne weiteres für die Grenzen seiner Theorie haftbar machen, Vermutlich wäre es möglich, gegenwärtig kursierende Theoreme zur Erläuterung der Gegenwartslyrik ansatzweise mit seinen Gedichten in Verbindung zu bringen: die Vielsprachigkeit der lyrischen Rede, ihre Abgebrochenheit, ihre Angrenzungen, die Subversion der Tradition, die Intertextualität, Lyrik als vollkommen sinnliche Rede: ihre „Körperlichkeit“, den Übergang von Bildlichkeit zu Wörtlichkeit, die Neubelebung von rhetorischen Formen – und andere mehr.
Das ließe sich nicht zuletzt deswegen vertreten, weil Rühmkorf dort, wo er berichtet, ohne synthetisieren zu wollen, seinem Motto In meinen Kopfpassen viele Widersprüche treu bleibt. In Die Jahre die Ihr kennt (1972) stellt er einige davon erzählend aus: die sozialistische „Konstruktion“ einer neuen Ordnung auf Kosten des Ich versus eine leidensbezogene Ausdrucksästhetik, die große Selbstversenkung; der Versuch, politische Wirkungsästhetik und individuelle Ausdrucksästhetik gesammelt zu begreifen, führt zur „Erfindung“ des „Finismus“, aber mehr als eine Vokabel ist das nicht; Politik und Selbstausdruck bleiben Gegensätze, Schreiben mit gespaltener Feder ist Rühmkorfs Ausdruck dafür; Gottfried Benn wird vorübergehend zum Leitstern, doch zugleich wird Nimm Dannol, du fühlst dich wohl zynisch-brechtisch als die wahre zeitgenössische Lyrik (an)gepriesen; der unzerteilte (chinesische) Mensch gilt als Vorbild, doch heißen die Dichter Gegenfüßler, die aus Spannungen leben; Anstößigkeit und Anständigkeit werden zu Synonymen; Wirklichkeitsverneinung nährt den Widerspruch: den Willen zur Wirklichkeitsveränderung; Pathos und Slang werden legiert, Engagement und l’art pour l’art sollen zusammengedacht werden, usw.
Es wäre gewiß falsch, aus diesem Nebeneinander von (theoretisch gesehen) Unverträglichkeiten auf ein zynisches Bewußtsein bei Rühmkorf zu schließen. Er läßt sie stehen, um auf ausstehende Lösungen, die nicht der Dichter erbringen kann, hinzudeuten. Und er geht davon aus, daß der faßliche Teil der Gesellschaft für richtige, für lebendige Menschen niemals nur jenes große Allgemeine ist, sondern zuerst einmal das ganz alltägliche Nebeneinander von Menschen. Auf das sucht er einzuwirken (wäre ein Deutungsvorschlag), und dafür sind ihm viele Töne recht, bis er stolz bemerken kann: Habe viele Schlachten, aber nie meine Identität verloren. Das ist recht bramarbasierend gesprochen und weit entfernt etwa von solchen subtilen Überlegungen und Einsichten, wie sie Paul Parin zum „Widerspruch im Subjekt“ vorgetragen hat.
Die Frage bleibt ja, was nun gelten soll, die These vom Scherbenhügel der gegenwärtigen Kultur, Sprache, Dichtung, wo nichts mehr bleibt:
Die Wörter pladdern auf die Abfallkippe,
bis sich die Grube füllt, die Strophe schließt.
Oder gilt das Pathos, womit das lyrische Ich seiner Ausmusterung widerspricht:
Ich widerspreche,
ich wetterleuchte noch!
– das Pathos, womit es Reim und Rhythmus anführt, den großen Ton aufmacht, der geradezu nach Musikbegleitung ruft, um nicht zu kippen, das Pathos, das gewöhnliche Trunkenheit (des Schnapses) in die lyrische „Trunkenheit ohne Wein“ zu verwandeln sucht, bis das Hochseil als anspruchsvolles Bild für die dichterische Situation auftaucht:
Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem I n d i v i d u u m
aus nichts als Worten träumend.
Das Gedicht endet mit der Ausstellung der Widersprüchlichkeit, wie sie Rühmkorf sich zu deuten sucht:
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.
Schon das in der Sammlung 21 Gedichte folgende Gedicht „Zirkus“ führt die Brüchigkeit dieses pathetisch aufgeladenen Selbstverständnisses vor. Das lyrische Ich weiß: was erwartet wird / ist einzig / dieses / leuchtende Subjekt. Doch dieses Ansinnen, das die strenge Unterscheidung wir/ihr voraussetzt und das ganz alltägliche Nebeneinander von Menschen sozusagen vergessen hat, wird nicht etwa abgewiesen, sondern pathetisch (= lustvoll leidend) als Überlebenspoker-Aufgabe angenommen, undeutlich, ob die Kunst zu schweben, Lust zu stürzen schließlich überwiegt.
Alexander von Bormann
− Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Widersprüche
− Herbert Uerlings: Politik und Lyrik bei Peter Rühmkorf
− Jürgen H. Petersen: Anspielung und Variation. Zu den ästhetischen Prinzipien Peter Rühmkorfs
− Elsbeth Wolffheim: Marktplatz als Metapher oder Der literarische Wanderarbeiter
− Karl Riha: Es gibt immer noch genug Neanderthal, um mit der Tranfunzel zu missionieren. Zu Leslie Meiers „Lyrikschlachthof“
− Peter Bekes: Zaubergeist und Aufklärungslust. Rühmkorfs Märchen
− Edith Ihekweazu: Was heißt hier gescheitert? Peter Rühmkorfs theatralische Sendung
− Peter Bekes: Rühmkorf-Biographie – Daten, Erfahrungen, Erinnerungen
− Peter Bekes: Auswahlbibliographie
− Notizen
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!. Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona
Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf
Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit
Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit
Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik
Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik
Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik
Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum
Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern
Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)
Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999
Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005
Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004
Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018
Stiftung Historische Museen Hamburg: Laß leuchten!
shmh.de, 20.7.2019
Julika Pohle: „Wer Lyriks schreibt, ist verrückt“
Die Welt, 21.8.2019
Vera Fengler: Peter Rühmkorf: Der Dichter, die die Welt verändern wollte
Hamburger Abendblatt, 21.8.2019
Volker Stahl: Lästerlustiger Wortakrobat
neues deutschland, 22.8.2019
Elbe Wochenblatt, 27.8.2019
Hubert Spiegel: Der Wortschnuppenfänger
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2019
Anina Pommerenke: „Laß leuchten!“: Rühmkorf Ausstellung in Altona
NDR, 20.8.2019
Maren Schönfeld: Herausragende Ausstellung über den Lyriker Peter Rühmkorf
Die Auswärtige Presse e.V., 21.8.2019
Thomas Schaefer: Nicht bloß im seligen Erinnern
Badische Zeitung, 26.8.2019
Willi Winkler: Der Dichter als Messie
Süddeutsche Zeitung, 28.8.2019
Paul Jandl: Hanf ist dem Dichter ein nützliches Utensil. Peter Rühmkorf rauchte seine Muse herbei
Neue Zürcher Zeitung, 11.9.2019
„Laß leuchten!“ Susanne Fischer über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Friedrich Forssman über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Jan Philipp Reemtsma über die Rühmkorf-Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum.
„Laß leuchten!“ Ein Sonntag für Peter Rühmkorf in Marbach. Lesung und Gespräch mit Jan Wagner.
„Jazz & Lyrik“ – Ein Fest mit Peter Rühmkorfs Freunden
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 1/2
Film über Peter Rühmkorf – Bleib erschütterbar und widersteh. 2/2
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