− Zu Paul Celans Gedicht „Was näht…“, Erich Arendts „Danach…“ und Ernst Meisters „Ein Wort“ aus den Lyrikbänden Paul Celan: Schneepart, Erich Arendt: Zeitsaum und Ernst Meister: Wandloser Raum. −
PAUL CELAN
Was näht
an dieser Stimme? Woran
näht diese
Stimme
diesseits, jenseits?
Die Abgründe sind
eingeschworen auf Weiß, ihnen
entstieg
die Schneenadel,
schluck sie,
du ordnest die Welt,
das zählt
soviel wie neun Namen,
auf Knien genannt,
Tumuli, Tumuli,
du
hügelst hinweg, lebendig,
komm
in den Kuß,
ein Flossenschlag,
stet,
lichtet die Buchten,
du gehst
vor Anker, dein Schatten
streift dich ab im Gebüsch,
Ankunft,
Abkunft,
ein Käfer erkennt dich,
ihr steht euch
bevor,
Raupen
spinnen euch ein,
die Große
Kugel
gewährt euch den Durchzug,
bald
knüpft das Blatt seine Ader an deine,
Funken
müssen hindurch,
eine Atemnot lang,
es steht dir ein Baum zu, ein Tag,
er entziffert die Zahl,
ein Wort, mit all seinem Grün,
geht in sich, verpflanzt sich,
folg ihm
ERICH ARENDT
DANACH…
Erdschichtentief
die Muscheln.
Sie halten
hohlschalig
ihr Augengespräch.
ob ihnen
wachsend
zerfallend
auf Nadelspitze die Ichstadt.
erinnernd:
aus allem, aufgegeben
dein Schatten,
die Zifferblätter
ins Meer.
Flughäutig
ein letztes
Nachtwort
Gerücht.
Kein Mund mehr
entmündigt
die eigene Stimme.
Nur Mond noch, die alte
Staubillusion, der
hohlwangig
veruntreute
Kreis, in einem
Vielleicht:
Ohr jetzt
dem Schweigen zu,
lauschend,
es spricht:
Kein Außen kein
Innen, wie gott-
zugetriebenes Scheintot
das stumme Heulen
am Zeitsaum
die Körper.
*
So halte – Endgültiges
ist – „ein Wort
mit all seinem Grün“
den Rindenwuchs
wach,
Vergessen um Vergessen
für Ernst Meister
ERNST MEISTER
„Ein Wort
mit all seinem Grün“,
so las ich.
„Das Nichts mit
all seinem Grün“
ist möglich zu sagen,
denn es weiß
die lebendige Welt
außer uns ja
nichts von sich selbst. –
So denkt euch
und das Andere.
– Zu einem lyrisch-poetologischen Dialog Erich Arendts und Ernst Meisters mit Paul Celan. –
Poetologische Äußerungen von Autoren, die sich nachhaltiger um Sinn, Zweck und Wirkung ihres Tuns kümmern, greifen nicht selten auf entsprechende Bekundungen anderer Schriftsteller zurück, sei es in der Absicht bekenntnishafter Zustimmung oder auch gezielter Distanznahme. Gleichgültig, ob es ihnen dabei um Affirmation oder um Absetzung zu tun ist, in beiden Fällen dient die programmatische Verlautbarung des Vorläufers weniger würdigender Erinnerung als vielmehr einer deutlicheren Klärung und Erklärung der eigenen Position. Gewiß wird dem Kollegen durch eine solche Bezugnahme in der Regel Respekt bezeugt, sofern es sich nicht gerade um einen Fall prinzipieller Gegnerschaft handelt. In erster Linie jedoch sollen auf diesem Wege Selbstverständnis und literarisches Programm des sich mitteilenden Autors vor dem Hintergrund der Beziehungen zu einem als verbindlich ausgewiesenen Werkzusammenhang einsichtig gemacht werden.
Recht häufig begegnen wir in der Literaturgeschichte derartigen Referenzen und Repliken. Ein konkretes Beispiel hierzu soll uns im weiteren beschäftigen. Gemeint ist eine faszinierende Dreiecksbeziehung zwischen einem Gedicht Paul Celans einerseits und darauf reagierenden Gedichten Erich Arendts sowie Ernst Meisters andererseits, eine Konstellation also zwischen drei herausragenden Vertretern der deutschsprachigen Lyrik nach 1945. Die Anregung dazu hat Gregor Laschen gegeben mit seiner ,Kleinen Notiz zu einem Zusammenhang‘. Sein Hinweis sollte – wie er betonte – auf eine erhellende „Anspielungsmechanik“ zwischen Celans Gedicht „Was näht…“ und den lyrischen Antworten Erich Arendts „Danach…“ sowie Ernst Meisters „Ein Wort“ aufmerksam machen. Über diesen Befund hinaus ist den äußerst spärlichen Darlegungen Laschens leider nur wenig zu entnehmen. Neben dem bereits von Winfried Nolting ausgemachten Gestus des „hermetischen Sprechens“ führt er lediglich den allen drei Dichtern gemeinsamen „Anschluß an Hölderlin“ ins Feld, um dann noch eine „je eigene ,ausschreibende‘ (Arendt) oder ,korrigierende‘ (Meister) Reflexion/Verifikation der im Celanschen Gedicht vorgeschlagenen Poetologie“ zu konstatieren. Was davon zutrifft oder nicht, wird zu prüfen sein. Mit einer hermeneutischen Erschließung der drei Gedichte kann und will die Information Laschens jedenfalls nicht einmal im Ansatz etwas zu tun haben.
Die nötige Interpretation der Texte soll in der Folge geleistet werden.
Zunächst ist dabei die Frage zu klären: Was liegt konkret vor? Das merkwürdig bildreiche und dennoch abstrakt wirkende Gedicht Celans, im Januar 1968 entstanden und in die noch vom Autor selbst zusammengestellte, aber erst postum veröffentlichte Sammlung Schneepart aufgenommen, wurde für Arendt wie für Meister zur Herausforderung. Obwohl beide älter als der 1920 geborene Celan waren (Arendt wurde 1903 geboren, Meister 1911), haben wir es also mit den lyrischen Reaktionen von Nachfahren zu tun. Eine grobe chronologische Zuordnung situiert das Gedicht Celans am Ende der sechziger Jahre, die Antwort-Gedichte Arendts und Meisters in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Rund ein Jahrzehnt liegt also zwischen ,challenge‘ und ,response‘.
Nun zu den Gedichten im einzelnen. Den Anfang bildet logischerweise „Was näht…“ von Paul Celan. Hier der Wortlaut:
Was näht
an dieser Stimme? Woran
näht diese
Stimme
diesseits, jenseits?
Die Abgründe sind
eingeschworen auf Weiß, ihnen
entstieg
die Schneenadel,
schluck sie,
du ordnest die Welt,
das zählt
soviel wie neun Namen,
auf Knien genannt,
Tumuli, Tumuli,
du
hügelst hinweg, lebendig,
komm
in den Kuß,
ein Flossenschlag,
stet,
lichtet die Buchten,
du gehst
vor Anker, dein Schatten
streift dich ab im Gebüsch,
Ankunft,
Abkunft,
ein Käfer erkennt dich,
ihr steht euch
bevor,
Raupen
spinnen euch ein,
die Große
Kugel
gewährt euch den Durchzug,
bald
knüpft das Blatt seine Ader an deine,
Funken
müssen hindurch,
eine Atemnot lang,
es steht dir ein Baum zu, ein Tag,
er entziffert die Zahl,
ein Wort, mit all seinem Grün,
geht in sich, verpflanzt sich,
folg ihm
Auf Anhieb erkennt man zunächst einmal die ,harte Fügung‘ der konzentrierenden Versifikation, wie sie für das Celansche Spätwerk typisch ist. Die 45 ,Verse‘ formen sich zu 13 unregelmäßigen ,Strophen‘, deren Umfang zwischen einer und sechs ,Verszeilen‘ schwankt. Eine ungewöhnliche ,Versifikation‘ ist das schon. Aber Celan hat, wie wir sehen werden, seine Gründe dafür. Behalten wir ruhig die alte Terminologie bei. Sie gilt eben hier einer radikal geänderten, landläufigem Verständnis nach ,entpoetisierten‘ lyrischen Textur. – Gegen Ende des Gedichts nimmt die Konzentration der Gestaltung zu: Die Strophen werden knapper, apodiktischer, lapidar.
Die Verse 1–14 bilden eine erste, halbwegs ,geschlossene‘ Gruppe, die Verse 15–40 das Mittelstück, die Verse 41–45 eine Art Ausklang. – Unscharf bleiben dagegen vorderhand die perspektivischen Linien der personalen Träger der lyrischen Konstruktion. Vor allem der Wechsel vom Du zum Ihr im Mittelteil gibt dem Leser Fragen auf. Von vornherein eindeutig ist allein die Funktion des imperativisch angesprochenen Du. Wir begegnen dem bei Celan häufigen Gestus der Selbstverständigung als Selbstansprache. Er schätzte diese Form wohl deshalb besonders, weil die kommunikative Öffnung zum Leser hin sich so unmittelbar herstellen läßt. – Noch etwas ist zu bemerken: Ganz am Anfang des Gedichts ist in einer nicht näher bestimmten Weise von „dieser Stimme“ die Rede, an der genäht wird und die ihrerseits näht (V. 1–4). Inwieweit sie auf das Du zu beziehen ist, wird vorerst nicht geklärt. Jedenfalls aber sind „Stimme“ (V. 2 und 4) und „Wort“ (V. 43) eng aufeinander bezogen. Sie bilden geradezu die Leitbegriffe für den Textzusammenhang. Gewiß nicht zufällig sind ihnen auch die wesentlichen Imperative (V. 10 und 45) zugeordnet. – Nimmt man die verschiedenen Sachverhalte zusammen, werden immerhin erste Gestaltungsstrukturen erkennbar. Verstehbarkeit gewährleistet indes erst die genaue Interpretation.
