LANDSCHAFT 12
der gefangene in sing-sing oder der gentleman in der
peter-paulsfestung william wo liegt hier der strich
so eng nicht aber ist das netz der grenzer der f b i
der polizei der guardias civiles hebet die nachtigall
an kömmt vieles vom lenze getragen und s tagtägliche
horchen des vogels das suchen nach einem neuen laut
nach zusammenstellungen das reizt mich ist freiheit
zeige ihnen die sonne sie wird sie blenden wie eine
blume die braut und du stehest außer ihnen monokel
im auge wie eingegipst den rock ordentlich gebürstet
william der mai du hast ihn erwartet sir mai you are
well met und hernach ist geburtstag ein tag in fahnen
deine frau bereitet im munde den kuß vor mein freud
das ist macht ist herrlichkeit gibt dir das antlitz
der himmel er hat das blau gepachtet ist eine schöne
karte du weisst ihm dank veränderlich aber ist s jahr
im winter rasselt die kette nun aber stehest du hoch
zwei meter vierzig über aller mühsal ein freier auch
Meine heimat ist Österreich, mein vaterland Europa, mein wohnort Malmö, meine hautfarbe weiß, meine augen blau, mein mut verschieden, meine laune launisch, meine räusche richtig, meine ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine sehnsüchte wie die windrose, im handumdrehen zufrieden, im handumdrehen verdrossen, ein freund der fröhlichkeit, im grunde traurig, den mädchen gewogen, ein großer kinogeher, ein liebhaber des twist, ein übler schwimmer, an schießständen marksman, beim kartenspiel unachtsam, im schach eine null, kein schlechter kegler, ein meister im seeschlachtspiel, im kriege zerschossen, im frieden zerhaut, ein hasser der polizei, ein verächter der obrigkeit, ein brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten, unbehaglich schwiegereltern, ein vater von kindern, ein Judas der mütter, treu wie Pilatus, sanft wie Puccini, locker wie Doctor Ward, schüchtern am anfang, schneidig gen morgen, abends stets durstig, in konzerten gelangweilt, glücklich beim schneider, getauft zu St. Lorenz, geschieden in Klagenfurt, in Polen poetisch, in Paris ein atmer, in Berlin schwebend, in Rom eher scheu, in London ein vogel, in Bremen ein regentropfen, in Venedig ein ankommender brief, in Zaragoza eine wartende zündschnur, in Wien ein teller mit sprüngen, geboren in der luft, die zähne durch warten erlernt, das haar nach vorne gekämmt, die härte wie schlipse probiert, mit frauen im stehen gelebt, aus bäumen alphabete gepreßt, karussells in wäldern beobachtet, mit lissabonnerinnen über stiegen gekrochen, auf tourainerinnen den morgen erwartet, mit glasgowerinnen explodiert und durchs dach geflogen, catanesinnen verraten, kairenserinnen bestürzt, bernerinnen vergöttert, an pragerinnen heran geraten, grüßgott gesagt, feigen gestohlen, revolver entdeckt, aus booten gestiegen, papierdrachen verwünscht, masken verfertigt, katakomben gemietet, feste erfunden, wohnungen verloren, blumen geliebt, schallplatten verwüstet, 150 gefahren, unrat gewittert, lampione bewundert, monde verglichen, nasen gebrochen, parapluies stehengelassen, malaiisch betrieben, positionen ersonnen, bonbons zertreten, musikautomaten gerüttelt, dankbar gewesen, heidenangst verspürt, wie der hirsch gelaufen, die lunge im maul gehabt, unter rosen geweilt, spielzeug gebastelt, rockärmel verpfuscht, Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen, gedichte geschrieben, scheiße gesagt, theater gespielt, nach kotze gerochen, eine flasche Grappa zerbrochen, mi vida geflüstert, grimassen geschnitten, ciao gestammelt, fortgegangen, a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden.
Alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft…
Geboren:
am 12. Juni 1921 in St. Achatz am Walde, einem Waldgeviert im Waldviertel, als Sohn des Schuhmachermeisters Johann Artmann und seiner Ehefrau Marie, geb. Schneider, aufgewachsen in dem Wiener Vorort Breitensee, bradnsee. Die Schuhmachergesellen und -lehrbuben waren zumeist Böhmen, so daß er dreisprachig aufwuchs, deutsch, wienerisch, tschechisch. Weshalb es ihn heute kränkt, wenn er sich in Prag sein jídlo nicht auf Anhieb idiomatisch richtig bestellen kann und er lieber nichts ißt. Mütterlicherseits: treuherzige Träumer, recht schöne Menschen, eher ungeschickt. Väterlicherseits: ungebildete Hochstapler mit nicht ungebildeter Eleganz. Es war der Großvater väterlicherseits, vor dessen gewichsten Stiefeln man sich rasieren konnte. Besuch der Hauptschule.
