Theo Buck: Zu Paul Celans Gedicht „Zürich, zum Storchen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Zürich, zum Storchen“ aus dem Lyrikband Paul Celan: Die Niemandsrose. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Zürich, zum Storchen
Für Nelly Sachs

Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.

Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:

Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt.
1

 

Zu Celans Judentum im Gedicht „Zürich, zum Storchen“

Zur Situierung: Vom 25. bis 27. Mai 1960 trafen sich Nelly Sachs und Celan in Zürich zu ihrer ersten persönlichen Begegnung. Als am Morgen des 25. die Familie Celan und Ingeborg Bachmann zur Begrüßung von Nelly Sachs am Flughafen zusammentrafen, wurde in allen Zeitungen und im Fernsehen die Nachricht verbreitet, daß zwei Tage zuvor vom israelischen Geheimdienst einer der Haupttäter im Rahmen der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Adolf Eichmann, in Argentinien verhaftet und nach Israel entführt worden sei. Natürlich war dieses Ereignis auch eines der Gesprächsthemen zwischen Nelly Sachs und Celan. Am Nachmittag ihres Eintreffens bot die ältere Nelly Sachs den jüngeren Paul, Gisèle und Eric Celan sowie Ingeborg Bachmann das freundschaftliche Du an. Am Abend trafen sich die Celans und Ingeborg Bachmann, begleitet von Max Frisch in dessen Stammlokal, dem Restaurant Kronenhalle.2 Am folgenden Tag, es war Christi Himmelfahrt, erfolgte die von beiden ersehnte persönliche Unterredung unter vier Augen in dem gegenüber dem Münster gelegenen Hotel Zum Storchen. Beide unterhielten sich dabei ausführlich über ihre unterschiedliche Stellung zur jüdischen Religion. In seinem Notizbuch notierte Celan zu diesem gegensätzlichen Dialog:

„Nelly Sachs, allein: Ich bin ja gläubig“. Als ich darauf sage, ich hoffte, bis zuletzt lästern zu können: „Man weiß ja nicht, was gilt“.3

Nelly Sachs unterstrich ihre Auffassung in einem der für Celan mitgebrachten Bücher, der Sammlung Sternenverdunkelung, mit den Worten:

Es gilt Paul es gilt
Nur vielleicht anders als wir glauben
Nelly
.
4

Aus diesem Anlaß heraus entstand, kurz nach der Rückkehr Celans nach Paris, genau am 30. Mai, das Gedicht „Zürich, zum Storchen“, das er der Freundin dann sogleich widmete. Weil dabei Celans grundsätzliche Skepsis in religiöser Hinsicht zum Ausdruck kommt, hat das Gedicht für unser Verständnis seiner Persönlichkeit besonderes Gewicht. Selbstverständlich war er vertraut mit dem Werk von Margarete Susman Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes,5 in dem die Autorin angesichts der Schwierigkeit, von der „gewaltigsten Aufgipfelung des Judenhasses“, also von der Shoah, zu sprechen, gleich in der Einleitung betonte:

Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel.6

Celan ergriff die Gelegenheit, über ihre unterschiedliche Sicht der Wirklichkeit, diejenige von Nelly Sachs und auch die seine, eine lyrische Reflexion anzustellen. Das Gedicht über den von beiden geführten Dialog erweist sich als hilfreich bei der Bestimmung von Celans Judentum. Er fühlte sich keineswegs an die religiösen Regeln gebunden, sondern sah, solange wie möglich, im Judentum die Grundlage der einzigen ihm gebliebenen Werte: „Stehen“ und Widerstehen. In einem der letzten Briefe an Ilana Shmueli legte er Wert auf die Feststellung:

Es ist ein Kampf, Ilana, ich kämpfe ihn aus. Du weißt, daß es ein jüdischer Kampf ist. Ich stehe.7

In diesem Sinne bestand er auf der jüdischen Tradition. Die ihm zuzuschreibende ,Religiosität‘ war sich wehrender jüdischer Geist. Ihn machte er zur ethisch-moralischen Substanz seiner Gedichte. Sie suchte er sich zu bewahren, solange er die Kraft dazu aufbrachte.
Das Gedicht „Zürich, zum Storchen“ nahm Celan in die erste Abteilung der 53 Gedichte des Bandes Die Niemandsrose auf. Es ist erstaunlich, daß er in dieser schweren Lebensphase überhaupt eine solche Sammlung realisieren konnte. Absichtsvoll widmete er diesen Band „dem Andenken Ossip Mandelstamms“, mit dem ihn, wie schon erwähnt, eine geradezu brüderliche Zuneigung verband. An das Gespräch mit Nelly Sachs anknüpfend, entwickelte er in diesem Gedicht mit großer Zurückhaltung seine eigene Glaubensüberzeugung.