Eine vororientierende Überschrift fehlt dem Gedicht. Dadurch wird die erste Verszeile mit besonderem Gewicht versehen. Dermaßen unterstrichen gewinnt der Vorgang des „Nähens“ initiierende Bedeutung. Aus dem semantischen Feld des Nähens dürfte hier in erster Linie die Komponente des ,Flickens‘ oder ,Zusammenflickens‘ in einem fast medizinischen Sinne gemeint sein. Um diese Aktion kreisen die beiden Fragesätze, aus denen sich die erste Strophe zusammensetzt. Dabei muß die Doppelfunktion der „Stimme“ als Objekt und Subjekt des Nähprozesses den Leser verblüffen. Gerade das soll sie auch. Denn das gewaltsame Bild zwingt ihn dazu, mimetisch gewohnte Kategorien des Verstehens hinter sich zu lassen. Jeder weiß, daß eine Stimme nicht genäht werden kann. In unserem Fall geht es sogar um eine Stimme, die einer Nähreparatur bedarf, obwohl sie selbst damit beschäftigt ist zu nähen. Folglich müssen wir den Bedeutungsrahmen dieser extremen Metapher erweitern und vor allem wegführen von jedweder ,naturalistischen‘ Vorstellung des Lädiertseins der Stimme. Es muß sich um eine Stimme mit besonderer Qualität handeln, die im selben Maße, in dem sie steigernden und verbindend-heilenden Einfluß erfährt, in der Lage ist, die Qualität der Steigerung und Heilung vermittelnd weiterzugeben. Die bewußt einfache Form des Fragens („Was näht / an dieser Stimme?“; V. 1/2 und: „Woran / näht diese / Stimme?“; V. 2/4) könnte fast den außergewöhnlichen Charakter der Aussage verdecken, wäre da nicht die paradoxe Irritation der Bildlichkeit. An ihr geht uns schlagartig auf, daß Celan von der besonderen Stimme des Dichters, mithin in eigener Sache spricht. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger kann er jedoch nicht mehr einfach Sinn und Zweck der Kunst definieren (etwa als „das Gute, Wahre und Schöne“ oder als „edle Einfalt, stille Größe“). Die ,Meridian‘-Rede Celans macht hinreichend deutlich, als wie fragwürdig der Sprecher seine künstlerische Arbeit empfinden mußte. Schlug er doch vor, in der Dichtung die „Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst“ zu sehen. Aus diesem Grund muß die Stimme, die nähen will, erst einmal selber genäht werden.
Unklar ist dabei für Celan nicht nur, welche Kraft ihm „diese Stimme“ überhaupt gibt, ihn gleichsam in den ,besonderen Zustand‘ des so Sprechenkönnens versetzt. Noch entschiedener gilt sein Fragen der schmerzlichen Überlegung, ob er etwas von dieser Kraft anderen mitzuteilen vermag und ob es zu einer solch erhebenden Wirkung überhaupt kommen kann. Mit einem Schlag werden so die Dimensionen des Fragens ins Grenzenlose ausgedehnt („diesseits, jenseits?“; V. 5). Die den ersten Abschnitt beschließende Verszeile macht die Unbedingtheit des Fragens gemeinverständlich. Es geht um die Stimme der Wahrhaftigkeit und eines über die Lebensgrenze, den Tod, hinaus haltbaren Eingedenkens. Ob und wie dabei Diesseits und Jenseits ins Spiel kommen, läßt der Autor als Frage stehen.
Überhaupt fällt auf, wie durch die bereits kurz angesprochene eigenwillige Versgestaltung Celans die Syntax stakkatoartig aufgerissen wird, so daß die mühsame Selbstvergewisserung ersichtlich das Formprinzip des Schreibverfahrens darstellt, auch und gerade für den Leser. Ihm gerät der Text durch seine Form zum Reflexionsfeld. Ohne stetes Reflektieren ist deshalb den Celanschen Versen nicht beizukommen. – Auch von herkömmlicher strophischer Einheit ist wenig geblieben. Das macht die vom sechsten Vers bis zum Ende des Gedichts über 40 Verse hingedehnte Satzbewegung augenfällig. Und so wie sich die gewohnte Konzeption der Strophe relativiert, kann ebenso nicht mehr die Rede sein von einem verbürgten syntaktischen System. Zugespitzt gesagt: Die genähte und nähende Stimme gibt keine Dudensätze von sich. Sie besteht auf ihrer eigenen Sprache, jenseits banaler Alltäglichkeit des normierten Sprechens und der Nicht-Kommunikation des Geschwätzes. Nachdem somit der Eingang des Gedichts als Auftakt einer poetologischen Aussage kenntlich geworden ist, die von der prekären Situation heutiger Dichtung spricht, kann der Autor in der zweiten Strophe sein Denken in Bildern weiterführen und präzisieren. Zur Frage stehen Bedingungen und Rang der künstlerischen Möglichkeit. Konditionierend wirken hier, wie gleich anfangs betont wurde, die „Abgründe“ (V. 6) der Wirklichkeit, von der die Stimme ausgeht. Wohlgemerkt sind sie in der steigernden Pluralform angeführt. Diese Abgründe bilden die Ausgangslage des Dichters. Er hat – mit Celan zu sprechen: „Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her“ – keine andere Wahl. Seine Aufgabe besteht darin, ein Gegengewicht zu den Abgründen zu schaffen. In seiner Sicht und unter solcher Zielsetzung erscheinen sie darum „eingeschworen auf Weiß“ (V. 7). Man mag dabei zunächst an das Weiß des noch unbeschriebenen Blattes denken, denn seiner Leere hat der Dichter entgegenzuwirken. Indes erinnert das substantivierte Farbadjektiv wegen seiner Funktion im Kontext des Gedichts stark an das Traklsche Blau. Wie dort zielt die Benennung auf eine antipodische Entgegensetzung zu den bestehenden Finsternissen. Um im Bild des Anfangs zu bleiben, könnte man sagen, das Weiß stelle den Zielpunkt des Nähens dar. Wichtig ist hierfür insbesondere die zwischen den Abgründen und dem Weiß wirksame Dialektik. Sie ist sowohl im Eingeschworen-Sein angesprochen wie dann in der Tatsache, daß es Abgründe sind, denen die „Schneenadel“ (V. 9) entstiegen ist.
Mittels dieser ungeheuer freien Metapher schafft Celan einen polyvalenten Kristallisationspunkt, der die Komponente des Nähens ebenso weiterführt wie den Farbwert Weiß. Die Verflechtung beider Motive stiftet den vom Autor gesuchten ,Nadelzauber‘. Er hat im Erscheinungsbild viel zu tun mit dem ,nadeligen‘ Kristalleffekt des Nadelerzes, muß allerdings „eingeschworen auf Weiß“ bleiben. Vor allem aber läßt sich die Schneenadel instrumental nutzen. Mit ihr können Zeichen eingeritzt, Worte schriftlich fixiert werden, beispielsweise die Erfahrungen dessen, der mit ,genähter‘ Stimme ,nähend‘ spricht. Schließlich reißt uns das kühne Bild unversehens in die abgehobenen Gefilde des „Schneeparts“, wo allein Identität zu finden ist. Bezeichnenderweise kommt die Schneenadel zwar aus den Abgründen, ist „ihnen“ aber „entstiegen“ (V. 7/8). Darum vermag sie jene Aufwärtsbewegung zu leisten, die zum Vorgang des Nähens, wie es Celan versteht, unbedingt gehört. Ohne den Hinweis jedoch auf ihr Entsteigen käme die Ausrichtung nach oben nicht zum Ausdruck. Was uns früher als ,Reich der Kunst‘ oder gar als ,ewige Kunst‘ überantwortet werden konnte, muß jetzt im paradoxen ,Gegenwort‘ aufgehoben werden. Nur so läßt sich der unvermindert hohe Anspruch der Kunst angesichts ihrer äußerst unguten Lage in der heutigen Gesellschaft aufrechterhalten. – Die offenkundige Mehrwertigkeit der „Schneenadel“ zeigt uns: Das Bild will als ein Zentrum kreativer Energie genommen werden, dessen Stärke darin besteht, sich den „Abgründen“ als Mensch unbeschadet – ,genäht nähend‘ – stellen zu können.
Aus einer einzigen Verszeile bestehend, konzentriert sich die dritte Strophe auf die imperativische Wendung, die den Inhaber der „Stimme“ dazu auffordert, die „Schneenadel“ zu schlucken („schluck sie“; V. 10). Ohne den Vollzug dieser gefährlichen Maßnahme kann die Stimme weder genäht werden noch gar selber nähen. Der Imperativ hält das als unumgänglich fest. Eben dadurch erfahren wir den Schluckvorgang als Voraussetzung für Nähen und Schreiben.
Daß ein derartiger Schmerz aber dazu geeignet ist, eine Metamorphose herbeizuführen, umreißt die vierte Strophe. Sie macht uns mit dem bekannt, was man als den Zuwachs des beschriebenen Entwicklungsprozesses bezeichnen kann. Derjenige, der die Schneenadel geschluckt hat, sieht sich dahin verändert, die Wirklichkeit nun von einem neuen Blickpunkt her zu sehen. Am Ungeordneten, Deformierten eröffnet sich seiner Erfahrung eine ihm – „diesseits, jenseits?“ – eingegebene Ordnung, die ihn dazu befähigt, die erworbene Erkenntnis weiterzugeben. Die Leere des Weißen beginnt sich zu füllen. Mit dem Vers „du ordnest die Welt“ (V. 11) gelangt das Gedicht zum Kern seiner poetologischen Aussage: Kunst stiftet Identität, will sagen eine stimmige Beziehung zur Welt. Die Höhenlage dieser verwandelnden Wirklichkeitserfassung, dieser ,Transsubstantiation‘, bringt der Autor dadurch zum Ausdruck, daß er ohne Zögern deren Stellenwert neunfacher Beschwörung heiliger Namen („neun Namen, / auf Knien genannt“; V. 13/14) gleichsetzt. Vieles spricht dafür, in der Neunzahl anbetend genannter Namen die neun Ordnungen der Engel aus der Kabbala zu sehen, die Celan im übrigen auch aus Dantes Göttlicher Komödie vertraut waren.
