IN SCHWERER STUNDE GEHN
Will ein Mensch von dir in schwerer Stunde gehn,
halt ihn nicht zurück, und schweigsam laß geschehn,
was zuinnerst schon vor langer Zeit geschah;
dein vergangnes Leben kommt dir rauschend nah.
E i n e Spanne aber läßt sich nicht verstehn;
allem, was zu zweit erlebt ward und gesehn,
wohnt ein Schweigen inne, das um Stimme wirbt,
das den Glanz der Dinge annagt und verdirbt.
Über die gesteckten Maße hat sie Macht,
daß die Zeit du strichest gern in wacher Nacht;
doch die Pulse klopfen rascher, und dir graut,
wann sich früh dein Leben loser überschaut.
Unter den Liebesgedichten Theodor Kramers gibt es welche, die zu den schönsten zählen, die in deutscher Sprache geschaffen worden sind. Alle aber sind von vollkommener Offenheit. Wer Kramer nur als den Dichter kennt, der den Ausgebeuteten und Unterdrückten, jenen, „die ohne Stimme sind“, die seine leiht, der das Bild der heimatlichen Landschaft „zum Weinen klar“ vor uns erstehen läßt, wird auf die Liebesgedichte nur dort stoßen, wo sie, in die bekannten großen Themenkreise Kramers eingestreut, verborgen liegen. Doch sie enthalten existentiell Wesentliches: sie fügen Kramers Bild vom Menschen, der, „vom Leben geschlagen“, sich den Mut in der Verzweiflung bewahrt hat, der sich dem Überschwang ergibt, um die Bitternis seines Daseins ertragen zu können, eine neue Dimension hinzu: die Beziehung zum Du.
Nichts Spielerisches, nichts Tändelndes liegt in diesen Gedichten. Grenzenlos ist die Liebe nur, wenn sie die Grenzen geprägter Konventionen überschreitet, unendlich nur in der Vielfalt ihrer Formen. Nichts Anbetungswürdiges, nichts Verklärenswertes ist zu finden, nirgends Verliebtheit; vielmehr ein Aneinanderklammern im Wissen um die Vergänglichkeit der Lust, mangelhaft verdeckt von der unausrottbaren Hoffnung auf ihren „ewigen“ Bestand.
Die Liebe in Kramers Gedichten verzaubert nicht, sie erfaßt mit hartem Griff. Sie ist Verfallensein, der Verlust des eigenen Selbst um des anderen willen, ist Gewalt, die man liebend zufügt und der man sich liebend beugt. Mit „sanfter Gewalt“ geschieht die Vereinigung. Wollust ist nur Hülle für die Trauer des Abschieds. Dauer ist selten, spärlich die gemeinsame Erinnerung weit zurück. Nicht Eros, Sexus herrscht; ohne Körperliches ist für Kramer Liebe nicht denkbar.
Kramers Liebesgedichte sind hart; und sie sind zart zugleich. Kein Kampf der Geschlechter, aber immer wieder enttäuschtes Suchen, vergebliche Sehnsucht, kurze Erfüllung und die geringe Hoffnung, jemanden zu finden, der die Einsamkeit durchbricht und die lastende Schwere des Lebens ertragen hilft.
Kramers Liebesgedichte sind wahr. Wahr im Sinne einer Wahrhaftigkeit, die schon dem Knaben gepredigt worden war von seinem Vater, dem jüdischen Dorfarzt, der, wie viele Juden um die Jahrhundertwende, den Ideen des deutschen philosophischen Idealismus anhing. Und sie sind wahr im vordergründigen Sinne, in dem Maße, in dem sich Erlebtes mit Wahrgenommenem vermengt.
