LOB DER VERZWEIFLUNG
Verzweiflung, Freund des Armen,
du letzter Rest vom Rest,
du hast mit ihm Erbarmen,
wenn alles ihn verläßt;
du läßt sein bißchen Leben
im Schein des frühen Lichts
sich krümmen und erheben
und führst ihn dann ins Nichts.
Du hast gar viele Namen,
bist unter allen groß,
heißt Würfel, Messer, Samen,
heißt Branntwein, Strick und Schoß;
du bist im Klirrn der Scherben,
im Zucken des Gesichts,
du fährst ins träge Sterben
und wirbelst es ins Nichts.
Du warst mir oft Gefährtin
in meiner Einsamkeit;
für mich wär jeder Wert hin,
wär ich von dir befreit;
gib Kraft mir, daß ich lebe,
und führ mich durch das Nichts,
auf daß ich mich erhebe
am Tage des Gerichts.
Theodor Kramer wurde 1897 als Sohn des jüdischen Gemeindearztes in dem kleinen niederösterreichischen Dorf Nieder-Hollabrunn geboren. Die Strenge dieser Landschaft mit ihren endlosen Rübenfeldern und dunklen Wäldern, so ganz anders als das Pastellbild der Umgebung von Wien, hat ihn, obwohl er das Dorf schon im Alter von zehn Jahren verließ, für immer geprägt. Auch später, in den zwanziger Jahren, bevorzugte er bei seinen ausgedehnten Wanderungen die Weiten des Waldviertels und des Burgenlandes bis hin zum Neusiedler See, wo bereits der slawische Einschlag deutlich fühlbar wird. In diesen Gegenden traf er auf jene einsamen Gestalten, vom Ziegelbrenner bis zum Stromer, denen wir in seinen Gedichten begegnen. Sie zogen ihn an, weil sie ihm verwandt waren. Auch er war ein Einzelgänger, eine „Randexistenz“, was sowohl mit seiner spezifischen charakterlichen Veranlagung wie mit der gesellschaftlichen Position seiner Familie zusammenhängt. Soziale Unterschiede und mindestens latente rassische Vorurteile haben schon seine frühe Kindheit belastet.
Das nach Beendigung der verhaßten Schulzeit in Wien kaum begonnene Studium wurde schon 1915 durch die Einberufung unterbrochen. Von der schweren Verletzung, die Kramer in Wolhynien erlitt, konnte er sich nie mehr erholen. Nach Kriegsende versuchte er in verschiedenen, immer wieder durch die Inflation gefährdeten Brotberufen Fuß zu fassen. Und dann, um 1926, geschah etwas für diese Zeit höchst Ungewöhnliches: Er vermochte von der Veröffentlichung seiner Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften zu leben. In einer 1931 publizierten Lebensskizze hat Kramer bekannt, er habe sich in seinen ersten Gedichten „inhaltlich immer mehr einem wilden Individualismus zugekehrt“, der ihn fast zur Schizophrenie geführt habe. „Dann, plötzlich… gelang das Unvermutete und ganz Einfache: ich schrieb nieder, was mir früher bloß Anlaß zum Schreiben und Ursache meiner Stimmungen gewesen war.“ Kramer, der seit seinem 14. Lebensjahr Gedichte geschrieben hatte, war es gelungen, die formale Glätte seiner Jugenddichtung zu überwinden. Die ungewöhnliche poetische Kraft und Dichte, die dem Leser aus der ersten geschlossenen Veröffentlichung seiner Gedichte (Die Gaunerzinke, 1929) entgegentreten, machen sichtbar, daß der Dichter tatsächlich zu seiner eigentlichen Natur und der ihm gemäßen Aussage gefunden hatte. Der unverwechselbare Ton, den Kramer in die österreichische Lyrik einbringt, erinnert kaum an ein Vorbild. Die innere Identität mit den dargestellten Gegenständen ist so stark, daß sie abseits von „Heimatkunst“ oder „Neuer Sachlichkeit“ eine große Leistung vor allem in der poetisch-konkreten, metaphernlosen Sprache ermöglicht. Stets dominiert in ihr ein starkes lyrisches Ich.
Kramer, der Dichter ohne Ausflucht, ohne Aussicht auf Erlösung aus seiner Schwermut, ewig auf der Wanderung, immer auf der Suche nach Erfüllung des Lebens, verfällt dennoch nicht in mystische oder destruktive Schau. Es ist ein eindringliches schweres Lied, das der Dichter singt; aber immer bleibt die Melodie erkennbar. Exakte Bilder, gleichermaßen genau in der Naturwahrnehmung wie in der Darstellung des Menschen, charakterisieren seine Dichtung. Die graphisch streng gezeichnete Landschaft ist stets auch atmosphärisch glaubhaft; denn die fast protokollarische Methode dieser Poesie ist nur auf ein Thema gerichtet, die niederösterreichische Heimat und ihre Menschen.
