DIE STEINBRÜCHE VON MARATHI
ein eingang in die unterwelt · mastix · wildtauben
die daraus hervorstieben · und durch den schatten
in den winter treten der fels ganz unten
immer weißer bis er blendet wie das licht draußen
marmor herausgetrieben mit eishacken
mit seilen hoch und mit eseln hinunter
ins tal zum hafen geschleppt nur um eine gorgone
athene oder sphinx herauszumeißeln die stufe
an einem tempel meilensteine becken
grabkisten all diese steinernen idiome
eine votivschale der name eingekratzt am rand
was man so im grunde aus der grube
holt um es unter den himmel dann zu stellen
ist figur dessen was wir denken glauben sind
das relief einer miene die dem gleichgültigen wind
und der see entgegenstarrt · eine stätte
umfaßt von einem – denn es bleibt ein raum
egal wieviel man aus dem dunkel drängt · eine haut
um die sonne · flügel · das versprechen unsrer hand
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaparos, 5.7.06
RAOUL SCHROTTS POETIK DER METAPHER
Wie kommt ein Gedicht zustande? Als Antwort auf dieses kulturgeschichtliche Rätsel gab schon der böotische Hesiod – wahrscheinlich um 700 v.Chr. – ein ,poetologisches Statement‘ ab. Im Proömion seiner „Theogonie“ steht, dass die Musen „einst Hesiod schönen Gesang“ lehrten, als er seine „Schafe am Hang des gottbewohnten Helikon weidete“. Bei allem Respekt vor den Töchtern des „aigistragenden Gottes“ unterstreicht Hesiod dabei das überrumpelnde Gebaren der Göttinnen. Der arme Schäfer wird von den Musen zunächst mehr traktiert als geküsst, ja er muss sogar eine regelrechte Schimpftirade über sich ergehen lassen: „Ihr Hirten seid bloße Lumpen, lauter Bäuche“, tadelt der Göttinnen wohl nicht immer „liebliche Stimme“. Doch wird er für die Pein des Überfalls mehr als entschädigt. Die Zeus-Töchter, so der rauhe Bauernsohn aus Askra, „ließen mich den Zweig des blühenden Lorbeers“, der „wunderschön anzuschauen“ sei, zum „Stab brechen“ und „hauchten mir eine göttliche Stimme ein, damit ich rühme Künftiges und Gewesenes“. Als Gegenleistung für die „Wahrheit“, die den Gesang des nun mehr musenhörigen Auserkorenen erfüllen wird (die Göttinnen warnen ihren Zögling jedoch, dass sie genauso gut die Kunst verstehen, „Lügen zu erzählen, die sich wie Wahrheit anhören“), soll Hesiod den Kosmos und dessen göttliche Protagonisten in Hexametern besingen, wobei nach wie vor seine Auftraggeberinnen Ton und Thema dekretieren. Schließlich sind sie es, die „über das richtige Wort verfügen“, sie geben vor, was der Hirte zum Gegenstand seiner Verse nehmen darf: Nicht etwa „Fels und Eiche“ soll der Sänger preisen, sondern ausschließlich „die Sippe der ewigen, seligen Götter“. Wenn auch zwischen Hesiod und den Musen ein produktiver Austausch stattfindet, der auf gegenseitigem Einverständnis beruht, scheint der Entstehungsprozess des Kunstwerks ihm also nur bedingte Gestaltungsfreiheit eingeräumt zu haben: Erst später im Rückblick auf seine Initiation am Helikon wird es dem Dichter – wie auch seinem Leser – klar, dass seine Wortgewalt der Aufgabe gewachsen war, dass „der gesegnet ist, den die Musen lieben“ und dass „süß fließt über seine Lippen die Stimme“.
Freilich tut sich zwischen einem heutigen Leser und dem uralten Kunstwerk ein moderner, im Vergleich zur fast hieratischen Haltung des Sängers, diesseitiger ästhetischer Erwartungshorizont auf, wenn Hesiod – wie in der vorausgegangen Schilderung – in der Musenbegegnung selbst, das heißt im hic et nunc der poetischen Tätigkeit die eigentliche Belohnung für die künstlerische Arbeit zu sehen scheint: etwa in der enargeia und energeia, mit der jene „unsterbliche Stimme“ ans Werk geht, oder in der erfreulichen, reichhaltigen Konvergenz sinnlicher Intensität und komplexer Intellektualität. Oder ließe eine heute zeitgemäße Perspektive schon gar keine Poetik mehr gelten, in der der Dichter, statt die Autonomie des Dichters als Urheber des Kunstsprechens zu behaupten, von einem wie auch immer gearteten Musenkuss ausgeht? Jedenfalls scheint im künstlerischen Selbstverständnis Hesiods eine ausdrücklich doppelte Quelle den Gesang zu speisen. Dieser Poetik zufolge entstammt die Wahrheit der Dichtung einer Art von Transaktion: Einerseits sind es, wie Hesiod sagt, die Göttinnen selbst, die „wie mit einer Stimme“ singen; andererseits können die Menschen den Vortrag der Musen nur aus Menschenkehle vernehmen, weshalb durch der Musen „heiliges Geschenk“ es „Männer des Liedes auf der Erde“ geben muss: eine Paradoxie (und über derlei Spannungsverhältnisse soll es im Folgenden gehen), an der unter ganz anderen, unglücklichen Vorzeichen ein deutscher Hölderlin freilich zugrunde gehen musste.
Rechenschaft über das geheimnisvolle Entstehen des Gedichts – und viel öfter noch über die Unmöglichkeit, diesen Vorgang restlos aufzuklären – legten die Dichter zu allen Zeiten und auf allen Kontinenten ab: vor allem in Gedichten (vielleicht sogar in allen Gedichten), aber auch in Essays, Kommentaren, Abhandlungen, Notizen und – seit Ende des 20. Jahrhunderts – in Websitebeiträgen. Tatsächlich entstand – was die Rolle der Musen betrifft – eine ehrwürdige, aber keineswegs immer kitschfreie Tradition. Natürlich mochten nicht alle Dichter in diese romantisch-irrational anmutende Tradition einstimmen. In seinem Essay „The Philosophy of Poetry“ schildert Edgar Allen Poe (in einer Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger) den furor poeticus der Inspiration mit Distanz: „Die meisten Autoren, insbesondere die Dichter, gefallen sich darin, die Leute glauben zu machen, sie schüfen ihre Werke in einer Art schönem Wahnsinn, einer Art von selbstentrückter Eingebung.“ Wahrscheinlich geht die Vorstellung, der Dichter gerate in eine Art von dionysischer Ekstase, auf Democritus zurück, für den die besten Gedichte „mit Inspiration und einem heiligen Atem“ gemacht werden. Mit Hesiod teilen aber auch viele moderne Dichter – von Goethe über Baudelaire und Nietzsche bis zu den Surrealisten – und viele zeitgenössische Lyriker (hier soll nur von einigen wenigen die Rede sein) die Erfahrung, dass ein Gedicht sich nicht am Reißbrett planen lässt. Zumindest die Entwürfe und damit auch jede darauf fußende Endfassung lassen sich im Nachhinein nur selten durch den Verweis auf einen auktorialen Schreibprozess rekonstruieren. 2.700 Jahre nach Hesiod schreibt beispielsweise der irische Dichter Seamus Heaney von den „self-validating operations of what we call inspiration“ (dem sich selbst legitimierenden Wirken dessen, was wir als Inspiration zu bezeichnen pflegen). Heaney unterstreicht die „uneingeschränkte Hingabe“ des Dichters an die Anforderungen des poetischen Schreibaktes und zitiert ein Wort der polnischen Dichterin Anna Swir, die von der Einmaligkeit des Schreibaktes und dessen unwiederbringlichem Gewinn zeugte:
(…) einen Augenblick lang besitzt (der Dichter) einen Reichtum, zu dem er sonst keinen Zugang hat und den er verliert, wenn der Augenblick vorbei ist.