Lektüre (Schwerpunkte):
als Fibel- und Elementenbüchlein die Tom Shark-Heftchen, gesprochen in Wien Tom Schack, in Prag Tom Scherk, so Josef Hiršal, der auch mit ihnen aufwuchs, der gesamte Artuskreis, hauptsächlich Geoffrey of Monmouth, Malory, die dt. Übertragungen Chrestiens durch Hartmann von Aue, die den frz. Originalen natürlich weit überlegen sind, walisisches und irisches MA, dt. Minnesang, Gesamtbarock, Linné, Matthisson, Gessner, Schauerroman, Byron, Tennyson, Christoph von Schmid, Punch und Judy, Howard Phillips Lovecraft und der Kreis um Arkham House, Bradbury, Clark Ashton Smith, die belgischen Fantasten, bes. Jean Ray, Soergels „Im Banne des Expressionismus“, Gomez de la Serna, Serner, Lorca, Neruda, Mutzenbacherin, Frazers Goldener Zweig, R. Benedict, Franz Boas, Olson, Sprachwissenschaft, Sprachwissenschaft und wieder Sprachwissenschaft, d.h. Anverwandlung ganzer Buchreihen, wie etwa der in A. Hartleben’s Verlag (dem dt. Jules Verne-Verleger) in Wien-Pest-Leipzig erscheinenden: „Die Kunst der Polyglottie. Eine auf Erfahrung begründete Anleitung jede Sprache in kürzester Zeit in Bezug auf Verständniß, Conversation und Schriftsprache durch Selbstunterricht sich anzueignen“, und dort etwa der Neununddreißigste Theil: Die Sanskrit-Sprache, von einem Herrn, dessen Name tabu war wie der Name des Herrn, aber alles dieses nie nur privat konsumierend oder für Eigenes exploitierend (,Je mehr er gelesen hat desto mehr kann er“), sondern immer auch konvivialisch austeilend: an der Tafel seiner Gelehrsamkeit kann jeder Bettler zechen wie ein König, ohne je zu spüren zu kriegen, daß er nicht hoffähig ist.
1927:
Erste Henry-Ford-Überschwemmung. Die Nation fährt in die Landschaft hinaus auf einmal. Daher die Hap-hap-happiness der Happiness Boys.
Wichtig:
Jesse Crawford, Helen Kane, Vaughn de Leath, Whispering Jack Smith, The Williams Sisters, Jean Goldkette, Tango, Flieger grüß mir die Sonne, Sousa-Märsche, keltische Volksmusik, Sprachplattenkurse.
Soldat:
d.h. lettische, litauische, russische Studien. Strafkompanie. Zum Tod verurteilt. Im Gefängnis in Freiburg i.Br., aus dem er sich während eines Bombenangriffs retten konnte, als die Fassade einbrach. An der Straße stand ein einzelner, mit Bein gefüllter Stiefel („Mein schrecklichstes Erlebnis“). Quartier auf Friedhöfen.
Orson Welles:
Er übernimmt eine kleine Rolle im Dritten Mann, in dem er den Satz „Was halten Sie von James Joyce?“ spricht.
Wiener Gruppe:
nachzulesen in „Die Wiener Gruppe“, hg. G. Rühm, oder im Nachwort von P.O. Chotjewitz zu „der landgraf zu camprodon“, hg. G. Bisinger und P.O. Chotjewitz.
Sprachen die er spricht bzw. liest:
arabisch, bretonisch, chaldäisch, dalmatinisch, estnisch, finnisch, georgisch, huzulisch, irisch, jütländisch, kymrisch, lettisch, malayisch, norwegisch, ottakringisch, piktisch, qumranisch, rätoromanisch, suaheli, türkisch, urdu, vedisch, wendisch, xuatl, yukatanisch, zimbrisch.
Sprachen aus denen er übersetzt hat:
dänisch, englisch, französisch, gälisch, jiddisch, niederländisch, schwedisch, spanisch.
Sprachen die er nicht mag:
französisch, wegen des zu eng geschnürten Korsetts, er kann in ihm, sagt er, nicht erfinden, fantasieren, weil, wie man weiß, Franzosen nur verstehen, was sie schon einmal gehört haben.
Sprachen die er erfunden hat:
neben einer Anzahl poetischer Sonder- oder Privatsprachen vor allem, auf indoeuropäischer Grundlage, das nicht überlieferte Piktisch (siehe hiezu das Theaterstück „die fahrt zur insel nantucket“). Er projektiert z.Z. die Erschließung des verlorengegangenen dacischen Dialekts: wenn man vom Rumänischen alles abzieht, was lateinischen bzw. romanischen, ungarischen, slawischen, türkischen oder deutschen Ursprungs ist, bleibt ein Rest: dacisch.
Für Rezensenten:
„Artmanns Stellung in diesem Kreis (sc. von Wiener Poeten um 1950) darf vielleicht mit der Pounds in London bei Anbruch des ersten Weltkriegs verglichen werden.“ (Wieland Schmied)
„Er war mir Anschauung, Beweis, daß die Existenz des Dichters möglich ist.“ (Konrad Bayer)
„Die Produktion hatte etwas narrenfreies, man wußte, man würde die Sachen kaum unterbringen.“ (Andreas Okopenko)
„… der… Gedichtband ,Verbarium‘ bestätigt nur Eingeweihten, was sie schon wissen: daß nämlich Artmann der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter ist, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat – allen seither hochgespielten Modebegabungen zum Trotz, von Bachmann bis Graß.“ (Peter O. Chotjewitz)
„Artmann ist Heraldiker.“ (Karl Heinz Bohrer)
Polizeistrafen:
soviele wie Kollegen Literaturpreise.
Frauen und Kinder:
Mädchen und Frauen, die er gehabt hat, beziffern sich auf gegen hundert, wobei der Wechsel durch eine Konstanz des Alters balanciert wird. Jeweils monogam. Mit mindestens zweien war er rechtmäßig verheiratet. Kinder etwa drei: Patrick (geb. 19.12.47), den er selbst aufzog, Patricia (Anfang 49) und Carl Johan Casimir (28.4.64), der bei seiner schwedischen Mutter aufwächst.
„Ein Liebhaber der alten Schule:
saubere Arbeit aber gelöschtes Licht.“
Wohnsitze, auch solche, an denen größere Mengen Bücher (B) und Kleidungsstücke (K) zurückgeblieben sind:
Wien (B, K), Kiew, Riga, Reval, Bern, Rom, Paris, London, Malmö (B), Stockholm (B), Berlin (B, K), Edinburgh, Cork, Graz (B), Disentis, Bergamo, Rom, Frankfurt, Quimper, Rennes, Tintajol, Exeter, Dublin, Brüssel, Paris (B, K), Zürich (K).