Soweit der erste Teil des Gedichts. Freilich ist es tief bezeichnend, daß er nicht wirklich zu Ende kommt, sondern, assoziativ weiterspringend, den Gedankengang fortträgt. Die Textbewegung lenkt den Leser jetzt auf eine praktische Erprobung des ,neuen Sprechens‘ hin. Mit Hilfe der genähten Stimme ist das möglich geworden. Gewiß nicht zufällig taucht gerade an dieser Stelle ein Topos der Liebeslyrik auf, und ebenso ist es erkennbare Absicht, wenn nun durch den Übergang vom Du zum Ihr eine subjektübergreifende Ausweitung festgeschrieben wird. Vordergründige Betrachtung kann zunächst einmal den Gedanken aufkommen lassen, der Autor habe den Reflex einer Liebesbegegnung in das Gedicht einbezogen. Das läge umso näher, als eine Überprüfung kommunikativer Kraft mit am besten an der intensivsten Form zwischenmenschlicher Begegnung vorgenommen werden kann. Doch dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Thema des Gedichts bleibt das ,neue Sprechen‘ von einer anderen Art der Realitätserfahrung. Deswegen bleibt es auch bei der bestürzenden Vielfalt der Bilder.
Ganz unvermittelt hebt das weitgespannte Mittelstück des Textes mit der zweifachen Evokation von Hügeln an („Tumuli, Tumuli“; V. 15). Es gehört zur Celanschen Genauigkeit, daß er sich hier für den weniger gebräuchlichen ,preziösen‘ Begriff ,Tumulus‘ entschieden hat. Er tat es, weil diese lexikalisch-semantische Bezeichnung die Bedeutung von ,Erd- und Grabhügel‘ oder ,Hügelgrab‘ einschließt. Dadurch wird der ungebrochene Fortgang der Textbewegung offenkundig. Wie man weiß, ist die Verbindung von natürlicher Landschaft und Gelände des Todes den Gefilden des „Schneeparts“ eigen. Unzweideutig spricht darum Celan im Blick auf die Kunst von einem „Hinaustreten aus dem Menschlichen“, einem „Sichhinausbegeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich“. Noch deutlicher wird das in der Folge mit dem ungewöhnlichen Bild des „Sich-Hinweg-Hügelns“ („du / hügelst hinweg“; V. 16/17). Es bringt uns in unmittelbare Nähe jener von Celan in der ,Meridian‘-Rede zentral herausgestellten Maxime für den Künstler: „setze dich frei“. Man sieht, hier gelten „die Gesetze einer neuen, unausgesetzten und freien Bewegung“. Solcher Bewegung entspringt neue Lebendigkeit („lebendig“; V. 17). Sie hält Abstand zur Erlebnissphäre alltäglicher Realität und bewahrt sich dabei dennoch die Qualität des Lebendig-Seins. Ja, wer die „Schneenadel“ geschluckt hat, muß gerade auf eine Bestätigung des Lebendigen in seiner nunmehr geordneten Welt dringen. Deswegen kommt es an diesem Punkt zu einem Durchbruch elementarer Sinnlichkeit.
Auf Anhieb gibt die imperativische Wendung „komm / in den Kuß“ (V. 18/19) keine Auskunft über die hierbei mitzudenkende partnerschaftliche Instanz. Das soll heißen: Wir erfahren nicht, mit wem der Kuß getauscht werden soll. Schon daran müßte man erkennen, daß kein Liebesintermezzo zur Frage steht. Die weiteren Strophen mit ihren extrem reduzierten Bildblöcken liefern dafür den endgültigen Beweis. Der Kuß soll hier nicht, wie im Wörterbuch zu lesen, das „Aufdrücken der Lippen auf den Körperteil eines anderen Menschen“ ansprechen, vielmehr symbolisiert er die Bekundung konkret sich verwirklichender Liebe und ebenso der Identität mit dem neuen, gewandelten Leben.
Bestimmt nicht einfacher wird die Aussage des Gedichts mit der nächsten, der sechsten Strophe. Abermals entscheidet sich der Autor für eine mehrschichtige metaphorische Umsetzung des komplexen Darstellungszusammenhangs. Begriffe aus dem Repertoire der Liebespoesie tauchen nicht mehr auf. Für den Leser ist das ein bestätigender Wink, Gesten und Rituale erotischer Begegnung aus seiner Rezeption auszuklammern. Weiterhin kreisen die Gedanken um den schöpferischen „Akt der Freiheit“, um den künstlerischen „Schritt“. Die in der Folge abrupt wechselnden Bilder zeigen uns, wie der Autor in zunehmendem Maß auf der von ihm angestrebten „unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks“ besteht. Sie konstituiert gewissermaßen seine neue Wirklichkeit. Zu fragen bleibt: Wie wird das im Text umgesetzt?
Mit der anhaltenden Schwimmbewegung eines Fisches („ein Flossenschlag, / stet“; V. 20/21) verdeutlicht Celan zunächst ganz allgemein die Bewegung des Sich-Freischwimmens („lichtet die Buchten“; V. 22). Hier gehört alles zusammen: Die Fisch-Symbolik signalisiert eine Durchgangsstufe des Verwandlungsvorgangs. – Gleich darauf geht der Text über in den Symbolkreis des „vor Anker“ gehenden Schiffes („du gehst / vor Anker“; V. 23/24), um so ein hermeneutisches/rezeptionslenkendes Zeichen zu setzen für die sich verwirklichende Befreiung. Abermals ist die Metamorphose ein Stück vorangekommen. – Nach einem harten Schnitt erfolgt ein weiterer Bildwechsel. Im selben Zuge erfolgt die noch ausstehende Klärung der personalen Perspektive. Allerdings gibt die Formulierung „dein Schatten / streift dich ab im Gebüsch“ (V. 24/25) Anlaß zu langem Nachdenken. Meint der Autor damit das befreiende Heraustreten „ins Offene“, wobei der agierende Schatten so etwas wie die ,Prä-Existenz‘ in der ungeordneten Welt wäre, oder geht es um eine Art Identitätskrise, um völlige Absetzung gar von der zurückgelassenen Situation? Stellt man die bisherige Beschreibung des Verwandlungsverlaufs als eines „kreatürlichen Weges“ in Rechnung, kann es sich nur um einen steigernden Zugewinn handeln. Unweigerlich entfällt darum die zweite Deutungsmöglichkeit. Schatten und abgestreifte Existenz stehen in produktiv-dialektischem Verhältnis zueinander. Freilich will Celan andererseits die Novität des Freigesetzt-Seins genügend herausheben.
Daß sogar eine tiefe Verbindung zwischen Ursprung und Ziel der Metamorphose besteht, zeigt die kurze, aus bloß zwei Wörtern bestehende siebente Strophe: „Ankunft / Abkunft“ (V. 26/27). Die Kopplung bestätigt voll den beschriebenen Sachverhalt innerer Übereinstimmung der beiden Existenzphasen: Abkunft der freigesetzten Existenz von der umschatteten und Ankunft im ,Neuen‘ (verstanden als qualitativer Sprung zu entbundener Kreativität). – Ein kurzer Rückblick ist noch erforderlich. Das Schlußbild der vorausgegangenen Strophe situiert den Vorgang „im Gebüsch“ (V. 25). Damit setzt die Bildlinie ein, die den Schlußteil des Gedichts entscheidend prägt („Gebüsch“ – „Blatt“ – „Baum“ – „Grün“). Ankunft und Abkunft sind ebenso in der Weise aufeinander bezogen, daß mit der Handlung des Abstreifens eine Art Aussetzung gemeint ist. Darum betonte Celan: „Kunst schafft Ich-Ferne“. Eben von dieser Distanz ist auch hier im Gedicht die Rede.
Immer noch hält die spannungsvolle Verwandlung an, findet die existentielle Bewegung keine Ruhe. Ein wichtiger zusätzlicher Aspekt der Veränderung wird in der achten Strophe herausgestellt. Vieles kommt dabei zusammen. Wiederum setzt Celan mit „Käfer“ (V. 28) und „Raupen“ (V. 31) zwei divergierende Bildbereiche in eine zwingende Wechselbeziehung. Sie ist allerdings nicht einfach zu bestimmen. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis durch den gleichzeitig einsetzenden Wechsel vom Du zum Ihr. Deswegen gilt es, sich Wort für Wort voranzutasten. – Von der Metamorphoselinie des Gedichts her könnte man beim „Käfer“ an den Skarabäus denken, jenen Blatthornkäfer, dessen geheimnisvolle Entstehung aus der Dungkugel ihm im alten Ägypten die Verehrung als einer Gestalt des Sonnengotts oder als Urwesen eintrug. Diese geradezu geheiligte Metamorphose gäbe durchaus ein angemessenes Bild ab für die von Celan thematisierte ,Transsubstantiation‘. Aber da ist noch mehr. Erinnern wir uns, daß Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ letzten Endes einen Prozeß der Selbsterkenntnis vorführt, indem dem Leser narrativ vermittelt wird, wie Gregor Samsa sich „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ findet. Seine Verwandlung konfrontiert ihn mit seinem Scheitern wie mit seinen – von ihm verfehlten – Möglichkeiten. Im Käfer (der Text Kafkas spricht sogar vom „Mistkäfer“) erkennt er schließlich sich selbst als ein innerlich „freigesetztes befremdetes Ich“. Bei Celan begegnen wir einem ähnlichen, wenngleich positiver einzustufenden Vorgang. Ein „Käfer erkennt“ (V. 28) den Mann der „Ankunft“ und bekräftigt so die gelungene, aber doch auch „unheimliche“ Verwandlung. Sie ist ja verbunden mit dem völligen „Heraustreten aus dem Menschlichen“. Das hier angesprochene Du („erkennt dich“; V. 28) ist im Begriff aus sich herauszutreten. – Mit den beiden Versen „ihr steht euch / bevor“ (V. 29/30) erfolgt ein andeutender Hinweis auf die leidvollen Konsequenzen der ungewöhnlichen Vereinigung, die bereits im Terminus des „Erkennens“ mitschwingt. Celan weiß genau: Der Weg der künstlerischen Verwandlung ist nicht frei von „Abgründen“, auch wenn er „auf Weiß eingeschworene“ Abgründe sind. Noch aber ist der Weg vom „Weiß“ zum „Grün“ nicht ganz durchmessen.