In dem Text „Ein Brief“, erschienen in Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer, bemerkt auch Paul Celan, dass „das Gedicht die Mitwisserschaft dessen, der es ,hervorbringt’, nur so lange duldet, als es braucht, um zu entstehen“. Ein Gedicht sei – laut Paul Valéry „Sprache in statu nascendi, freiwerdende Sprache“. Und weiter heißt es:
(…) das Wie und Warum jenes qualitativen Wechsels, den das Wort erfährt, um zum Wort im Gedicht zu werden, weiß ich auch heute nicht näher zu bestimmen.
In einem undatierten Entwurf des poetologischen Textes, den er zunächst für Hans Benders Anthologie vorgesehen hatte, bringt Celan die Unberechenbarkeit dieses lyrischen Quantensprungs auf den Punkt:
(…) das Gedicht kann nie das Resultat der Meisterschaft des jeweiligen Dichters sein, so groß und bewährt dieses Meisterschaft auch sein mag. (…) Denn die Sprache der Dichtung ist immer auch schon die andere Sprache, deren erstes Wort den Dichter in ein neues Sprachgeschehen hineinreißt, dem er sich mehr oder minder unbewußt überantwortet. Auch die schärfste Introspektion gestattet keine restlose Übersicht in dieses Geschehen – und stellt dergestalt den Begriff übersehbarer Erfahrungen in Frage.
Der englische Dichter und Celan-Übersetzer Michael Hamburger weiß Ähnliches über den Schreibvorgang zu berichten, wobei er in seinen Schriften auf eine der englischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts entstammende Poetik der „negativen Befähigung“ zurückgreift. Bei der Entstehung eigener Gedichte sieht Hamburger einen Bruch zwischen intentionalem Sprachverhalten und einem Prozess, der zumindest teilweise „der Kontrolle des Dichters entzogen“ sei:
Außerhalb der Dichtung unterscheide und wähle ich, überlasse mich dieser und jener Handlungsweise, behaupte meine moralischen Urteile und Vorlieben. In der Dichtung wird mein persönlicher Wille aufgehoben, mein Urteilsvermögen den Erfordernissen des Gedichts unterworfen. Dies mag es sein, was Keats gemeint hatte mit ,negative capability‘ und was die Dichtung lange Zeit denen verdächtig machte, (…) die sie nicht lesen, um sich von ihr überraschen zu lassen, sondern um in dem, was sie wissen und glauben, bestätigt zu werden.
*
In seinen Aufsätzen und anderen Schriften wendet sich auch der österreichische Lyriker Raoul Schrott immer wieder dem „Geschehen“ der poiesis sowie jenen Rätseln zu, die dem Entstehungsprozess des Gedichtes nach wie vor anhaften. Eines seiner Bücher, Die Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung ist ein Versuch, „das Paradigma der Poesie aus dem Mythos (…) am Beginn der europäischen tradition“ herauszuarbeiten. Als solcher dokumentiert es die Rückbesinnung des Dichters auf die „Quelle der Dichtung“, das heißt sowohl auf die Quelle der eigenen Dichtung als auch auf die legendäre Landschaft ihres mythischen Ursprungs an der Hippokrene. Als literaturarchäologischer Essay, der die Scherben des böotischen Musenkults zusammenklaubt, will Die Musen, wie andere Werke Raoul Schrotts ebenfalls, auch Reisebeschreibung sein, mythografische Expedition (hier etwa in den Fußstapfen von Pausanius), poetologischer Ausflug, der die Wissbegierde des 1964 geborenen Dichters über den Ursprung der Poesie mit den Betrachtungen eines heutigen theor verbindet. Nicht nur in diesem Buch (den Gedichten Raoul Schrotts folgt meist der Eintrag über Entstehungsort und Datum) kombiniert der Autor seine theoria (Betrachtung, Anschauung, Mutmaßung) zu – in einem von ihm zum Beispiel im Nachwort seines Lyrikbandes Weissbuch definierten nichtreligiösen Sinn – heiligen Orten und Spektakeln mit Angaben zu dem Ort und der Zeit des Schreibaktes. Solche Orte können Hotels sein, die er „die eigentlichen Tempel unseres Jahrhunderts“ nennt, oder das Labor (auch das ein Ort der poiesis) eines berühmten Physikers oder die grünen Augen eines auf einem syrischen Bus nach Bagdad fahrenden Jungen oder eine Handvoll deutscher Weiler, die allesamt Namen wie Himmelreich, Paradies, Höllhof oder Himmelsthür tragen – das sind geopoetische Koordinaten, vernetzt von Buch zu Buch, von Kontinent zu Kontinent, umgeben von Wüste oder Ozean, entdeckt in entlegenen Höhlen, auf vollgedrängten Markplätzen oder im Schatten karger Berge. Den Einzelheiten dieser topoi, gleichsam gerahmt im abgesteckten templum des poetischen Tuns, begegnet man in der Textur des Gedichts als Metaphorik wieder. Denn erst durch seine Einrahmung der Sprache, erst indem es sie in Form von augenscheinlichen Zeilen, Strophen, rhythmischen Schemata herausstellt und überall an ihre Zeichenhaftigkeit oder schriftliche Materialität erinnert, stellt sich das Gedicht gleichsam als Doppelwesen dar und definiert sich auf diese Weise als unvergleichlich intensiver metaphorischer Raum:
Auf der einen Seite steht das, was man im Notizhaften eines Tagebuchs sagen will, Worte, Halbsätze, die ein Ort, ein Ding, eine Idee umkreisen. Die Grammatik dessen, was sich auch wirklich sagen läßt, erhält es jedoch erst im Gedicht, durch dessen Form – sie steckt die Linie ab, hinter der man in den Dialog mit dem tritt, was ,da ist, für sich, gegenwärtig‘, und trotzdem immer nur suggerierbar bleibt. (…) nur dadurch versachlicht sich alles Private, vermag aus subjektiver Erinnerung Exemplarisches zu werden.
„so kommt ein gedicht / zustande“, heißt es in „Physikalische Optik II“, einem der geheimnisvollsten Gedichte des gleichnamigen Zyklus aus Raoul Schrotts Band Tropen. Hier wird die Entstehung eines Gedichts – sowohl dieses einen Gedichts als auch des Gedichts im exemplarischen Sinn – zum Gegenstand einer Art von poetisch-existenziellem Schwarzlichttheater gemacht: Unter Einsatz des ganzen Körpers kämpft ein Kalligraf im Chiaroscuro eines alchemisch-poetischen Labors um die Bündelung einer Vielzahl mehr oder weniger schemenhafter und vom Zerfall bedrohter Flächen, Ebenen und Zeichen. Der Schreibakt vollzieht sich im Notzustand, denn „die hand die schreibt ist immer zu langsam“. Das Schreiben erinnert an ein Diktat – „abschreibübungen aus dem handgelenk“, aber der „Autor“ ist es nicht, der den Gegenstand des Schreibens bestimmt. Bei aller Aufmerksamkeit, die er der Tätigkeit seiner Hände schenkt, wird er genötigt, alle Sinne für die Integration eines von ihm scheinbar losgelösten Prozesses anzustrengen, damit nicht Auslöschung und Dunkelheit die Oberhand gewinnen. Die Unberechenbarkeit, Unmittelbarkeit und Erotik dieses Prozesses wird durch das schockierende Bild des nackten Herzens unterstrichen, das sich den Unbilden eines (im figürlichen Sinn) ,tropischen‘ Sturms ausgesetzt sieht, ein Bild, das sowohl das Staunen des Dichters als auch seine Bescheidenheit angesichts der Gewalt des Augenblicks zum Ausdruck bringt:
so ein nacktes Herz
gemessen an der seltsam fremden anziehung
der zeilen
Das Hin und Her des Pendels im Gedicht, ein Uhrwerk, das an die Vergänglichkeit menschlichen Daseins gemahnt, intensiviert die Schwere und – angesichts des bloßgelegten Herzens – auch die „Bedrängnis“ der poetischen Verdichtung: Die Spannweite reicht vom Entweder zum Oder, vom Alles bis zum Nichts.
