– Zu Paul Celans Gedicht „Engführung“ aus dem Lyrikband Paul Celan: Sprachgitter. –
PAUL CELAN
Engführung
Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist –
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaNirgends
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafragt es nach dir –
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen – er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
lag zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.
Sahn nicht, nein,
redeten von
Worten. Keines
erwachte, der
Schlaf
kam über sie.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKam, kam. Nirgends
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafragt es –
Ich bins, ich,
ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin es noch immer, ihr
schlaft ja.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBin es noch immer –
Jahre.
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan, tastet
umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander, hier
wuchs es wieder zusammen – wer
deckte es zu?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDeckte es
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu – wer?
Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. – Zum
Aug geh, zum feuchten.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZum
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAug geh,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazum feuchten –
Orkane.
Orkane, von je,
Partikelgestöber. das andre,
du
weißts ja, wir
lasens im Buche, war
Meinung.
War, war
Meinung. Wie
faßten wir uns
an – an mit
diesen
Händen?
Es stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, es
hing ein Gedanke an Pflanzliches dran –
grün, ja,
hing, ja.
unter hämischem
Himmel.
An, ja,
Pflanzliches.
Ja.
Orkane, Par-
tikelgestöber, es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen – er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir es hatten.
Körnig,
körnig und faserig. Stengelig,
dicht;
traubig und strahlig; nierig,
plattig und
klumpig; locker, ver-
ästelt –: er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.
Sprach, sprach.
War, war.
Wir
ließen nicht locker, standen
inmitten, ein
Porenbau, und
es kam.
Kam auf uns zu, kam
hindurch, flickte
unsichtbar, flickte
an der letzten Membran,
und
die Welt, ein Tausendkristall.
schoß an, schoß an.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchoß an, schoß an.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDann –
Nächte, entmischt. Kreise,
grün oder blau, rote
Quadrate: die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen
Stunden. – Kreise,
rot oder schwarz, helle
Quadrate, kein
Flugschatten,
kein
Meßtisch, keine
Rauchseele steigt und spielt mit.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSteigt und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaspielt mit –
In der Eulenflucht, beim
versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugelfang an
der verschütteten Mauer:
sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die
Chöre, damals, die
Psalmen, Ho, ho-
sianna.
Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern
hat wohl noch Licht.
Nichts,
nichts ist verloren.
Ho-
sianna.
In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grundwasserspuren.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(– – taggrau,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGrundwasserspuren –
Verbracht
ins Gelände
mit
der untrüglichen
Spur:
Gras,
Gras,
auseinandergeschrieben.)1
Absichtsvoll ist Celans längstes Gedicht durch die Endstellung in der Sammlung Sprachgitter wie durch die Großschreibung des Titels von den übrigen Gedichten abgehoben. Die 171 Verse sind in den Monaten von Februar bis November 1958 entstanden. Mit einer neuen lyrischen Textur zielt der Autor an diesem Beispiel darauf ab, sich von einer deskriptiven, reproduzierenden Sprache und damit vom Kanon des Herkömmlich-Poetischen abzusetzen. Er erreicht das durch fragmentierende Wort- und Satz-Brechungen sowie durch generelle Reduktion und Konzentration des Ausdrucks. Das einzelne Wort, manchmal sogar die einzelne Silbe bekommt dabei verstärktes Gewicht. Durch den Abbau bedeutungsmäßig gewohnter Determination werden kreativ-denkerische Impulse im Leser ausgelöst. Merkmal solchermaßen gestalteter Gedichte ist, wie Celan betonte, die „Vielstelligkeit“2 ihres Sinnpotentials. Damit ist eine erhebliche Mutation angesprochen. Sie erbringt letzten Endes den Abschied von den mimetischen Praktiken „bebilderter Sprachen“3 in ihrer Einsinnigkeit. Anders ausgedrückt: Celans ästhetisches Programm schafft nunmehr semantische Offenheit und Dynamik zum Zweck einer künstlerischen Phänomenalisierung des Ausdrucks. Das äußert sich vornehmlich in der fortlaufenden Spannung zwischen syntaktischer und versifizierter Anordnung. Sie erzwingt förmlich, durch die Form, intensive Reflexion des Textablaufs. Das bedeutet nichts anderes als die Tatsache, daß der Dichter Wert darauf legt, in einen Dialog mit dem Leser einzutreten. Beabsichtigt er doch, „mit seinem Dasein zur Sprache zu gehen“.4 Die durchgängige Thematik der „Engführung“ – der Holocaust und die Atombombe – erzwingt ein zögerndes, unsicheres Sprechen, das immer wieder ins Stocken gerät, um sich seiner Richtung zu vergewissern. Doch eben dadurch kann das Gedicht zum adäquaten Ausdruck der Betroffenheit über eine aus den Fugen geratene Welt werden. Aus diesem Grund schlug Celan diesen „Weg des Unmöglichen“ ein. Es ist der Weg in die „allereigenste Enge“,5 einer Enge, die indes spirituelle Weiträumigkeit herbeiführt: Engführung des Textes als dessen Weiterung und somit die poetische „Engführung“ als Weiterung.