Hier:
In Prag der Giebel ist genau wie die Fassade in Cork ist genau wie die Bossage in Bergamo ist genau wie der Risalit in Graz ist genau wie die Baluster in Frankfurt ist genau wie die Knaggen im Westfälischen ist genau wie die Sparren in Berlin ist genau wie die Spandrille in Rennes ist genau wie die Supraporten in Hochschottland ist genau wie ein Türsturz in Skåne ist genau wie ein Giebel in Prag.
Kopfbedeckungen:
solche, die jeweils vor 50 Jahren modern waren, und ordentliche wetterfeste engl. Sportmützen, um in Pubs bestehen zu können. Er hat schönes, üppiges Haar, das er im Grund nur ungern bedeckt.
Schnäpse:
Old Granddad, Four Roses, Jack Daniels, Schonischer Renat, Schwyzerischer Drester, La Grappa, Sambuca, Calva, Jelinková weiland Hiršel, Steyrischer Kalmus, alle Kornsorten Westphalens und Niedersachsens, Cottbusser, Berliner Ingwer, Härdepful (gelagert).
Weine:
Brünner Straßler Brünner Straßler und wieder Brünner Straßler, Ruster Ruster und wieder Ruster, wenn letztere nicht vorhanden Châteauneuf du Pape.
Verkehrsmittel:
Eisenbahn Erster Klasse oder Jet, letzteres aber nur, wenn er den spanischen Langenscheidt bei sich hat, der einmal eine russische Gewehrkugel an seiner Brusttasche stoppte.
Südstaaten:
Old Crow, Eleganz, Kutschen, Wohnkultur, freundliche Behandlung der Neger, lateinische Humanität mit Irischem gemischt, Faulkner, bestimmte Schnurrbärte, vive la moustache, dazu: ein einziges Mal, und noch so kurz, south of the border sein.
Zur Negerfrage:
„Sei foata woa r a mentschnfressa un da buh liest lukatsch un goedman.
Wos issn des?“
„Negermusik ist der Bürger, der sich aufregt unten: ,Negermusik!‘“
„Jazz ist französische Militärmusik plus Folklore.“
Haltungen:
arturische, schäfferische, euphorische, gentlemanlike, britische kolonialobristenhafte, detektivische bes. sherlock-holmesische, merlin-im-wald-von-brociliandehafte, treuherzige, edele, handwerksmeisterische, trinkfeste, grämliche, mittelscheitelige, drakulische („Ich drakulier mich so durch: immer frisches Blut ham.“), sauber-philologische, irisch-revolutionäre, d’Annunzio-fascistische, kaisertreue, kannibalische, kochkünstlerische, ritterliche, verschämte, rechthaberische, rassistische, faunische, pierrothafte, displacedpersonlike, erzieherische, depressive, entwaffnende, und alles möglicherweise an einem Abend.
Besondere Kennzeichen:
Alter: 20. Beruf: Autist.
Er setzt sich:
rascheckig, Beine und Füße zusammen, lehnt sich weit (tief) zurück, erleichtert aus- oder aufatmend.
Er steht auf:
rascheckig, Beine und Füße zusammen, bolzengrad, einen Ruf ausstoßend.
Rufe:
Atterboy, Lord, Lor’, Ui Jegerl, Jek la fan, Ha, Harr Harr, Auf den Alten Herrn (FJII), Sapristi, Servus Schäfer, Sollst leben, Ja, Fantastisch, Das ist wichtig, Weißbrot in the morningtime is better than goakein, Young Man des bin i…
Redet:
andere überschreiend, mit Kopfstimme, im Frisörston, im Wiener Taxichauffeurston, jüdelnd, böhmakelnd, burgschauspielerisch, jedermannesk, Einverständnis heischend.
Kartengrüße:
„Ave! im desolatesten gebürgsland vernimmbt man die tollsten verlgs. affairen!! Was now? Ich werde in den nächsten tagen meine dasige philologie abbrechen & nach Frankfurt eilen. Bis dahin ein herzliches prost mit Dôla.“
„Meine theuren, wir sind in Varaždin & erwarten die (sic!) rosenblüthe.“
„Ihr theuren! Hier eine ansicht. Aus dem fenster unsrer rechtschaffensten herberge erblicken wir just dies kirchlein. Noch summen die hummeln. Wir dringen tief ins Herz des waldes! Gruß aus dem alten Bréchéliant.“
„Recht herzliche Grüße aus Aveyron, wo der werwolf bellt! Hier ist alle noch sehr authentisch. Wir auch. Sagt dem Alitzchen, ich hätte den wolf gesehen, mit einem grünen mützchen und roten stiefeln.“
„Pontorson, Bon soir, habe den autobus verpaßt & mußte 10 km marschieren. Endlich wieder ritterliche betätigung. Schöner himmel, aber bitterkalt. Gutes land hier!“
„Ihr theuren! Leider eingeregnet wie damals zu Patagonien, aber dennoch schön. Eine rechte allerseeligenathmosphäre halt – oh poesie!“
„Von Basel nach Brüssel nach Ghent nach Brügge nach Paris nach Renne nach.. Augenblicklich zu Ghent bei wein & waterzoi!“
Was inspiriert:
neue Mädchen, ein heißes Bad, ein kaltes Bad, eine Kopfwäsche, eine Rasur mit Supergillette, Fans, neue Schuhe, neue Hemden, Röcke, Hosen, Mäntel (eigentlich nie Anzüge) von Anna’s Mens’ Shop, Appelwoi, gemischte Wurst beim Nutteludwich, Brot vom Bäcker Herdtlein in Frankfurt („Die Brotgrenze verläuft dem Limes entlang“), neue Freunde, alte Filme, jüngere Mädchen, der Blick aus unserem Fenster auf lovecraftische Giebel, im Schlafwagen alleine zu reisen indem er für den zweiten Platz mitbezahlt, Jack Daniels, Schmalz aus der Bretagne, Brot aus der Bretagne, Bauhausschlipse, viele Leute, noch jüngere Mädchen, Die Goldene Stadt, Svičková, Männer mit Frack und leck-mi-am-Arsch-Bärtli, Stummfilmuntertitel, ältere gebildete Herren…