Die Verbindung von Pendel und Herz ist in der Literaturgeschichte kein unbekannter Topos. Man denke an das frühe Gedicht von Paul Celan, in dem es heißt:
Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt
zwischen Immer und Nie,
stößt dein Wort zu den Monden des Herzens.
Schrotts Gedicht zeigt einen Vorgang auf, der zwar das ,Freiwerden‘ der Sprache nachbildet, der aber auch Bedrückendes enthält, sodass man unweigerlich auch an das ,Zischen‘ jener Pendelklinge denkt, die in Edgar Allan Poes Erzählung „The Pit and the Pendulum“ über dem nackten Herzen des am Rande des Abgrunds festgebundenen Häretikers hin- und herschwingt. Während die Bewegungen des heuristischen Pendels über das Herz des Gedichts rauschen, treiben sie das Wirrsal der epistemologischen Interferenz sowie die Koinzidenz oder Überlagerung verschiedener Koordinaten und Dimensionen des lyrischen Entstehungsprozesses voran, wobei jeder neue Schwingverlauf zu einer Begegnung führt, die die Substanz der Zeilen anreichert und die Spannung zwischen Gefahr und Eros steigert: „der eigentliche Eros der Poesie – mit Fingerspitzen berühren zu wollen, was sich nicht fassen und greifen läßt“. Wenn wir den Bogen des Pendels über den linken Rand der Seite verfolgen, auf dem das Gedicht „Physikalische Optik II“ inzwischen in seiner Endfassung steht, finden wir eine Notiz, die uns der Autor, gleichsam um weiteres Licht auf die Genese des Gedichts zu werfen, ,mit wenigen Strichen‘ zu stehen kommt, bricht sein Kreisen in eine bei jedem Mal andere Spirale aus. Ähnlich entsteht auch ein Gedicht: sein Impetus enthält im Mäander der Form immer wieder neue, unvorhersehbare Anstöße, bis es schließlich seine Mitte erreicht.“ Für Schrott verrät eine solche Glosse oder Marginale, die sich in der Nähe – meist als scheinbare Randbemerkung auf der gegenüberliegenden, nächsten oder vorigen Seite – eines Gedichts aufhält, die Spur einer „Suchbewegung“. Derartige Spuren hinterlassen die Fluchtbewegungen des Pendels hin zur Peripherie, das sozusagen den Schweif verschiedener Wissensgebiete oder anderer Materialien durchkreuzt, bevor seine Bahn wieder zum Herzen oder Anziehungspunkt der Zeilen zurückgelenkt wird, um von dort aus erneut in Bewegung zu geraten.
In einem Passus des bereits erwähnten Essays „Die Musen“ denkt Raoul Schrott über das Wechselwirken der verschiedenen Quellen, Einflüsse, lexikalischen Felder, Zufälle des Lebens und des Lesens nach, die beim Entstehen eines Gedichts zusammenkommen. Seine Feststellungen über das Verhältnis von Metapher und Inspiration ziehen einen Spannungsbogen zu jenen suchenden, integrativen Schwingungen des Pendels in „Physikalische Optik II“:
Das Gedicht ist eine Schnittstelle, wo sich die Koordinaten des Raumes und der Zeit, alle Kategorien des Wissens und der Augenblick der Intuition mit der historischen Dimension des Ortes und der Etymologie der Wörter überkreuzen; seine Logik liegt gerade in den Koinzidenzien, den sich überschneidenden Bedeutungsfeldern, die um diesen Mittelpunkt oszillieren. Das Gedicht baut auf der paradigmatischen Achse auf, es verknüpft keine Metonymien zur Prosa, es folgt keiner äußeren Dynamik, sondern bündelt sie in einem einzigen Momentum, einem Rhythmus, einem Bild; sein Ort ist das tertium comparationis der Metapher. In ihr steht es nach außen still, obwohl es innen vibriert, mit poetischen Energien aufgeladen. Ein Gedicht bewahrt so den Augenblick der Inspiration, wie es durch ihn gleichzeitig die Dimension der Zeit in seinem sich an ihn Erinnern begreift; es geht von ihm aus und kommt gleichzeitig immer wieder auf ihn zurück.
Den „Ort“, dem diese Sätze eine Schlüssel- und Schaltfunktion im Gedicht zuschreiben – „das tertium comparationis der Metapher“ −, besuchen fast alle Schriften Raoul Schrotts, die sich mit der Entstehung oder der Funktion der Poesie befassen. Von der „Komplementarität“ der Quantenphysik bis zur Erfindung des Klettverschlusses sind es immer jene Schwingungen – analog zum oszillierenden Pendel einer poetischen Komposition −, die „das Hologramm der Metapher“ bestimmen und (im Sinne einer „Transaktion zwischen Kontexten“, einer Domänen übergreifenden konzeptionellen Übertragung oder einer Überblendung semantischer Felder) jedem kreativen Akt zugrunde liegen. Laut Schrott bildet die Metapher – oder vielmehr bilden jene subjektiven und neuronalen Prozesse, aus denen die Metapher hervorgeht – das Herzstück wissenschaftlicher Entdeckungsfreude sowie einen Motor sprachlicher und sozialer Entwicklung. So wird eine Schlüsselfunktion der Poesie (Metapher, semantische Überlagerung usw.) als pragmatischer Grundstein menschlicher Entwicklung und die Katachrese („in der ein uneigentlich gebrauchtes Wort die eigentliche Bezeichnung dessen ist, wofür es keine gibt“) als wesentliches wissenschaftliches Erkenntnisinstrument postuliert:
(…) jede Erfindung, jede Entdeckung geht auf das Aha-Erlebnis des Archimedes in seiner Badewanne zurück, die Einsicht, daß etwas wie etwas anderes ist (…). Ja, mehr noch: dieses x = y ist der einzige sinnstiftende Mechanismus, über den wir verfügen. Mit ihm haben wir unsere Welt benannt und begreiflich gemacht. Von uns, unserem Körper ausgehend, haben wir uns mittels Metaphern die Dinge rund um uns zu eigen gemacht: vom Tischbein bis zum Bergfuß. Weil wir gar nicht in der Lage sind, uns etwas auszudenken, das es nicht gibt. Denn alles neu Erfundene ist immer aus Altem zusammengesetzt, und alles neu Entdeckte erschließen wir uns erst durch den Vergleich mit bereits Bekanntem (…). Und die Disziplin, die sich zentral damit auseinandersetzt, das ist die Poesie.
Wäre da nicht die Betonung der spezifisch heuristischen Funktion der ,verkörperten‘ Metapher („Von uns, unserem Körper ausgehend“) als Motor sowohl des poetischen Schreibens als auch der Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen sowie der Sprach- und Bewusstseinsentwicklung, kämen wir möglicherweise nicht umhin, Schrotts beeindruckendes Repertoire an natur- und ingenieurwissenschaftlichen Metaphern für alle Vorgänge der Dichtung (Mechanismus, Oszillation, Quanten der Metapher, Pendel, Voltaelement, erkenntnistheoretische Maschine, Lichtexperiment, Erkenntnisinstrument, Messwerte der Wellenmechanik, Interferenz usw.) als Indiz für eine Poetik zu vermuten, die im Sinne einer romantischen oder modernistischen Faszination oder Verklärung den semantisch verführerischen Lexika der Naturwissenschaften verfallen sei. Doch Schrotts Beschäftigung mit der Metaphorik der Naturwissenschaften hat eine andere Bewandtnis, eine aufregendere, vielleicht auch folgenreichere, weil sie das Modell einer parasitären Poetik auf den Kopf stellt: Sie wirft die Frage auf, ob nicht die Poesie (kraft ihrer heuristisch-metaphorischen Kernfunktion), statt als Epigone sinnstiftender Bilder aus dem Reich der Wissenschaften betrachtet zu werden, vielmehr als der Stifter jener Bilder anzusehen sei.