Wie bereits in der „Todesfuge“ greift der Autor auch hier eine Kompositionstechnik auf, die aus dem Bereich der Musik stammt. In diesem Fall ist es die gleichzeitige, mithin zeitlich ,eng-geführte‘, kontrapunktische Permutation der Stimmelemente einer Fuge am Schluß, die so genannte ,Stretta‘ (so der wohlüberlegte Gedichttitel in der französischen Übersetzung), also gewissermaßen die fragmentierte Verarbeitung und darstellende Zusammenführung sämtlicher Themen einer fugalen Komposition. Die von Celan eng geführte Textkonstruktion erbringt in jeder Hinsicht substantiellen gedanklichen Zuwachs. Inhaltlich durch die Ausdehnung des Totengedenkens auf die Reflexion des gleichen Vernichtungspotentials im Atomzeitalter, sprachlich durch die erwähnten Veränderungen im Ausdruck, formal durch die radikale Öffnung des Gedichts zu einer wie Szondi formulierte, komplexen „Text-Landschaft“6 mit vielfältigen perspektivischen und temporalen Verwerfungen oder Überlagerungen.
Das Gedicht „Engführung“ ist gewiß nicht zufällig in neun Versgruppen, Celan spricht von „Partien“, gegliedert. Sicher dachte er dabei an die neun Kreise des Infernos in Dantes Göttlicher Komödie und an Hölderlins aus neun Strophen bestehende Elegie „Brod und Wein“. Hier der Wortlaut:
ENGFÜHRUNG
*
Verbracht ins
Gelände
mit der untrüglichen Spur:
Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß,
mit den Schatten der Halme:
Lies nicht mehr – schau!
Schau nicht mehr – geh!
Geh, deine Stunde
hat keine Schwestern, du bist –
bist zuhause. Ein Rad, langsam,
rollt aus sich selber, die Speichen
klettern,
klettern auf schwärzlichem Feld, die Nacht
braucht keine Sterne, nirgends
fragt es nach dir.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaNirgends
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafragt es nach dir –
Der Ort, wo sie lagen, er hat
einen Namen – er hat
keinen. Sie lagen nicht dort. Etwas
lag zwischen ihnen. Sie
sahn nicht hindurch.
Sahn nicht, nein,
redeten von
Worten. Keines
erwachte, der
Schlaf
kam über sie.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaKam, kam. Nirgends
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafragt es –
Ich bins, ich,
ich lag zwischen euch, ich war
offen, war
hörbar, ich tickte euch zu, euer Atem
gehorchte, ich
bin es noch immer, ihr
schlaft ja.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBin es noch immer –
Jahre.
Jahre, Jahre, ein Finger
tastet hinab und hinan, tastet
umher:
Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander, hier
wuchs es wieder zusammen – wer
deckte es zu?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDeckte es
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu – wer?
Kam, kam.
Kam ein Wort, kam,
kam durch die Nacht,
wollt leuchten, wollt leuchten.
Asche.
Asche, Asche.
Nacht.
Nacht-und-Nacht. – Zum
Aug geh, zum feuchten.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZum
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAug geh,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazum feuchten –
Orkane.
Orkane, von je,
Partikelgestöber. das andre,
du
weißts ja, wir
lasens im Buche, war
Meinung.
War, war
Meinung. Wie
faßten wir uns
an – an mit
diesen
Händen?
Es stand auch geschrieben, daß.
Wo? Wir
taten ein Schweigen darüber,
giftgestillt, groß,
ein
grünes
Schweigen, ein Kelchblatt, es
hing ein Gedanke an Pflanzliches dran –
grün, ja,
hing, ja.
unter hämischem
Himmel.
An, ja,
Pflanzliches.
Ja.
Orkane, Par-
tikelgestöber, es blieb
Zeit, blieb,
es beim Stein zu versuchen – er
war gastlich, er
fiel nicht ins Wort. Wie
gut wir es hatten.
Körnig,
körnig und faserig. Stengelig,
dicht;
traubig und strahlig; nierig,
plattig und
klumpig; locker, ver-
ästelt –: er, es
fiel nicht ins Wort, es
sprach,
sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß.