Was deprimiert:
kein Alkaselzer d.h. sonntags, Linksradikale, Rechtsradikale, Apo-Mädchen, Wien, auf dem Rücken liegendes Brot, wenn man ihn einen österreichischen Dichter nennt, Scheißliberale, in Lokalen die er 10 Jahre nicht besucht hat nicht mehr mit dem Namen begrüßt zu werden…
Selbstverständliches:
jeden Tag ein frisches Hemd und eine frische Unterhose (die Vorstellung, nach einem Verkehrsunfall, etwa, in angeschmutzter Unterhose aufgefunden zu werden!), Generosität, daß allen Freunden die Namen geläufig sind die er so fallen läßt, Einverständnis…
Dieser Reader:
soll zwar The Best of Heintje Celentano Artmann bringen, ingleichen aber auch den Fans neues bieten. Darum bisher Ungedrucktes: 4 Gedichte, 1 Dramenfragment, 3 Prosastücke. Ferner bisher nur in Zeitungen, Zeitschriften oder an abgelegenem Ort Gedrucktes: Gedichte: 26; Prosatexte: 10, davon Romane: 2; theoretische Arbeiten („Sie wissen selbst, wie wenig ihm alles Essayistische lag oder liegt, ich habe in ihm immer einen Adler gesehen, der fliegen, aber nicht gehen kann.“ Wieland Schmied): 3. Wichtiger Hinweis für Philologen: von den „flaschenposten“ wird der bis dato authentischeste Text publiziert; der Text im Lilienweißen Brief verliert damit bis auf weiteres seine Gültigkeit.
Ursprünglicher Titel für diesen Reader:
,Schweiß und Dämonie‘, dies der Titel zu einer projektierten Sequenz zu ,Fleiß und Industrie‘, die dem Goldmachergewerbe et al. gewidmet sein sollte.
Desiderate:
vollständige Bibliographie mit Einschluß der Übersetzungen, Gesammelte Prosa, Apanage oder Leibrente, Baronstitel, Tarnkappe.
Leistungen unter anderem:
daß man aus der Haut fahren kann, und zwar in jede beliebige andere hinein.
daß sich alles in Sprache (Literatur) verwandeln läßt und daß reziprok mit der Sprache alles angestellt werden kann.
daß Literatur lesbar sein kann.
daß die Kenntnis ungezählter Sprachen und ein Literaturbegriff, der alles Gedruckte und alles Hörbare einschließt, die eigene Sprache durch Okulation ihr an sich fremder Systeme unendlich erweitern kann.
daß man nicht bloß im, sondern mit dem Dialekt dichten kann, d.h. er hat aus der Touristenattraktion Weanerisch eine ernstzunehmende, neue Literatursprache gemacht, indem er die in ihr liegenden Möglichkeiten bewußt aus- und benutzte.
daß er das Hawelka groß gemacht hat (mit Rühm, Wiener, Bayer, Achleitner).
daß er 650-Seiten-Romane ohne Verlust auf 8 Seiten reduzieren kann.
daß er am Geruch von Büchern Jahrhundert, Nation und eventuell Druckort und -jahr erkennt.
daß er im dichtesten Menschengewimmel schreiten kann, als ginge er um 12 Uhr mittags über einen texanischen Bahnhofsvorplatz.
Wie österreichische Bauern den Drudenfuß zeichnen (Originalgraphik des Dichters für diesen Band):
Nachwort
nicht nur einen repräsentativen Querschnitt durch das Werk Artmanns zu geben, sondern gleichzeitig Verstreutes, an entlegensten Orten Publiziertes zu sammeln.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung
Der österreichische Dichter H.C. Artmann – den es deprimiert, wenn man ihn einen österreichischen Dichter nennt –, dieses literarische Chamäleon, dem der Nachweis gelungen ist, „dass man aus der Haut fahren kann, und zwar in jede beliebige andere hinein“, gelangt allmählich zu den höchsten literarischen Weihen. Sein umfangreiches, unübersichtliches, bis vor kurzem noch über etliche Kleinverlage verstreutes Werk wird nun in dicken Bänden gesammelt, es gab 1966 bereits eine Festschrift für den Husar am Münster Hieronymus Caspar Laertes Artmann zum 45. Geburtstag, und ich könnte mir denken, dass bereits Dissertationen über diesen Poeten in Arbeit sind.
Kürzlich ist nun in der Reihe der Bücher der Neunzehn im Suhrkamp Verlag (Frankfurt a.M.) unter dem Titel The Best of H.C. Artmann ein Artmann-Reader erschienen, herausgegeben von Klaus Reichert. Und dieser preiswerte Band ermöglicht auch jenen, denen die vielen verstreut erschienenen Publikationen Artmanns entgangen oder denen die zum Teil bibliophilen Editionen zu teuer waren, die Kenntnis eines Autors, der ganz zweifellos der vielseitigste, phantasiebegabteste und skurrilste unter den zeitgenössischen deutsch schreibenden Schriftstellern ist.