Freilich ist das Ziel der langwierigen Metamorphose beinahe erreicht.
Jetzt können „Raupen“ den Käfer und den Ankommenden einspinnen („Raupen / spinnen euch ein“; V. 31/32). Erneut stoßen wir auf eine intertextuelle Verschränkung. Diesmal wird angespielt auf das berühmte ,Gleichnis vom Seidenwurm‘ aus Goethes Tasso. Es gibt hier den Hintergrund ab für Celans lyrische Reflexion. Wie dort ist auch im Gedicht die Metapher vom Abgekapseltsein der dichterischen Existenz gemeint und in gleicher Weise die Entfaltung der kreativen Möglichkeiten im „Schicksal des beneidenswerten Wurms, / Im neuen Sonnental die Flügel rasch / Und freudig zu entfalten“. Doch greifen wir damit der Celanschen Gedankenbewegung vor. Sie beschwört zunächst den Aspekt, der bei Goethe die Leiden des Dichters Tasso begründet. Es heißt dort vom Seidenwurm: „Das köstliche Geweb’ entwickelt er / Aus seinem Innersten und läßt nicht ab, / Bis er in seinem Sarg sich eingeschlossen“). Das berührt sich eng mit den Intentionen Celans, wie sie uns bisher am Text des Gedichts aufgegangen sind.
Daß der Prozeß „unausgesetzter Verwandlung“ im Einklang mit der bestehenden Realität vor sich gehen kann, auch wenn es sich um eine Absetzungsbewegung handelt, bringt die neunte Strophe zum Ausdruck. Die „Große / Kugel“ (V. 33/34) steht offensichtlich für die Fülle der Wirklichkeit, die dem Verwandelten – also dem Dichter – zugänglich geworden ist. Freilich müssen wir dabei der Aussage Celans eingedenk bleiben, derzufolge es sich um die „Bemühungen“ dessen handelt, „der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“. Dennoch vermerkt die poetologische Reflexion des Gedichts an dieser Stelle bloß einen „Durchzug“ (V. 35). Noch immer ist die Endstufe der Metamorphose, der Durchbruch zur künstlerischen Kreativität, nicht erreicht.
Erst mit der zehnten Strophe gelangt der Bericht vom Werden des Dichters ans Ziel. Wiederum verbindet Celan hierzu mit Bedacht zwei Bildlinien miteinander, indem er zum einen den Vorstellungszusammenhang des Kokons am „Blatt“ (V. 37) weiterführt, zum andern anknüpft an das Bild vom „Gebüsch“ (V. 25). Die Grün-Tönung nimmt zu; das Weiß bleibt demzufolge zurück, bis es am Ende gänzlich verdrängt ist. – Viel liegt dem Autor daran, Gelingen und Qual des Durchbruchs zur schöpferischen Aktion sinnfällig zu machen. Der Gegensatz von „Funken“ (V. 38) und „Atemnot“ (V. 40) ist nichts anderes als die direkte bildliche Umsetzung seiner Absicht. Gewiß ist vorrangig der „Funken des Wunderbaren“, der schöpferische Funke, angesprochen; doch verweist uns die gleichfalls erwähnte Atemnot auf den leidvollen, den wunden Gewinn der neuen, geordneten Welt. Formung des Ungeformten darf nicht als Resultat heiteren Spiels mißverstanden werden. – Als Kernaussage der Strophe kann sicherlich die Formulierung gelten: „bald / knüpft das Blatt seine Ader an deine“ (V. 36/37). Damit vermittelt uns Celan ein tiefes Bild für den Dichter, der seine Arbeit „wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend“ angeht. Hinsichtlich der prekären Situation des Künstlers gegenüber seiner Realität ist damit alles gesagt. Ab diesem Augenblick kann die ,Transsubstantiation‘ als geglückt betrachtet werden. Vegetatives (symbolisiert im Blatt) und individuelles Sein (symbolisiert im Angekommenen) finden sich im gemeinsamen Lebensrhythmus. Nichts anderes meint der Vers: „knüpft das Blatt seine Ader an deine“. Die Vollendung der Metamorphose ist Augenblick der Geburt des Dichters. Nun können seine Wahrnehmungsmuster zu Darstellungsmustern werden. Anders ausgedrückt: Welt wird Sprachwelt.
Was danach folgt, sind deshalb Bestimmungen der Aufgaben des Dichters sowie seiner Möglichkeiten. Wir erfahren, wozu ihn der ,Schmetterlingsflug‘ im Sinne des Goetheschen Gleichnisses befähigt. – Drei Strophen umreißen die so eröffneten Horizonte und runden damit die lyrische Reflexion in einem Schlußteil ab (V. 41–45). Wie zu sehen war, schafft das Punktuelle des momentanen Zündens im schöpferischen Augenblick – Celan spricht vom „einmalig kurzen Augenblick“ – die Voraussetzung für freie, souveräne Kreativität. Im kumulativen Bild des „Baumes“ (V. 41) erfährt das „Blatt“ seine Weiterung zum Ganzen künstlerischer Praxis. – Jedoch darf auch und gerade hier keine falsche Beruhigung eintreten. Die temporale Kategorie des „Tages“ (V. 41) relativiert sogleich jede selbstgerechte Erwartung irgendeiner Dauer. Ein Tag immerhin „steht“ dem Dichter „zu“ (V. 41), um das zu leisten, was im Paradox der Entzifferung der Zahl („der entziffert die Zahl“; V. 42) als ordnende Gestaltung der ungeordneten Wirklichkeit indirekt angesprochen wird. Völliges Heraustreten aus dem zeitlichen Kontinuum ist mithin Voraussetzung des künstlerischen Tuns. Mit anderen Worten: Der kreative Augenblick folgt eigener Gesetzlichkeit; er hat seine eigene Zeit. Aus diesem Grund hielt Celan dafür, „die Mauer, die Heute von Morgen trennt, sei niederzureißen und Morgen würde wieder Gestern sein“. Der zugebilligte „Tag“ gewährt ihm die verzweifelt gesuchte „neue Helligkeit“. Ohne sie gäbe es keine Ordnung des Ungeordneten.
In der vorletzten Strophe findet sich die uns besonders interessierende Formulierung, die für Arendt und Meister zur Initialzündung – ganz im Sinne des überspringenden Funkens – geworden ist: „ein Wort, mit all seinem Grün“ (V. 43). „Blatt“ und „Baum“ gehen damit gleichsam im Grün als der übergreifenden Einheit auf. Letztlich faßt das Phänomen ,Grün‘ den gesamten Schöpfungskosmos zusammen. Einzig über dieses Grün öffnet sich der Zugang zur verwandelten Sprache der Dichtung. Gestaltung der Sprach-Welt setzt „ein Wort, mit all seinem Grün“ unbedingt voraus.
In anderem Zusammenhang erwähnte Otto Pöggeler, wie eng der Dichter Celan „dem Maulbeerbaum… verbunden“ war, der „noch den ganzen Sommer über neues Grün“ treibe. Wir können das Bild des Maulbeerbaums, der bekanntlich „Nahrung für die Seidenraupen liefert, die den Kokon spinnen“, ohne weiteres ebenso auf das Grün des Wortes übertragen. Dann erweist sich das so evozierte „Wort, mit all seinem Grün“ als das vom Autor Celan geforderte „Gegenwort“. Kunst demnach als Gegenwort, als Einspruch und Protest, als das ANDERE. Diese Erkenntnis bringt uns jener „neuen Welt des Geistes“ näher, von der Celan sagen konnte: „Hier, wo ich frei bin, erkenne ich auch, wie arg ich drüben belogen wurde“. Grüne Ankunft sozusagen trotz solcher Abkunft. „Ein Wort, mit all seinem Grün“, dieses verwandelte und verwandelnde Wort beweist sogleich seine besonderen Qualitäten: Es „geht in sich“ und „verpflanzt sich“ (V. 44). Scheinbar sind das Gegensätze. Nicht so für Celan. Für ihn war der „Weg der Kunst“ der Weg in die „allereigenste Enge“ und, wohlgemerkt zugleich, der Weg des fremden Wortes, das „in eines Anderen Sache […], vielleicht in eines ganz Anderen Sache“ spricht.
Darin gipfelt das poetische und poetologische Credo des Gedichts. Deswegen kann die Schlußstrophe, auf bloß zwei Wörter reduziert, die einfache imperativische Konsequenz formulieren: „folg ihm“ (V. 45). Die Richtung ist vorgegeben. Hatte Celan im Zyklus ,Atemkristall‘ noch vom „geächteten“, also dem ausgeschlossenen, ungewollten „Wort“ gesprochen, so ist hier seine Bestimmung die selbstgewissere, stärker abgehobene Akzentuierung der gleichen Sache. „Diesseits, jenseits?“, so oder so jedenfalls „Irdisches, Terrestrisches“, aber auch „etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes“. Die Celansche ,Meridian‘-Definition legt den Ort der Kunst fest und damit die einzuschlagende Richtung. Celan ist ihr gefolgt – vom „Weiß“ der „Abkunft“ zum „Grün“ der „Ankunft“.