Sprach, sprach.
War, war.
Wir
ließen nicht locker, standen
inmitten, ein
Porenbau, und
es kam.
Kam auf uns zu, kam
hindurch, flickte
unsichtbar, flickte
an der letzten Membran,
und
die Welt, ein Tausendkristall.
schoß an, schoß an.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchoß an, schoß an.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDann –
Nächte, entmischt. Kreise,
grün oder blau, rote
Quadrate: die
Welt setzt ihr Innerstes ein
im Spiel mit den neuen
Stunden. – Kreise,
rot oder schwarz, helle
Quadrate, kein
Flugschatten,
kein
Meßtisch, keine
Rauchseele steigt und spielt mit.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSteigt und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaspielt mit –
In der Eulenflucht, beim
versteinerten Aussatz,
bei
unsern geflohenen Händen, in
der jüngsten Verwerfung,
überm
Kugelfang an
der verschütteten Mauer:
sichtbar, aufs
neue: die
Rillen, die
Chöre, damals, die
Psalmen, Ho, ho-
sianna.
Also
stehen noch Tempel. Ein
Stern
hat wohl noch Licht.
Nichts,
nichts ist verloren.
Ho-
sianna.
In der Eulenflucht, hier,
die Gespräche, taggrau,
der Grundwasserspuren.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa*
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(– – taggrau,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaGrundwasserspuren –
Verbracht
ins Gelände
mit
der untrüglichen
Spur:
Gras,
Gras,
auseinandergeschrieben.)7
Was beim Lesen oder Hören zunächst auffällt, sind die durchgängig zu registrierenden syntaktischen Brechungen, die ein völlig anderes als das gewohnte lyrische Sprechen herbeiführen. Celan hat hier ein neues Sprechen gefunden, das die normale Syntax durch schroffe Zäsuren in der Anordnung der Verse, teilweise sogar innerhalb eines Wortes, aufbricht, dadurch die Elemente der Aussage isoliert und fortgesetzt überprüft. Auf diese Weise bewirkt er genaues und insofern zum aktiven Dialog zwingendes Lesen. Deswegen verfolgte er zunächst die Absicht, den ganzen Band unter dem Titel „Engführung“ herauszubringen. Denn in den darin zusammengefaßten Gedichten dominiert einerseits die Erinnerung an das erfahrene Entsetzen, andererseits das textuelle Einvernehmen zwischen dem Erinnerten und dem Leser durch die – möglicherweise – sein Denken konzentrierende und freisetzende „Text-Landschaft“. Jedenfalls regt dazu bereits das typographische Erscheinungsbild an. Es macht uns darauf aufmerksam, daß wir es mit einem jeden Erwartungshorizont sprengenden Gedicht zu tun haben. Celan hat sich für diese extreme Lösung entschieden. Es geht dabei um weit mehr als die erwähnte Ausdrucksmutation und Entpoetisierung. Der tiefere Grund für das diametrale poetische Verfahren ist im Fremdwerden der Realität und einer infolgedessen gründlich liquide gewordenen Weltsicht zu suchen. Darum richten sich die auktorialen Bemühungen so konsequent auf einen der Konvention widersprechenden Sprachduktus, auf einen hart gefügten Wort- und Versklang offenkundiger Dissonanz. Die radikal veränderte Kunstkonzeption äußert sich in einer ganz eigenen konstruktiven Form, nämlich in Gestalt einer normverletzenden Darstellungspraxis mit einer neuen poetischen Konsistenz im Gefolge. Celan gestaltet sein Gedicht in bewußter Absetzung von jeder Regelmäßigkeit. Die herkömmliche Versifikation ist verabschiedet. Zur Voraussetzung der Gestaltung wird die Störung einer derartigen Ordnung. Aber es handelt sich um eine Destruktion, die neue Konstruktion herbeiführt. Wir begegnen der formalen Entsprechung des vom Autor angestrebten „Gegenworts“.8 Diese neuen ,Verse‘ sind gebaut aus aufgesprengten oder in sich gebrochenen, zerhackten Sätzen, Wörtern, Lautungen, teilweise nur noch aus Wortfetzen, immer wieder auch aus wiederholenden Wortballungen. Durchweg handelt es sich dabei um rhetorische Wendungen, festgeschriebene Zeichen eines verzweifeltem Schweigen abgerungenen Sprechens. Aus diesem Grund erscheint die überwiegende Mehrzahl der Verse fragmentiert, unter ein Minimum gedrückt. Der Leser soll spüren: sie stehen gegen die Praxis der lyrischen Konvention. Eine derartige Vereinzelung von Wortkombination und Wort bis hin zur Silbenisolierung demontiert den Versgestus gründlich und schafft zugleich eine neue Ausdrucksqualität. Der Versverfall wird zu Celans neuem Formprinzip.