Das Buch bringt einen einigermassen repräsentativen Querschnitt durch das bisher vorliegende Œuvre Artmanns, und zwar gegliedert nach den Kategorien Lyrik, Theater, Prosa und Theoretisches; innerhalb dieser Abteilungen wurden die Texte chronologisch nach ihren Entstehungszeiten angeordnet. Zudem enthält der Band für Artmann-Fans auch einige bisher ungedruckte Arbeiten (vier Gedichte, ein Dramenfragment, drei Prosastücke) sowie Dichtungen, die – da sie in entlegenen Zeitungen oder Zeitschriften erschienen waren – bisher als so gut wie verschollen gelten mussten. Und schliesslich ist dem Band noch ein sogenannter „Zettelkasten für ein Nachwort zu H.C.“ beigegeben; ihm ist unter anderem zu entnehmen, dass Artmann am 12. Juni 1921 in St. Achatz am Walde geboren sei (– in einem Ort, den es in der geographischen Realität gar nicht gibt –), dass er Polizeistrafen so sammelt wie seine Kollegen Literaturpreise, und dass sich die Zahl seiner Frauen und Mädchen auf „gegen hundert“ beläuft, „wobei der Wechsel durch die Konstanz des Alters balanciert wird“.
„Artmann“, so heisst es zutreffend im Klappentext, „ist Royalist, und sein Stammbaum geht bis auf König Midas zurück: was er anfasst – sei’s ein trivialer, ein wissenschaftlicher, ein kriminalistischer oder ein im engeren Sinn philologischer Gegenstand – verwandelt sich in Literatur.“ Artmann lässt sich keiner der literarischen Schulen der Nachkriegszeit zuordnen, er ist, ein poetischer Hans Carl in allen Gassen, überall anwesend und nirgends zu fassen. Wer in die Welt seiner Dichtungen eintritt, der findet sich in einer autonomen Phantasiewelt, in der eigene Gesetze gelten – da wird nicht Realität abgebildet, sondern neue poetische Realität erschaffen.
Artmanns Kenntnis und Beherrschung vieler Sprachen ist verblüffend, die Literatur ist für ihn ein schier unerschöpfliches Reservoir von Versatzstücken, die er ganz souverän benutzt, zitierend, parodierend, persiflierend. Er ist ein in vielen Stilen und Stilepochen sattelfester Poet, der mit gleicher Virtuosität Dialektgedichte und Handwerkergeschichten, Schauerromane und Barockgedichte, Quatrainen und Märchen zu schreiben versteht. In seinen Geschichten tummeln sich Vampire und edle Ritter, teuflische Zauberer und erschreckliche Gespenster, zarte Damen und grausige Ungeheuer: kalkulierte Trivialliteratur, die mit Ironie und Persiflage augenzwinkernd in Frage gestellt wird.
Wie selbstverständlich wechselt dieser Dichter seine poetischen Masken in Texten, in denen sich dichterische Spontaneität, Spielfreude und Naivität mit höchster Artistik verbinden. Es hätte darum wenig Sinn, hier das eine oder andere Beispiel zu zitieren – zu vieles müsste unberücksichtigt bleiben, das Bild des Poeten würde notwendig verfälscht. Bleibt uns nur, den Band The Best of H.C. Artmann allen zu empfehlen, die diesen Dichter noch nicht kennen – die andern werden ihn ohnehin kaufen –, und noch einmal zu wiederholen, was Peter O. Chotjewitz 1960 in der Artmann-Festschrift gesagt hatte (– es ist zwar gewaltig übertrieben, mag aber zur Ueberprüfung reizen –), „dass nämlich Artmann der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter ist, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat“.
Was diesem sehr erfreulichen und empfehlenswerten Buch eigentlich fehlt, sind ein paar Fotos des Autors. Ich stelle mir da keine sturen Kunstportraits vor, sondern einige mögliche Lebenslagen, von denen es für Artmann fototypische genug gibt. Und wenn schon gestellte Aufnahmen, dann solche spontan aufgebauten Stilisierungen, wie sie im Film Bonnie & Clyde eingeblendet wurden, in dessen neckisch-makabren Umkreis man sich diesen Autor durchaus vorstellen könnte, vor allem was die Mode, das Vagabundieren und den Gesetzesbruch als poetischen Act betrifft. Die Fotoserie auf dem Handke-Reader – ebenfalls als eine Art Haus- oder Volksbuch bei Suhrkamp erschienen, allerdings bereits nach fünf Autorenjahren, Artmann brauchte dazu zwanzig – ist von außen aufgesetzte Zutat. Die sichtbare Figur Artmanns dagegen, seine Lebensweisen, das umfassende Repertoire seiner Haltungen und Gesten, seine Leidenschaften und Idiosynkrasien – Klaus Reichert hat eine Liste von alldem im Anhang gegeben – sind so dicht mit seiner Literatur verbunden; daß eines vollgültig fürs andere stehen kann. Artmann erweist an sich selbst den Satz aus seiner „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“, in der es heißt:
Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Der poetische Act ist die Pose in ihrer edelsten Form, frei von jeder Eitelkeit und voll heiterer Demut.
Und vielleicht läßt sich auf diesem Umweg die an sich blödsinnige Bemerkung von Peter O. Chotjewitz ernstnehmen, „daß nämlich Artmann der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter ist, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat – allen seither hochgespielten Modebegabungen zum Trotz, von Bachmann bis Grass.“ Oder meint Chotjewitz jene vereinzelt dastehende, jedoch keineswegs peinliche Selbststilisierung Artmanns als Dichter, Sänger, Poet villonscher Prägung, in dem die Entfremdung vom gesamtgesellschaftlichen Prozeß rückgängig gemacht oder wenigstens verschleiert wurde; jenen Rückfall in die mittelalterlich anmutende Rolle des Dichters als Gesamtfigur und das zu einer Zeit, wo Autoren unsicher sich höchstens als Schriftsteller spezifizieren und der Literaturbegriff sich neu zu formulieren versucht?