Sein Gedicht „Was näht…“ zieht die Summe des zurückgelegten Weges. Die poetologischen Verse dienen gleichermaßen der Selbstklärung wie der Erklärung für andere. Denn Gedichte waren für ihn allemal „Wege einer Stimme zu einem wahrnehmbaren Du“. Fürwahr ein schwer zu begehendes Terrain. Celan sah gerade darin seine Aufgabe. Wir dürfen es durchaus als Bekenntnis zu solcher Berufung nehmen, wenn er daran festhielt: „Ich weiß, es gibt andere, kürzere Wege. Aber auch die Dichtung eilt uns ja manchmal voraus“. Zunächst einmal war das für den Dichter gesagt. Doch gilt ebenso dem „wahrnehmbaren Du“ sein Imperativ: „folg ihm“.
Kein Interpunktionszeichen markiert das Ende von Celans Gedicht. Man kann das nur so verstehen: Sein Wort, „ein Wort, mit all seinem Grün“, will sich Raum und Zeit offenhalten. Da der Autor recht selten dieses Ausdrucksmittel wählt, können wir darin ein subtil angedeutetes, fast verdecktes, jedoch tief reichendes Kommunikationsbedürfnis ausmachen. Es teilt sich, paradoxerweise, durch Nichtvorhandensein mit. Mehr als gewöhnlich ist hierdurch der Text für jeden Rezeptionswilligen als unmittelbar zugänglich ausgewiesen.
Wenige freilich haben dieses Celansche Angebot bisher aufgegriffen. Umso eher fällt auf, daß gleich zwei Schriftstellerkollegen der lyrischen Spur nachgegangen sind. Der erste war Erich Arendt. Mit dem Titel seines Gedichts „Danach…“ will er ganz offensichtlich auf den Sachverhalt des zeitlichen Nacheinanders direkt aufmerksam machen; er will uns also wissen lassen, daß die existentielle Dimension der literarischen Positionsbestimmung des Vorgängers zündend auf ihn gewirkt hat. Ohnehin sagt die Überschrift der Sammlung, in der seine lyrische Antwort ihren Platz gefunden hat, viel aus über eine deutliche Nähe zwischen beiden Autoren. Denn am ,Zeitsaum‘ befinden wir uns just dort, wo „genäht“ wird – auch und gerade an Stimmen. In den gleichen Zusammenhang gehört im übrigen ebenso das „Zeitloch“, von dem Celan spricht. Indes bezieht sich die adverbiale Bestimmung der Gedichtüberschrift nicht allein auf die personale Verflechtung Celan – Arendt oder die übereinstimmende poetologische Ausrichtung beider Texte. Sie benennt zudem die Tatsache, daß es sich um eine generelle dichterische Bilanz des Schriftstellers Arendt handelt, mit der er sicher nicht zufällig seine Sammlung zunächst abzuschließen gedachte. Demnach vermittelt das Gedicht von ihm durchlaufene essentielle Erfahrungen in zusammenfassendem Rückblick – eben „danach“.
So gesehen kann das Gedicht Arendts als eine exemplarische Ausprägung des Spätwerks gelten, mit dem der im siebten Lebensjahrzehnt Stehende seine dichterische Arbeit zu einem Höhepunkt gesteigert hat. Immer stärker kristallisierte sich nämlich im Verlauf seines Schaffens eine Entwicklung heraus, die ihn zu einem ausgesprochenen Sonderfall unter den Schriftstellern in der damaligen DDR machte.
DANACH…
Erdschichtentief
die Muscheln.
Sie halten
hohlschalig
ihr Augengespräch.
ob ihnen
wachsend
zerfallend
auf Nadelspitze die Ichstadt.
erinnernd:
aus allem, aufgegeben
dein Schatten,
die Zifferblätter
ins Meer.
Flughäutig
ein letztes
Nachtwort
Gerücht.
Kein Mund mehr
entmündigt
die eigene Stimme.
Nur Mond noch, die alte
Staubillusion, der
hohlwangig
veruntreute
Kreis, in einem
Vielleicht:
Ohr jetzt
dem Schweigen zu,
lauschend,
es spricht:
Kein Außen kein
Innen, wie gott-
zugetriebenes Scheintot
das stumme Heulen
am Zeitsaum
die Körper.
*
So halte – Endgültiges
ist – „ein Wort
mit all seinem Grün“
den Rindenwuchs
wach,
Vergessen um Vergessen
für Ernst Meister
Das Gedicht besteht aus acht Partien sehr unterschiedlicher Länge (der Umfang schwankt zwischen drei und neun Versen). Dabei ist die letzte Partie durch ein Sternchen abgehoben vom übrigen Text. – Allein schon das Druckbild gibt Aufschluß über den extrem verknappten Ausdrucksgestus Arendts. Gleich im ersten Abschnitt läßt sich dieser Eindruck verifizieren. Ganze drei Wörter bilden den Anfangssatz, wie dann in der Folge nicht selten sogar einzelne Wörter den Vers füllen, so daß im Extremfall strophische Abschnitte fast nur aus gereihten Einzelwörtern bestehen (zum Beispiel V. 15–18). Die äußerste Reduktion bei der sprachlichen Umsetzung reißt zugleich die assoziativ gebrauchte Metaphorik akzentuierend auseinander. Der Gang des Gedichts verläuft von Punkt zu Punkt innerhalb der gesamten Textfügung. Indirekt unterstreicht der Autor auf diese Weise die konkrete Grundausrichtung seines Gestaltungsverfahrens.
Wie häufig auch bei Celan setzt die Bildlösung im geologischen Bereich an. „Erdschichtentief“, die einleitende adjektivische Benennung, gibt sogleich eine Zuordnung zu einer geschichtslos gewordenen Zeitlichkeit. Die elementare Ausgangsbestimmung des Abgelagerten umreißt den Raum eines erloschenen Lebens, einer statisch sich darbietenden Natur. Wenn in Vers 2 die Rede von „Muscheln“ ist, dürfen wir uns nicht fixieren auf die Vorstellung der durch Schalen geschützten Weichtiere des Meeres; wir befinden uns ja im Rahmen des „Erdschichtentief[en]“. Aber auch vom Kontext der weiteren Verse her verbietet sich der Gedanke an versteinerte Ablagerungen von Muscheln. Ihr „Augengespräch“ (V. 5) weist sie aus als Augenmuscheln. Da sie „hohlschalig“ (V. 4) erscheinen, deuten sie unmißverständlich auf einen Totenschädel mit seinen Augenhöhlen hin. Damit eröffnet sich sogleich ein Bildfeld unwiderruflicher Verschattung. Die ungewohnte Augenmetapher offenbart die düstere Sphäre des Todes und des Verfalls. „Danach…“ ist ein endgültiger Rückblick. Es ist „die eigene Auseinandersetzung mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit“. Arendt knüpft somit in lyrischer Verkürzung an die ,Mémoires d’Outre-Tombe‘ des François-René de Chateaubriand an, allerdings in einer rein diesseitigen Perspektive. Auf „volle ausschließliche Diesseitigkeit“ legte der Autor größten Wert.
Dergestalt in der Zone des Todes situiert, findet das „Augengespräch“ der muschelartigen Vertiefungen, die einst sehende, lebendige Augen umschlossen, keinerlei Entsprechung. Diese radikale Isolation schafft die Voraussetzung für die von Arendt für das Gedicht geforderte „Innenbezogenheit“. Von vornherein ist damit geklärt: der Autor spricht von der Grenzzone des „Zeitsaums“ her.
Im zweiten Abschnitt wird zunächst die Situierung des Vorgangs weitergeführt. Die veraltete und darum selten gebrauchte Präposition „ob“ im Sinne von ,oberhalb von‘ oder ,über‘ stellt bewußt die gesuchte Abgehobenheit her. Sie ist wiederum notwendig, weil sie die lyrische Retrospektive auf die „Ichstadt“ (V. 9) im statischen Raum des „Zeitsaums“ ansiedelt. Mit der „Ichstadt“ rückt der Autor Erinnerungen und Erfahrungen seines gesamten Lebens als Mikrokosmos in unser Bewußtsein. Die wechselnden Bilder tauchen auf und verschwinden wieder („wachsend / zerfallend“; V. 7/8). Unterstreichend wirken die beiden Partizipialformen; sie kehren so den unbegrenzten Prozeßcharakter des Vorgangs hervor. Eine gleiche, anhaltende Gegenwärtigkeit gehört zu der ,kühnen‘ Metapher „auf Nadelspitze“ (V. 9). Dabei liegt die Anspielung auf die „Schneenadel“ im Gedicht Celans auf der Hand. Im Niederschreiben erweisen sich „wachsend“ die weitgedehnten Koordinaten der „Ichstadt“. Zugleich aber vermag die wie gestochen nähende/ritzende/notierende/schreibende Nadelspitze nur einen geringen Teil der urbanen Ich-Konstellation zu erfassen. „Zerfallend“ entzieht sich vieles der Fixierung für immer. Selten sind Gewinn und Verlust künstlerischer Gestaltung so sinnfällig formuliert worden wie durch die Bilder dieser einen Verszeile: „auf Nadelspitze die Ichstadt“.
Nachdem so mit drei Sätzen die nötige Situierung erfolgt ist, können nun die dadurch erschlossenen Möglichkeiten wortwörtlich zur Sprache gebracht werden. Zweifellos ist „Danach…“ ein „Gedicht der Rückerinnerung“. Dem Autor ist demzufolge daran gelegen, haltbare Erfahrungen und Erkenntnisse festzuschreiben. „Erinnernd“ (V. 10) erschließt sich ihm die lebendige Fülle der „Ichstadt“, unvollständig zwar, aber doch „aus allem“ (V. 11) gespeist. Freilich relativiert das Licht solch erhellender Rückschau den zurückliegenden Lebenslauf zum „Schatten“ (V. 12), den man getrost zurücklassen kann. Diese Zäsur ist unabdingbare Voraussetzung für die Erkenntnis; sie ist jedoch unwiderruflich („aufgegeben / dein Schatten“; V. 11/12). Das hier auftauchende Du kennt keine Kommunikation mehr, weil die alltägliche Zeitordnung im Meer des Vergessens versunken ist („die Zifferblätter / ins Meer“; V. 13/14). Dahingeschmolzene Zeit, wie auf manchen Bildern Dalis.