Es ist im Zusammenhang der Biographie nicht möglich, den Gedichttext im einzelnen zu interpretieren.9 Deshalb können allein die inhaltlichen Kernpunkte angesprochen werden. In den ersten fünf Partien verbringt Celan den Leser „ins Gelände“ (V. 1/2) des „schwärzlichen Felds“ (V. 13), voll von „Asche“ und „Nacht“ V. 53/56). Das geschieht in der Hoffnung, daß diejenigen, die gewillt sind, der „untrüglichen Spur“ (V. 3) nachzugehen, sich ganz der Erinnerung hingeben. Den Bezugshintergrund bildet zum einen die Landschaft der Toten, die Steinwelt („Die Steine, weiß, / mit den Schatten der Halme“; V. 4/5), sodann zum andern die Schreckenswelt mit der „tickenden“ (V. 34) Präsenz der „noch immer“ (V. 36 und 38) einsatzbereiten Mordmaschinerie. Der Assoziationsfähigkeit des Lesers sind dabei bewußt keine Grenzen gesetzt. Gewiß meint das Gedicht den bürokratisierten und industrialisierten Mordvorgang der sogenannten ,Endlösung der Judenfrage‘, aber ebenso jeden Verrat und jedes Verbrechen am Menschen in der Geschichte. Celan hat das der oft durch Wiederholungen intensivierten Sprach-Landschaft eingeschrieben. Seine humanen Erwartungen stimmen mit denen überein, die nach den andern „fragen“ (V. 15), die nichts „zudecken“ (V. 46), weil sie nicht vergessen wollen, was passiert ist. In erster Linie aber legt er Wert auf die Bereitschaft zum Mit-Leiden. Darin liegt der tiefe Sinn der Verse am Schluß der fünften und am Beginn der folgenden Partie: „zum / Aug geh zum feuchten“ und „Zum / Aug geh, / zum feuchten“ (V. 56/57 und V. 58/60). Absichtsvoll kommt mit der Wiederholung dieser Aussage die Träne des Mitleids verstärkt zur Wirkung. Sie wird zum Motto für den weiteren Text und bildet so zugleich den Auftakt für die mit Abstand längste sechste Partie.
Dieser Mittelteil des Gedichts bildet gut ein Drittel des Gesamttextes. Im Gegensatz zur bisherigen Stimmenverteilung fällt sogleich auf, daß nunmehr eindeutig das Personalpronomen der ersten Person des Plurals („wir“) die lyrische Aussage perspektivisch festlegt. Dadurch wird die Stimme gleichsam chorisch ausgeweitet. Was zur Sprache kommt, ist nichts anderes als die mit Hiroshima und Nagasaki erfahrbar gewordene Möglichkeit einer Selbstvernichtung der Menschheit. Wenn von Celan hierzu die Vergangenheitsform gewählt wird, gibt das seiner Mitteilung das gebotene schwere Gewicht des schon Erlebten. Freilich geschieht das ebenso im Blick auf Gegenwart und Zukunft. Um der Eindringlichkeit willen dominieren in diesem Zusammenhang konzentrierende Ein-, Zwei-, oder Dreiwortsätze. In der Gegenüberstellung von naturgegebenen „Orkanen“ (V. 61/62) und der von Menschen erfundenen Extremform der Zerstörung, eben der Atomisierung im „Partikelgestöber“ (V. 63), wird das destruktive Element in der Welt namhaft gemacht. Der poeta doctus Celan aktualisierte mit dieser Bezeichnung das alte Wort des Demokrit:
Urgründe des Alls sind die Atome und das Leere, alles andere ist nur schwankende Meinung.10
Es stellt die pointierte Konzeption eines Lebens auf Abruf dar. Denn mit dem „Partikelgestöber“, dem „atomaren Orkan“,11 wie Marlies Janz es zutreffend ausdrückte, kündigt sich schon jene totale Vernichtungsmaschinerie an, die dann in der atomaren Kernspaltung bittere Realität gewinnt und sich als Kern des Bösen in der Welt erweist. Was dabei passiert, exemplifiziert Celan mit dem Hinweis auf das „grüne Schweigen“ (V. 79/80) des abgestorbenen „Kelchblatts“ (V. 80), das „unter hämischem / Himmel“ (V. 84/85). nur noch einen entfremdeten „Gedanken an Pflanzliches (V. 81) darstellt. Völlige Eindeutigkeit schafft hierzu die nächste Versgruppe (V. 96–105). In ihr wird die angebliche „Gastlichkeit“ (V. 93) der „Stein“-Welt entlarvend beschrieben mit abstoßenden mineralogischen Formstrukturen. Wer Ohren hat zu hören, der hört hier die offenkundige Klangironie heraus. Geh: es doch um den „steinigen“, mitleidlosen Sachverhalt: „sprach gerne zu trockenen Augen, eh es sie schloß“ (V. 105). Tödliches ist gemeint mit dem „Porenbau (V. 111) der menschlichen Haut. Er wird dabei für die Opfer der Atombombe lokalisiert als Ort des mörderischen Eindringens in die Körper („Kam auf uns zu, kam / hindurch“ (V. 113/114). Ein zuvor unbekanntes Vernichtungspotential „schießt“ damit „an“ („schoß an, schoß an“; V. 119). Im anschießenden „Tausendkristall“ der „Welt“ (V. 119) ist unschwer die Atomexplosion auszumachen. Die thematische Ausweitung vom Holocaust zur Atombombe macht die „Engführung“ zu einem Gedicht über die generelle Auslöschung des Humanen in der Welt.