Das Bild Artmanns jedoch läßt sich durch solche Problematiken nicht verunsichern. Die grübelnden Fragen nach der Basis seiner Produktionen, nach ihren Bedingtheiten und Zielen, die ihm zuweilen aus linken Kreisen gestellt werden, kann er immer mit dem pauschalen Hinweis auf den Lustgewinn durch seine unverwechselbaren Sprach- und Bildschöpfungen beantworten; differenzierter ästhetischer Spaß ist sein Alibi. Und es scheint auch dort zu funktionieren, wo er sich einer hochkritischen jüngeren Generation konfrontiert sieht. Ja, für den fünfzigjährigen Artmann ist ein Generationenkonflikt, mit welchen Inhalten auch immer, gar nicht denkbar. Sein großstädtisches Auftreten, zuletzt in Zürich, wird in der Regel durch eine vermehrte Aktivität der Jugendlichen signalisiert, sei es das euphorisierte Herumziehen durch einschlägige Lokale, sei es die intime Inszenierung von Lesungen, Aufführungen, Diskussionen. Sein Temperament und Welterfassen ist von jener sinnlichen Natur, die sich am Detail orientiert und eher an überschaubaren Gruppenbindungen und Freundschaften als meinetwegen einer abstrakten Leserschaft. Artmanns Praxis ist es zum Beispiel, bevor seine Texte den anonymen Weg zur Drucklegung und zum Vertrieb gehen, sie irgendwann spontan und ohne Verabredung aus der Sacktasche zu ziehen und wenigen Freunden vorzulesen, womit dann ein wesentlicher Teil seines Mitteilungsbedürfnisses sich befriedigt: eine Art vorindustriellen Erfahrungsaustauschs. Einer solchen Haltung entsprechen dann auch die Veröffentlichungsweisen einer Menge seiner Texte. Kleinstverlage und Handpressen, deren technische Apparatur noch auf dem Leistungsstand des alten Druckerhandwerks stehen – manuelle Fertigung vom Satz bis zur Bindung und Illustration – haben Artmann-Texte in überschaubaren Auflagen herausgebracht und eigentlich erst den Weg zur Einvernahme durch Großverleger geebnet.
Die vorliegende Ausgabe nun hat das Verdienst, solche abgelegenen Texte aus ihrer Verstreuung zurückzuholen, zum Beispiel den „Dracula“, „tök ph’rong süleng“, „den handkolorierten Menschenfresser“ etc. Hinzu kommen tatsächliche Neuausgrabungen, vier Gedichte, ein Dramenfragment und drei Prosastücke, beziehungsweise Gedichte, die zwar bereits früher gedruckt aber in den repräsentativen Gedichtband ein lilienweißer brief aus lincolnshire noch nicht aufgenommen waren. Ein Kapitel „Theoretisches“ bringt wohl alles, was Artmann in dieser Richtung geschrieben hat. Sechs Stücke sind es, u.a. ein Manifest gegen die Wiederbewaffnung Österreichs, eine Totenklage auf García Lorca und ein Essay zu dem Gedichtzyklus landschaften, in dem einige grundsätzliche Bemerkungen zu seiner poetischen Haushaltung überhaupt zu finden sind. Diese kurzen Aufsätze vor dem Vergessen zu bewahren, war wirklich verdienstvoll. Weniger ihres Gehalts als der merkwürdigen, für Artmann bezeichnenden Symbiose von intellektueller Leistung und sinnlicher Beweisführung wegen: eine Form, die Essay und Poesie ganz dicht ineinander verschränkt.
Wenn man den Band nacheinander durchgeht und sich des Bekannten noch einmal vergewissert, erscheint natürlich deutlicher als beim separaten Lesen das Leistungsgefälle, das wechselnde Niveau. Am augenfälligsten ist das bei den meist fragmentarischen Theaterstücken. Dieses Genre verlangt, selbst wenn man es in seiner möglichsten Offenheit versteht, ein Maß an Konstruktivität, das höher und weittragender sein muß, als es Lyrik oder gar Prosa erfordern. Das Fragmentarische scheint auf diesen Mangel zurückzuführen sein. Eine Ausnahme bildet die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache: ein durchaus aufführbares Stück, vor allem, wenn man es sich als Marionetten- oder Puppenspiel vorstellt. Als Denunziation des Krieges oder des Militärischen überhaupt zeigt es einen leichtfüßigen und durchdringenden Witz, dem nicht auszuweichen ist und neben dem zum Beispiel die Prosaversuche mit ähnlicher Tendenz von Reinhard Lettau einigermaßen konstruiert erscheinen.