Wenden wir uns zum Schluss einem aufschlussreichen Passus aus Paul Valérys Essay „Propos sur la poésie“ (Rede über die Dichtkunst) zu, den – wenn wir mit Gaston Bachelard übereinstimmen, dass nicht das Vergangene in der Gegenwart, sondern vielmehr die Gegenwart im Vergangenen ihren Widerhall findet – die Ausstrahlung der bereits angeführten Passage aus „Die Musen“ ins „Oszillieren“ bringen müßte: „Stellen Sie sich ein Pendel vor, das zwischen zwei symmetrischen Punkten hin- und herschwingt. Verbinden Sie mit einem dieser Punkte die Vorstellung der dichterischen Form, der Gewalt des Rhythmus, der Klangfülle der Silben, der physischen Wirkung des Vortrags, der elementaren psychologischen Überraschungen, die Ihnen die ungewohnten Zusammenstellungen der Wörter verursachen. Verbinden Sie mit dem andern Punkt, der dem ersten zugeordnet ist, die intellektuelle Wirkung, die Visionen und Gefühle, die für Sie den ,Gehalt‘ und den ,Sinn‘ des gegebenen Gedichtes darstellen, und beobachten Sie dann, wie die Bewegung Ihrer Seele oder Ihrer Aufmerksamkeit, wenn sie von dem Gedicht beherrscht wird, gehorsam einer Abfolge von Impulsen unterworfen ist, die von der Sprache der Götter ausgehen (…); aber dann geschieht es, daß dieses lebendige Pendel bei jedem Vers zu seinem verbalen und musikalischen Ausgangspunkt zurückgelenkt wird. Der Sinn, der sich anbietet, findet als einzigen Ausweg, als einzige Form jene, aus der er hervorgegangen war. So zeichnet sich zwischen Form und Inhalt, zwischen dem Klang und dem Sinn, zwischen dem Gedicht und dem poetischen Zustand eine hin- und herschwingende Bewegung ab, eine Symmetrie, eine Gleichheit von Werten und von Vermögen.“
Valéry nennt diesen Austausch „das Grundprinzip der dichterischen Mechanik“, und seine durch die Schwingbewegungen des Pendels erzeugte „Gleichheit von Werten“, auch wenn sie zunächst keine heuristische Funktion im Schrott’schen Sinn kennzeichnet, greift auf jene äußere Stille des Gedichts bei Schrott vor, das aber gleichzeitig, mit „poetischen Energien aufgeladen“, innen „vibriert“ – auf jene Doppel- oder vielmehr Schnittstelle also, an der „der Augenblick der Inspiration aufbewahrt“ wird: das „tertium comparationis der Metapher“. Bei Valéry, für den der Metapher ein „zögerliches Tasten zwischen verschiedenen, möglichen Gedanken“ zugrunde liegt, wie für Celan mit seiner Infragestellung der „Meisterschaft“, geht es bei der Entstehung des Gedichts offensichtlich weniger darum, dass ein Dichter ein „Meister der Metapher“ (Aristoteles) sein sollte, also weniger um auktoriale Beherrschung der Sprache oder Ausdruck vorgefertigter Gedanken in Worten, als vielmehr um etwas, was jener eingangs erwähnten ,negativen Befähigung‘ von Keats gleichkommt, jener Fähigkeit also, „das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen“: schließlich um einen ambivalenten Zustand, in dem der Dichter von den heroischen Benennungsversuchen der „Tropen“ durchaus wie von „den hologrammen einer ohnmacht“ berührt werden kann. Erkennen wir als Leser in diesem Spannungsverhältnis des Gedichts auch seine „Wahrheit“ und damit auch jene Qualität, die Hesiods Musen als ihre wertvollste Gabe anführten, so nehmen wir vielleicht etwas wahr, das mit Perfektion oder Vervollständigung des Kunstwerks weniger zu tun hat („Die Perfektion ist etwas zu Ende Gebrachtes; die Wirklichkeit ist es nicht“), als vielmehr mit seiner Metaphorizität. Das Gedicht versucht etwas zu sagen, was nicht gesagt werden kann, und um diese Aufgabe anhand des Sagbaren zu erfüllen, muß es – nach Schrott – eine paradoxe Gleichung ins Schwingen bringen:
So wie es bei einer Metapher eine schlagartig einleuchtende Hälfte gibt und eine zweite, mit der etwas Unauslotbares beginnt, nicht mehr zu Ende Denkbares, bereits schon Metaphysisches. Darin liegt nun die wahre Leistung des Gedichts, daß es beim Versuch, Welt darzustellen, aufzeigt, daß das Paradoxale bereits dort beginnt, wo – wie in der Metapher – zwei Worte aufeinanderstoßen. Das ist seine Wahrheit: zu zeigen, wo das Widersprüchliche entsteht und wie.
Iain Galbraith
− Raoul Schrott: Gedichte
− Iain Galbraith: Raoul Schrotts Poetik der Metapher
− Wendy Skinner: Zwischen „parenthesen des sandes“. Die Wüste als literarischer Ort in den Gedichten Raoul Schrotts
− Stefan Höppner: Ultima Thule im Südmeer. Raoul Schrotts Tristan da Cunha als utopischer Roman (mit einem Seitenblick auf Finis Terrae)
− Daniel Rothenbühler: „die natur kennt keine schrift“. Raoul Schrotts Dialog mit den Naturwissenschaften
− Franz Josef Czernin: Über die Übertragbarkeit der Welten. Dialog für und wider Raoul Schrotts ,kognitive Poetik‘
− Torsten Hoffmann: Rolle vorwärts, Rolle rückwärts. Raoul Schrott und Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux
− Michael P. Streck: Das Gilgamesch-Epos in der Übersetzung und Nachdichtung von Raoul Schrott
− Dorothea Dieckmann: Kunstgriffe und Gemeinplätze. Raoul Schrott als Kritiker seiner Kritiker
− Aniela Knoblich: Raoul Schrott – Auswahlbiografie
gehört zu den produktivsten, vielseitigsten und umstrittensten Schriftstellern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Der 1964 geborene, unter anderem in Tunis aufgewachsene Österreicher wurde einem größeren Publikum durch seine Anthologie Die Erfindung der Poesie (1997) bekannt, in der er zumeist unbekannte Gedichte aus vier Jahrtausenden und zahlreichen Sprachen ins Deutsche übersetzt hat. Seine Gedichtbände wurden mehrfach ausgezeichnet, und für seinen umfangreichen Roman Tristan da Cunha (2003) wurde Schrott von der Kritik viel gelobt. Darüber hinaus bewegt sich der habilitierte Literaturwissenschaftler in zahlreichen Essays auf kulturgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Feldern – was ihm nicht nur den Ruf des „gelehrten Dichters“, sondern auch den Vorwurf des Dilettantismus und der Hochstapelei eingebracht hat. Der Band enthält bisher unveröffentlichte Gedichte Raoul Schrotts. Die Beiträge stammen von Literatur- und Kulturwissenschaftlern, Schriftstellern und Kritikern. Sie widmen sich neben dem lyrischen und erzählenden Werk unter anderem Schrotts Umgang mit den Naturwissenschaften, seiner Poetik der Metapher, seiner Petrarca-Rezeption, seiner Gilgamesch-Übersetzung und seiner Auseinandersetzung mit (seinen) Kritikern.
edition text + kritik, Ankündigung
– Gespräch mit Raoul Schrott. –
Ich traf Raoul Schrott am 16. September 2015 im Dresdner Café Neustadt. Am Abend nach unserem Gespräch stellte er im Dresdner Stadtmuseum seine Übertragung von Hesiods Theogonie vor. Das Dresdner Publikum war interessiert, jenen gelehrten Poeten kennenzulernen, dessen Bücher über das Gilgamesh-Epos und Homer die Altphilologen so sehr in Rage gebracht hatten, den Lesern aber stets reiche Geschenke waren. Während der restlos ausverkauften Lesung konnte man eine Ahnung davon bekommen, was mit dem Raoul Schrott von Neidern zugeschriebenen Talent der Selbstinszenierung gemeint sein konnte. Es war alles perfekt an dieser Inszenierung ältester griechischer Dichtung. Das Publikum schien wie hypnotisiert, man hätte ein Streichholz fallen hören können. Schrott bewirkte dies allein mit dem Einsatz seiner Stimme und durch die Klarheit seines Vortrages. Alles schien dem Bemühen untergeordnet, sich so unmissverständlich wie nur möglich auszudrücken. Ich begriff an diesem Abend auch, dass die ihm von den Hütern toter Sprachen vorgeworfenen Freiheiten beim Übersetzen frühester Dichtung wohl dem gleichen Bemühen entsprungen sein mussten. Er wollte uns diese Dichtungen verständlich machen und sie uns als etwas Lebendiges vorstellen.
