AUSSCHWEIFUNGEN UND VERWÜNSCHUNGEN
– Vorläufige Bemerkungen zu Motiven bei Sarah Kirsch. –
1 Von Raben und anderen Vögeln
Fliegen leichtfertige Bilder
Durch meinen Kopf prächtige Vögel
Sagen ins Ohr weshalb
Ich hier ging (…)
(„Landeinwärts“)
Das jähe und unvermittelte Miteinander von Sichtbarem und Unsichtbarem, Tatsächliches, wie es ständig neben uns geschieht, und Unwahrscheinliches, das wir nicht wahrhaben wollen, als eine einfach verwirrende, verwirrend einfache Wirklichkeit – ich erfahre sie so nur aus den Gedichten von Sarah Kirsch.
Die phänomenale Verwandlung von simpler Beobachtung in phantastische Vorstellung, von faktischer Realität in diesen imaginären Schwebezustand, Verwandlung, die wie durch eine bloße Bewegung der Hand, einen jähen Blickwechsel geschieht – bitte, keine künstlichen Tricks, keine falsche Poesie! –, indem sie dieses Verfahren direkt vor unseren Augen stattfinden läßt – übergangslos im Takt eines Verses, in einer Satzreihe ohne Punkt und Komma über die Zeilen hinweg oder sie abrupt brechend, gewagte Synkope – unsentimental, aber ohne ihren Gefühlen Zwang anzutun – Fernes durch einen Wink herangeholt, Naheliegendes wie auf Flügeln bewegt, ohne auch nur die Stimme zu heben – „Alles geschieht wie im wirklichen Dasein ein / Alltag der wahllos lebendig macht“ – wer käme ihr in deutscher Lyrik heute darin gleich?
Freilich kommen solche Fähigkeiten nicht von ungefähr. Wählen wir, willkürlich, wenn auch mit Bedacht, ein Gedicht aus dem letzten Jahr, das einem nachgehen kann.
VERSTOHLEN GEHT WIEDER DER MOND AUF…
Die Wolken zerrissen über dem Moorland
Das fahl wurde und still wie die Ewigkeit.
Der Wind trug aus allen Richtungen
Nächtliche Laute her Gekrächz
Auch von Raben die beugten vom First
Sich zu den Fenstern herab deren Spiegel
Kletterrosen bespannten sie sahen
Ihr Abbild kopfüber in einem Graben
Darunter die Wildheit des Himmels.
Die Raben vergaßen das Haus die
Blumen des Gartens schwarze Meteore
Schwebten sie auf Helgoland zu dess roter
Felsen wie ein Klavier im Packeis
Aus dem Eismeer aufragte viel schöner
Als in Italien der Heilige Stuhl mag sein
Daß ich etwas mit meinem Norden prahle –
Mir scheint es ich sage die Wahrheit
Schreibe mit unverdorbener Tinte.
Das Gedicht lebt vom frappierenden Wechsel seiner Perspektiven. Wir sehen – mit der Schreiberin – von ihrem Haus in norddeutscher Landschaft den Himmel durchs Fenster (gespiegelt in seinen Scheiben) und sehen ihn (aufblitzend in den Augen dieser Raben) gleich noch einmal (das heißt sie sieht in deren Augen deren Abbild im Wasserspiegel des Grabens) – wo ist da noch oben und unten, wer sieht hier eigentlich wen oder was, da alle brave Widerspiegelungstheorie Kobolz schießt?
Strophen- und damit Zeitsprung und Positionswechsel.
Wir sind längst nicht mehr auf sicherem Boden dieser aus Nahsicht aufgenommenen möglichen Naturereignisse, sondern bereits im Flug mit jenen Raben – meteorenschnell – hoch über der Nordsee im Winter (Vogelperspektive) und hören die Schreiberin zu diesem Kunststück erklären, daß sie – im Blick das nahegelegene Moorland, wie ein Stück Ewigkeit – also im Moment ihrer Niederschrift, ausgesetzt unbegrenzter Zeit aus Vergangenheit und Zukunft (Äonen sagten früher die Dichter), die Wahrheit sagt, und nicht nur ihr scheint das so, denn die seltsame Begebenheit spielt sich nicht bei klarem Tageslicht ab, das keine Sinnestäuschung erlaubte, sondern im zwielichtigen Schein eines aufgehenden Mondes, der Gewißheit und Ahnung großzügig gestattet.
Natürlich habe ich mit einer solchen Wiedergabe nur eine platte Prosaübersetzung versucht, auch jede andere Version würde letztlich darauf hinauslaufen, begebe ich mich nicht unwillkürlich auf das weite Feld subjektiver Deutung des Gedichts, das mir doch vor allem durch den Bildeinfall merkwürdig wurde, der die Insel Helgoland bizarr als rotes Klavier auf dem Eis sieht, so daß sie seitdem so in meinem Gedächtnis bleibt; wie sich der Heilige Stuhl – dachten wir ihn tatsächlich bisher nur als abstrakte Instanz? – durch diesen exorbitanten Vergleich als greifbarer Stuhl zeigt, nach dem unbescheidenen Wunsch der Autorin gewiß nicht so imponierend wie dieses in ungewohnter Umgebung placierte rote Klavier (die ferne Insel im Eis als vertrautes Instrument im Zimmer). Und das alles konnte nur geschehen, weil der Wind „aus allen Richtungen nächtliche Laute“ hertrug, „Gekrächz / Auch von Raben“.
Was hat es mit diesen Raben auf sich, wann tauchen diese kunstgewandten Vögel, und woher, in ihren Versen auf, welche Talente werden ihnen jeweils zugeschrieben?
Vermutlich sind sie den wirklichen und zugleich metaphorischen Krähen verwandt, die ihr da immer wieder in die Zeilen flattern, wenn ihnen auch nicht zum Verwechseln ähnlich; Krähen, deren Stimme sie zunächst nicht verstehen wollte, lediglich Düsternis verbreitende Vögel, die sie, „Blätter an meinem Fenster“, von ihrer Hochhauswohnung auf der Ostberliner Fischerinsel einst aus dem „Krähenbaum“ auffliegen sah. „Böse böse reden schwerverständliche Krähen“ heißt es im Gedicht „Eichen und Rosen“ 1984, wenn sie in springenden Gedanken östliche und westliche Namen und Gestade, sonst meilenweit voneinander getrennt, zusammenführt und durcheinanderwirbelt; „die schwarzen Seelen der Krähen“ erscheinen in der alljährlich tristen Zeitspanne des Über-den-Winter-kommen-Müssens („Tempus hibernum“); in einem Stück „Spektakel“ schließlich läßt sie es spöttisch-ironisch durchspielen, wie die Kunst, für zweckfrei erklärt, Luftgespinst, rein durch ihr Vermögen der Darstellung blassen Neid erregt, Neid, als Eingeständnis des Unvermögens, die Kehrseite der Bewunderung. Es zeigt sich ihr im Gebaren dieser Vögel als heitere Travestie, klüger als jede Erörterung.