Ein Mikrokosmos an Einzelheiten des ländlichen Lebens scheint dem Dichter zur Verfügung zu stehen, fast unerschöpflich in der Fülle der Details, in einem reichen Vokabular äußerst dynamischer, Atmosphärisches inszenierender Sprache.
Kramer, der sich entschieden als Randexistenz der bürgerlichen Gesellschaft empfindet, drängt es, verlorene, gequälte, einsame und geknechtete Existenzen an sein Herz zu ziehen. Seine Themen in den späten zwanziger Jahren sind ländliches Leben, Naturglück, Bauernlos. Im Gegensatz zum Ländlich-Beständigen sieht er sich als ewig Unsteter verwandt dem Vagabunden, der durch das Land und durch seine Dichtung zieht.
Kramers Stärke ist die des Details, weil er es genau kennt und sicher zu placieren weiß. Sogleich kann er unter Verzicht auf jede Metapher eine Szene, ein Landschaftsbild entwerfen. Aber das Interesse verliert sich nicht in der Einzelheit. Der Dichter schlüpft in die Rolle des Knechts, des Landarbeiters, des Steinbrechers, der Dorfdirne. Rebellischem Tun, Selbsthelfertum gegen Stumpfsinn von Arbeitsfron und Ausbeutung gilt seine Anteilnahme. Das Verständnis und Mitleiden mit dieser Welt der Ausgepowerten ist zumeist auf Einzelgänger fixiert und auf junge Menschen, die dieser erbarmungslosen Welt besonders hilflos ausgeliefert sind. Doch es bleibt – wie in allen späteren Gedichtbänden Kramers auch – wesentlich bei der Registrierung des sozialen Elends, der Misere des einzelnen. Für den Dichter scheinen diese schuftenden, sich quälenden Menschen von Acker, Straße, Steinbruch und Fabrik fast gleichgeordnet mit ihren Werkzeugen; sie werden selbst zu Werkzeug wie „Haue, Grabscheit, Krampen“.
Theodor Kramers Kriegserlebnis schlug sich literarisch erst nach zehn Jahren nieder. Wir lagen in Wolhynien im Morast (1931) nimmt allerdings auch Themen auf, die bereits in der Gaunerzinke angeschlagen wurden. „Der Zehnte“ und „Der Heimgekehrte“, beide Gedichte haben das Schicksal meuternder, aufbegehrender Soldaten der Arbeiterklasse zum Gegenstand. Wie wenige in späteren Lebensjahren sind diese herben, entschlossenen Verse, die in einem Moment historische Möglichkeiten der Befreiung durch die Revolution sehen lassen, entschieden, kämpferisch-aggressiv, und sie deuten sogar Perspektiven an:
Und schießt ihr mich nieder und scharrt ihr mich ein:
ihr könnt sie nicht drosseln, ihr dämmt sie nicht ein,
die dröhnenden Jahr nach dem Krieg.
Aber sie sind die Ausnahme. Die Regel sind deskriptive Verse, „lyrische Notate“ zum Krieg im Osten. Eine prinzipielle Verdammung des Krieges wird vermieden, es bleiben Stimmungen, Impressionen.
Auf frappierende Weise ist sich Kramer immer treu geblieben – in seiner Begrenzung wie in seinen Stärken. Er war weder Formerneuerer noch Bilderstürmer, er schloß sich weder Modeströmungen an, noch versuchte er solche in Gang zu setzen. Weder hat ihn der Expressionismus tangiert, noch hatte er Vorbilder, die ihn wesentlich prägen halfen. Stets blieb er seinem relativ einfachen metrischen Schema treu, stets schritt er den gleichen poetischen Bezirk aus, und er tat das sorgfältig.
Einen der stärksten Eindrücke bietet in dieser Hinsicht die Sammlung Mit der Ziehharmonika (1936). In einer freud- und glücklosen Welt leben Kramers Menschen, deren soziale Porträts sich in diesem Band häufen. Bei genau gezeigten Arbeitsvorgängen, in ihrem elenden kleinen Leben auf dem Lande, in den Vorstädten der Metropole und auch der Bezirke, wo die Großstadt zum Land übergeht, findet er sie. Bedeutende Gedichte von topographischer wie menschlicher Grenzsituation enthält dieser Band.