Kramer liebte die Frauen. Zahlreiche Widmungen in seinen Manuskriptheften, gerichtet an unterschiedliche Adressatinnen, bezeugen dies. Seine Verse bewahren die Spuren seiner Wege. Sie sprechen von der pubertären Furcht des Knaben, der, behütet von seinem nur ein wenig älteren Bruder aus dem verlorenen Dorf zum Gymnasialstudium nach Wien gekommen war. Bald wurde ihm diese Furcht genommen. Wechselnde Gefährtinnen befreiten den Heranwachsenden von der Einsamkeit in der fremden Großstadt, begleiteten ihn auf seinen Wanderungen im Wein- und Buckelland und bewahrten später den vorzeitig Alternden vor dem Absturz in die Verzweiflung während seines ihm von den Nationalsozialisten aufgezwungenen englischen Exils. Eine länger andauernde, zuletzt in eine Ehe einmündende Gemeinschaft mit der Rezitatorin und Schauspielerin Inge Halberstam hat dem Druck des Exils nicht standgehalten, blieb aber formal bis zu seinem Tode aufrecht.
So stand er, der die Kraft, die imstande ist, die beiden Formen des Menschseins zu vereinen und sie aus ihrer Einsamkeit zu lösen, in ihren vielen Arten erlebt, erlitten und vielfältig beschrieben hatte, zuletzt einsam da. Seine Hinterlassenschaft an weltlichem Gut war gering. Was er uns als Summe seiner Erkenntnis und seiner Erfahrung hinterlassen hat in seinen Gedichten über die Liebe, ist ein einzigartiges Kompendium, das uns noch heute mit Trost und Trauer, mit Wehmut und Glück zu erfüllen vermag.
Erwin Chvojka, Nachwort
− Liebe und Tod, Glück des Sommers und rasselnder Herbst, Schönheit und Verschandelung der Natur, industrielle Ausbeutung und Lebensfreude – Theodor Kramers Gedicht führt auf buchstäblich atemberaubende Weise Kontraste und Gegensätze zusammen. −
„Und sie hörten verschattet die Spindeln sich drehn / in der staubigen Jutefabrik“ – das ist Literatur der Arbeitswelt und zugleich große, mythisch aufgeladene Poesie. Wer würde bei diesen Versen, geprägt von einer dunklen, abwärts führenden Melodie, nicht an die Parzen denken, die den Lebensfaden spinnen, zumessen und abschneiden?
Kramers Gedichte haben oft den Zug ins Balladenhafte. Eine Geschichte wird angedeutet. So auch hier – sie auszubuchstabieren, in ihrer Spannung zwischen dem Glück der Liebenden und dem Skandal der Verhältnisse, bleibt dem Leser überlassen. Geboren 1897 in Österreich, debütierte Kramer 1928 mit dem Gedichtband Die Gaunerzinke. Wenige Jahre später standen seine Werke auf der „Liste des unerwünschten und schädlichen Schrifttums“. Es folgten die Leiden des Exils. Kramer war Jude ohne Religion, Heimatdichter fern des Blut-und-Boden-Kitsches, Sozialist ohne Willen zur Propaganda – ein Mann zwischen den Stühlen. Um 1930 aber war er einer der meistgedruckten Autoren des deutschen Feuilletons. Aus dieser Zeit stammt das Gedicht, das genau datiert ist: 12. April 1930. Verse mitten aus der Wirtschaftskrise also. Wer noch Arbeit hatte, konnte sich „reich“ fühlen.
10 000 Gedichte hat Kramer geschrieben. Vieles davon ist Routinepoesie. Auch in diesem Gedicht ist nicht alles perfekt. Kann etwas von Geschmack „benetzt“ sein? Wohl nur dann, wenn es sich auf „durchsetzt“ reimen muss. Auch die Formulierung „die Sonne beschien ihr Genick“ verdankt sich offenbar der Absicht, einen schnellen Reim auf die „Jutefabrik“ zu finden. Aber es ergibt sich ein suggestiver Mehrwert. Im Kontext der Todessymbolik bekommt das Wort „Genick“ einen bedrohlichen Unterton; an die Guillotine könnte man denken oder an den Genickschuss.