ZÜRICH, ZUM STORCHEN
Für Nelly Sachs

Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von
der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.

Da-
von.
Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Aug zu, ich hörte:

Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt
.
8

Wir haben es zu tun mit einer lyrischen Fortführung des Gesprächs zwischen Nelly Sachs und Paul Celan. Wie bereits erwähnt, fand dieses am Himmelfahrtstag im Hotel Zum Storchen, das am Ufer der Limmat direkt gegenüber dem Großmünster gelegen ist, statt. Der lokale Rahmen hat sein Gewicht, denn da „mit einigem Gold übers Wasser kommende Münster“ (V. 10/11) liefert die versöhnende Umfassung für das gegensätzlich verlaufende Gespräch. Der offenkundige Widerstreit zwischen Syntax und Versifikation im Gedichttext, sogar bis in einzelne Wort hinein („da-von“, V. 7/8), gibt dem Wortmaterial ein gänzlich anderes, vertiefendes Gewicht. Durch diese Art der Formgestaltung gibt Celan dem Leser die Möglichkeit zu reflektierendem Lesen vor. Gegenstand des so schwierigen Gesprächs ist die „Trübung durch Helles“ (V. 4), nämlich das „Zuviel“ und „Zuwenig“ (V. 1/2) bei der Erörterung so komplexer Fragen wie gegenseitige Verstehen („Du und Aber-Du“, V. 2/3), Religion, Shoah, Judentum und Antisemitismus in der Welt („dein Gott“, V. 7). Das „Zuviel“ und das „Zuwenig“ hat Celan direkt der grundsätzlichen Fragestellung Margarete Susmans in ihrem Hiob-Buch entnommen. Er unterstreicht damit die Bedeutung des Inhalts der Diskussion. Zugleich macht er darauf aufmerksam, daß diskutierend der Gegenstand Schaden nehmen kann („Trübung durch Helles“). Jedenfalls respektiert er ohne weiteres die unterschiedliche Art des Denkens. Daß er aber von „deinem Gott“ spricht, verdeutlicht den eigenen Abstand dazu. Es ist nicht sein Gott. So sehr Celan sich zum Judentum und zur jüdischen Geschichte bekannte, so groß war sein Abstand in Glaubensfragen („Von deinem Gott war die Rede, ich sprach / gegen ihn“, V. 12/13). In diesem Zusammenhang deutet er an, immer noch die leider vergebliche Hoffnung zu hegen, „sein höchstes, umröcheltes, sein / haderndes Wort“ (V. 17/18) vernehmen zu können. Es müßte ein den Atem verschlagendes („umröcheltes“, V. 17) Wort sein. Aber der das Ganze abschließende Gedankenstrich läßt das bewußt offen. Entscheidend ist die Aussage:

ich
ließ das Herz, das ich hatte, hoffen
(V. 13/15).

Insofern respektiert er die Position von Nelly Sachs, auch wenn er bei seiner entgegengesetzten Auffassung bleibt („Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte“, V. 19/21).9

Daß sie uns zu der jüdischen Gemeinschaft zählen, die keine des Ritus ist, sondern der Herzen.

Darin sah er sich zugehörig (Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric 2, S. 176, Brief Celans vom 3.5.1965). Schon bei der Ausarbeitung der „Meridian“-Rede schrieb Celan den Satz: „Senjuiver: c’est devenir – Autre“ (zit. n.: John Felstiner: Paul Celan) Ungeachtet der völlig anderen Überzeugung, bleibt es beim freundschaftlichen Dialog. Im Schlußabschnitt in Gestalt der fünften ,Strophe‘ übernimmt der Autor des Gedichts sogar zustimmend und bekräftigend die Aussage von Nelly Sachs:

Man weiß ja nicht, was gilt.

Er verallgemeinert sie in eindeutiger Zustimmung mit der das Ganze zusammenfassenden Variante:

Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt
(V. 22–27).