Theodor Kramer mußte lebenslang einen harten Kampf um die bescheidenste materielle Existenz führen. Ende der zwanziger Jahre war es ihm gelungen, sich in Zeitungen, Zeitschriften, in Rundfunkredaktionen Österreichs, Deutschlands und der deutschsprachigen Schweiz durchzusetzen. Wobei Erfolg und Anerkennung allerdings keineswegs mit Verstandenwerden gleichzusetzen sind. In ihren Notizen zum Werk Kramers hat Marianne Dreifuß einmal geschrieben: „Nebenbei gesagt: der damalige Erfolg beruhte auf einem Mißverständnis. Die nicht-intellektuellen Zeitschriftenleser verwechselten Kramers Poesie mit einer idyllischen Naturdichtung, die von der Realität ablenkt und in der Nähe der Natur die im Leben vermißte Harmonie finden läßt. Dabei hatte Kramer selbst in einem Gedicht sehr deutlich gesagt, welcher Art und Gesinnung seine Aussage war:
Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe
und fürs Bittre bin ich da;
schlag, ihr Leute, nicht die Harfe,
spiel die Ziehharmonika.“
Die Zeit des heraufkommenden Faschismus, die Schattenjahre unter der seit 1934 auch in Österreich zunehmenden Reaktion engten die Wirkungsmöglichkeiten des Dichters im In- und Ausland zunehmend ein. Als die faschistischen Truppen die Republik Österreich überfielen, begann die wohl schwerste Wegstrecke in der Passion des Dichters, der so innig mit diesem Land und seinen Menschen verbunden war, daß er – obwohl bedrängt und zum Schweigen verurteilt – sich erst in letzter Stunde, im Juli 1939, zur Emigration nach England entschloß.
Diese Jahre des Exils waren ein in mehrfacher Hinsicht tiefer und schmerzhafter Einschnitt im Leben Theodor Kramers. In den ersten Jahren, die mit dem beginnenden zweiten Weltkrieg zusammenfielen, stockte die dichterische Produktion völlig, und zögernd nur, nach Jahren, begann das poetische Sich-Erinnern. Noch in den Monaten vor der Auswanderung waren Gedichte entstanden, Abschiedsgedichte, wehmütig, ichbezogen, auch larmoyant, aber in ihrer Art echt und bezeichnend, obwohl sie das Grauen der Okkupation kaum zu spiegeln vermochten. Zusammen mit späteren, die 1943-45 in England entstanden, bilden sie das Bändchen Wien 1938 / Die Grünen Kader (1946). Vor allem sind es die Verse des zweiten Teils, die uns in ihrer engagierten antifaschistischen Haltung berühren. Sie zeigen, wie der Dichter, wenn auch aus der Ferne und zum Teil mit ungenauer Optik, am europäischen Widerstandskampf gegen den Faschismus Anteil nimmt.
Noch einmal vermag Kramer die großen Themen seines Lebens zu beschwören. Er erinnert sich des Burgenlandes, des Wein- und Waldviertels; die Heimat wird einmal noch lebendig in den Gestalten der Ziegelarbeiter, der Glasbläser, der Steinbrucharbeiter und der Tagelöhner. Es sind Porträtgedichte voller Zärtlichkeit für die geschundene Kreatur Mensch, gesammelt in dem Band Die untere Schenke (1946). Aber die soziale Sicht bleibt begrenzt, sie bleibt ohne gesellschaftliche Konturen.
„Für die, die ohne Stimme sind“. Diese Widmung des Bandes Mit der Ziehharmonika zielt auf das Dasein der Ausgebeuteten, auf das Los der Außenseiter im dörflichen Leben. Jene Gedichte, die die Oktoberrevolution und die revolutionäre Nachkriegskrise reflektieren, bleiben ebenso vereinzelt wie die kämpferischen, antifaschistischen Bekenntnisse in Die Grünen Kader. Nur selten ist Theodor Kramer über eine eng begrenzte Welt, die Stromlandschaften an der Donau und die Wiener Vorstadtbezirke, über den Horizont eines mit der Natur Fühlenden, mit der menschlichen Kreatur Leidenden hinausgegangen. Das bedeutet Begrenzung, es bedeutet aber auch fruchtbare Konzentration auf einen Gegenstand. Wehmütig, verhalten, vom Ton des Volksliedes getragen, sich ständig wiederholend, hat Kramer diese kleine elende Welt, die er genau kannte und präzis beschrieb, erschlossen und gepriesen. Seine besten Gedichte sind stets die gewesen, in denen er sich dem Gegenstand, der Natur oder dem Schicksal einfacher Menschen, ganz und ohne Reflexion hingab. Das machte seine Leistung aus, das fand den Widerhall beim Publikum, der erst durch die Naziokkupation Österreichs unterbrochen und beendet wurde.
Kramer, der einsame Mann in England, dem es gelungen war, Anfang der vierziger Jahre als Bibliothekar in einem College unterzuschlüpfen, leidend und heimwehkrank, ängstlich geworden, wagte zunächst den Sprung in die soziale Unsicherheit der alten Heimat nicht. Als er endlich 1957 nach Wien zurückkehrte, wo er nur wenige Monate später, am 3. April 1958, starb, war er ein Vergessener. „Mich wundert, daß die Epoche, die so sehr auf Bestandsaufnahme und Wiederentdeckungen aus ist, noch immer diesen großen Dichter übersieht, diesen Österreichischen Juden, der unter Bauern, Ziegelbrennern zu Hause war…“ Diese Worte Stephan Hermlins haben zur Entstehung des vorliegenden Auswahlbandes beigetragen; er soll die Wiederentdeckung Theodor Kramers befördern.