Axel Helbig: Als Literaturwissenschaftler hatten Sie sich zunächst mit dem Phänomen DADA und mit den Surrealisten beschäftigt, auf diesem Gebiet auch promoviert. Schon kurz darauf kam eine Hinwendung zur frühesten Literatur, vor 5.000 Jahren beginnend. In Die Erfindung der Poesie haben Sie uns Enheduanna, die früheste heute bekannte Dichterin (2400 v.Chr.), nahe gebracht, später das Gilgamesh-Epos. Wie kam es zu diesem weiten Sprung zurück?
Raoul Schrott: DADA war das Ergebnis meines Literaturstudiums in der vergleichenden Literaturwissenschaft. Ich hatte damals in Norwich, wohin W.G. Sebald mich gelockt hatte, Seminare bei Richard Sheppard absolviert. Er hatte mich in der Folge in London mit dem damals 103-jährigen Wilhelm Simon Guttmann bekannt gemacht, der im Umfeld des Cabarets Voltaire in Zürich auftauchte und der Begründer des Neopathetischen Cabarets in Berlin war, der Entdecker Georg Heyms. Ihn zu treffen war wie ein Handschlag mit dem letzten Jahrhundert, der mich zur intensiven Beschäftigung mit DADA führte. DADA hatte mich weniger wegen der Unsinns-Ebene interessiert, sondern wegen der existentiellen Haltung, die dahinter zu erkennen war. Aber auch das Nebeneinander von Ratio und Irrationalem in einem vom Futuristischen geprägten maschinellen Zeitalter. Da das Ich zu behaupten, in all seinen Widersprüchlichkeiten. Und der Kunst den Rang abzusprechen, den sie bis zum Ersten Weltkrieg hatte. Wo sie letztlich zur Fassade verkommen war, und mit ihr die Sprache. Dieses Neuschöpferische von DADA, eine neue Sprache zu finden, einen neuen Ausdruck zu finden für das Humane. Das hat mich sehr interessiert. Sowohl das Triebhafte wie das Getriebene, sowohl das intellektuelle Spiel als auch die Provokation. Eine sehr kynische Richtung könnte man sagen – Diogenes in der Tonne oder Diogenes, der mit der Laterne in der Hand untertags auf dem Marktplatz kluge Leute sucht. Der Einfluss von DADA war sehr groß. DADA hat die Performance begründet. DADA hat das Happening begründet. DADA hat die Installation begründet. DADA hat das Sampling begründet, die Collage, das Readymade, das Absurde Theater. In Österreich war DADA nicht unwichtig als Einfluss auf die Wiener Gruppe. Meine ersten Gedichtbände waren von diesem surrealen Sprachgestus getragen. Im wörtlichen Sinn getragen, um zu sehen, wie weit man mit den Worten kommen kann, welche Räume ich mit der Assoziationsfähigkeit der Worte aufbauen kann. Das hatte mich dann aber sehr schnell nicht mehr interessiert, weil es ein reines Sprachspiel blieb, weil es epigonal war. Mich hat dann mehr eine andere Frage interessiert: Was ist Poesie? Dann: Wer hat das Gedicht erfunden? Wer hat die Strophe erfunden? Warum ist das Gedicht erfunden worden? Wer waren die ersten Dichter? Wie haben sich die Formen herausgebildet? Wer hat die Metapher erfunden? Meine Habilitationsarbeit beschäftigte sich mit dem Thema „Poetiken von der Antike bis in die Gegenwart“. Über die Troubadours des Mittelalters bis hinauf zu Derek Walcott. Das war eine Art Lehrlings- und Gesellenarbeit. Denn was ein Dichter in allererster Hinsicht tut, ist der Versuch, Tradition zu verkörpern, um sie lebendig zu halten. Was er selbst an Eigenem dazugeben kann, ist immer nur ein kleiner Teil. Das Berufsbild des Dichters umfasst für mich das Aufarbeiten der Tradition, das Lernen an der Tradition. Da ist das Übersetzen eine wichtige Nebenbeschäftigung, über die man sich das Handwerk aneignet. Weil man sich mit sehr vielen fantastisch guten Dichtern auseinandersetzen kann. Noch heute ziehe ich den Hut vor Properz, Homer, den ersten Troubadours. Oder dem Walisischen Dichter Dafydd ap Gwilym aus dem 14. Jahrhundert, einem der handwerklich perfektesten und zugleich pfiffigsten, sprachmächtigsten und fantasiereichsten Dichter, die ich kenne. Man liest als Übersetzer weitaus genauer, da man Wort für Wort umsetzen will und dafür erst einmal hinter den Sinn kommen muss. Und zwar den damaligen Sinn. Da bei jedem Gedicht sehr viel zwischen den Zeilen steht, muss man zunächst die zeitbezogenen Realien und Kontexte ausloten, um alle Anspielungen des Gedichts nachvollziehen zu können. Erst dann kommt es zur Nachahmung im Deutschen. Nur jene Übersetzung eines Gedichts, die selbst ein Gedicht ist, hat Wert. Sonst liefert man nur eine Inhaltsangabe mit Fußnoten. Das war ein Lernprozess, bei dem ich u.a. die früheste sumerische Dichtung entdeckte. Das hat mir einen Überblick verschafft, den ich nicht missen möchte. Ich habe bei der Übersetzung dieser frühen Gedichte sehr viel Handwerkliches gelernt, vor allem in der Rhetorik, welche Möglichkeiten für die Umsetzung eines Gedankens, eines Bildes, eines Einfalls es gibt, welche Stilmittel, welche Sprach- und Denkfiguren es gibt.
Helbig: Ich habe die Anthologie Die Erfindung der Poesie, die ebenfalls ein Ergebnis dieser Anstrengungen war, seinerzeit als ein großes Geschenk begriffen. Die Begegnung mit Enheduanna war durch den Reichtum dieser Texte sehr überraschend. Es ist klar, dass diese uns bekannten frühesten Gedichte bereits auf einer reichen und langen, vermutlich oralen Tradition fußen müssen.
Schrott: Ja, einer oralen Tradition. Der maßgebliche Grund, weshalb Dichtung erfunden wurde – in einer Zeit, in der es noch keine Schrift gab (3.000 v.Chr.) –, war, dass man sich etwas merken wollte. Die einzige Möglichkeit, sich etwas zu merken, war, Sprache musikalisch zu binden. Das hängt damit zusammen, dass Sprache und Musik in zwei verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet werden. Von ihrer Struktur her sind Sprache und Musik sehr ähnlich – da die Töne, dort die Silben, Akkorde, Idiomatik, Sprachmelodien. Musikalisch gebundene Sprache stellt dabei quasi die doppelte Speicherkapazität zur Verfügung. Aus diesem Grund ist Poesie erfunden worden. Sie hat sich jedoch mit der Schrift verändert. Der vorherige auf das orale Zuhören bezogene Stil, mit seinen Parallelismen, mit seinen Redundanzen, hat sich dann auf das wie ein Objekt fixierbare Wort verlegt. Ab da versteht man unter Poesie den genauen Umgang mit Worten, die Suche nach der richtigen Nuance, die Akribie im Umgang mit Worten.
