DIE WAHRHEIT IST, MAN HAT HAT MIR NICHTS GETAN
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Ich darf schon lange in keiner Zeitung schreiben,
die Mutter darf noch in der Wohnung bleiben.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Der Greisler schneidet mir den Schinken an
und dankt mir, wenn ich ihn bezahle, kindlich;
wovon ich leben werd, ist unerfindlich.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Ich fahr wie früher mit der Straßenbahn
und gehe unbehelligt durch die Gassen;
ich weiß bloß nicht, ob sie mich gehen lassen.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Es öffnet sich mir in kein Land die Bahn,
ich kann mich nicht von selbst von hinnen heben:
ich habe einfach keinen Raum zum Leben.
Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.
Es gibt im schlechten Leben gute Zufälle: In einem Bukarester Antiquariat der siebziger Jahre stand ein verstaubter Gedichtband: Der Name des Autors sagte mir damals nichts, aber ich kaufte das Buch: Theodor Kramer Die Gaunerzinke. Es kostete 1 Leu, genausoviel wie eine Straßenbahnkarte. Ich las mich darin fest, hatte auf dem Papier in Gedichtform das vor Augen, was in der rumänischen Diktatur alltäglich war: Verfolgung durch Polizei und Geheimdienst, Abschiede von ausreisenden Freunden, geheime Flucht über die Grenze, mißlungene Fluchtversuche, die mit Gefängnis oder Tod endeten.
Keine Literatur, die ich kannte, sprach diese Zustände so unerbittlich genau und gleichzeitig poetisch aus wie die Gedichte Theodor Kramers. Kein anderer Autor fand für das Schwerste so leicht einen Klang, keiner war so mündlich im Ton und so einprägsam wie die schönsten rumänischen Volkslieder. Und genau wie diese vertrackt melancholisch und, wenn das Atemholen es erlaubte, vertrackt fröhlich.
Ich selbst war in die Fänge des Geheimdienstes geraten, kannte Ungewißheit, Todesängste und hatte Kramers Gedichte handgeschrieben und groß wie Bilder im Zimmer hängen. Ich konnte sie auswendig, sagte sie mir laut auf, wenn ich allein war, und still in den Kopf hinein, wenn ich auf Straßen, im Park, zum Verhör ging: „Wer läutet draußen an der Tür“ oder „Abschied von einem ausgereisten Freund“ oder „Andre, die das Land so sehr nicht liebten, warn von Anfang an bereit zu gehen“. Diese Gedichte kamen mir unverdient zu Hilfe, Theodor Kramer begleitete meine Auswegslosigkeit, wurde zum imaginären Freund, auf den ich angewiesen war.
Paul Celans Gedichte kannte ich schon lange und damit den Zwiespalt: einerseits die Bewunderung seiner literarischen Rigorosität, andererseits das Wissen, daß mein Vater ein SS-Soldat war. Ich war unabänderlich auf der todbringenden Seite Celans und Kramers geboren worden. Aus den Gedichten bei der Autoren, die durch das Thema der Judenverfolgung verbunden und dennoch ganz und gar verschieden waren, lernte ich zwei wichtige Dinge: Die Schuld meines Vaters am Zerbrechen anderer zu beurteilen, und mein eigenes Zerbrechen an einer anders daherkommenden Diktatur in Grenzen zu halten.
Mit dem gleichen Staunen las ich später Theodor Kramers Porträtgedichte, die entweder balladenhaft ein ganzes Leben erzählen oder sich in andere Menschen versetzen und in der Ich-Person von innen nach außen sprechen. Liedhaft und augenzwinkernd porträtieren sie Situationen, Gegenstände, die unauffällig oder unbeliebt sind: die Dachpappe, den Rost, die Küchenschabe.