Die Elstern auf dem steilen Dach
Unverständlich was sie bezwecken
Mühn sich für nichts und wieder nichts
Langschwänzige schlurfende schreitende
Dauernd verwandelte tragische komische Vögel
Die sich am Ende verbeugen die Krähen
Sind blaß vor so viel Gerissenheit Kunst.
(„Spektakel“)
Szenen- und Situationswechsel. In fünf Verszeilen, die alle landschaftlichen Exterieurs aussparen, sich mit Kunst und Spiel gar nicht abgeben, nähere Erläuterungen strikt verweigern und damit uns überlassen, beschließen Raben die abfolgende Szene, letzte Steigerungsstufe einer Reihe böser Vorzeichen, konstatieren sie die Erfahrung unwiederbringlich verlorener Liebe.
MIT DEM MISTRAL GEKOMMEN
Im Nebel abgereist –
Scorpione im Abwaschbecken
Schlangenumspülte Füße
Raben! Raben!
Diese Raben, Zeichen arger Verstörung, haben wir erst wirklich wahrgenommen, als sie das Land verließ; hinter sich lassen mußte das ihr vertraute Territorium zwischen Harz und Mecklenburg, Gesellschafts- und Staatswesen, das sie, ohne sich täuschen zu lassen, deshalb abergläubisch-scheu, im Gedicht nicht mit Namen nennen wollte, als es galt, arge ,Fehlleistungen‘ (um die Sprache der Politiker zu gebrauchen), wenn man sie schon nicht verhindern kann, nicht noch herbeizurufen – obwohl sie doch voraussah: „Wenn du mich verläßt Verleumdung / ausstreust, in deinen Zeitungen verkündest / du seist betrogen (…) // (…) dich meiner / entledigen willst (…)“ („Erklärung einiger Dinge“) – was ja nun, zehn Jahre nach dieser ahnungsvollen Vorwarnung, 1977, eingetroffen war, von Volker Braun erkannt, ihr in den zerstörten Zeilen seiner gebrochenen Ode „Der Müggelsee“ wie schrilles Echo nachgerufen wurde:
(…)
und Sarah vom siebzehnten Stock
Stürzt über die Mauer, ihr Liebes-
Lied voll Raben! Raben!
Wenn ich recht sehe, erscheinen ihr diese auch in der Natur seltenen Vögel, die auf alles Sterbliche pfeifen („Raben“, 1984), als gewichtige Zeugen bedeutend wieder in diesem zeitlos-gegenwärtig situierten Gedicht einer Gegend, welche, wie wir inzwischen wissen, eine eigene „Moorphilosophie“ erlaubt, die weder auf eine „Flucht in die sanfte Utopie“ spekuliert, noch auf erlösende Ewigkeit (O Donnerwort).
Das eine war der Preis für das andere noch, mir stands nicht zu verfluchen oder verdammen.
Den Raben aber, nicht, wie seit altersher, Signen für Unheil und Widerfahrung, ist die Gabe verliehen, flügelleicht Raum und Zeit zu überwinden, nördliche und südliche Hemisphäre mühelos zu tauschen und in einem großen Vollzuge zu überschauen –
(…) sah ich mich
Eines Abends den Körper verlassen
War ganz schön weit oben und hatte
Die Erde im Blick (…).
Ich verstand plötzlich alles, mehr
Läßt sich dazu nicht sagen, (…)
(„Die Entfernung“)
Die authentische Stimme bedient sich souverän der verschiedensten Medien: eben noch irdisches Naturwesen, bald planetarischer Flugkörper – verblüffendes Wechselspiel, an dem uns die Autorin teilnehmen läßt, wie sie selbst sich von unbilligen Bevormundungen, gewohnten Grenzziehungen und Begrenzungen lossagt und freispricht, ja eigentlich diesen Akt zum schöpferischen Moment ihres Gedichts macht – mit nichts als einem Blick aus dem Fenster bei erstem Mondlicht.
Sarah Kirsch überträgt solcherweis außergewöhnliche Fähigkeiten, die wir uns nicht zutrauen, auf natürlich-fabelhafte Geschöpfe, ohne ihnen, allegorisch, menschliche Eigenschaften anzudichten (dieser fatale Hang zur Anthropomorphisierung aus dem 19. Jahrhundert, der noch immer gutgemeinte poetische Vergleiche lächerlich macht); als gelernter Naturwissenschaftlerin verboten sich ihr solche Unsitten von selbst, freilich liest sie der Natur kenntnisreich, sachverständig ihre Gleichnisse ab.
Woher sie für ihr Verfahren Anregungen bekommt und nimmt, sie allein wird es wissen, hat es oft schon wieder vergessen, verwendet sie spontan, intuitiv. Raben und Krähen?
Der Droste würde ich gern Wasser reichen
In alte Spiegel mit ihr sehen, Vögel
Nennen, (…)
(…)
Der Mond geht auf – wir sind allein
In der konzentrierten, ganz nach ihrem Geschmack und Prinzip angelegten Auswahl aus dem Werk der Annette von Droste-Hülshoff-Prosa, „daß einem das Herz springt (…) milde wies Mondlicht (…) teuflische Schönheit allenthalben“ – findet sich auch das achte Heidebild „Die Krähen“, ein recht obskures balladeskes Stück, und dazu, aus der Menge der zahlreichen Briefe der Droste sorgsam vorgezogen, auch jener vom 29. Februar 1844 an Luise Schücking. Levin Schücking hatte nämlich für eine Ausgabe der Droste eigenwillig den Titel dieses Gedichts geändert. Die Droste verbittet es sich mit guten Gründen und erklärt, warum dort der Rabe den Krähen gegenübergestellt wird, der „tausendjährige Rabe“ dem Schwarm geschwätziger, gemeiner Heidekrähen, „der sie von seiner dürren Fichte mit Verachtung betrachtet; dieses ist der Haupthumor des Gedichts“.