Joachim Schreck, Nachwort, Januar 1975
– Über den besonderen Materialismus Theodor Kramers. –
Ich kannte nicht einmal mehr meine Schuhe
I
Wenn Theodor Kramers Lyrik seit den frühen 80er Jahren an Bedeutung gewann und eine neue Generation – oder zumindest einige Angehörige einer neuen Generation – diese Lyrik für sich entdecken konnte, dann vermutlich deshalb, weil sie mit den Fetischen der Arbeiterbewegung sich nicht so gut verträgt. Sowohl der selektive Begriff der Klasse als auch der apologetische der Arbeit wird von Kramers Gedichten aufgesprengt: nicht die proletarische Klasse – als Bauvolk der kommenden Welt und utopischer Erlöser der Enkel – ist ihr Gegenstand und ihr Adressat, sondern die Vielzahl derer, die in ganz verschiedenen Arbeitsverhältnissen stehen – oder in gar keinen. (Und das dürfte damals, vor über 15 Jahren bereits jene angesprochen haben, die von den traditionellen Arbeitsverhältnissen, etwa im akademischen oder bürokratischen Apparat, nicht mehr unbedingt angezogen wurden.) Nicht die Arbeit wird besungen, die Arbeit, die Arbeit hoch, als Sinn der Existenz und Telos der Menschheit, gesungen wird vielmehr vom ganzen Alltag, von der Reproduktion der Individuen, vom Stoffwechsel mit der Natur, von dem die Arbeit – oder genauer: die Summe der Arbeiten – nur einen Teil ausmacht; gesungen wird „für des Lehrlings Schopf, für den Wasserkopf, für die Mütze in des Krüppels Hand, für den Ausschlag rauh, für die Rumpelfrau mit dem Beingeschwür im Gehverband“ – gesungen wird von Borstenzupfern, Nußentkernern und Straßensängern ebenso wie von Blinden und Pfründnern, von Faschingskrapfen, Hollerbäumen und Kaffeehäusern…
Konstantin Kaiser hat diese Eigenart Kramers bereits 1983 unter dem Begriff des „demokratischen Epikuräismus“ beschrieben und gegen Fortschrittsbegriff, Arbeitsethos und Asketismus der Arbeiterbewegung gestellt:
Die Enthaltsamkeit, der wohldosierte Genuß und die organisierte Erholung […] schlagen […] im Zeichen eines geradezu protestantischen Arbeitsethos in bloße Mittel um, den beruflichen Anforderungen und der Konkurrenz am Arbeitsplatz gewachsen zu bleiben.
Die Entwicklung der Sozialdemokratie von Otto Bauer über Bruno Kreisky zu Viktor Klima scheint damit auf den Punkt gebracht. Bei Theodor Kramer aber, der sich im Umkreis dieser Bewegung befand, wird das „konkrete Leid“ nicht durch ein solch post-protestantisches und prä-globalisiertes Arbeitsethos gefiltert. Anstatt des Prinzips des unaufhaltsamen Fortschritts finden sich in Kramers Lyrik Motive, die vormodern anmuten: so etwa das Motiv der Rache – dieses aber nicht im Sinne des „Aug um Aug und Zahn um Zahn“, sondern – wie Konstantin Kaiser festhält – „im Sinne der direkten Schlußfolgerung aus dem erlittenen Unrecht: Sie versinnbildlicht sich in der Gestalt des Vagabunden, der außerhalb des gezähmten, Vor- und Nachteile für seine gedrückte Existenz abwägenden Arbeitsvolks steht.“ Und es wäre kurzschlüssig, solche Motive – und damit die ganze Lyrik Kramers – einfach aus unterentwickelten industriellen Verhältnissen abzuleiten und darum auf ein niedriges Niveau der politischen Bewußtheit zu schließen. Diese Auffassung würde eine Erfahrung ignorieren, wie sie offenbar bereits am Ende der Kreisky-Ära in Österreich gemacht werden konnte: – um ein letztes Mal aus dem Aufsatz von Kaiser zu zitieren – die Erfahrung, „daß sich der Fortschritt der Arbeiterbewegung inzwischen in vieler Hinsicht als ein Vormarsch in den Konformismus erwiesen hat. In Wirklichkeit ist die Gewöhnung daran, Unrecht ohne Empörung hinzunehmen, lediglich der allzu spontane Reflex auf die Verfestigung des Unrechts zum System.“ Heute, über eineinhalb Jahrzehnte später, kommt die Erfahrung hinzu, daß auch die Empörung selbst zum Reflex werden kann, der das System nur noch bestätigt, weil die Empörten es nicht mehr durchschauen möchten oder können.