Auch Feld-, Asphalt-, Trink-, Stundenhotel-, Liebes- und Altersgedichte hat Kramer geschrieben. Über seine Lebensjahre verstreut, rufen sie die immer gleichen Pflanzen, Dinge, Momente wieder und wieder zurück in die vergehende Zeit. Der Autor setzt seine Gedichte in einen immer anderen, neuen Bezug zueinander. Ganz von selbst entsteht ein Zusammenhalt, ein zyklisches Kreisen ohne Konstruktion. Jede Wiederkehr des schon einmal Gesagten macht den Ton nicht lauter, sondern leiser: grazile Poesie. Wie im Volkslied werden die Wiederholungen zur schwankenden Beiläufigkeit. Eine angesichts der Tatsachen von Verfolgung und Exil unglaubliche Selbstbeherrschung kennzeichnet Kramers Gedichte, ein Mitgefühl für alles, was außerhalb der eigenen Person steht, eine Verbeugung vor dem Gewöhnlichen und der Selbstverständlichkeit. Diese Bescheidenheit ist oft intuitiv gepaart mit Selbstironie.
Besonders die erotischen Altersgedichte, die das unvermeidliche Abdanken des Körpers und die unverminderte Liebeslust besingen, schlagen sich aus der Verstörtheit des Alleinseins ins Schalkhafte. Kein anderer Autor der deutschen Lyrik hat die panische Liebesgier im Alter, das Aug-in-Auge mit dem Lebensende so kompromißlos im Lachen und Klagen und in allen Facetten beschrieben.
Die Gedichte Theodor Kramers sind zugänglich, man braucht keinen Schlüssel, kann gar nichts anderes hinein interpretieren, als das, was da steht. Wie aller guter Literatur, der die Vereinfachung des Komplizierten scheinbar ohne Anstrengung gelingt, ist auch in Kramers Gedichten das Handwerk versteckt. Mit einem Fingerschnippen wird man durch glatte Reime getragen. Im Liedhaften lernt die Last fliegen, aber die Tiefe darunter ist nicht weniger bedrohlich als in den Gedichten Celans.
Wie die „Todesfuge“ müßten auch Kramers Angstgedichte in den Schulbüchern stehen. Gerade im Vergleich des Werkes dieser beiden Autoren ließe sich exemplarisch zeigen, wie das für alle Lebenstage zerbrochene Ich in der Sprache des Gedichts seinen Weg ging, also ästhetisch völlig unterschiedlich gestaltet werden mußte und konnte.
„Daß ich dem Nichts nur widerstehen kann / wenn ich die Angst in Verse bann“, schreibt Theodor Kramer. Er hat sein Leben lang manisch gedichtet, hatte, als er 1957 und nur ein halbes Jahr vor seinem Tod aus dem englischen Exil nach Wien zurückkehrte, ein Werk von etwa 12000 Gedichten. Er war, als die Menschenjagd der Nazis begann, einer der bekanntesten Lyriker in der deutschen Literatur. Er wurde ausgeschaltet und nach 1945 „vergessen“.
Durch ihre Musikalität und Zugänglichkeit hätten die Gedichte sowohl beim Lesepublikum als auch bei den Germanisten auf Liebe stoßen können. Aber sie waren nach 1945 für die einen wie für die anderen unbequem. Bei Celans Gedichten konnte man sich am Geheimnis der Metaphern festhalten, durch die Fluchttür auf die Suche nach Interpretationen gehen. Bei Kramer sind die behelfsmäßigen Fluchtwege nicht vorhanden. Man konnte die Gedichte nicht angehen, ohne sich dem Thema direkt zu stellen. Um sich zu schonen, wurden die Verfolgungs- und Exilgedichte Kramers gemieden.
Den Sauf-, Stundenhotel-, Liebes- und Altersgedichten ist man vielleicht wegen der im deutschen Sprachraum gängigen „gelehrten“, aber in Wahrheit arrogant-prüden Vorstellung von Kunst aus dem Weg gegangen. Der deutschen Sprache gelingt der Blick ins Hosentürchen ohnehin selten, das Vulgäre, das unverblümt und rasant ins Poetische steigt. Kramer ist es gelungen. Es hapert nur an Lesern, die bereit sind mitzugehen. Der deutschen Literatur wurde absichtlich oder unmerklich das Fenster zur Sinneslust zugemauert.
Oder werden die Gedichte Kramers bis heute gemieden, weil man, nach geschehenem Verbrechen, als deutscher Leser zu befangen ist, von einem Juden Sinnlichkeit zu lernen? Hätte man den geklitterten Kramer, als Verfolgten mit mehreren Nervenzusammenbrüchen, den im letzten Moment ins Exil geflohenen Sohn einer Mutter, die 1943 in Theresienstadt ermordet wurde, längst akzeptiert, wenn es den liedhaft erotischen Kramer nicht gäbe? Diese Gedichte sprengen nämlich das Klischee des politischen Leidens eines Juden. Ohne es auszuklammern, führen sie weiter. Sie passen nicht zu all dem, was man erst unwillig, dann schwerfällig, später sogar brav und beflissen bezüglich Überlebender zu sagen gelernt hat.