Helbig: Vermutlich kommt auch der Reim aus der oralen Tradition?
Schrott: Ich habe vor ein paar Jahren gemeinsam mit Arthur Jacobs, einem Neurowissenschaftler an der Freien Universität in Berlin, ein ganzes Buch über all diese Fragen geschrieben, auf die nirgendwo Antworten zu finden waren (Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren). Dabei zeigte sich, dass das, was – Poesie produziert, nicht eine Reihe von mentalen Fehlschlüssen, nichts Artifizielles ist, sondern wesentlich in unserem Denken angelegt ist. Wenn ich ein Gedicht auf die kürzest mögliche Art definieren soll, dann sage ich: Ein Gedicht präsentiert Bilder in Sprache, musikalisch gebunden. Bild – Sprache – Musik. Alle drei sind wesentlich für unser Denken. Wir denken zur Hälfte in Bildern. Das Gedicht präsentiert semantische Aussagen, gleichzeitig tut es dies in musikalischer Form. Das ist auch der Grund, weshalb gute Gedichte relativ selten sind. Weil diese drei Elemente miteinander verknüpft sein wollen. Das Ganze soll sich gegenseitig herausarbeiten, um der Aussage Gestalt zu geben. Musik ist körperliches Denken. Unser Lidschlag, unser Herzschlag, unser gesamtes Gehen ist auf Rhythmus abgestimmt. Dann gibt es das bildliche, das vorsprachliche Denken, und dazu noch das sprachliche Denken. Alle drei in einem Objekt verknüpfen, das kann Poesie. Das kann keine andere Kunstgattung leisten. Unser Gehirn ist prädiktiv darauf ausgelegt, Situationen, die gefährlich werden könnten, vorwegzunehmen. Es versucht die ganze Zeit, Voraussagen zu treffen. Sprache ist im Gehirn nicht lexikalisch abgespeichert, sondern nach Klangfiguren. Beides hat damit zu tun, dass, wenn wir z.B. ein Wort hören, welches mit K beginnt, das Gehirn sofort ansetzt, Vorschläge zu unterbreiten, was da für ein Wort kommen könnte, um gewappnet zu sein für die Aussage – je nach eigenem und kulturellem Horizont des Menschen: Kap, Kapital, Kapitell, Kapitel etc. Das ist die Grundbedingung für den Reim. Denn in dem Moment, wo ich weiß, dass es sich um ein Grundwort am Ende eines gereimten Gedichtes handelt, habe ich alle möglichen klangähnlichen Worte mit angetippt. Die Leistung des Gedichts ist dann, entweder diese Erwartungshaltung auf überraschende Art und Weise zu erfüllen oder diese Erwartungshaltung zu brechen, indem ich plötzlich mit einem ganz anderen Reim daherkomme, an den keiner vorher gedacht hat. Das ist letztlich die Geschichte des Reims. Der natürlich auch Erinnerungsfunktion hat, denn ein einmal wachgerufenes Wort bleibt ca. drei Sekunden präsent. Daran schloss sich für uns die Frage an: Warum sind die Gedichtzeilen so kurz? Das Einzige, was ich je darüber gefunden hatte, war ein Hinweis in der Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics: Die Verslänge hat die ideale Länge für den Atemrhythmus. Das ist völliger Blödsinn, denn wir können mit einem Atemzug ungefähr sechzig Silben von uns geben. Die durchschnittliche Verslänge weltweit liegt bei zwölf Silben. Das entspricht in etwa der Länge in Schillers „Glocke“. Die Neurologie sagt an dieser Stelle: Zwölf Silben ausgesprochen sind etwa drei Sekunden, und drei Sekunden ist das Fassungsvermögen unseres Arbeitsspeichers. Das heißt, während unseres Gesprächs verpacke ich oben im Gehirn Informationen in Drei-Sekunden-Paketen, die unten bereits artikuliert werden. Wenn ich zuhöre, sequentiere ich das im Drei-Sekunden-Takt, und dadurch ergibt sich der Vers in einer idealen Verpackungsgröße von Information. Das heißt eine Brechung sollte einem gewissen Sinn folgen. Die Mode, die Zeilen irgendwie typografisch auf dem Blatt zu verteilen, wird dem, was eine Verslänge sein soll, nicht gerecht, sondern wischt ziemlich oberflächlich über die mentale Disposition hinweg. Diese Untersuchung hat mir sehr viel gebracht an Verständnis, was Poesie ist, wie sie arbeitet, über welche Mittel sie verfügt.
Helbig: Ihre Übertragung des Gilgamesh-Epos hat diesen Mythos für viele heutige Interessierte erschlossen, denen die bis dahin verfügbaren rein philologischen Übertragungen zu trocken erschienen sind. Ihnen selbst haben diese neuen Übertragungen des alten Mythos einen Philologenstreit eingebracht. Im Falle von Shakespeare scheint es einen Konsens zu geben, dass diese kräftige und poetische Sprache immer wieder neu übersetzt werden sollte, um ihre Wirkung auf nachfolgende Generationen entfalten zu können. Warum wird das bei den Altphilologen anders gesehen?
Schrott: Bei den meisten Gräzisten resultiert diese Auflehnung einfach aus Kleingeisterei. Ich betrete ja ihren Schrebergarten nicht. Aber ich muss es anders sagen: Ohne die philologische Arbeit, welche die jeweiligen Disziplinen liefern, könnte ich gar nicht arbeiten, weil ich ja kein Sprachwissenschaftler bin. Die Texte des Gilgamesh-Epos müssen ja zunächst aus der Keilschrift transskribiert werden. Dann müssen diese Texte interpretiert werden. Es muss ein Vokabular erarbeitet werden. Das kann ich gar nicht. Meine jeweilige Sprachkenntnis begnügt sich damit, zu begreifen, wie diese Poesie funktioniert, wo das Klangelement hereinkommt, wie die Metaphern funktionieren. Ich habe einen Zugang zu dieser Sprache, ohne für eine Übersetzung selbst philologische Recherchen machen zu müssen. Eine Übersetzung kann dabei zweierlei sein: akademisch oder literarisch. Eine akademische Übersetzung erklärt das Gedicht wie eine Art Rezept – diese und jene Inhalte sind so und so zusammengebaut. Eine literarische Übersetzung – mit den Mitteln der Sprache hier und jetzt – muss diese Ingredienzien jedoch wieder in eine Form umsetzen. Denn das, was die Menschen damals unter diesem Text verstanden hatten, war ja unmittelbar eingängig. Das war die damalige Dichtungssprache. Die Sprache in einem akademischen Zustand zu belassen, würde uns lediglich einen wissenschaftlichen Zugang verschaffen. Das Gedicht als Konstrukt, als Form, als Sprache, als Diktion, muss jedoch erst wieder realisiert werden. Das heißt, man muss dieses Gedicht nicht nur aus der geografischen zeitlichen Ferne übertragen, aus einem Kulturhorizont von vor 5.000 Jahren, sondern es auch neu realisieren, in einer anderen Sprache. Wenn ich eine Speise aus einer früheren Kultur schmackhaft nachkochen will, reicht es nicht, alle Bestandteile und Gewürze zu kennen. Oft muss ich heutige Gewürze verwenden, um die Speise genießbar auf die Speisekarte zu setzen. Das Ziel ist es, die Speise so nachzukochen, dass es das gleiche Geschmackserlebnis wird. Sich über diesen Vorgang aufzuregen, ist ignorant. Mit kleingeistig meine ich, dass es am Literaturverständnis völlig fehlt. Gräzisten sind gut in Grammatik, bei der Literaturinterpretation sind sie jedoch auf dem Stand des 19. Jahrhunderts. Ich kenne keine Arbeit in der deutschen Gräzistik der letzten 30 Jahre, die in der Lage ist, moderne Arten der Textinterpretation anzuwenden, um aus den Texten das Literarische herauszuholen. Das ist von der Methodik her alles veraltet. Da kann ich mich als Komparatist berufen fühlen, mich mit der eigentlichen – und auch der geschichtlichen – Thematik auseinanderzusetzen. Vor allem auch, weil es das Griechische ja erst seit dem 3. Jh.v.Chr., ab der hellenistischen Zeit gibt. Vorher – wenn wir vom Gilgamesh-Epos reden, wenn wir von Homer und Hesiod reden – nährt sich das Griechische von seinen orientalischen Wurzeln. Denn dort waren die Hochkulturen, die von den Griechen assimiliert wurden, bis es dann zu Platon und Aristoteles kommen konnte. Die Zeit davor ist geprägt von einem Kulturtransfer von Ost nach West.