Wodurch gewinnt Theodor Kramer den kritischen Abstand zur Arbeitsgesellschaft des Fordismus? Von welchem Standpunkt aus ist es möglich gewesen, für die zu schreiben, die ohne Stimme sind, das hohe Lied der Arbeit zu singen? Warum ließ sich dieser Autor so wenig faszinieren von der Charaktermaske des variablen Kapitals, die von der Arbeiterbewegung der 20er Jahre doch besonders eindrucksvoll modelliert wurde? Woher dieser Blickwinkel, welcher ein halbes Jahrhundert später einige am Fortschrittsbegriff zweifelnde Linke frappieren konnte?
Der Lyriker Theodor Kramer hat sich bereits früh auf die Seite des Gebrauchswerts geschlagen – von dort aus die Welt betrachtet und seine Gedichte geschrieben. Sein Materialismus ist nicht ein Materialismus der Arbeit, sondern einer des Gebrauchs und der Bedürfnisse – und wenn er die Arbeit thematisiert, tut er es von der Gebrauchswert-Seite aus; er entwickelt seinen Sinn nicht nach dem Modell der Fabrik, sondern nach dem des Alltagslebens. Darum dieses Schwelgen im Konkreten, dieser allseitige Genuß, die Unendlichkeit der dargestellten Genüsse und Tätigkeiten, darum auch konnte Kramer zu keinem Ende kommen mit seinen Gedichten: denn der Gebrauchswert läßt sich nur in der Fülle des Vielfältigen darstellen, oder er wird selbst zu einem Fetisch, wird selbst abstrakt; er läßt sich auf keinen Nenner bringen, im Gegensatz zu den Kategorien der Arbeit und der Klasse, die auf Abstraktion disponiert sind – und die Gedichte und Szenen des jungen Jura Soyfer könnten hier als Beispiele herangezogen werden. Für Kramer aber gilt: Kein Gebrauchswert ist mir fremd – so könnte man das bekannte Zitat von Terenz abwandeln, das Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser für Kramers Gedichte verwendet haben.
Die unendliche Fülle der Gebrauchswerte versucht Kramer nun in der endlichen Arbeit des Reimeschmiedens zu fassen so muß er ununterbrochen neue Gedichte schreiben. Eine wahre Sisyphus-Arbeit – sie macht glücklich. Kramers Gedichte setzen allerdings eine Welt voraus, in der die Kulturindustrie noch kaum Fuß gefaßt hat; eine Welt, in der die Waren, die im Alltag der individuellen Reproduktion konsumiert werden, in geringem Maß industriell hergestellt sind; in welcher vor allem die Unterhaltung – vom Kino einmal abgesehen – noch nicht durchkapitalisiert ist. Erich Hackl betont zu Recht den „handwerklichen“ Charakter jener Tätigkeiten, die Kramer gestaltet: durch ihn wahrt der Lyriker die „Geschlossenheit seiner Gedichte“ wie sie sich „in der Bauweise seiner Verse, im Takt, im Reim erweist“. Die Gebrauchswerte aber, die uns heute von der Kulturindustrie beschert werden, liegen nun tatsächlich jenseits solcher Geschlossenheit: ein gereimtes Gedicht über einen Geschirrspüler mag noch vorstellbar sein, aber eines über eine Fernsehshow oder ein Pornovideo? Hier trennt uns von Kramer so etwas wie die ursprüngliche Akkumulation der Freizeit.
Dennoch hat Daniela Strigl recht, wenn sie im „Material“ der Kramer’schen Lyrik das Moment der Moderne festhält: das Staunen der Zeitgenossen galt nicht umsonst „dem lexikalischen Schwelgen im Konkreten, der besonderen Stofflichkeit. Nicht zuletzt der sinnlichen Glaubwürdigkeit wegen, die jene Materialität Kramers Gedichten verleiht, fallen diese gleichermaßen aus dem hohl-pathetischen wie aus dem verzückt-übersinnlichen Rahmen der Land-und-Leute-Poesie.“ Bei dieser Land-und-Leute-und-Blut-und-Boden-Literatur eines Billinger und Mell handelt es sich ja gerade um die Mythisierung des Gebrauchswerts – betrieben, um sich gegen den Einbruch von Tauschverhältnissen ideologisch zu panzern. Das Gegenteil ist vielfach bei Kramer der Fall: keine Mythisierung feudaler Verhältnisse, nicht Ewigkeitswerte werden in die Dinge projiziert, sondern ständige Ausschau nach Genuß und Gebrauch, mögen sie aus alten oder auch aus neuen Verhältnissen stammen, und der Versuch, sie immer wieder neu in ein Gedicht zu bannen.
Ein sehr schönes und viel interpretiertes Beispiel dafür ist das Gedicht „Von den ersten Fahrrädern im Marchfeld“ aus dem Jahr 1929:
Und wir haben seltsam unterm Gleiten
es empfunden, unsre Heimlichkeiten
nun auf viele Dörfer zu verteilen,
fern und nah, und nirgends zu verweilen.