Sprechende Raben, wie sie in solchen Balladen in fiktiver Handlung auftreten, ohne daß es uns stört, sie würden sich im modernen Gedicht nicht mehr komisch ausnehmen, es sei denn als Parodie; wie auch alte Volksmotive, Lied und Reimweisen nicht ungebrochen adaptiert werden können, wenn man sich ihres Lakonismus bedienen will. Erst aus der distanzierten Brechung, aus bewußter Verfremdung und spielerischer Anverwandlung archetypischer Muster gewinnt Sarah Kirsch ihre originalen Figurationen und bizarren Konstellationen, ihre Art von Humor, sanfter Ironie, auch gegenüber sich selbst.
Um den Berg um den Berg
fliegen sieben Raben
das werden meine Brüder sein
die sich verwandelt haben
(„Schneelied“, 1967)
Ist es einerlei ob du mich liebst ob
Die Amsel fliegt am Haus vorbei der Amsel
(„The Bird“, 1973)
Und wenn sich die Stimmen Schwester es
Brennt der Wildgänse nachts überschneiden
Geh ich von Fenster zu Fenster höre die
Sturmgeschüttelten Bäume
Anklopfen um abgefallene Blätter.
(„Dunkelheit“, 1984)
In ihren Versen fliegen die Vögel, wie sie zur Landschaft gehören, Schwalben, Lerchen, Gänse, Kraniche, der schöne Milan –
(…) Hat er dich
Im südlichen Auge, im nördlichen mich?
Wie wir zerrissen sind, und ganz
Nur in des Vogels Kopf (…)
(„Der Milan“, 1976)
Fliegt der rare „Meropsvogel“, den man vielleicht nur einmal im Leben erblickt:
(…) Hoffnung
Wo Raum und Zeit sich
Zwischen uns legen (…)
Für sie werden Vögel zu Sinn-Bildern und Metaphern, wenn sie es braucht. Sie versichert sich ihrer Elementarkräfte, da sie bei „gelangweiltem Entsetzen vor Leere und Fülle, blitzendem Tand“, angesichts dieser uns instrumentalentfremdeten Zivilisation keinen anderen Weg weiß, als auf diese Weise zur Selbsthilfe zu greifen; sie teilt es uns offenherzig mit. Unverstellt und direkt, wenn sie auf den ihr notwendigen Land- und Staatenwechsel verweist: „Die Vogelfreiheit entzückte mich / Es war mir früher in meinem Land / So viel eingeblasen und vorgeschrieben (…)“ („Die Entfernung“) – als es ihr die Tinte verdarb. Sie sucht es, als Paradoxon, in einem Gedicht wie „Steinherz“ zu fassen, da sie der heillosen Welt entgegenhält, was friedfertige Leute täglich tun. Und weil ihr das nicht genügen kann – „Erde und Menschen sind / Gänzlich verwildert hilft / kein Besinnen (…)“ („Krähengeschwätz“) – bleibt ihr nichts, als die Natur selbst anzugehen, diesen Menschen – „dennoch natürliche Wesen“ – zu helfen. Daß sie bei steinernem Herzen, das sie sich zum Selbstschutz zugelegt haben, nicht völlig unempfindlich werden, zu hören, wer da zu ihnen spricht, sind es die Toten, ist es das eigene Gewissen, Gewissen der Welt?, welches – durch Stimmen der Vögel – sie, wider alle Natur und Vernunft – bei Namen ruft:
Kalte Füße mitten im Sommer nach der
Pfingsthitze der Backofenglut endloser Tage
Schafskälte sie geht den geschorenen
Tieren den Menschen hin auf die Haut
Macht ein tragbares unempfindlich
Schönrauhes Herz das die Bilder
Verschiedener junger Kriege
Auf dem Planeten aushalten läßt.
Nach der Nacht im Wirtshaus gehen die Bauern
Reumütig Steckrüben pflanzen im Wind.
Die Bäume verneigen sich und es blüht
Mit blanken Tellern verwunschner Hollunder
Totenaugen im Schatten der Blätter
Selbstvergessenes Plappern und Seufzen
Runde dörfliche Regen
Schütten sich aus und die Vögel
Rufen Menschennamen über die Felder.
(„Steinherz“)
2 Zaubersprüche und andere Ruf-Formeln
Ich sage was ich gesehen habe merkwürdig genug
Die Leute verkennen es geht um ernsthafte Dinge
Wie komisch sagen sie erzähl ich ein Unglück
Wenn sie lachen müßten, erschrecken sie
(„Besinnung“)
Ich weiß, warum ich immer wieder gezögert habe, Sarah Kirschs Gedichte mit ihrem verqueren, schaurig-schönen Wechselspiel aus Flora, Fauna und Fama, zwischen Natur, Gesellschaft und Kunst ausführlich zu interpretieren, sie eindeutig zu beurteilen, wie es der Kritik ansteht. Wer möchte ihnen nicht gerecht werden, ohne ihnen etwas von ihrem Geheimnis zu nehmen, ihren Zauber zerreden, gerade wenn er manche Anlässe und Hintergründe zu kennen meint, Lust und Leid, Beglückung und Enttäuschung, Zu- und Abneigung, Sanftmut und Zorn – die ganze Skala der Leidenschaft, die mir aus ihnen unverhüllt entgegenspringt, deren Ursache – öffentliche Konflikte, private Affären, literarische Debatten und Autodafés (sie alle ineinander verwoben, auch gegeneinander ausgespielt) –, sich aus ihnen ablesen läßt? Ich erkläre mich im voraus für befangen, wenn ich versuche, ,Entwicklungen‘ anzudeuten; vielleicht habe ich zeitweise zu sehr aus der Nähe verfolgen können, wie es ihr gelang, sich dieser, also unserer, fragwürdigen Wirklichkeit zu nähern, sie im Kunstgebilde, Geständnis der eigenen Seele, Gedicht genannt, weder zu beschönigen noch zu verzerren; den Einsatz der Person zu wagen, ohne sie – dieses komplizierte lyrische Ich, über das sich die Theoretiker ergehen – im selben Atemzug selbst indiskret zu desavouieren. Wie oft bleiben zeitgenössische Gedichte, auch oder gerade von Frauen, die sich ihrer Emanzipation versichern wollen (oder glauben versichern zu müssen) auf der Strecke, weil ihre Sprecherinnen zwischen Selbstbewußtsein und Selbstentblößung nicht das rechte Maß finden, weil man Selbsttherapie in Versen schon für Dichtung hält, ehrliche Geständnisse für verbindliche Wahrheiten, echte Empfindungen für allgemeines Lebensgefühl. Wer wüßte nicht, daß die Grenzen hier fließend sind, wer nicht, daß nur ein falscher Schritt manchmal schon eine unwiderrufbare Überschreitung ist, wenn ein Bild umkippt, ein Vers entgleist.