Falsch wäre indes die Annahme, am „Zeitsaum“ herrsche leblose Stille. In metaphorischer Andeutung vermittelt der dritte Abschnitt des Gedichts den Restbestand des „Schatten“-Ausdrucks. Hart setzt Arendt die wenigen Worte nebeneinander. Was an Signalen noch ankommt, entbehrt der Verläßlichkeit, ist nichts als falsche Fixierung des nicht Sagbaren. Nur scheinbar tragfähig, in Wirklichkeit „flughäutig“ (V. 15), gebrechlich, verliert sich derartiges Rufen als „ein letztes / Nachtwort“ (V. 16/17). Letzten Endes bleibt davon bloß ein „Gerücht“ (V. 18). – Entscheidend geworden ist demgegenüber der gewonnene Abstand. Die kurze vierte Partie beschreibt ganz konkret die dadurch erreichte Souveränität: „Kein Mund mehr / entmündigt / die eigene Stimme“ (V. 19–21). Lyrisches Sprechen unter dem Anspruch des Absoluten, das war das Resultat der künstlerischen Selbstfindung Arendts. So fand er „die eigene Stimme“.
Es ist gerade für „Danach…“ wichtig zu wissen, wie ernst es Arendt nahm mit der Synthese von Wirklichkeit und Möglichkeit. Doch war ihm ebenso bewußt, wie unendlich weit beide tatsächlich auseinanderklaffen. Deshalb setzt er die nächtliche Kulisse des Todesgeländes ,wüst und leer‘ ins Bild. Lediglich fahler Mondschein wird registriert („Nur Mond noch“; V. 22). Dabei weiß der Sprecher, daß da gewiß kein Zeichen einer Transzendenz seinen Schein verbreitet, sondern bloß „die alte / Staubillusion“ (V. 22/23) der von Menschen kurzfristig betretenen und damit endgültig entromantisierten Staubwüste. Demzufolge ist der Mond zum „hohlwangig / veruntreute[n] / Kreis“ (V. 24–26) verkommen. – Dem Tode zutreibend und damit „dem Schweigen zu“ (V. 29), gibt es allein noch die unsichere Hoffnung darauf, eventuell Gehör zu finden. Auf diesen entscheidenden Punkt lenkt das Enjambement über die Strophengrenze hinweg unsere besondere Aufmerksamkeit („in einem // Vielleicht: / Ohr jetzt“; V. 26–28). Erinnern wir uns, wie sehr es Arendt um „Interaktion“ zu tun war. Was das möglicherweise „lauschende“ (V. 30) Ohr hören könnte, wird im Text direkt herbeizitiert („es spricht:“; V. 31). – Arendt überantwortet uns hier das agnostizistische Credo eines Lebens, das keine Geschichte und keinen metaphysischen Sinn kennt: „gesichtetes Zeitlos, / im Quintenzirkel / der Wogen: / Wellenschwarz“. Geflissentlich vermeidet es der Autor, die Idee einer absurden Welt symbolisch zu bebildern. Er zählt einfach auf, was fehlt („Kein Außen, kein / Innen“; V. 32/33) und bilanziert nüchtern die davon herzuleitende Endspiel-Situation. Der von Arendt gebrauchte Vergleich – „wie gott- / zugetriebenes Scheintot“ (V. 33/34) – bekräftigt einen Sachverhalt, den er an anderer Stelle als „die große Leere Gott“ bezeichnet. Im „stumme[n] Heulen“ (V. 35) schlägt die erkannte Sinnlosigkeit sich nieder. Bloße „Körper“ (V. 37) liegen in grausiger Ironie gegen das Leben in der Gegend herum. Das Leben verstummt in allgegenwärtiger, vollständiger Regression zum Gestus des „Scheintods“ (V. 34). „Am Zeitsaum“ (V. 36) geht dem Sprechenden die volle Negativität des Alltäglich-Banalen auf. Die apokalyptisch umherliegenden „Körper“ bedeuten nichts mehr. „Am Zeitsaum“ begegnen wir dem Nichts. Mit dieser Einsicht hält das Gedicht für einen Augenblick inne.
Das Sternchen gehört wesentlich zum Ausdruckssystem des Gedichts. Es signalisiert einen Umschaltprozeß. Gesprochen wird ab jetzt von der Opposition des Gedichts gegen die erfahrene Absurdität. Vom Alltäglichen richtet sich nun die Aufmerksamkeit auf „Endgültiges“ (V. 38), man könnte ebenso sagen: auf Haltbares. Von nun an weitet sich die poetische Aussage zur poetologischen. „Endgültiges“ wird gesehen im dichterischen Wort. In voller Übereinstimmung mit Celan bekennt sich Arendt hier zu der vom Freund übernommenen Formulierung für die ihn beschäftigende poetische Dialektik: „ein Wort / mit all seinem Grün“ (V. 39/40). In ihm liegt das aufhebende Gegengewicht zum Nichtigen. Danach deutet der Text den ganzen Umfang seiner produktiven Einflußnahme auf das geistige Leben an mit dem Bild des „wach“-ge„halte“[nen] „Rindenwuchs[es]“ (V. 38, 41/42). Es steht für die Vision einer Realität des stimmigen Wortes und des humanen Gleichgewichts, eben der angeführten Synthese von Wirklichkeit und Möglichkeit. Was Arendt an der griechischen Meereslandschaft als „formende Macht“ erfuhr, offenbart sich im Gedicht als „Rindenwuchs“ eines lebenskräftigen Baumes, als „Rindenwuchs“ gewandelter, neuer Realität. Im Essay „Griechische Inselwelt“ hat er die veränderte Wirklichkeit so beschrieben:
Der alte Gegensatz Natur-Kultur, hier wurde er zu einem einmaligen, unerhörten Zusammenklang gebracht, in einem schweren Prozeß voller Gefahr, Tragik, Scheitern und endlosen Mühen erwuchs ein Gelingen, ein Maß für das Leben, die Dinge und das Handeln, das ganz des Menschen ist.
Diesem menschlichen „Maß für das Leben“ will das „Wort / mit all seinem Grün“ vorarbeiten.
„Wachhalten“ und „Endgültiges“ – das sind somit Bastionen gegen den Ansturm des Vergessens. Produktiv gewendete Aufhebung dieses Vergessens fordert die dialektisch grundierte Schlußthese des Gedichts: „Vergessen um Vergessen“ (V. 43). Dahinter steht eine alte Forderung Arendts. Im Gedicht –„František Halas“ hat er sie wie folgt formuliert:
Rasch wächst
das Dürrgras Vergessen:
wir mähen es
ab mit den Zähnen des Worts
Wie zu sehen war, treffen die Wege Arendts und Celans im Vertrauen auf das gestaltete Wort zusammen. Somit bestätigt sich die Feststellung Laschens einer „ausschreibenden“ Bekräftigung der Position Celans im Gedicht Arendts. Zweifellos erwuchs das Bedürfnis hierzu aus der beklemmenden Einsicht, wie wenige geistige Partner in der herrschenden gesamtgesellschaftlichen Dürftigkeit überhaupt anzutreffen sind. So kommt das bestätigende Zitieren, von Arendt her gesehen, einem lyrischen Schulterschluß gleich. Gemeinsame künstlerische Zielsetzungen, menschliche Solidarität und hoffnungsgerichtete Übereinstimmung im Vertrauen auf das „Wort, mit all seinem Grün“ machte die so eigenwilligen Lyriker zu Wahlverwandten. Was sie miteinander verbunden hat, ist die feste Überzeugung, daß sich das von ihnen vertretene utopische Symbol des „Worts“ nachdrücklich gegen die destruktiven Kräfte der Geschichte zu behaupten vermag. Daraus zogen sie die konstruktiven Energien für ihre literarische Arbeit in einer Zeit des „nach Null konvergierenden Publikums“ (Hans Magnus Enzensberger).
Überlegungen zu Gestaltung, Wirkungsabsicht und Rezeption heutiger Lyrik haben stets auch den anderen Beteiligten an der Diskussion mit Paul Celan intensiv beschäftigt: Ernst Meister. Sein Gedicht „Ein Wort…“ bezieht gewollt eine Gegenposition zu Celan und Arendt. Obwohl alle drei Texte, mit Arntzen zu sprechen, „in der Einheit der Sprache verbunden“ sind, mußte Meister in der Formulierung der Vorläufer eine zweifache Herausforderung sehen. Jedenfalls nutzte er seine Antwort dazu, einmal mehr den eigenen Standort klarzustellen und die ihm notwendig erscheinenden Abgrenzungen vorzunehmen. Wie man weiß, störte ihn am Gestaltungsverfahren der beiden Kollegen ein Zuviel an Metaphorik und Verschlüsselung, weil das „die Härte und Unausweichlichkeit des Sinns zerfasere“. Deshalb sind Meisters Verse als Gegenverse angelegt. Genau genommen stellen sie ein schroff negierendes Echo dazu dar. Verkehren sie doch die positive Überzeugung vom „Wort / mit all seinem Grün“ bewußt in die diametrale Variante: „Das Nichts mit / all seinem Grün“.
Hier die lyrische Widerrede Meisters im vollen Wortlaut:
„Ein Wort
mit all seinem Grün“,
so las ich.
„Das Nichts mit
all seinem Grün“
ist möglich zu sagen,
denn es weiß
die lebendige Welt
außer uns ja
nichts von sich selbst. –
So denkt euch
und das Andere.