Der Gebrauch der Dinge ersetzt nicht den zwischenmenschlichen Bezug, sondern fördert ihn, vermittelt ihn, macht ihn auch sichtbar, während Heimatliteratur geradezu dadurch definiert werden könnte, daß sie diesen Bezug in der Bindung an Dinge (Boden, Landschaft) – in der Verdinglichung im eigentlichen Sinn – verschwinden läßt.
Aber auch Kramer entgeht nicht immer den Gefahren von Mythisierung und Verdinglichung. Auch bei ihm erscheint mitunter ein gesellschaftliches Verhältnis als Natur – zumal wenn es das Verhältnis der Geschlechter ist. Da geraten dann plötzlich Frauen in die Funktion von Gebrauchswerten – und dies nicht einmal nur dann, wenn sie als Prostituierte auftreten. Von der richtigen Frau für den Reisenden heißt es 1936:
Sie muß nicht grad schön sein, denn Frauen, die hübsch sind, gibt’s schnell
der Reisende sieht sie im Zug, im Geschäft, im Hotel
Aber da muß sie sein, wenn er heimkommt, als hätt sie’s gerochen,
die Tuchent aufschlagen und nächsten Tag Mehlspeisen kochen.
Das ist nicht ironisch gemeint – der Reim ist bloß unfreiwillig komisch. Er enthüllt in formaler Vollendung die ganze Spiessigkeit, die offenbar auch ein Teil von Kramer ist. Wenige Jahre vorher aber schrieb er das Gedicht Abschaffung, worin der Reim einen ganz bewußten Zynismus intoniert:
Barbara Chlum, ohne Mantel, die Schnürschuhe offen,
Stickerin, arbeitslos, ledig, zuständig nach Frein,
wurde im Hotel in Gesellschaft betroffen
und sie besaß nebst zwei Groschen hierfür keinen Schein.
Barbara Chlum mußte mit auf das Sittenamt kommen;
und als ihr Körper nicht Spuren von Krankheit aufwies,
wurde vom Herrn Kommisär sie persönlich vernommen,
der sie verwarnte und weiter des Landes verwies.
Dies sind überhaupt die beeindruckendsten Momente der Kramer’schen Lyrik: wenn nämlich ganz plötzlich die real-abstrakten Mächte von Staat und Geld in die Welt der einfachen, konkreten Gebrauchswerte einbrechen. Der Vers, welcher immer noch auf den Reim hinausläuft, wird förmlich erschüttert durch einen fremden Rhythmus. Und der Reim selbst wird plötzlich zum Wiederholungszwang, den die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Individuum oktroyieren. „Ein konstant durchgezogenes metrisches Prinzip ist nicht zu erkennen“, schreibt Johann Holzner in seiner präzisen Interpretation dieses Gedichts:
Schon die zweite Strophe dokumentiert, daß die Konstruktion der Sätze gewohnte Schemata aufbricht, um Denkabläufe und Verhaltensformen, die sonst unter Umständen, weil allzu vertraut, gar nicht mehr auffallen würden, zu desavouieren […]. So zeigt das „nicht“ in der zweiten Zeile („und als ihr Körper nicht Spuren von Krankheit aufwies“) indem es besonders betont wird, welche Erwartungen im Sittenamt gang und gäbe sind; und das Vorgangspassiv im folgenden Hauptsatz („wurde vom Herrn Kommissär sie persönlich vernommen“) verweist auf die monströse Macht der Hierarchie, der Barbara Chlum schutzlos gegenübersteht. Barbara Chlum figuriert nicht als aktives Subjekt, sondern als leidendes Objekt.
Diese Perspektive wechselt aber in den drei anschließenden Strophen – Barbara Chlum wird darin zwar keineswegs zum aktiven Subjekt, doch ihre Bedürfnisse werden nun nicht mehr aus der Perspektive des Staats und des Geldes artikuliert – sie „hielt vor dem Zweigbahngeleis, und sie hungerte sehr“:
Abend strich über die Gräser, die Brandsohlen brannten,
und der erblondete Saum roch nach Weinbrand und Tee;
Barbara Chlum schlich, gedrückt an die Latten und Kanten,
hin wie ein Tier in den Stall in ihr kleines Café.
Mit der Schlußstrophe aber kehrt die Ausgangssituation und deren Perspektive zurück: der Rapportstil beschwört abermals die als automatisches Subjekt funktionierende abstrakte Macht: „die Parallelen zwischen der ersten und der letzten Strophe, vor allem aber die Abweichungen zeigen an, daß die Situation der Barbara Chlum verfahren und hoffnungslos ist.“
Barbara Chlum wurde nachts auf dem Gürtel betroffen,
Stickerin, arbeitslos, ledig, zuständig nach Frain,
landesverwiesen; in Hadern, die Schnürschuhe offen,
brachte man sie laut Rapport der Arrestwache ein.