Sarahs Gedichte hielten seit ihrem ersten Band Landaufenthalt von 1967 traumsicher die Balance zwischen persönlichem Erleben und objektiven Erfahrungen wie zwischen Leben und Kunst. Nach einem Debüt, das verschiedene Vorbilder verrät, satirisch eingefärbte oder lehrhafte Ansprachen, die sie neben Wolf Biermann, Volker Braun, Uwe Greßmann in der Anthologie Sonnensucher und Astronauten 1964 bekannt machten (gemeinsam mit Rainer Kirsch in dem Band Gespräch mit dem Saurier, 1965), traf sie, wie über Nacht, plötzlich ihre Diktion, hatte sofort ihr originales lyrisches Inventar.
Ich tanze Seil überm Meer von Felsen zu Felsen
habs nie gelernt: das kann ich vergessen, ich setze
die Füße, hab schlaue Zehen, (…)
Ich trab übers Seil, als ging es durch Straßen
(…)
Da seh ich am Seil vorbei flutende Wiesen
(…)
(…) die sanften Fontänen
kühln die Sohlen mir, bitten ach komm
die Ertrunknen haben ein fröhliches Leben
(…)
(…) ich springe
und liege zerschunden auf meinem Ufer
(aus „Seestück“)
Sie nannte es „Seestück“, und es war, als Landpartie, die gewagt komische Spiegelung ihres künstlerischen Abenteuers, Eskapade, mit der sie sich Mut machte zu schreiben, wie sie es nun wollte. Franz Fühmann bewunderte sie neidlos („Vademecum für Leser von Zaubersprüchen“); Peter Hacks, mit dem untrügbaren Organ für literarische Konkurrenz, versuchte das unüberhörbare Timbre dieser Stimme als „Sarah-Sound“ zu bagatellisieren, es gelang ihm nicht mal in der Parodie; Adolf Endler trat allergisch-streitbar für sie in die Schanzen („Sarah Kirsch und ihre Kritiker“), an den gewohnten ideologischen Attacken hatte es nicht gefehlt: „Gedichte (…) nicht nur gegen unsere Kunstpolitik gerichtet, sondern auch darauf, alles das, was unser Volk im entbehrungsreichen Kampf“ etc. etc. „zu verunglimpfen und in den Schmutz zu ziehen (…)“ (aus: Die Freiheit, Halle, 15.1.63) – welch günstiges literarisches Klima; seitdem gibt es ihre dichterische Seh- und Sprechweise.
(…) diesen Tag
war ich glücklich obwohl
ich von fernher Nachrichten hörte und in der Nacht
mörderische Träume
(„Ich lag auf dem Badesteg als Wind kam“)
Ich freue mich, ihr zu diesem Durchbruch schon zu einer Zeit gratuliert zu haben, als sie in loser Folge die Manuskriptblätter schickte, Gedichte, mit denen sie nun ,stimmberechtigt‘ in deutscher Lyrik mitzureden hatte, ,gleichberechtigt‘ im Kreis genuiner Begabungen der Männer ihrer Generation, weil „endlich einmal jemand anders spricht, dazu eine ganz eigenartige Frau“.
Anders, das hieß unpathetisch.
Es gab bei ihr weder den fordernden Anspruch auf gesellschaftliche Provokation, wie ihn Volker Braun vehement artikulierte, noch das Bestreben zum forcierten ,Groß-Gedicht‘ (Mickel/Endler), Weltanschauungsgedichte nach der Lehre Georg Maurers, wie sie Heinz Czechowski versuchte. Ihr Vers, nüchterner Prosa nah, bestand auf der genauen Beobachtung des Details einer gewöhnlichen ,Gelegenheit‘, die sie aufzeichnet –
Meine Kniee sind die Staffelei ich (…)
(…) tauche die Hand in den See bestreiche
die Sitzbank vor mir mit blauer Farbe, das
ist mein Himmel (…)
(„Malen eines Sonnenuntergangs“)
und mit außerordentlicher Wendung ins Visionäre transponiert. Ihre Beunruhigungen über täglich spürbare und große Politik, die historische Schuld der Deutschen, die Vergehen und Verbrechen der Gesellschaftssysteme, protokolliert sie unaufwendig mit, unaufhörlich bis heute –
Überall Schatten für den der aus der
Zeit fiel (…)
– man übersieht das leicht („Legende für Lilja“, 1967 – „Mauer in Prag“, 1972 – „Die Flügel des Fensters“, 1987).
Anders, das bedeutete unklassizistisch.
Auf eine Traditionslinie seit Catull und Dante, Klopstock und Goethe wollte sie sich nicht berufen; klassische Formen, Hymnen oder Sonette lagen ihr nicht, was sie als Elegie bezeichnet, hält sich nicht an klassische Vorbilder noch Versmaße. Anregungen – sie nahm sie, wo sie ihr entgegenkamen; frühe große Metaphern erinnern an die Bachmann, der Droste fühlte sie sich verwandt, Rafael Albertis Matrosen zu Lande, seine Engel (in der Übertragung durch Erich Arendt) machten ihr Spaß, es mit ihnen zu treiben, sie zitiert die „Wirbelsäulenflöte“ Majakowskis. Ich finde bei ihr die Spuren Johannes Bobrowskis (wenn der Holunder mit Stimmen spricht) und glaube, sie hat bei ihm nachgesehen, wie man Anfangs- und Schlußverse gut disponiert.
Anders, das meinte vor allem unangestrengt.
Vergleicht man ihre lebendig-lockeren Bewegungen, sich Welt anzueignen, ein Haus, die Wiese, den Sommer, Geliebte und Freunde, mit der weitausholenden, drastischen Gestik ihrer Dichterkollegen (etwa ihr „Seestück“ oder „Schöner See Wasseraug“ mit Karl Mickels „Der See“), erkennt man die Diskrepanzen.
Waghalsig-wehrlos – im Rückblick sieht man es deutlicher, als einst aus der Nähe – gibt sie sich in ihren Liebesgedichten ihren Leidenschaften preis. Erotisch hingerissen, entzückt, verstrickt, schließlich desillusioniert, von Enttäuschungen entsetzt, vermag sie diese Hingabe in Zauber- und Hexensprüchen, den ihr zur Verfügung stehenden Ruf- und Beschwörungsformeln, gerade noch zu bändigen:
Frost Regen und Schlamm über die Füße dir
Zarthäutiger, (…)
(„Fluchformel“)
Weh mein schneeweißer Traber
(…)
Ging durch! (…)
(…)
Ich dachte ich sterbe so fror ich
(„Klagruf“)
Ich wollte meinen König töten
Und wieder frei sein (…)
– leicht durchschaubare, verrückte Verzauberungen, sagenhafte Masken und Kostüme, in denen sie den Herzkönigen, Don Juans, den „Eisdichtern des Landes“ begegnet:
Was bin ich für ein vollkommener weißgesichtiger Clown
(…).