Während viele Dichter das Lyrische abseits des Alltags suchten, machte Kramer das Prosaische poetisch, das Beiläufige, Naheliegende und gerade deshalb oft Übersehene. So wurde er auch zu einem frühen Chronisten der Umweltzerstörung, der von vergifteten Wäldern und sterbenden, zu Fahrrinnen verwandelten Flüssen dichtete. Und von den Silikose-Lungen der Arbeiter in der Jutefabrik. Bei aller Nüchternheit war Kramer allerdings kein Vertreter jener Spielart von „Neuer Sachlichkeit“, die das Gefühl wegamputiert und ironisch mit den Stummeln winkt. Immer gab er in seinen Versen Empfindlichkeit, Verletzbarkeit und eine kaum je zu sättigende Liebesbedürftigkeit zu erkennen, auch wenn er Rollengedichte von Arbeitern, Vagabunden und Parias schrieb.
Zur Wirkung des Textes trägt die hohe Musikalität der Sprache bei. Das Metrum ist vom Daktylus bestimmt, der mit seiner dreivierteltaktartigen Abfolge von einer betonten und zwei unbetonten Silben besonders fließend wirkt. Dank der männlichen Versschlüsse ergeben sich kaum Brüche im Versmaß: Ohne Unterbrechung füßelt dieser Liebestodeswalzer dahin. Zur Sprachmusik gehören auch die Alliterationen („Glut im Genick“) sowie der häufige Einsatz der Konjunktion „und“ – seit der Bibel die zuverlässige Art, große, elementare Gefühle zu inszenieren. Kramer erhöht die Dosis systematisch. In der ersten Strophe kommt „und“ dreimal, in der zweiten viermal, in der dritten dann achtmal vor. Überhaupt arbeitet er bei den Grundworten („Mittag“, „Genick“, „Jutefabrik“) mit Wiederholungseffekten, die dem Gedicht Rundung verleihen. Wie der Faden um die Spindel dreht sich die letzte Strophe gleichsam um das verdoppelte Adjektiv „reich“. Es erscheint provozierend angesichts der Dürftigkeit der Szenerie und der kargen landschaftlichen Reize: Sand, Gras, ein paar Blumen, dazu das Wehen des Windes. Und trotzdem wird es nicht durch die “Wahrheit” der Schinderei und der Krankheit widerlegt.
Kramer suchte die Poesie des Plebejischen. Aber er schrieb nicht für die Partei, sondern aus Parteinahme – für die Menschen am Rand, „die ohne Stimme sind“. Damit fand er wenig Freunde auf Seiten der politischen Linken: Da kam es mehr auf die Gesinnung als auf virtuose Einfühlung an. Der Sinnenfreund Kramer war jedoch nicht geschaffen für die Vertröstung auf die hängenden Gärten der sozialistischen Utopie. Ihn interessierte der Mensch, wie er ist, in seinen Widersprüchen und seinem schwankenden Kurs zwischen Liebe und Tod. Ihn reizten nicht kommende Paradiese, sondern die, die hier und heute zu haben sind, wenn auch nur für ein paar Stunden oder einen einzigen reichen Sommer.
gibt es wie Sand am Meer – Goldkörnlein sind da nicht leicht zu finden. Theodor Kramers lyrische ars amandi mag auf den ersten Blick eher irden anmuten. So still, wie das Titelgedicht suggeriert, geht es jedenfalls darin nicht zu. Kramer folgt hier seiner Klientel, den kleinen und ganz kleinen Leuten, in die verschwiegenen Winkel eines ärmlichen Glücks. „Auf dem Holzplatz, wo der Wermut blüht“, „Hinterm Riesenrad“ und „Auf einer rostigen Bettstatt“, im Stundenhotel und im Straßengraben begegnen einander Ausgestoßene und Ausgehungerte, Arbeiter und Arbeiterinnen, Matrosen und Prostituierte.
Irden also und ausgesprochen irdisch scheint dieses Glück, und doch kultiviert Kramer gerade den Blick auf die Zärtlichkeit unter den Ärmsten, auf die „Vorstadthure“, die auf einen Kunden hofft, „der schlechter dran ist und ärmer als ich“, damit sie sich seiner annehmen kann. Das „Lied am Rand“, das zur Kramer-Trademark geworden ist, klingt süß und bitter zugleich:
Es dreht sich das Akazienlaub
und schwebt durch die Allee;
ich bin, der an ihm frißt, der Staub,
du bist der süße Schnee.