Drei lapidare Sätze genügen zur apodiktischen Formulierung der Meisterschen Absage. Insgesamt bilden sie die vier ungereimten Terzinenstrophen des kurzen Gedichts. Strategien argumentativer Rhetorik bestimmen den Aufbau des Textensembles. Der herbeizitierte Ausgangspunkt (V. 1–3) und die sentenzhafte Folgerung (V. 11/12) fügen sich zu einem konzisen Rahmen. Dazwischen entwickelt der Autor, über die Strophengrenzen hinweg, die eigene Antithese und ihre Begründung (V. 4–10). Ersichtlich reißt der Wortfluß des Mittelsatzes das feste Formschema auf und zwingt dadurch den Rezipienten zu genauerem Überdenken der Textanordnung, weil die gedankliche Fügung sich an den Schnittstellen der strophischen Einteilung stößt (V. 6/7 und V. 9/10). Bestimmte Partien der Aussage werden dadurch vom Kontext abgehoben und insofern besonders akzentuiert. Allerdings beeinträchtigt dieses souveräne Spiel mit der formalen Gliederung in Strophen keineswegs den klaren und zwingenden Ablauf der spruchartig organisierten Diktion. Die lyrische Textur wird von Meister zum Denkfeld erhoben.
Das thematische Zentrum des Gedichts konstituiert sich aus der poetischen Reflexion auf den Zusammenhang von „Nichts“ (V. 4), Tod, Leben und Schreiben. Noch mehr als schon das Gros des bisherigen Werkes ist die kurz vor dem Tod Meisters 1979 erschienene letzte Gedichtsammlung Wandloser Raum fast durchweg auf die „mortuale Ausrichtung“ konzentriert. Nicht zufällig hebt die ,Vorstellungs‘-Rede anläßlich der Aufnahme in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung das Denken in der gelebten Zeit als Movens der dichterischen Arbeit hervor. Zweifellos ist diese Art zu denken unter dem Gesichtspunkt des Todes – sub specie mortis – angesiedelt. Immer wurde der Tod von Meister gesehen als eine zwangsläufige „Kapitulation mit dem Wort vor der stupenden Faktizität des Endes“. Beim gleichen Anlaß brachte er die nötigen Folgerungen daraus für den Dichter und sein Werk auf die einleuchtende Formel bleibender „Differenz von Sein und Logos“. Er erklärt sie im weiteren folgendermaßen:
Sterben selbst ist faktisch, und ein Leichnam wird begraben. Literatur, die einer gemacht hat, wird weitergegeben, wenn das auch ,Abgeben‘ bedeutet, Abgeben desjenigen, dem jeder Begriff davon genommen ist, was beispielsweise Gedicht hieß. Die Werke der leiblich Verschwundenen stellen sich dar als eine in die Länge wachsende Kette.
An Logik und Stringenz läßt diese Bekundung nichts zu wünschen übrig. Mithin ist Sein für Meister entschiedenermaßen endlich begrenzt; was allein bleibt, ist der Logos, das gestaltete Wort als unveränderliches Zeichen des Seins. Auf dieser Grundlage erweist sich sein Schreiben als Denken in der unverrückbaren Schrift. Deswegen ist Meisters lyrischer Gegenentwurf indirekt auch ein poetologisches Gedicht, jedenfalls ein Gedicht über das lebendige Wort, wie es in der Textfixierung als Objekt freigesetzt und dadurch frei zugänglich gemacht werden kann.
Ganz anders als Celan und Arendt versteht Meister den Tod im Sinne einer absoluten Zäsur. Übergänge gibt es da keine. Bereits unter den um 1948 notierten Gedanken eines Jahres findet sich die aphoristische Eintragung: „Aus vermodertem Gras kommt kein Gras. […] Leben kommt nur aus Leben. Totes kann nicht auferstehn. Gräber werden sich nie öffnen“. In der ,Akademie‘-Rede greift Meister diesen Gedankengang auf. Und von der gleichen radikalen Orientierung her nähert er sich der in seinen Augen höchst fragwürdigen Bildformel: „Ein Wort, mit all seinem Grün“.
Die erste Strophe des Gedichts ruft die von Celan geprägte und von Arendt programmatisch bekräftigte Wendung erst einmal ins Gedächtnis zurück (V. 1/2). Bezeichnenderweise wird das Zitat, das der Arendtschen Fassung folgt, sogleich in eine gewisse Distanz gerückt. Wenn der Autor hier nämlich die Formulierung wählt: „so las ich“ (V. 3), dann deutet das schon eine latente Skepsis gegenüber derartiger poetologischer Zuversicht an. Als ,Stein des Anstoßes‘ ist damit die These eingeführt, gegen die Meister sich in der Folge ausdrücklich wendet. Fast spröde wird das vorgebracht. Der gelassene Ton des Spätwerks ist zwar allemal seiner Sache gewiß, dabei jedoch um größtmögliche Einfachheit bemüht. Unaufwendige Denksubstanz ist für die formale Inszenierung der Aussage allemal eine günstige Kontrolle. Die Form gewinnt dadurch an Deutlichkeit.
Als gezielte Replik wird sodann in der zweiten Strophe die Meistersche Gegenposition zur These Celans und Arendts herausgestellt. Um den antithetischen Charakter hervorzukehren, wählt Meister die nämliche Satzfügung. Sie stößt den Leser förmlich auf den Unterschied. – Im gleichen Sinne wirkt die auffallende Umakzentuierung durch die Plazierung der Präposition ,mit‘ in der Anfangszeile der Strophe („Ein Wort / mit all seinem Grün“ – „Das Nichts mit / all seinem Grün“). Das Enjambement unterstreicht das semantische Gewicht der Präposition wie des ,unbestimmten‘ Pronomens („all“). Erkennbar für jeden Leser wird dadurch dem „Nichts“ etwas beigegeben, das eigentlich nicht als zugehörig betrachtet wird. „Nichts“ und „Grün“, Nicht-Sein und lebendige Welt setzen sich gegen eine derartige Zusammenführung zur Wehr. Worauf will der Autor hinaus? – Weiterhin bedient sich Meister einer eher zurückhaltenden Ausdrucksmanier. Vorsichtig führt er die Formulierung seiner Konzeption mit der Wendung ein: „ist möglich zu sagen“ (V. 6). Obwohl er letztlich die von ihm angezweifelte Programmatik der Kollegen prinzipiell verwirft, geht er also streng kontrollierend zu Werke. In der Sache freilich legt er Wert auf unzweideutige Abgrenzung.
Das hierbei in Opposition zum „Wort“ ins Feld geführte „Nichts“ (V. 4) gehört zu den Grundvorstellungen Meisters. Was aber wird damit dem „Wort“ (V. 1) im einzelnen substituiert? Nach Auffassung des Autors findet das „eigenschaftslose Nichts“ seine polare Entsprechung im „Sein der Gestalt“. Folgerichtig konstatiert er darum: „zwischen Nichts und Sein gibt es keine Vermittlung“, Allerdings sieht der negative Dialektiker Meister im Nichts immer zugleich die Bedingung für das Sein. Deshalb kann er ohne weiteres vom „entfachten lebhaften Nichts“ sprechen. Diese produktiv-dialektische Implikation erklärt, warum er in seinem Gedicht dem Nichts ohne weiteres „all sein Grün“ (V. 5) zuordnen kann. Er denkt dabei an die organisch-natürliche Stimmigkeit der „lebendigen Welt“ (V. 8). Im Universum der Schöpfung ist, vom Menschen abgesehen („außer uns“; V. 9), kein Wissen vorzufinden. Darum heißt es in einem etwa gleichzeitig entstandenen Gedicht der Sammlung:
Schön ist
die Erde in sich.
Es gibt
kein Gedächtnis
außerhalb ihrer
Die Feststellung, daß der Natur kein Bewußtsein gegeben ist, liefert die eigentliche Begründung für die abweichende Meinung Meisters. Unverschlüsselt setzt er sie in seinem Text um. Immer war er darum bemüht, „sein Geschriebenes prüfbar vorzugeben“. Um das zu gewährleisten, gibt er dem zweiten Satz weiteren Raum als den beiden Rahmensätzen. Wie angedeutet, bricht er die mehr ausgreifende syntaktische Bewegung durch eine sperrige Versifikation auf. Leser (oder Hörer) sollen sich seiner Denkanstrengung mitunterziehen. In wie starkem Maße sie direkt einbezogen werden, ist unmittelbar der Tatsache zu entnehmen, daß die Darstellungsperspektive an dieser Stelle vom Ich zum Wir („uns“; V. 9) übergeht. Volle fünf Verse und zwei Strophengrenzen werden in Anspruch genommen (beim späten Meister ist das viel!), um mitzuteilen, was „möglich zu sagen“ ist und warum. Insgesamt setzt sich die Begründung aus nur 13 Wörtern zusammen. Trotzdem dehnt sie sich über vier Verse aus: „… // denn es weiß / die lebendige Welt / außer uns ja // nichts von sich selbst“ (V. 7–10). Mehr braucht tatsächlich nicht gesagt zu werden. Zusätzliche Bilder wären in der Sicht Meisters Umwege. Darum versagt er sich diese Zugabe. Selbstzitat des eigenen Programms (V. 4/5), bestätigende Überprüfung (V. 6) und weltanschauliche Begründung (V. 7–10) umreißen so knapp wie nur möglich den Gegenstandpunkt zur ,absoluten‘ Metaphorik bei Celan und Arendt.