Märchenmotive, Mythen- und Traumsymbole werden heraufbeschworen, komplizierte Beziehungen zu fassen, damit sie sich ihren Vers darauf machen kann, sind sie schon nicht zu entwirren, zu bannen. Es wäre schon aufschlußreich, neben ihren betroffenen Geständnissen in märchenhafter Verkleidung die komplizierten Manöver ihrer männlichen Kollegen zu betrachten, wie sie sich ihrerseits den Frauen nähern, selten sich ihnen anzuvertrauen wagen, sich ihrer bemächtigen und ihr Liebesunvermögen hinter dem Triumph des körperlichen Besitzergreifens verbergen. Ihre angestrengt-dialektischen Sonette, die so leicht Liebe gegen Sexualität eintauschen, pornographisch werden, um der Erotik auszuweichen.
Man hat die kollegiale, kollektive Verbundenheit, gegenseitige Inspiration und Bereicherung, den kameradschaftlichen Wettstreit in jenen Jahren oft gerühmt, als diese Autoren Aufsehen erregten, sich gemeinsam gegen dogmatische, kunstfeindliche Behinderungen wehrten und durchzusetzen hatten, daß man Unterschiede und Gegensätze, die es zwischen ihnen gab, die endgültig erst im Jahre 1976 in aller Kraßheit aufklafften, übersah. Wie man die erschreckte, bestürzte, verzweifelt warnende Sprache der Sarah Kirsch aus ihren schön-bösen Märchen, Phantasien und Traumfiguren nicht bei Bild und Wort zu nehmen verstand und, als sie Klartext schrieb, ihn für eine Formel nahm, der man die Lebenskonsequenz nicht zubilligen wollte – apodiktische Strophe, mit der, natürlich aus einer ganz persönlichen Situation heraus, nicht nur das Versagen einer laut programmierten Menschengemeinschaft, sondern auch das Debakel unserer patriarchalisch organisierten Gesellschaftssysteme auf fünf Zeilen gebracht wurde:
Keiner hat mich verlassen
Keiner ein Haus mir gezeigt
Keiner einen Stein aufgehoben
Erschlagen wollte mich keiner
Alle reden mir zu
Ich weiß, wovon ich spreche. Vielleicht hat Sarah die bewegtesten Verse für ihre Dichterfreunde gefunden, als sie von ihnen schied; „Reisezehrung“, die sie brauchte, „fliegende Stimmen“, die ihr folgten. Manche haben ihr geantwortet, freundlich, unfreundlich; manche geschwiegen; andere, ihre Ängste hinter ästhetischer Selbstbestätigung verborgen, gegen sie polemisiert.
Ich mußte eine Menge Zaubersprüche lernen
Mit großer Kühnheit im preußischen Wald
(…)
Unauslöschlich hab ich die Bilder im Kopf
(…)
Vertraute Schatten, sie finden mich
Wo ich auch bin (…).
Der Dialog darüber ist längst nicht zu Ende, nur dieses Kapitel darüber breche ich hier vorerst ab.
3 Spielraum Erde – fremder Planet
Ich sah einen Riß
Im dunklen Himmel
Und einen im offenen Wasser
Hinter den Rissen
Einen hellgrünen Stern.
(…)
Alles hat sich verändert
Nur die Wolken
Sind noch wie früher
Ich weiß nicht ob ich
Wie früher bin.
(„Im Winter“)
Ach, dachte ich, da ist sie nun angekommen in diesem norddeutschen Flachland, das ja in Mecklenburg beginnt, Wasserscheide zwischen Ost- und Nordsee, ständig Wind, der weite Horizont höchstens durch Baumreihen konturiert, sonst keine Vertikalen, darüber dieser vielberufene hohe Himmel, der vor allem Bergbewohner vollends aus der Fassung bringt – Ja, sagte Grieshaber damals, als er aus unserem Fenster hinaussah: so geht es auch; man zieht einfach unten quer über das Blatt einen Strich und baut von daher alles auf. „Geschliffene Klarheit vielfache Linien“ – von hier bis Schleswig-Holstein ist nur ein Sprung, oft gleiches Wetter.
Ich verstand, wie sie in dieser Landschaft versank, wiederfand, was sie bis dahin vielleicht nur einmal in einem Sommer – Großstadt, Hochhaus, unzuverlässige Geliebte, eben diesen ganzen Betrieb hinter sich lassend (sie hat es in ihrer Chronik, alle Namen erfindend, keine verwechselnd, beschrieben) – als Urlaub kennengelernt hatte, „– Schwarze Spiegel Doppellandschaften (…) Dein Leib bin ich, du lächelst dir zu“ – wie ihr nun alles entgegenkam, Pflanzen, Vögel, Getier, diese ganze Natur in greifbar-berückender Anwesenheit – „Es ist ein nettes Gefühl so früh am Morgen weit vor das Haus zu treten (…)“ –, daß man zum Wanderer, Biologen, Gärtner und Schäfer wird, um nicht nur mit allen Sinnen, sondern auch durch Tätigkeit an allem teilzuhaben; ich will das nicht ausspinnen, ich verstehe nur, wie man sich darin verlieren kann, es ist ihren Gedichtbänden seit 1980 abzulesen, die diese Exkursionen und Unternehmungen schon in ihren Titeln führen: Erdreich (1982) – Katzenleben ( 1984) – Landwege ( 1985). Wie die Prosa in die Verse eingeht, sie überflutet; die Takte der Verse wiederum sich über die Zeilen hinweg verschränken, über ihre Maße in weiten Perioden hinwegtreiben – beides kommt ihrem Bestreben entgegen und läßt es zugleich vergessen, was ist da noch lyrisch, was episch? – „Hier versagt mir die angerühmte grünende Hand oder ich müßte über achtzig Finger verfügen wie eine brahmanische Gottheit, dieser schöngeschwungene seit Jahren unbescholtene Garten durchwachsen von Löwenzahnrüben Wurzel bei Wurzel ich seh nur noch Rosetten im Traum läßt mich nicht ruhn.“ Das läßt kein Ende absehen, wird aufgereiht – Wollfaden, wie von der Spindel gedreht, zum Knäuel gewickelt, Faden, von kundiger Hand zu kunstvollen Mustern assoziativ verstrickt, variiert, neu entworfen, ein schönes poetisches Geflecht, als brauchbar gearbeitetes Gebilde auch nachzuvollziehen, wenn man seines Ursprungs entbehren muß; das oben Zitierte ist ein Segment aus dem Band Irrstern (1986), als Prosa ausgegeben, aber nicht nur, was die Gedrängtheit und Dichte der ablaufenden Eindrücke und Gedanken anbelangt, und rhythmisch gegliedert ihren Gedichten nah, weil es ihr zwar auf Genauigkeit jedes ,äußeren‘ Eindrucks ankommt, sie aber immer auf dem Sprung ist, diesem äußeren Abbild nicht ganz zu trauen und andere Sphären, ihre bewußten und unbewußten ,inneren‘ Gegenbilder, zu ihrem Recht kommen und hervortreten zu lassen: die Schattenseiten, das wahrhaft Unwirkliche: vollkommene Schönheit, vollendeter Wahnsinn auf diesem von uns mitgestalteten und mißbrauchten Planeten.