Es folgen Informationen über das Funktionieren des apokalyptischen Mordsystems. Blanke Technologie substituiert sich dabei dem Humanen. Der „Welt […] Innerstes“, V. 125), das Atom, treibt ein grausames „Spiel mit den neuen Stunden“ V. 126/127) einer vom Menschen befreiten Zeit. Was von den Planungs- und Kommandostellen ausgeht, hinterläßt keine Spuren („kein / Flugschatten der Atombomber oder -raketen, „kein Meßtisch“; V. 130–132). Gegenüber der „Todesfuge“ ist das Sterben hier noch stärker entpersonalisiert („keine / Rauchseel steigt und spielt mit“: V. 132/135). Wir können davon ausgehen, daß Celan seinen Text gerade dem Gedenken an die „Rauchseelen“ gewidmet hat. Insofern verbindet die tiefreichende Metapher das Los der Atomtoten mit dem der Toten in den Vernichtungslagern („Asche. / Asche, Asche. / Nacht. / Nacht-und-Nacht“; V. 53–56).
An dieser Stelle übernimmt der Autor, anstelle der Toten sprechend, deren Stimme. Der Stimmwechsel bewirkt eine zunehmende Direktheit. Zur Sprache kommen mit „der jüngsten Verwerfung“ (V. 140), mit den „Rillen“ (V. 146), Erinnerung, Trauer, Protest, Warnung und Vision. Aber es sind bloß noch „Gespräche, taggrau, / der Grundwasserspuren“ (V. 159/160), will sagen „versteinerter Aussatz“ (V. 137), im Grunde düsteres Schweigen. Wie zur Umrahmung folg: am Schluß die neunte Partie als eigenständiges Bauelement (V. 161–171). Parenthetisch abgesetzt, wird dieser Teil des Gedichts kenntlich als Zeichen des Einvernehmens mit dem Leser. Kein einziges neues Wort wird gebraucht. Und doch ist es ein anderes Sprechen. Wir begegnen einer radikal veränderten Sprechweise. Sie wird hauptsächlich herbeigeführt durch Auflösung des Satzganzen in die semantischen Bestandteile. Die neue Ausdrucksqualität liegt darin, daß die ungewohnte Sprachform den gewohnten lyrischen Diskurs in Frage stellt. Dadurch kommt der von Celan praktizierte sprachreflexive Gestus überhaupt erst zur rechten Wirkung. Denn der Stakkato-Text hämmert die Erinnerung an das „Gelände mit der untrüglichen Spur“ endgültig ins Gedächtnis des Lesers. Das Schlußwort, „auseinandergeschrieben“ (V. 3 > V. 171), legt fest, wie intensiv der Durchgang durch den Text das dargestellte Geschehen dem Adressaten in Erinnerung gebracht hat. Das „Auseinanderschreiben“ ist nichts anderes als geschriebenes Eingedenken. Das erklärt im übrigen die große Leidenschaft, mit welcher Celan hier zu Werke gegangen ist. Er hat mit diesem Gedicht durch die konsequent praktizierte dissoziierende Zeilenstruktur, die fragmentierende Wort- und Satzbrechung und die generelle Reduktion und Konzentration des Ausdrucks, die poetische und die poetologische Grundlage geschaffen für seine weitere Arbeit. Das neue ästhetische Programm wurde zur Richtschnur für die in den sechziger Jahren entstandenen Gedichte und Gedichtzyklen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die „Engführung“ wirklich als Weiterung.
Theo Buck, aus Theo Buck: Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie, Böhlau Verlag, 2020
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