Johann Holzner sieht in dieser Aussichtslosigkeit eine aufrührerisch wirkende Handlungsmaxime formuliert: „Nicht die Geheimprostitution, noch weniger Barbara Chlum, vielmehr die sozialen Verhältnisse wären abzuschaffen, die das Gedicht im Hintergrund andeutet.“ Aufrührerisch kann diese Botschaft jedoch nur wirken, wenn sie auf eine handlungsbereite Leserschaft trifft, die sie versteht. Und dieser Kontext war in gewisser Weise tatsächlich gegeben. Das Gedicht erschien 1933 in der Arbeiter-Zeitung.
II
Nach 1934 ist ein solcher subversiver Rezeptionsvorgang in Österreich kaum mehr denkbar. Die Gedichte, die Kramer in dem Band Mit der Ziehharmonika 1936 publiziert, ziehen sich gleichsam zurück ins Asyl der Gebrauchswerte – die abstrakten Mächte, die in der Abschaffung zitiert werden, treten hier nur ganz indirekt in Erscheinung. Es ist, als würde das Gedicht von der Abschaffung stillgestellt werden, um in unzähligen Varianten Barbara Chlum in ihrem kleinen Café zu beschreiben und zum Sprechen zu bringen.
Im März 1938 wird auch dieses Asyl gestürmt. Der Schock, den Theodor Kramer erleidet, führt zu Nervenzusammenbruch und Selbstmordversuch. In den zwischen dem „Anschluß“ und dem Suizidversuch, d.h. zwischen März und August 1938 entstandenen Gedichten, verwandelt sich das Asyl in ein Gefängnis der Gebrauchswerte. Mit einem Schlag ist es für Kramer unmöglich geworden, sich in andere zu versetzen, andere Menschen in ihren vielfältigen Tätigkeiten und Bedürfnissen, in ihrem Alltagsleben und -leiden darzustellen – also „Rollengedichte“ zu schreiben; er kann offensichtlich nicht mehr für die, die ohne Stimme sind, sprechen, sondern nur mehr für sich allein – nachdem soviele Stimmen sich für Hitler erhoben haben.
Was in diesen Wochen und Monaten geschieht, ist schwer zu sagen. Kramers Blick gewinnt keinen Halt mehr an jenen, die er früher beschrieb. Tauchen andere Gestalten überhaupt auf, dann bleiben sie oft schemenhaft, verschwinden hinter ihrer Funktion und den Dingen, welche sie handhaben: nicht der Briefträger kommt, sondern „die Post war da“. Und inmitten dieser anonymen Funktionen erscheint das dichterische Ich – das früher meist anonym geblieben war – in seiner Angst. Es versucht geradezu krampfhaft alles in seinem oder über sein Verhältnis zu den Dingen des Alltagslebens zur Sprache zu bringen – und kann dieses Bemühen sogar reflektieren: Ich „müh mich sehr, die Bilder einer Welt, vor die verklebten Augen mir zu zwingen, / in der ich sicher lebte manches Jahr, / in der ich schrieb, mich wusch, und nicht den Dingen, / die ich benützte, ganz verhaftet war.“ Die Spannung zwischen Identifikation und Distanzierung – von der Silvia Schlenstedt im direkten Anschluß an Herbert Stauds Interpretation der frühen Lyrik gesprochen hat – ist offenbar zusammengebrochen. Noch die Angst äußert sich über den Bezug zu den Dingen, weniger zu den Menschen – und der Wahnsinn: „ich kannte nicht einmal mehr meine Schuhe“. Einerseits leidet das Ich daran, auf die Dinge des Alltags zurückgeworfen zu werden, andererseits versucht es, mit den Dingen des Alltags, die Angst vor den Menschen in Schach zu halten. In einer Gouache aus dem Jahre 1984 mit dem Titel Wien 1938 hat der Maler Leander Kaiser diesen Kramer’schen Gedichten einen Raum gegeben: ein kleines Zimmer voller alltäglicher Gegenstände – Bett, Ofen, Wäscheleine… −, aber ohne einen Menschen, der sie gebrauchen könnte. So gewinnen die gewöhnlichen Dinge Bedrohliches; Fenster und Tür stürzen ähnlich wie im Expressionismus ineinander: die Zentralperspektive ist hier gefährdet. Doch anders als in der expressionistischen Kunst gibt hier die konkrete Ausgestaltung der Gegenstände – insbesondere Bettdecke, Hemd, Blumenstock… – zu erkennen, daß sie eben noch Gebrauchsgegenstände eines Alltags waren, der den Individuen einige Sicherheit, Wärme und manchen Genuß geboten hat. Und aus diesem plötzlichen Verlust, den das Bild schlagartig bewußt machen kann, entsteht eine ganz eigenartig schockierende Wirkung, die den Gedichten Kramers jenseits des Illustrativen sehr nahe kommt.