Insofern gehört die Widmung zum Gedichttext, denn das Gedicht ist Nelly Sachs zugeeignet, ist gewissermaßen eine Huldigung des Nicht-Gläubigen an die Gläubige. Aber zugleich betont Celan damit die eigene Position des im Sinne der Orthodoxie ,ungläubigen‘ Juden. Was er glaubte, war irdisch gebunden. Notierte er doch kurz vor der Israel-Reise 1969 den Satz:

Mein Judentum: das, was ich in den Trümmern meiner Existenz noch anerkenne („Mon judaïsme: ce que je reconnais encore dans les débris de mon existence“).10

Das sich auf die Zürcher Begegnung beziehende Gedicht war Celans positive Reaktion auf den von Nelly Sachs vor der Begegnung geäußerten Wunsch:

So werden wir uns dennoch in der Hoffnung begegnen – in dunkler Sternzeit aber doch in der Hoffnung! […] In der Nacht blüht der Segen auf, dem falsch – und doch Gott-richtig Gesegneten auf. In der Nacht möge er Ihnen aufblühen!11

Um ihr in ihrer schweren psychischen Erkrankung bald danach Hoffnung zu machen, schrieb er ihr in suggestiver Absicht:

Es sind so viele freundliche Herzen und Hände um uns, Nelly! Sieh, bitte, wie nah sie sind, wie viele es sind! Ja, es ist wieder hell – das Netz, das dunkle, ist fortgezogen – nicht wahr, Nelly, Du siehst es jetzt, Du siehst, daß Du im Freien bist, im Hellen, mit uns, unter Freunden?12

Das Fragezeichen dahinter verrät die gutgemeinte, aber geringe Überzeugungskraft dieser Argumentation. Er befand sich ja selbst in vergleichbarer psychischer Verfassung. Zu einem guten Teil war das eher ein Versuch zur Selbstermutigung.
Noch fünf Jahre später notierte Celan unter Bezugnahme auf seinen Besuch in der Stockholmer Psychiatrischen Klinik 1960 die gleichfalls ihn selber betreffende Diagnose:

Wer oder was
trieb Nelly Sachs in den Wahnsinn?

[…] In Stockholm hört ich sie sagen:
„Die in Auschwitz
litten nicht das, was ich leide“
13

Er gehörte ebenso – und weit mehr als Nelly Sachs – zu den von Auschwitz fortwährend Verfolgten. Sie war durch die Flucht nach Schweden mit ihrer Mutter dem Vernichtungsmechanismus in letzter Minute entronnen. Er hatte die todbringende Maschinerie gründlich an sich selbst erfahren. Aus diesem Grund nahm er für sich in Anspruch, als jüdischer Kämpfer aufzutreten, der nicht verzeiht, was an Unmenschlichem geschehen war und weiter geschah. Wenn er im Gedicht „von Jüdischem“ spricht, meinte er genau diese kriegerische Haltung. Es waren die Verhältnisse, denen er in Deutschland und anderswo begegnete, die ihn dazu brachten. Er hielt sich im Gedicht „Die Schleuse“, an die Worte „Kaddisch“, und „Jiskor“, die hebräischen Worte des Eingedenkens, mithin also an das Gebet der trauernden Juden. Während Nelly Sachs in ihrem Glauben die Kraft zur Verzeihung finden konnte, sah er sich als Zweifelnder und auch Verzweifelter genötigt, Widerstand zu leisten. Hierzu gilt die Eintragung in Kafkas Notizbuch, die Celan genauestens kannte:

Schreiben als Form des Gebetes.14

Das gerade erwähnte Gedicht („Die Schleuse“) beginnt darum mit den Worten:

Über aller dieser deiner
Trauer: kein
zweiter Himmel
15

Er mußte sich hier im Lebensalltag durchkämpfen. Und er tat das, solange er konnte, denn es war „schwer wie das Hier- / und Hinaus-ins-zweite- / Dunkel-Gewogen- / Werden“.16 In voller Überzeugung notierte er im Sommer 1961 auf ein Blatt:

Ich verantworte – Ich widerstehe – Ich verweigere17

Er nahm dieses schwere Los auf sich und konnte so das Gedicht „Ein Wort vom Zur-Tiefe-Gehen“ mit den Versen zuversichtlich abschließen:

Weißt du, der Raum ist unendlich,
weißt du, du brauchst nicht zu fliegen,
weißt du, was sich in dein Aug schrieb,
vertieft uns die Tiefe
18

Seine Haltung erlaubte es ihm, weiter zu schreiben. Aber der weitere Weg wurde immer schwerer für ihn.

Theo Buck, aus Theo Buck: Paul Celan (1920–1970). Ein jüdischer Dichter deutscher Sprache aus der Bukowina. Die Biographie, Böhlau Verlag, 2020

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