Helbig: Hesiod hat eine „Initiation durch die Musen“ erfahren. Was waren die Musen damals, verglichen mit unserem heutigen Verständnis?
Schrott: Wenn man Hesiods Theogonie liest, die den Musenkult begründet hat, so sieht man, dass die Hauptaufgabe der Musen war, die Gesetze zu überbringen, das Ethos einer Gesellschaft. Bei Hesiod gab es die drei höchsten männlichen Götter – Zeus, Poseidon und Hades –, die sich die Welt aufgeteilt hatten – Himmel, Erde und Unterwelt. Diesen stand eine weibliche Göttin gegenüber. Diese wird einmal Themis genannt, die Göttin der Gerechtigkeit, ein anderes Mal Harmonia – die Ordnende, Fügende. Oder sie wird „die Muse“ genannt – im Singular. Jedesmal geht sie zurück auf die höchste hethitische Göttin, die Hepate genannt wurde – und ,Musuni‘ – ,die Ordnende, Fügende‘. Deren Funktion war die Rechtsprechung, sowohl um göttliche Gesetze zu überbringen, als auch, um dem Herrscher die nötigen rhetorischen Fähigkeiten zu verleihen, damit dieser seine Urteile so verpacken kann, dass das Volk sie akzeptiert. Diese Gabe, die Gabe der Rechtsprechung, nennt Hesiod die Gabe der Musen, die sie den Menschen verleihen. Gleichzeitig – und dies ist ein spannender Vorgang des Kulturtransfers – stand die Muse Orakeln vor. Die Orakel waren verbunden mit der Unterwelt. Warum? Weil in der Unterwelt die Toten sind. Sie wissen über die Vergangenheit Bescheid. In dem damaligen Weltbild, wo alles festgeschrieben ist, kam alles Übel aus der Vergangenheit. Um also zu wissen, wie die Zukunft sein wird, musste man über die Vergangenheit Bescheid wissen. Daher müssen die Toten aus der Unterwelt heraufgeholt werden, um ihre Orakel zu verkünden. Dieses Verkünden hat eine lautmalerische Dimension. Weil dies in Naturorakeln geschah: das Rauschen des Windes in den Bäumen wurde gedeutet, das Dröhnen von Steinen, die man anschlug. Es gab also so etwas wie ein dadaistisches Lautgedicht, das von einem Propheten interpretiert worden ist. So kam eine ästhetische Dimension hinein. Deswegen singen die Musen – im Plural – von dem, was in der Vergangenheit war, was ist und sein wird. Und weil sie einen Zugang zur Vergangenheit haben, erzählen sie in der Theogonie auch die Entstehung des Alls, der Götter und der verschiedenen Göttergenerationen. Hesiod spricht in diesem Zusammenhang vom Erklingen der Stimmen der Musen, von einer Ekstase des Orakels, bei denen sie mit den Füßen stampfen. Themis, die Recht sprechende Göttin, tritt im Zuge der Übernahme des Mythos durch die Griechen völlig in den Hintergrund. Da die Griechen die Frauen generell nicht wertschätzten, ist deren Rolle untergraben worden. So entstand dieser Text, bei dem von Verkünden die Rede ist, aber nicht mehr mit Bezug auf die Ursprungs-Gottheit. So kam diese ästhetische Dimension hinein, die sich im griechischen Kulturverständnis dann langsam weiter entwickelt hat. Das Singen rückt in den Vordergrund. Hesiod kennt neun Musen, in seiner Nachbarstadt gibt es drei mit völlig anderen Namen. Das Musenbild, welches wir heute im Kopf haben – Kalliope zuständig für das Epos, Thalia für die Komödie, Erato für das Liebeslied usw. –, hat sich erst in der Renaissance ausgeformt. Das war ein langer Entwicklungsprozess, bei dem am Anfang die Rechtsprechung stand. Das ist schön für die Poesie, dass sie irgendwann einmal das legalisierende Element war.
Helbig: Hesiod greift für den in der Theogonie dargestellten Schöpfungsmythos auf die gleichen Quellen zurück wie Homer für die Ilias. Im Nachwort zur Ihrer Übertragung der Theogonie setzen Sie sich mit diesen Quellen dezidiert auseinander. Sie sagen: „Kennt man die Vorlagen, liest man die ,Theogonie‘ wie ein Palimpsest.“ Ein Ergebnis Ihres Quellenstudiums ist die Versetzung des Olymps in den vorderasiatischen Raum. Damit scheint der nächste Philologenstreit vorprogrammiert?
Schrott: Ja, ich hatte in der Tat erwartet, dass es wieder zu Diskussionen kommen würde. Aber die Gegenseite war völlig still, da bereits seit 50 Jahren bekannt ist, dass Hesiod drei verschiedene Zyklen des Nahen Ostens wiedergibt und sie ins Griechische bringt. Was ich aber zeigen konnte ist, dass all diese Mythen – drei verschiedene Schichten, der alte semitische Baal-Zyklus, der hethitische Kumarbi-Zyklus und darüber noch akkadische Mythen –, dass diese Göttergeschichten, die Hesiod präsentiert, ihren Sitz auf einem Berg haben, der heute an der türkisch-syrischen Grenze liegt, der so genannte Djebel al Aqra, der auch in der Bibel der Götterberg ist.
Hesiod ist im Hinterland von Euböa geboren worden. Euböa war zu dieser Zeit – etwa um 700 v.Chr. – der einzige Ort in Griechenland, wo kulturell etwas passierte. Athen und Sparta waren damals noch unbedeutend. Das Orakel in Delphi war gerade erst begründet worden. Euböa war reich, weil die Euböer Seefahrer waren.
Es lässt sich archäologisch eindeutig nachweisen, dass die Euböer damals einen Handelsort in Syrien besaßen, und zwar am Fuße dieses Götterberges. Das war zugleich die Voraussetzung für einen Kulturtransfer. Die Mythen des Djebel al Aqra kamen so nach Griechenland und wurden auf den Helikon und auf den Parnass verpflanzt. Parnass ist ein hethitisches Wort und heißt Götterberg. Man kann diese Handelsroute nachweisen, man kann auf Euböa auch sehr viele orientalische Tempel nachweisen. Das ist das Ergebnis eines etwa 100 Jahre währenden Kulturkontakts. Auf der griechischen Seite ist so eine adaptierte Fassung der östlichen Mythen entstanden. Ich hätte das Hesiod-Buch vor den Homer-Büchern herausbringen sollen, dann wäre Vieles deutlicher geworden. Denn Homer hat etwa 50 Jahre später genau in dieser kilikischen Ecke an der nordsyrischen Grenze gewirkt. Das war ein organisches Umfeld. Die Griechen hatten damals keine Rechtsprechung nach heutigem Verständnis. Wenn man Hesiod liest, merkt man, dass es ein völlig korruptes Land ohne Bodenschätze war, von armen Bauern bewirtschaftet. Diese verdingen sich dann als Wanderarbeiter oder als Spediteure mit ihren Schiffen für die Hochkulturen und tragen deren Wissen nach Griechenland. Ein ausgebildeter Komparatist mag eher in der Lage sein, diese Dynamiken zu überschauen, als ein Gräzist. Der Gräzist darf sich schon vom Fach her nicht in die Gebiete der Semitologen und Assyrologen wagen, ohne befürchten zu müssen, eine auf den Deckel zu bekommen. Deshalb ist es hochnotwendig, sich mit komparatistischen Mitteln dieses Umfelds anzunehmen. Damals gab es einen beständigen Kulturkontakt im gesamten Mittelmeerraum.