Theodor Kramer hat das Gedicht „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“, in ärgster Bedrängnis geschrieben. Und jedes Wort zeigt, wieviel man ihm angetan hat. Statt Vorwurf und Schrei steht es da, dieses Gedicht, mit einem Kopfschütteln und Achselzucken, mit provozierender Nachsicht. Und über sich hinaus in die geretteten Jahre lassen Kramers Gedichte nicht locker mit dieser Provokation, das Überleben mit immer neu versuchtem Glück in Schach zu halten, so gut die kaputten Nerven dies zulassen. Auch über Paul Celan, den Leser und Wissenschaft zum Glück nicht „vergessen“ haben, liest man heute gelegentlich, er sei manchmal sogar ein lustiger Mensch gewesen. Diese Feststellung wundert sich darüber, als würden Celans Gedichte das ausschließen.
Theodor Kramers Gedichte kommen in unzähligen Gefühlslagen daher, und immer im Pulsieren des Erlebens. In meinem Kopf haben sie sich viele Jahre gesprochen und gesungen. Sie haben meine Ängste, ohne zu täuschen, bestätigt und dadurch erträglich gemacht. Und sie haben mich, ohne zu täuschen, kauzig und spitzfindig in Freude versetzt. Wenn Literatur eine „Wirkung“ hat, wird es wohl das sein, was Kramers Gedichte mit mir getan haben.
Herta Müller, Nachwort
Noch so ein Unterschätzter, fast Unbekannter, der den Gralhütern des Literarischen Kanons irgendwie zu unbequem war: Theodor Kramer (1897–1958) liest sich zu leicht, zu direkt, und das irritiert jene, die Tiefsinn nur im dunkel Raunenden vermuten. Und dann hat’s auch noch Rhythmus, und reimen tut sich’s auch noch!
Wenn man Kramers Gedichten unbedingt ein Etikett aufkleben soll, dann kommen einem Kästner, Kaléko, Tucholsky in den Sinn, Brecht auch – ähnlich wie sie nennt er die Dinge beim Namen, behält er den Kopf auf den Schultern und schwebt nicht über den Wolken. Seine Gedichte sind Genrebilder: Bilder vom Elend des Heimatlosen und vom desillusionierten Kriegsheimkehrer; und Gesänge über die Würde von Puffmüttern und -töchtern, unsentimentale Lebens-Rückblicke des abgehalfterten Alten ohne verklärenden Schleier. Wenn Kramer „Wer läutet draußen an der Tür?“ fragt, dann geht es nicht um eine neckische Variation des „Horch, was kommt von draußen rein?“, sondern zunächst um die Erleichterung, dass es nur der Bub war, der die Semmeln bringt. Später kommen andere: „Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein / und wein nicht: sie sind da.“ Auch wenn man nichts über Kramers Biographie weiß, versteht man sofort, wer da an der Tür geläutet hat… Schließlich konnte Kramer erst in letzter Minute vor den Nazis flüchten; seine Mutter wurde in Theresienstadt ermordet.
Eindringlich sind sie also, seine Gedichte: „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“ ist ein Klagelied über das Heimweh im Exil; ihn konnte man nicht mit seinen Wurzeln ausreißen – und „Die Kommission“ verteidigt die Würde des Säufers, dessen Fähigkeit geprüft werden soll, ob er denn auf drei zählen könne und demnach zurechnungsfähig sei. Aber Kramer kann auch anders; er kann sogar obszön und witzig werden, kann eine Szene zwischen Groteske, Spott und Mitleid oszillieren lassen – beispielsweise in „Schabbes“, wo der alte orthodoxe Jude im Puff seine masochistischen Neigungen ausleben darf. — Aber nein, keine Bange, meine Herrschaften: Kramer dichtet keine Herrenwitze. Dazu ist er zu gescheit, und dazu leidet er auch selber zu sehr am Leben, obwohl oder auch weil er seinen Sujets ihre Würde lässt.