Man kann sich an den Arabesken des Bandes, etwa den Prosaansätzen ohne Folgen wie „Lord Listers Briefe am Nachmittag“ oder „Der aeronautische Sindtbart“ köstlich delektieren: wichtig jedoch erscheinen dagegen die vom Herausgeber ausgewählten Stücke aus „das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. eintragungen eines bizarren liebhabers“: ein Anlaß sich dieses Buchs insgesamt zu vergewissern. Dieses „imaginäre Tagebuch“ entstand unter dem Eindruck des Tagebuchs von Linné über seine lappländische Reise Anfang des 18. Jahrhunderts, Artmann hat es übersetzt. Linnés Notizen wurden während kurzer Rastpausen oder auf dem Reittier rasch hingekritzelt, Als Tagebuch ist das Ganze fetzenhaft, bruchstückartig, unvollständig. Was Artmann daran interessierte, waren die eindringlichen Momentaufnahmen winziger Dinge organischer oder anorganischer, materieller oder sozialer Art: abgesprungene, isolierte Details in der Aura ihrer unvermittelten Faktizität. Es sind Beobachtungen, nicht feinsinnig, nicht ästhetisierend und exklusiv, sondern handfest und sich berufend auf die groben Tatsachen, denen das Leben in diesem Landstrich unterworfen ist. Sie tragen ein Moment des Surrealen und gleichzeitig eine augenblickshafte Erscheinung des Willens und der Selbstbehauptung, die das einzelne Bild und das isolierte Wort hineinstellen in eine umgreifende Erfahrung. Mit diesem Buch war für Artmann ein Muster gegeben, dem er aus eigener Veranlagung nachgehen konnte, ohne je in die Gefahr der bloßen Nachahmung zu geraten. Das Rollenhafte seiner Poesie, die Verkleidung durch ältere und andere Literaturen ist hier durch einen direkt operierenden Aufmerksamkeitsgrad ersetzt, der die verschiedenfältigen, täglichen Wahrnehmungen, auch die Erinnerungsschübe oder die allgemeine Lokalisierung der Existenz in ihrem energetischen Zentrum trifft. Die herkömmlichen Orientierungssysteme, die in der Regel ideologisch vorgesteuert sind, werden hier nach Maßgabe eines auf sich selbst bestehenden Einzelnen neu geknüpft. Man macht an diesen Aufzeichnungen die gewiß nicht häufige Erfahrung, wie wenig abnutzbar und frisch ein Text sein kann, der immerhin bereits 1964 erschienen ist.
Wolfgang Maier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.1971
Nicolas Mahler: Was ich lese: „The Best of H.C. Artmann“
Ö1, 8.4.2017
Herlinde Koelbl: Herr Artmann, Ihre Vorliebe für schwarzen Humor wird in fast allen Ihren Texten deutlich. Das Weihe- und Würdevolle lag Ihnen nie?
Hans Carl Artmann: Ich bin kein priesterlicher Mensch, höchstens ein Druide. Es ist immer der Schalk da, der mir im Nacken sitzt.
Koelbl: Es gibt immer eine Brechung…
Artmann: Das ist eine heinesche Brechung; man schämt sich für etwas. Heine schämte sich auch. Wenn er zu lyrisch wird, schlägt er sofort um in Ironie.
Koelbl: Ihre Gedichte und auch Ihre anderen Texte haben verschiedene Wirklichkeitsebenen. Über weite Strecken führt die Phantasie, dann bricht wieder ein Stückchen Realität ein…
Artmann: Ein gesunder Mischmasch halt. Es ist Sache der Germanisten, das herauszufinden. Ich distanziere mich davon und bin selbst immer verwundert, was ich geschrieben habe.
Koelbl: Es ist fast so, wie wenn Kinder manchmal phantasieren, bis die Erwachsenen kommen und sagen: Das kann doch gar nicht so sein.
Artmann: Die Großeltern haben mir in der Volkssprache viele Geschichten aus dem bajuwarischen oder fränkischen Raum erzählt – sie waren Bauern in Neusiedel. Dadurch bekam ich Zugang zu Volksmärchen, zur Mythologie sozusagen. Der Großvater war Jäger, und er hat so gut fabuliert, dass man ihm glaubte, was er da erzählte. Wenn er von einer Erscheinung sprach, dann ist sie wirklich erschienen. Er hat es geglaubt. Mein Lieber, da habe ich die Augen aufgerissen und geschaut!
Koelbl: Sie haben 1958 med ana schwoazzn dintn geschrieben. Ein Buch im Dialekt war damals etwas sehr Ungewöhnliches.
Artmann: Es hat im ganzen deutschen Sprachraum eine Lawine ausgelöst. Ich wollte in einer anderen Sprache schreiben als der normalerweise für Gedrucktes üblichen – wenn ich besser Tahitianisch gekonnt hätte, hätte ich in dieser, einer völlig unfixierten Sprache geschrieben…
Koelbl: Sie wollten also aus der hohen Schriftsprache ausbrechen?
Artmann: Ich wollte ein Exempel statuieren, dass man auch in dieser Sprache schreiben kann. Beeinflusst bin ich da von Federico García Lorca und Jacques Prévert und vom Großstadtleben. Außerdem habe ich mittelalterliche Texte übersetzt. Ich arbeite gerne im Dialekt. Gewisse Sachen kann man nur im Dialekt machen, manche Tonlagen lassen sich da besser ausdrücken, Herzlichkeit oder Grobheit. Ich kann niemanden beschimpfen, wenn ich Hochdeutsch rede! Und wenn ich unser Bajuwarisch betrachte, da muss ich eine völlig andere Satzbautechnik verwenden – „der was“, „die was“; das ist sehr interessant. Aber inzwischen interessiert mich der Dialekt nicht mehr.
Koelbl: Haben Ihre Eltern und Großeltern in dieser Mundart gesprochen?
Artmann: Bei mir zu Hause hat man einen völlig anderen Dialekt gesprochen, nicht das schleimische Wienerisch, das ist eine schreckliche Sprache. Bei uns sprach man schon Dialekt, aber solider, also bäuerlicher, nicht proletenhaft. Und Wienerisch ist ja proletenhaft; zumindest die Spielart, in der ich schreibe, ist ganz ordinär. Ich mag Wien nicht.
Koelbl: Sie schreiben mit der Schreibmaschine. Haben Sie ein bestimmtes Modell, das Sie durchs Leben begleitet hat?
Artmann: Ich besitze seit Urzeiten, seit 1947, eine Maschine aus Leipzig, die mir meine Mutter gekauft hat. Eine ganze Pension hat sie dafür ausgegeben. Die Marke Chroma kriegt man heute nirgends mehr; Ersatzteile gibt es auch nicht. Mindestens sechs, sieben Schreibmaschinen habe ich kaputtgetrommelt. Es gibt natürlich meine Lieblingsschreibmaschine, auf der ich fast alles geschrieben habe; aber da senkt sich das „d“, und darüber bin ich sehr sauer.