(…)
So sieht die Erde am Ende des Tages
Ungewiß wie ein fremder Planet aus
(…)
(…) und ich
Hier auf der Kugel ach wassen Stäubchen
Mit meinen ausgeworfenen Ankern
Kindern Katzen Geliebten einhundert
Tulpenzwiebeln im Erdreich Ranunkel-
Händchen daß ich nicht ausreißen kann
Und mich der Irrsinn nicht anfällt
(…)
(„Vorläufige Verwurzelung“)
Bei allem alltäglich Tun gerät ihr – ob sie nun will oder nicht – immer diese verflixte „Wünschelrute“ zwischen die Finger (nachdem Titel unseres zitierten Stücks), mit der sie über ihre Umgebung zu verfügen glaubt; aber – das schwingt bei solchen Zauberinstrumenten (Goethes herbeigerufener Besen, gotthabihnselig) immer mit – gegen die allgegenwärtigen, allmächtigen Gefahren und Bedrohungen, die sie sichtbar macht, nützt sie so wenig wie die immer erneut verzweifelte Arbeit im Garten gegen die Flut übermächtig anwachsenden Unkrauts – „(…) gleißender Niagara der Günsel Bilsenkraut Schachtelhalmwälder eine berauschende Urzeit (…)“ („Wünschelrute“).
Sicher, manchmal versinkt die Beobachterin zwischen all diesen auf sie eindringenden Naturobjekten, wenn die Wege zwischen Moor und Heide, Wiesen und Koppeln, in der Wirrnis des Gartens, auf der Weide des Hirten sich verwirren, verlieren. Amüsante Spielwiese. Aber ich rufe mich gleich wieder zur Ordnung, weil ich sehe, wie sich ihre Anschaulichkeit nie in leerem Empirismus erschöpft, wie sich im Mikrokosmos dieser Umwelt der Makrokosmos des Irdischen widerspiegelt und bricht („Schwarzer Spiegel“); im unscheinbaren „Ausschnitt“ eines Regens im Garten unheimlich sich die Sintflut ankündigt. „Erdreich“: zum einen Substanz, die man in den Fingern spürt, im Beet bearbeitet, anreichert, ausbeutet, vergiftet, und zum anderen das Reich dieser Erde, deren Reichtum wir erschöpfen, zu Grunde richten, wenn nicht… „Grünes Land“ – „(…) durchsichtig liegt alles / Vor mir (…)“ –, aber bei düsterer Perspektive bereits menschenleer („Die Verwandlung“).
Dieser Wirklichkeit – ist ihr im Gedicht anders beizukommen als mit ausschweifender Liebe, verzweifelter Ver-Wünschung, will man sich nicht mit guter Hoffnung oder selbstgewisser Resignation abfinden?
(…)
Ich weiß nicht ob ich lebendig bin schwarze
Verlorenheit seltsames verzögertes Knistern
Während die Nägel flink wachsen als wär ich
Ein Leichnam. Eine hellgrüne Kugel geht ferne
Und schön am Horizont auf ich sehe ein neues
Gestirn im steigenden Wasser.
(„Die Flut“)
Mag das deuten, wer will. Ich gestehe, daß es mich wenig interessiert, wie man Sarah Kirschs Gedichte bezeichnet und einordnet. Tradition deutscher Naturlyrik, gewiß doch (das Haus des Dichters des Schimmelreiters liegt nicht zufällig am Wege, dazu noch im Schneesturm!). Und daß sie sich nicht daran kehrt, an ,das Ende der Landschaftsgedichte‘ zu glauben. Vermutlich wird Schleswig-Holstein sie als moderne Heimatdichterin feiern, und eine melancholisch untertönte Sehnsucht nach Seßhaftwerden wird niemand bestreiten. „Langsam nach Jahren geh ich / Vom Sein des Hundes in das der Katze“ schrieb sie schon vor bald zwei Jahrzehnten, und ich erinnere mich noch, wie in einem mecklenburgischen Bauernhaus erbittert darüber gestritten wurde, was sie denn zum Teufel nun damit meine und ihren Lesern zumute. Ich hatte da keine Schwierigkeiten und habe ihre Vorliebe für diese Tiere und ihr herrenverachtendes Wesen immer verstanden, auch wenn ich gegen sie, wer weiß schon warum, allergisch bin.
Sarah Kirschs Gedichte waren und sind Gegenwartsgedichte. Man kann aus ihren Zeichen die Zeichen der Zeit ablesen und eine ziemlich getreue Biographie ihrer Verfasserin, eine der öffentlichen Angelegenheiten und eine ihrer inneren Einstellung dazu. Eine zaubrische, verwünschte Geschichtsschreibung vom jeweils momentanen Erlebnis deutscher Landschaften her, die da aufgerufen werden in einem schön anstrengenden, über die Kräfte gehenden Entwurf, sie vor dem Verschwinden, wenn schon nicht zu retten, so doch zu bewahren, sei es in einem uns betreffenden Vers humanen Widerstands.
Die großen Bilder alltäglich
Deutliche Klarheit der Luft scharfe
Linien um Gräser und Wolken nachts
Der Teller des Monds auf dem Wasser
Die fliegenden Tiere der Erde
Schwere steigende Leiber die sanften
Hälse vertraulich dem Wind
Dargeboten wie soll ich
Müde werden es zu benennen
Bitternis sinkt allenthalben die Trauer
In unser Frohsein weggefegt
Wie die Blätter vom Baum die
Spielenden herbstlichen Mücken
Nach starkem Frost sind wir gleich
Eh noch der Atem uns ausgeht vernichtet
Wie gelassen wäre der Abschied
Könnten wir in leichter Gewißheit
Daß diese Erde lange noch
Dauert gerne doch gehn
(„Die Ebene“)
Während ich das lese und dies dazu schreibe, geht Herbstwind um das alte mecklenburgische Pfarrhaus, und der greise, kundige Nachbar mahnt mich mit schon vergehender Stimme, die Nüsse ja doch rasch aufzulesen, weil sonst die Krähen sie holen, im Schnabel wegtragen, auf einem Stein sie aufhacken, schlau wie die sind.