Kramer spricht also deutlich, und gerade das dürfte ihm den Ruhm verwehrt haben: Ein jüdischer Sozialdemokrat, dessen Gedichte alle Register ziehen können; ein Dichter, den Thomas Mann und Carl Zuckmayer schätzten – das hätte die Aufmerksamkeit in den 50er Jahren ja eigentlich sichern müssen, und erst recht in den 60ern und 70ern den Nachruhm garantieren. Aber nun hat dieser wehmütige Heimatlose, der sich nicht selber „mit dem eignen Messer [s]eine Wurzeln aus der Erde drehn“ wollte, im selben Atemzug Halb- und Unterwelt drastisch (aber nie unterhalb der Gürtellinie) besungen… das war dann doch nicht opportun, und obendrein nahm’s zu breiten Raum in Kramers Werk ein, als dass man’s verschämt hätte kaschieren können. Irgendwann hat Zupfgeigenhansel einige Gedichte vertont und Kramer etwas bekannter gemacht; wenigstens das.
Mit Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan hat Herta Müller eine thematisch gegliederte Auswahl aus Kramers Gesamtwerk herausgegeben, und wenn man ihr kluges Nachwort gelesen hat, dann weiß man, dass kaum jemand besser geeignet gewesen wäre für diesen Auftrag: Entwurzelte Dichter, die die Dinge beim Namen nennen, verstehen einander offensichtlich.
Freilich hat der auch handwerklich schön gemachte Band kleine Schwächen, die allerdings weder der Autor Theodor Kramer noch die Herausgeberin Hertha Müller zu verantworten haben: Gerade weil Kramer in seinen Gedichten immer wieder eigene Erlebnisse thematisiert, darunter das Grauen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, die Flucht 1939 aus dem „angeschlossenen“ Österreich, die Jahre im britischen Exil, die Rückkehr nach Österreich 1957 als vereinsamter kranker alter Mann, gerade deswegen hätte man gern gewusst, wann genau die einzelnen Gedichte verfasst oder erstmals veröffentlicht wurden. Dies als Bitte für den hoffentlich bald eintretenden Fall, dass das Buch wieder neu verlegt wird.
Auf den ersten Blick mag die Kombination verwundern: Wie kommt gerade die Rumäniendeutsche Herta Müller dazu, Gedichte des gebürtigen Weinviertlers Theodor Kramer herauszugeben? Die 1953 im Banat geborene Autorin, die seit zwölf Jahren in Deutschland wohnt, berichtet im Nachwort selbst von ihrer Begegnung mit dem Kollegen: Um den Preis einer Straßenbahnkarte erstand sie in den siebziger Jahren in einem Bukarester Antiquariat Kramers 1929 erschienenen Erstlingsband Die Gaunerzinke. Kramers lyrischer Leierkastenton erinnerte Herta Müller an die schönsten rumänischen Volkslieder, „vertrackt melancholisch“ und „vertrackt fröhlich“ zugleich. Vor allem aber waren Kramers Gedichte für sie, die ins Visier der Securitate geraten war, buchstäbliche Überlebenshilfe: Sie schrieb seine Verse ab und hängte sie als Plakate in ihrem Zimmer auf, sie konnte sie auswendig und suchte in ihren festgefügten Reimen Halt.
Kein Wunder also, daß Herta Müller ihre Auswahl mit jenen Texten beginnt, in denen der Jude Kramer gleichsam mit zugeschnürter Kehle vom Wien des Jahres 1938 spricht, als er, der sehnsüchtig-bodenständige Dichter der Vorstadt und des Umlandes, nolens volens der Ausreise entgegenwartete. Müller vergleicht Kramer mit Paul Celan, ihrem zweiten poetischen Fixstern, und meint, neben der „Todesfuge“ müßten auch Kramers Angstgedichte in den Schulbüchern stehen. Tatsächlich findet man dort immerhin schon des öfteren das geradezu klassische Titelstück „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan“ oder auch „Wer läutet draußen an der Tür?“ Ebenso lesebuchtauglich wären sicherlich persönliche Gedichte aus dem englischen Exil, die Porträts alter Leute oder die atmosphärisch flirrenden Genrebilder wie „Im alten Gasthausgarten“ oder „Kleines Café an der Lände“.