Bemerkenswert oft nimmt Kramer in seinen Rollengedichten den Standpunkt der Frau ein: „Josefa“, die Dorfhure, und „Die Weinmagd“ verkörpern den zähen Stolz der Ganz-auf-sich-Gestellten; die Metaphern werden wiederum erdig:
In dieser Nacht ist alles trunken,
die Nuß am Baum dünkt seltsam groß,
und schwammig kommt es aus den Strunken −
ein bracher Acker ist mein Schoß.
Ebenso selbstverständlich wie die weibliche Sexualität kommt in dieser Lyrik die erotische Bedürftigkeit der Alten zu ihrem Recht.
Vor allem aber finden sich – anders als sonst bei Kramer – deutliche autobiographische Spuren. Kramers von diverser holder Weiblichkeit begleitete wochenlange Wanderungen der zwanziger Jahre finden ihren Niederschlag, und wir erfahren, was der Dichter im englischen Exil „Einer jungen Freundin“ zu sagen hat: „weich sind deine Brüste, deine Hände, / doch an mir ist alles wüst und schwer“ – die wüsten Brüder Kramer waren ein Begriff im jugendbewegten Wien. Michael Guttenbrunner hat seinem verehrten Kollegen einen „melancholischen, exzedierenden Geschlechtstrieb“ bescheinigt. Tatsächlich sind gerade Kramers Wandergedichte vom Exzeß geprägt, vom rauschhaften Immer-weiter- und Aus-sich-heraus-Gehen, vom „Überschwang“ und seiner Kehrseite, der Melancholie, von der höchsten Intensität im Angesicht des Nichts und der auf dem Fuß folgenden Ernüchterung. Sowohl die exzessiven Märsche als auch die exzessiven Nächte zielen hier auf die (buchstäbliche) Einverleibung des Augenblicks in der Ekstase, im Außersichsein ab. „Schön ist am Leben nur der Überschuß!“ heißt es da, aber auch: „nur drauf aus, sich zu vernichten, ist der Liebe Übermaß.“
Kramers Liebesgedichte sind eine Einübung in die Vergänglichkeit, sie zeigen ein prekäres Schrebergartenglück, zeigen die schale Idylle des gemeinsamen Erwachens und die Leichtigkeit, ja Erleichterung des Abschieds. Kramer spielt hier die Stärken seiner ganz persönlichen sinnlichen Gewißheit aus, er erzeugt Stimmung mit leuchtkräftigen, suggestiven Bildern, aber er weiß auch, wie das ist, „Wann ein Mann von einer Hure geht“, und beschreibt einschlägige Sexualpraktiken mit routinierter Derbheit.
Auf seiner erotischen Tour de force passiert ihm der eine oder andere Ausrutscher:
Was es gibt an Lust, Marie,
laß verkosten uns wie nie;
küssen kann man nur zu zwein,
schnarchen kann man nur allein.
Dennoch stößt der Leser in diesem kompakten Band auf eine Goldader: auf unverbrauchte Lyrik voll Irritation und überraschender Innigkeit:
Wie eine Quitte schmeckt dein Kuß;
ich war dir nie, noch nie so nah…
Eines der schönsten Bücher mit Gedichten, welche tief ins Innere gehen und einen auszufüllen vermögen. Aktuell, wie wenn diese Gedichte zu jeder Jahreszahl geschrieben sein könnten. Für mich stellt Theodor Kramer einen Menschen dar, der es wert ist um seine Gedanken beneidet zu werden.
Jan Kuhlbrodt: Das Phänomen Kramer
fixpoetry.com, 9.9.2012
Günther Doliwa: Gewaltig ist das Leben
literaturkritik.de, April 2008
Daniela Strigl: Hieb auf den Kopf, Griff ans Geschlecht
Der Standart, 29./30.3.2008
Cornelius Hell: Für die, die ohne Stimme sind
Die Furche, 27.3.2008
Theodor Kramers Gedicht „Geboren ward ich in die Wende“ gesungen von Wenzel.
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