Koelbl: Mit der Hand schreiben Sie gar nichts?
Artmann: Ich bin der schlechteste Handschreiber, den es gibt. Bei mir fließt alles ganz stark in die Handschrift, wie ich gerade geladen bin. Manchmal schreibe ich sehr hübsch, und dann wieder schmiere ich etwas hin. Und ich muss sehen, wie das Schriftbild gedruckt aussieht; ich bin sehr optisch veranlagt. Ich liebe Schriften.
Koelbl: Hat diese Vorliebe für die Schreibmaschine auch etwas mit dem Geräusch zu tun?
Artmann: Wenn ich schreibe, muss ich es klappern hören. Ich bin schon lärmig. Das Geräusch ist ja rhythmisierend. Und wenn ich mit etwas fertig bin, haue ich drauf, dass es nur so patscht… mit Schneid. Und mit diesem stillen Ausruf: So, jetzt hätten wir es geschafft!
Koelbl: Schreiben Sie viel in der Nacht?
Artmann: Früher habe ich meistens in der Nacht geschrieben, wenn ich nach Hause kam, so gegen vier Uhr in der Morgenstunde. Und was ich dann schrieb, wurde bei Tag überarbeitet. Diese Morgenstunden hatten etwas Einschläferndes, fast Narkotisches: Mir fielen langsam die Augen zu, und dann schrieb ich doch.
Koelbl: Kamen dadurch die Gedanken mehr aus dem Unterbewussten?
Artmann: Das könnte ich meinen. Aber das sortiert man dann möglicherweise aus, wenn man es wieder nüchtern sieht – Feilen ist eine Tagesarbeit.
Koelbl: Haben Sie manchmal versucht, diesen Zustand des Inspiriertseins bewusst herbeizuführen?
Artmann: Ich nehme keine Rauschgifte; und wenn ich auch nur ein Bier trinke, ist es aus mit dem Schreiben. Ich trinke Tee… Aber auf Gerüche schreibe ich; frisch gekalkte Wände, Düfte lösen in mir etwas aus. Kino inspiriert mich. Das ist so eine Art Geburtshilfe für das Schreiben. Jetzt sitze ich beim Fernsehen. Das ist etwas völlig anderes. Und ich schreibe auch nicht mehr nachts, dazu bin ich zu müde.
Koelbl: Finden Sie den ersten Satz leicht?
Artmann: Der Anfang ist sehr schwierig. Es gibt zwar Millionen Anfänge, aber es soll eben ein ganz neuer sein, und der fällt mir dann nicht ein. Wenn ich mal diesen Punkt habe, an dem der Knoten aufgeht – dann löst sich alles. Da hat man das ganze Gedicht mit dem ersten Satz schon fast fertig.
Koelbl: Unter Ihrem Einfluss bildete sich Anfang der Fünfzigerjahre die avantgardistische Wiener Gruppe. War sie sehr wichtig für Sie?
Artmann: Die hat es ja nie wirklich gegeben; sie besteht nur aus drei Hanseln. Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm und mir – die anderen schreiben sowieso nichts mehr.
Koelbl: Einer aus der Gruppe sagte, dass Sie der letzte lebende Dichter seien.
Artmann: Das sind so Sprüche. Vielleicht hat er recht. Ich bin möglicherweise der letzte Romantiker.
Koelbl: Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Dichter?
Artmann: Ein Schriftsteller müsste man sein, dann könnte man sich sein Leben erwirtschaften. Aber als Dichter bekommt man nichts.
Koelbl: Wie haben Sie Ihr Leben gesichert?
Artmann: Durch meine Mutter, sie ist jetzt vierundneunzig. Von ihr bekam ich mein Essen, mein Trinken, meine Wäsche, Zuspruch. Ohne dass ich sie ausnützen musste. Sie sagte: Ein bisschen was verdienen könntest du ja auch. Schau, dass du einen Posten kriegst bei der Post, da kannst du nebenbei schreiben. – Also habe ich Jobs gemacht, beim Film. Einen Teil des Geldes habe ich dann zu Hause gelassen und den Rest für die Straßenbahn und Zigaretten verbraucht. Oft bin ich sechs bis sieben Kilometer in die Stadt und abends dann wieder nach Hause gelaufen – da war ich natürlich aufgekratzt, und dann habe ich geschrieben. Untertags schlief ich dann bis mindestens zwölf.
Koelbl: Ist das Schreiben für Sie Glück?
Artmann: Auf jeden Fall. Ich lebe in schönen Sätzen, mehr oder weniger… nur ein guter Satz zählt. Aber was heißt Glück? Das ist wie ein Sonnenstrahl – der kommt, und dann geht er wieder. Bist du deshalb glücklich? Natürlich nicht, das gehört sich nicht, das ist unflätig!
Koelbl: Meinen Sie, man darf sich das Glück gar nicht wünschen?
Artmann: Man darf es nicht aussprechen, sonst ist es sofort wieder weg.
Koelbl: Man sagt ja, die Leiderfahrung sei ein großer Motor beim Schreiben…
Artmann: Ich könnte nie aus einer leidvollen Erfahrung heraus schreiben, das wäre mir zuwider – ich muss fröhlich sein.
Herlinde Koelbl: Schreiben!. 30 Autorenporträts, Knesebeck Verlag, 2007
Wos Unguaz – Szenische Lesung mit Texten von H.C. Artmann.
Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer
Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013
Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)
Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021
Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021
Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021
Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021
Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021
Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021
Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021
Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021
Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021
Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021
Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021
Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021
Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021
Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021
Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021
Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021
Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021
Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021
Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021
Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021
„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021
Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus
Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021
Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme
Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.
H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.
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