Herta Müller hat aber just den sinnlichen Kramer für sich entdeckt, oder genauer: den erotischen. Und der käme sicher nicht im Lesebuch unter. Vom innigen Liebeslied bis zum gepfefferten Bordellappell reicht das Spektrum, Kramers wahrhaft ungeschminkte und doch nicht kraftmeierende Rede vermag immer wieder zu verblüffen. Müller sieht in dieser zupackenden Direktheit einen Grund dafür, daß Theodor Kramer trotz seiner realistischen, erdigen, ja volkstümlichen Lyrik jahrzehntelang im Eck der „Exilliteratur“ abgestellt blieb. – Sexuelle Genüßlichkeit vertrüge sich nicht gut mit dem Opferbild des Emigranten. „Wann ein Mann von einer Hure geht…“, „Von der Onanie“, „Der Zuhälter“ – Kramer ist kein Dichter für Teekränzchen, und er soll bei solchen den einladenden Damen mit seinen Rezitationen die Schamröte ins Gesicht getrieben haben.
Bei dem Versuch, den „Dichter des plebejischen Österreich“ (Ernst Fischer) abzubilden, sind auch einige Stücke hineingerutscht, die in puncto Qualität nicht mithalten können, grobe Sentenzen, derbe Sprüche: „Von den Fürzen“, „Der Sumper“, „Von der Küchenschabe“. Liest man das schaurig schöne „Lied des Wanzenvertilgers“, wird allerdings klar, daß Kramer nicht am Thema scheitert, wenn er scheitert. Kein Ding ist ihm zu gering, sein Verständnis von Welthaltigkeit kennt keine „unlyrischen“ Gegenstände mehr, poetische Korrektheit liegt ihm fern. So gehören denn auch die irritierenden Selbstentblößungen im Licht einer kümmerlichen Alterserotik legitimerweise zu diesem ganzen Bild – genauso wie die verstörend gelassenen Abhandlungen des Themas Kindesmißbrauch. Wider (mein) Erwarten nicht im Band enthalten sind Kramers auf rumänischem Terrain, im Banat und in der Dobrudscha, angesiedelte Gedichte von glühenden Landschaften, reichen Gutsherren und rebellischen Landarbeitern, suggestive Bilder, die Kramer als eine Art Karl May der Ethnolyrik ohne Anschauung der Gegend phantasiert hat.
Wer sich Kramers Gedichte zum ersten Mal zu Gemüte führt, den kann Herta Müllers subjektive Best of-Sammlung jedenfalls nicht kalt lassen. Ist er auf den Geschmack gekommen, empfiehlt sich als Zuspeis die ebenfalls heuer vom Nachlaßverwalter Erwin Chvojka im Club Niederösterreich herausgebrachte Sammlung Der alte Zitherspieler, die sich ganz auf die „Menschenbilder“ konzentriert, auf Theodor Kramer als den selbstvergessenen Sprecher „für die, die ohne Stimme sind“.
ERINNERUNG DER BILDER
für Theodor Kramer
Wenn die Akazie blüht, denk ich an deine Zeilen,
Sie haben mir den Duft noch würziger gemacht.
Der Weg liegt weiß und bleich, die Tage eilen
Durch weichen Junischnee, gefallen über Nacht.
Ich steh am Bahndamm, seh die krummen Gleise
Durch Meere Raps entfliehn weit übern Rand.
Ich geh mit dir noch einmal auf die Reise
Auf alten Wegen durch verschwundenes Land.
Das Lied verklingt vor Nacht, gestorben sind die Sänger.
Man hört noch ferne, wie ein Hund lang bellt.
Die Bilder leben noch ein wenig länger,
Als lägen schützend sie auf dieser Welt.
Hans-Eckardt Wenzel
Herta Müller Interview in Sternstunde Philosophie im Januar 2011.
Günther Doliwa: Gewaltig ist das Leben
literaturkritik.de, April 2008
Daniela Strigl: Hieb auf den Kopf, Griff ans Geschlecht
Der Standart, 29./30.3.2008
Cornelius Hell: Für die, die ohne Stimme sind
Die Furche, 27.3.2008
Theodor Kramers Gedicht „Geboren ward ich in die Wende“ gesungen von Wenzel.
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