Helbig: Sie werfen den Gräzisten auch vor, dass sie mit den Assyrologen nicht richtig ins Gespräch kommen. Anders als die Archäologen und die Ethnologen, die über diesen Graben längst gesprungen seien.
Schrott: Den Archäologen und Althistorikern sind diese Zusammenhänge längst klar. Es sind lediglich diese paar Altgräzisten, die sich bis zu ihrer Emeritierung gegen diese Einsichten sperren werden. Die neue Generation von Gräzisten steht dem schon aufgeschlossener gegenüber. Im Neuen Museum in Berlin steht meine Theorie mittlerweile gleichberechtigt neben den anderen. Mehr kann man nicht verlangen. Ich bin jetzt sehr froh, weil ich durch die Arbeit an Hesiod eine ganze Reihe weiterer Argumente dafür liefern konnte, dass Homer in Kilikien gearbeitet haben muss, um an die Vorlagen für seine Texte heranzukommen. Das war eine schöne Bestätigung, die ich Jahre nach der Homer-Diskussion nachliefern konnte.
Helbig: Ich habe aus Ihrem Text gelernt, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen Hesiod und Homer gibt. Homer hatte direkten Kontakt zu den Originaltexten und konnte deshalb, wie man heute sagt, Textbausteine aus den alten Mythen in seine Ilias verpflanzen. Für Hesiod kann dies nicht nachgewiesen werden. Ist das wirklich eine Frage des Zugangs zu den Quellen oder nur eine Frage der unterschiedlichen Verarbeitung dieser Quellen?
Schrott: Es hat ein unterschiedlicher Zugang zu den Quellen bestanden. Die Übereinstimmungen zwischen der Ilias und dem Gilgamesh-Epos, dem Epos von Erra, dem Alten Testament und hethitischen Texten haben sich ja nur aufgrund der wörtlichen Übereinstimmungen feststellen lassen. Sonst hätten die Gräzisten von vornherein gesagt: Ja, das ist zu allgemein, das kann jeder erfinden. Man hat aber festgestellt, dass bei der Ilias nicht nur die Motive gleich sind, sondern die Sätze mitunter perfekt aus der jeweiligen Sprache übersetzt worden sind. Das setzt voraus, dass Homer damals Zugang zu den Originaltexten des Gilgamesh-Epos gehabt haben muss. Dieses Epos war damals nicht ein volkstümlich verbreiteter Text. Es handelte sich um ein in Tempelbibliotheken streng gehütetes Herrschaftswissen. Homer musste diese Sprache kennen, er musste die Keilschrift lesen können, und er musste einen Zugang zu den Tempelbibliotheken haben. Hesiod kam auf eine völlig andere Weise an diese Geschichten. Er war über die Handelsbeziehungen der Euböer mit diesen Mythen bekannt geworden. Auf Euböa sind die ältesten in Griechenland gefundenen semitischen Inschriften gefunden worden, die älteste gibt einen aramäischen Wortlaut in griechischen Buchstaben wieder. Hesiod stützt sich nicht auf Originaltexte, sondern mündliche Überlieferungen, aufbereitetes religiöses Wissen. Überliefert worden sind auch die Kulte für die jeweiligen Gottheiten. Er hört diese Geschichten und macht – wie Homer – etwas Griechisches daraus. Er wird ein Missionar. Hesiod als Dichter zu bezeichnen ist eigentlich falsch. Am besten vergleicht man ihn mit den alttestamentarischen Propheten – Jesaja etwa, der sein Zeitgenosse gewesen sein muss –, die Wahrheiten zu verkünden hatten. Auch Hesiod sagt: Mir haben die Musen die Wahrheit verkündet, ich sage euch jetzt, was die wirkliche Religion ist, wer die Götter sind, wer welche Funktion hat, an wen ihr euch wenden müsst und vor allem, wie ihr leben müsst, was das Ethos ist. Hochkultur mit ihrem ganzen Prestige wird transferiert in eine Kultur, die erst im Aufbau begriffen ist.
Helbig: Welche Verknüpfungen gibt es zwischen der Theogonie, der Ilias und dem Alten Testament?
Schrott: Es lässt sich gegenwärtig noch nicht sicher sagen, was zuerst da war. Es lässt sich jedoch ganz klar sagen, dass Ilias und Altes Testament überraschend viele wörtliche Parallelen aufweisen. Da ist der Kampf zwischen Aias und Hektor, der dem Kampf zwischen David und Goliath bis hinein in die Waffen entspricht. Da finden sich Zeilen in der Ilias, die sich in den Psalmen wiederfinden. Die Ilias beginnt, indem die Seuche des Heeres geschildert wird, eine Passage, die sich auch im Buch der Könige findet. Dort belagert das assyrische Heer Jerusalem. Der König von Jerusalem betet zu Gott. Dieser schickt den Erzengel. Am nächsten Tag wird das assyrische Heer von einer Seuche geschlagen. Mit ganz derselben Geschichte beginnt die Ilias. Die Belagerung von Jerusalem wird auf 676 v.Chr., die Niederschrift der Ilias auf ca. 660 v.Chr. datiert. Die Kiliker waren in dieser Zeit an Revolten gegen die Assyrer beteiligt. Ihre Verbündeten waren die Phönizier aus der Gegend rund um Jerusalem. Homer benutzt das gesamte assyrische Umfeld dieser Besatzungskulturen und baut daraus eine eigene Geschichte. Das Gleiche lässt sich von den Autoren des Alten Testaments sagen. Der assyrische Staatsapparat war so groß, dass viele Schreiber gebraucht wurden. Deshalb wurde eine ganze Menge Phönizier, also Aramäer, angeheuert, um diesen Apparat realisieren zu können. In diesem Zuge haben sich diese der assyrischen Mythen bedient, um sie für ihre eigenen Zwecke umzudeuten. Alles, was im Alten Testament steht, von der Schlange bis zur Geschichte der Sintflut, kommt aus dem orientalischen Raum. Das ist vor 100 Jahren in Deutschland bereits im so genannten Bibel-Babel-Streit durchdiskutiert worden. Schon damals musste man zur Kenntnis nehmen, dass die Sintflut-Geschichte keine Offenbarung des Herrn, sondern eine Abschrift aus dem Gilgamesh-Epos war. Dieses Wissen aus den alten Mythen wurde jedoch umgedeutet. Die biblische Sintflutgeschichte ist völlig anders angelegt als das Original. Im Original gibt es keine Sünde, da vermehren sich die Menschen nur zu sehr und kopulieren zu laut, dass die Götter davon gestört werden. In der Bibel wird daraus die Sünde der Menschen, die getilgt werden muss. Im Zuge dieser Umdeutungen ist die Bibel entstanden. Eines lässt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Die Bibel, die Ilias und die Theogonie kommen aus dem gleichen kulturellen Umfeld, wo verschiedene Kulturen – die hethitischen Kulturen, die semitischen Kulturen, das Assyrische, das Phönizische und das Ägyptische – aufeinander einwirken. Die Griechen vor allem, die sich in einer völligen Randstellung befunden haben, versuchten, es diesen Hochkulturen gleichzutun. Daraus entwickelt sich dann das griechische Wunder, welches in den Philosophen Platon und Aristoteles gipfelt. Das war ein Assimilierungsprozess, der sich über 300 Jahre hinweg vollzogen hatte, ehe das eine Eigendynamik entwickeln konnte.
Helbig: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Ostragehege, Heft 79, 10.3.2016
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken:
Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist… eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.
Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.
Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.
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