Gerhard Wolf
– Hugo Dittberner: Artistin zu eigenen Gnaden. Ein Essay über Sarah Kirsch
– Sarah Kirsch: Nachgetragene Gedichte
– Gerhard Wolf: Ausschweifungen und Verwünschungen. Vorläufige Bemerkungen zu Motiven bei Sarah Kirsch
– Sarah Kirsch: Schwarzer Spiegel
– Adolf Endler: Randnotiz über die Engel Sarah Kirschs
– Zsuzsanna Gahse: Rundflug
– Karl Riha: Rezidivierende Naturlyrik – oder? Zu Sarah Kirschs Katzenleben
– Michael Butler: Der sanfte Mut der Melancholie. Zur Liebeslyrik Sarah Kirschs
– Jürgen Egyptien: Im Park des Hermaphroditen. Sarah Kirschs „Wiepersdorf“-Zyklus
– Sarah Kirsch: Das Nebelhorn, Grund und Boden
– Paul Kersten: „Die Kunst der umherschweifenden Seele“. Zur Kindheitserfahrung in Allerlei-Rauh
– Walter Helmut Fritz: „Ein gerüttelt Maß wahnsinniger Zuneigung“. Sarah Kirschs Prosa
– Michael Töteberg: Literatur aus dem Kassetten-Recorder? Kontexte zu Sarah Kirschs Erzählungsband Die Pantherfrau
– Christian Freudenstein: Bibliographie
– Notizen
ist Sarah Kirsch die bedeutendste lebende Lyrikerin deutscher Sprache. Spätestens seit ihrem Gedichtband Landaufenthalt von 1967 hat sie ihre unverwechselbare lyrische Sprache gefunden: eine betont individuelle Schreibweise, in der aktuelle und verschollene Sprachfarben sich mischen und die Erfahrung von Gegenwart und Vergangenheit entfaltet wird. Natur und soziale Wirklichkeit fallen in Sarah Kirschs lyrischer Wahrnehmung nicht auseinander, sondern sind, weil aufeinander angewiesen, miteinander verschränkt. Die Erfahrung der Lebenswirklichkeit in der DDR, wo sie bis 1977 wohnte, und des auf andere Weise angefochtenen Lebens diesseits der Mauer grundiert fast alle ihre Texte, auch dort, wo scheinbar nur vom Erlebnisraum ,Natur‘ gesprochen wird. Idyllen, wie hin und wieder in Kritiken zu lesen, schreibt Sarah Kirsch nicht – oder nur als Gegenträume zur Wirklichkeit. Und noch ihre zahlreichen Liebesgedichte sind auch geprägt von Leiderfahrung, Enttäuschung, Abschied. So charakterisiert Sarah Kirschs lyrisches Werk eine Doppelheit in vielfältiger Gestalt: Natur und Menschenwerk, Liebes- und Leiderfahrung, schwarze Idyllik, Erfindung und Erfahrung. Schriftsteller und Kritiker aus der DDR und der Bundesrepublik untersuchen oder beschreiben die unterschiedlichen Aspekte im Werk der Sarah Kirsch.
edition text + kritik, Klappentext, Januar 1989
Es gehört wohl zu den stärksten Passionen junger, selbstbewusster Zeitschriftenmacher, die jeweils amtierenden Literaturpäpste zu grimmigen Bannflüchen zu reizen. Auch im Falle von Heinz Ludwig Arnold, dem Erfinder der Zeitschrift Text + Kritik, kam es zu Verwerfungen, als der junge Germanistikstudent im November 1962 den großen Friedrich Sieburg, seines Zeichens Chefkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, um ein existenzsicherndes Inserat für seine neue Zeitschrift anging. „Sie scheinen nachgerade an einem hoffnungslos gewordenen Qualitätsbegriff festhalten zu wollen“, so komplimentierte Sieburg artig den jungen Editor, um anschließend die Peitsche zu zücken: „Sie nennen für die erste Nummer drei Namen, die mir alle drei gleich widerwärtig sind, nämlich Günter Grass, Hans-Henny Jahnn und Heinrich Böll. Das ist … eine trübe Gesellschaft, dem deutschen Waschküchentalent entstiegen und gegen alles gerade Gewachsene feindselig gesinnt.“ Zwei Jahrzehnte später, so behauptet die Legende, war es Sieburgs Nachfolger Marcel Reich-Ranicki, der mit derben Beschimpfungen der „Schweine-Bande“ um „Arnold-Dittberner-Kinder“ nicht geizte.
Der so Attackierte ließ sich nicht einschüchtern. Der damals 22-jährige Arnold setzte in seinen ersten beiden Heften unverdrossen auf seine Hausgötter Grass und Jahnn – und es gelang ihm scheinbar mühelos das, was bei Rainer Maria Gerhardt, dem heute vergessenen Literaturgenie der Nachkriegszeit, noch in astronomisch hohen Schulden und einem tragischen Freitod geendet hatte. Unter dem ursprünglich von Arnold gewünschten Zeitschriftentitel fragmente hatte Gerhardt schon 1951/52 in seinem großartigen literarischen Journal dem restaurativen Nachkriegsdeutschland die Leviten gelesen, war aber an notorischem Geldmangel und ästhetischer Kompromisslosigkeit schon früh gescheitert.
Heinz Ludwig Arnold und seine frühen Mitstreiter Gerd Hemmerich, Lothar Baier und Joachim Schweikart hatten mit Text + Kritik mehr Glück. Das Konzept, sich in kritischen Aufsätzen immer nur einem wichtigen Gegenwartautor zu widmen, schien zunächst nur auf ein germanistisches Fachpublikum zu zielen. Nachdem er aber auf listige Weise beim Chefmanager von HAPAG-Lloyd eine Spende von 1000 DM rekrutiert hatte, begann Arnold mit seinem neuen Literaturblatt von Göttingen aus die literarische Welt zu erobern. Das Debütheft über Günter Grass, ein 32 Seiten-Heftchen, ist noch heute, in stark erweiterter und aktualisierter Fassung, zu haben. Für den Eröffnungsbeitrag, eine „Verteidigung der Blechtrommel“, hatte Arnold den Brüsseler Germanisten Henri Plard gewinnen können, den er während seiner literarischen Lehrjahre als Sekretär Ernst Jüngers kennen gelernt hatte. Auf sein literarisches Adjutantentum bei Ernst Jünger, das von 1961 bis 1963 währte, blickte Arnold später mit einigem Ingrimm zurück, zuletzt in seinem Text + Kritik-Heft zu Jünger, das die schärfste Kritik am Anarchen aus Wilflingen enthält, die jemals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geübt wurde.