Was damit genau gemeint ist, muß noch hergeleitet werden. „Gekrümmt / zwischen zwei Nichtsen“ situiert sich für Meister das Dasein. Da er jede Hoffnung auf ein Jenseits von sich wies, bleibt bloß dieser Schnittpunkt zwischen Nichts und Sein, zwischen Leben und Tod, als existentieller Kristallisationspunkt. Allein von ihm her fühlt der Autor sich berechtigt, der Welt schreibend zu begegnen. Während Celan und ebenso Arendt die poetische Verwirklichung im Sinne qualitativer Steigerung zur „Atemwende“ oder zur Synthese von Wirklichkeit und Möglichkeit erklären, hält Meister dagegen: „Der Dichter verdichtet das Unendliche zum Endlichen“. Ersichtlich kommt die Bewegung seines Denkens aus der entgegengesetzten Richtung. Infolge ihrer „mortualen Ausrichtung“ zielt bei ihm die poetische Reflexion auf eine Auslöschung des Bewußtseins, mitnichten also auf dessen Steigerung. Aber im selben Augenblick setzt er auf die Haltbarkeit des Wortes als „der Erkenntnis Ton / in den Sphären“. Die spannungsvolle Paradoxie seiner Position kannte Meister nur zu gut. Er wußte sein Leben und sein Schreiben eingebunden in die finalgerichtete Bewegung:
Sich drehn
von der Seite der
Erfahrung auf die
der Leere
Demgegenüber bleiben die Erwartungen Celans und Arendts offen. Sie gehen von einer progressiven Zunahme des Bewußtseins aus. Dementsprechend baut sich ihre poetische Reflexion von der Vielstelligkeit komplexer Semantik und bildlicher Phantasie her auf, so daß bei ihnen Wort und Metapher das Ausdruckssystem bestimmen. Meister hingegen beharrt auf dem reinen Satz. Alles andere ist in seinen Augen „mystifizierende Sprachmanipulation“. Er verwirft sie, weil sie die Existenz übersteigt. – Für seine Arbeitsweise stellt er deshalb eindeutige Maximen auf. Bewußt entwickelt er sie am Problem der Metaphorik und betont dabei Folgendes:
Die Metapher steht nach wie vor im Verdacht, die uneigentliche Nennform zu sein. Es fragt sich jedoch, wann der sogenannte bildliche Ausdruck als Metapher anzusehen ist oder als begriffsidentisch, womit der Charakter von Metapher hinfällig wird, die Bezeichnung also gar nicht mehr gilt. Was Metapher zu sein scheint, ist gegenüber dem trockenen Begriff in Wahrheit nur der gefülltere, in der Bedeutung mehr leistende Begriff. Jedenfalls denk ich sie mir nicht anders als sachlich, sie raubt keineswegs dem Satz den Charakter der ,reinen Aussage‘.
Diese grundsätzlichen Klärungen bilden den Orientierungshintergrund des Gedichts, prägen mit seinen Ausdrucksgestus. Deutlicher sehen wir danach, was „Das Nichts mit / all seinem Grün“ besagt. Es ist das „nichts von sich selbst“ wissende „Nichts“ (V. 10), das sich in Gestalt des „entfachten lebhaften Nichts“ in der „lebendigen Welt“ (V. 8), also um uns herum, entfaltet. Wie gerade dadurch unser reagierendes Denken herausgefordert wird, hat Meister in einem Gedicht der Spätzeit thematisiert. Es lautet so:
Zum Leben
verhält sich
Leben, nichts
außerdem. Das
Andere
ist ,dort, wo man
nichts
nichts
nichts gedenkt‘
auf ewig.
Was ergibt sich daraus für unser Gedicht? „Entfachtes lebhaftes Nichts“ verfügt über „sein Grün“, das Wort dagegen nicht. Es behauptet sich lediglich als objektivierter Reflex des Seins. Meister hat dafür den paradoxen Begriff des „volle[n] Nichts“ geprägt. Seine Bestimmung des haltbaren dichterischen Wortes liest sich im Kontext folgendermaßen: „Das Dichten ist ein volles Nichts im Riß der menschlichen Welt“. Die Anstrengung, diese Fülle im Nichts herzustellen, hat ihn zeit seines Lebens beschäftigt.
Das vierte der Minimal-,Terzette‘, aus denen das Gedicht sich aufbaut, bildet keine Einheit. Vielmehr ist die dreizeilige Strophenkomposition in zwei Teile aufgebrochen. Wie zu sehen war, wird im ersten Vers (V. 10) der prolixere Mittelsatz zu Ende gebracht. Absichtsvoll setzt der Autor danach einen Gedankenstrich, um so – rezeptionslenkend – dem Adressaten ein kurzes Innehalten anzuempfehlen, bevor die sentenzartig zugespitzte Schlußfügung mitgeteilt wird. – In den letzten beiden Zeilen des Gedichts geht es um die Auswertung des lapidar festgeschriebenen Gedankengangs. Die verstärkende, Nachdruck verleihende Konjunktion „so“ (V. 11) gibt dem abschließenden Verspaar von vornherein den Charakter einer prägnanten Anweisung. Mit der Aufforderung zum Denken („denkt“; V. 11) wird eine produktive Konsequenz gezogen aus dem registrierten Befund reflexionsloser Lebendigkeit des „vollen Nichts“. Meister empfand dieses „Nichts, das ein Nichts / nichts sein kann, vielmehr / stofflich, ein Begehrendes ist“, als unerträgliches Vakuum. Er reagierte darauf mit dem unablässigen Versuch denkender Erhellung im Wort. Dabei ließ er es sich aber immer angelegen sein, andere mitzudenken: „wir – ihr im unaufhörbaren / sternigen / Unglück“. In solcher Absicht wird auch erneut die Pluralform ins Spiel gebracht („euch“; V. 11). Demnach soll der Denkprozeß zunächst einmal Besinnung auf das eigene Ich und damit auf eine mögliche Selbstverwirklichung sein – doch eben für jeden und somit, zumindest virtuell, für alle. Ein zweiter Schritt folgt. Er besteht in der Erfahrung der gegebenen Grenzen „durch das Medium der Polarität“. Um dahin zu gelangen, muß ebenso „das Andere“ (V. 12) mitbedacht werden. Wir kennen jenes „Andere“ bereits als das Todesgefilde: „dort, wo man // nichts / nichts / nichts gedenkt“. Meister zitiert hier aus dem „Epilog auf Hamann“ von Johannes Bobrowski und bekundet so sein Einverständnis mit der radikalen Ortsbestimmung. Am Ende steht, logischerweise, die Todesgewißheit. – Nimmt man die Konjunktion dazu („und“; V. 12), genügen insgesamt sechs Wörter, um die lyrische Reflexion für die Kommunikation mit Mit- und Nachwelt auf den Punkt zu bringen. „In einer Art negativer Positivität“ klingt das Gedicht aus. Den zu verbuchenden Gewinn hat Meister in anderem Zusammenhang thesennhaft so formuliert: „Das vom menschlichen Geiste angefüllteste Nichs ist der Tod“.
Im Umkehrschluß ergibt sich daraus die für die poetologische Thematik entscheidende Aussage: „Der Tod ist als poetischer Hebel alles, als Faktizität nichts“. Lyrik ist für Meister mithin Ausfluß des „mortualen“ Denkens. Celan und Arendt hingegen hätten den Tod niemals als „poetischen Hebel“ angesehen. Zwar gab er auch ihrem Werk die Richtung. Aber sie blieben „Tagverschworene“. Ihr – trotzdem in jeder Hinsicht unwohnlicher – Ort ist von Celan folgendermaßen umschrieben worden:
ein flackernder
Hirnlappen, ein
Meerstück,
hißt, wo du lebst,
seine Hauptstadt, die
unbesetzbare.
Tagverschworenheit hier, Todesverschworenheit dort. Genau in diesem Unterschied wurzeln Gegenposition und Zurücknahme Meisters. Für ihn kann es – wir wissen nun: warum – nur heißen: „Das Nichts mit / all seinem Grün“, nicht aber „Ein Wort / mit all seinem Grün“. Antithese und These bezeichnen eine wesentliche geistige Konstellation der modernen Literatur. Welche Spannweite ihr eigen ist, das haben uns Arendts „ausschreibende“ Bestätigung und Meisters „korrigierende Überprüfung“ der Celanschen Formel gezeigt. In einem freilich herrscht Übereinstimmung bei den drei Dichtern: Sie gehen aus von einer Welt ohne Transzendenz. Dementsprechend klammern ihre lyrischen Reflexionen jeden Glauben aus. Ihr konzentriertes Interesse gilt den Schwierigkeiten und Möglichkeiten der poetischen Kreation. Konvergenzen und Divergenzen bei der Einschätzung dieser Problematik dürften deutlich geworden sein.
Kommen wir zum Schluß noch einmal kurz zurück zu den erläuternden Hinweisen Laschens, so ist dazu folgendes anzumerken: Erstens zum „Anschluß an Hölderlin“. Es trägt zum Verständnis des poetischen Sprechens der drei Autoren wenig bei, wenn man weiß, daß sie alle stark von der Sprache Hölderlins beeindruckt waren. Zwar handelt es sich da um eine aufs Ganze gesehen höchst belangvolle Beziehung, doch ist die komplexe Vermittlung eben nur selten direkt nachweisbar (zumal sie sich mit nicht wenigen anderen Einflüssen überlagert!). Eine Interpretationshilfe für unsere drei Gedichte ist aus diesem Wissen nicht zu gewinnen. – Zweitens zur „Signatur des hermetischen Sprechens“. Lyrikern, die sich – wie Celan, Arendt und Meister – so dezidiert auf konkrete Wirklichkeitsbefunde beziehen, ist mit derartigen Formeln nicht beizukommen. Man müßte dann schon von einem Hermetik-Konzept ausgehen, das die Bedeutungskonstitution keinesfalls ausschließt. Doch gibt es hierfür geeignetere Termini. – Was schließlich, drittens, als „Anspielungsmechanik“ eingestuft wurde, ist in Wahrheit weit mehr, – ein essentieller Querschnitt durch die Poetologie des Absoluten in der Nachkriegslyrik deutscher Sprache.
Wichtiger als all dies ist indes etwas anderes, nämlich der Stellenwert des Todes im Denken wie im Werk der drei Schriftsteller. Ungeachtet aller Differenzen, hätten sie gewiß in einem übereingestimmt, und sei es nur als eine Art Fluchtpunkt ihres Lebens als Schreibende. Für diesen inneren Konsens hat Ernst Meister eine einleuchtende Formulierung gefunden:
Wir hassen den Tod, ja, wir hassen ihn, und doch ist er das reinste und klarste aller Gesetze. Liebten wir es wahrhaftig, wären wir erst würdig und reif als Seiende.
Theo Buck, aus: Erstes Ernst Meister Kolloquium, Rimbaud Verlag, 1993
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