Die Lust an der literaturkritischen Auseinandersetzung zeichnet ja nicht nur das Jünger-Heft, sondern viele andere Projekte der edition text + kritik aus, die 1969 im juristischen Fachverlag Richard Boorberg ein festes verlegerisches Fundament gefunden hatte und dort ab 1975 als selbständiger Verlag agieren konnte. Text + Kritik war nie ein Forum für urteilsschwache Germanisten, die jede interpretative Wendung mit einem Überangebot an Fußnoten absichern, sondern ist bis heute die bevorzugte Schaubühne für philologische Feuerköpfe, die cum ira et studio für oder gegen einen Autor und sein Werk eintreten. So muss jeder Autor, dem die Ehre zukommt, in einem Text + Kritik-Heft analysiert und seziert zu werden, mit kritischen Dekonstruktionen des eigenen Werks rechnen.
Mittlerweile hat die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen, aber die angriffslustige Essayistik ist auch nach insgesamt 157 Heften das Markenzeichen von Text + Kritik geblieben. In Neuauflagen und Aktualisierungen wurden veraltete Urteile revidiert, beim Wechsel der Denkschulen und Interpretationsmethoden aber auch so mancher Purzelbaum geschlagen. In der 5. Auflage des Ingeborg Bachmann-Heft exponierte sich z.B. eine schrille feministische Literaturwissenschaft, der Sonderband Nr. 100 über „Literaturkritik“ publizierte massive Attacken auf Marcel Reich-Ranicki. Einem euphorischen Sonderheft über „die andere Sprache“ der „Prenzlauer-Berg-Connection“ folgte mit der Nummer 120 alsbald die Selbstkorrektur im desillusionierten Blick auf den Zusammenhang von „Literatur und Staatssicherheitsdienst“. Die subtilsten, stilistisch funkelndsten Schriftsteller-Entzauberungen haben in den letzten Jahren Hermann Korte und Hugo Dittberner verfasst. Über Sarah Kirsch, in der Nummer 101, findet man z.B. die wunderbare Sentenz, die Dichterin schreibe „Gedichte, die durch forcierte intellektuelle Unterbeanspruchung langweilen“. Diesen Königsweg literaturkritischer Unruhestiftung will Text + Kritik nicht mehr verlassen.
Andrea Marggraf: Ein Besuch bei Sarah Kirsch
Versprengte Engel – Wolfgang Hilbig und Sarah Kirsch ein Briefwechsel
Lesung in der Quichotte-Buchhandlung in Tübingen am 8.12.2023 mit Wilhelm Bartsch und Nancy Hünger sowie Marit Heuß im Studio Gezett in Berlin.
Begrüßung: Wolfgang Zwierzynski, Buchhandlung Quichotte
Einleitung: Katrin Hanisch, Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft e.V.
Jens Jessen: Versteckte Aggressivität
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.4.1995
Jürgen P. Wallmann: Verspielte Vision
Rheinische Post, 14.4.2000
Heinz Ludwig Arnold: Ein paar Abgründe überwinden
Frankfurter Rundschau, 15.4.2000
Peter Mohr: Meine schönsten Akwareller sint weck
General-Anzeiger, Bonn, 15./16.4.2000
Jürgen Israel: Das Herz hat einen Riss
Unsere Kirche, 16.4.2000
Horst H. Lehmann: Bibliophile Werkausgabe auf Büttenpapier
Neues Deutschland, 17.4.2000
Hans Joachim Schädlich: Sarah. Ein Geburtstagsgruß
Neue Rundschau, Heft 3, 2000
Marion Poschmann/ Iris Radisch: Man muss demütig und einfach sein. Gespräch
Die Zeit, 14.4.2005
Michael Braun: Landschaften mit Endzeit-Boten
Basler Zeitung, 15.4.2005
Unter dem Titel Idyllische Apokalypse
Stuttgarter Zeitung, 15.4.2005
Helmut Böttiger: Hier ist das Versmaß elegisch
Badische Zeitung, 16.4.2005
Michael Braun: Die Schmerzzeitlose
Der Tagesspiegel, 16.4.2005
Johann Holzner: Das Leben verlängern
Die Furche, 14.4.2005
Christian Eger: Unter dem Flug des Bussards
Mitteldeutsche Zeitung, 16.4.2005
Alexander Kluy: Den Himmel vergleichen
Frankfurter Rundschau, 16.4.2005
Dorothea von Törne: Schütteln und weiterleben
Literarische Welt, 16.4.2005
Gunnar Decker: Fisch, der am Grund lebt
Neues Deutschland, 16./17.4.2005
Samuel Moser: Verse vom Rand der Welt
Neue Zürcher Zeitung, 16./17.4.2005
Hans-Herbert Räkel: Ein Elefant muss über die Alpen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005
Sabine Rohlf: Läuse bei Mäusen in der Umgebung von Halle
Berliner Zeitung, 16./17.4.2005
Andrea Marggraf: „Bevor ich stürze, bin ich weiter“
Deutschlandradio Kultur, 13.4.2010
Erich Malezke: Natürliche Distanz zur Außenwelt
SHZ, 15.4.2010
Jürgen Verdofsky: Remmidemmi in Tielenhemmi
Frankfurter Rundschau, 15.4.2010
Wilfried F. Schoeller: Hier bin ich gern und immerdar
Der Tagesspiegel, 15.4.2010
Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
Thüringer Allgemeine, 16.4.2010
Rebekka Haubold: Sarah Kirsch feiert 75. Geburtstag
Radio für Kopfhörer, 16.4.2010
Gunnar Decker: Pirol unter Krähen
Neues Deutschland, 16.4.2010
Brita Janssen: Sarah Kirsch zum 75. Geburtstag
BZ, 16.4.2010
Peter Mohr: Meine Naivität war mein Glück
literaturkritik.de, Mai 2010
Michael Braun: „Alles ist auffindbar in meinen Spuren“
Konrad Adenauer Stiftung, April 2010
Heidelore Kneffel: 1997 bei Sarah Kirsch in Tielenhemme
nnz, 5.5.2018
Karin Kisker: Zum zehnten Todestag der Dichterin Sarah Kirsch
Neue Nordhäuser Zeitung, 5.5.2023
Wulf Kirsten: Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992.
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