Hugo Huppert hat moniert, daß in diesen Gedichten Kramers, die „pittoreske Dinglichkeit“ „zum individualistischen Zwangsmotiv“ ausarte, zur „hypochondrischen Genremalerei, die den Realismus auf sündige Abwege“ führe, daß Kramer der „geringfügig-mißlichen Alltäglichkeit dichterisch zum Opfer“ falle. Strigl weist diese Kritik zurück: mißlich seien für Kramers dichterisches Ich „nicht so sehr die alltäglichen Verrichtungen als die Umstände, die ihn in jenen ganz aufgehen, ihm jene zum Trost werden lassen.“ Aber sie werden ihm nicht wirklich zum Trost – und das ist das Entscheidende: sie versagen den Trost. Denn Kramer kann in dieser Situation beim besten Willen – und es ist tatsächlich sein bester Wille – nicht „versöhnlich“ sein. Die Gedichte, welche Kramer vor seinem Selbstmordversuch schreibt, sind untröstlich und unversöhnlich, wenn auch auf ganz verhaltene Weise, und mit der größtmöglichen Sehnsucht nach Trost und Versöhnung −
Euch die ich liebte, leb ich ferne,
wie kann ich da noch verstehn;
[…]
Ich kann nichts über euch mehr schreiben,
ich weiß heut nicht mehr, was ihr sinnt.
Vertraut war ich mit eurem Treiben
und Tun schon als verwöhntes Kind;
ich teilte eure Bitterkeiten
und eure frohe Rast im Schank
als Mann. Es macht für alle Zeiten,
daß ich euch ferne leb, mich krank.
Bei Tisch gebrauch ich noch das Messer
wie ihr und spieß mir Wurst und Brot;
es wäre, Leute, für mich besser,
ich säh euch nie und wäre tot.
Was ist von alledem geblieben?
Mein Kinn schrumpft ein, es graut mein Haar;
viel hab ich über euch geschrieben,
für damals war es wohl auch wahr.
III
Wenn Kramer dann nach seinem Selbstmordversuch und nach einer längeren Pause im Exil wieder zu schreiben beginnt, geschieht etwas ganz Seltsames, geradezu Gespenstisches: Er beginnt, seine Gedichte gleichsam noch einmal zu schreiben; er fängt von vorn an, er möchte wieder wahr machen, was damals war, aus der Ferne lieben, über die schreiben, die er nicht mehr kennt – sie also neu erfinden, um mit den Erfundenen wieder vertraut zu werden, wie in alter Zeit mit den Wirklichen.
Ich frage mich manchmal: Ist Theodor Kramer nicht in gewisser Weise wahnsinnig geworden und wahnsinnig geblieben? Er schreibt 1943 ununterbrochen Gedichte über den Bub des Burgenländers, den Vater des Burgenländers, die Frau des Burgenländers, von den Wegweisern im Buckelland, von der Kräutlerin, von der Schnapshütte… – all dies in einem imaginären Burgenland und Buckelland, während in Wirklichkeit Juden und Roma und Sinti zusammengefangen und in Viehwaggons Richtung Auschwitz abtransportiert werden.
Aber ist dies nicht der ganz normale Wahnsinn des Exils den Kramer nur besonders konsequent ausbuchstabiert? Ich habe das bei anderer Gelegenheit die „Romantik des Exils“ genannt:
Sie gab der geliebten verlassenen Stadt, der geliebten verlassenen Landschaft den Namen eines Volkes, das – anders als vielleicht das deutsche – gerettet werden konnte. […] Da dieses österreichische Volk aber nicht wirklich existierte – abgesehen von einer Bevölkerung, die sich mit wenigen Ausnahmen ziemlich rasch und überaus erfolgreich in die nationalsozialistische Kriegs- und Vernichtungsanstrengung einarbeitete −, wurde es in der Vergangenheit angesiedelt.
Doch im Unterschied zu den kulturpolitischen Konstruktionen des Exils konnte sich Kramer hier auf seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse stützen – er mußte sich nur erinnern an seine Jugend und an die Jahre vor 1938. Schrieb er also weiter, als wäre nichts geschehen, „überschrieb“ er einfach den Selbstmordversuch und das nationalsozialistische Heimatland, das ihn dazu getrieben hatte? (Und es finden sich unter diesen Gedichten nicht wenige, sehr schöne, die ebensogut vor 1938 geschrieben werden hätten können. Ich kann sie nicht unterscheiden.)
Natürlich entstehen zu dieser Zeit – 1942 bis 1943 – auch die Gedichte für den zweiten Teil von Wien 1938 – der erste enthält die „Ich-Lyrik“, die zwischen dem Anschluß und dem Selbstmordversuch entstanden war -, in denen Kramer die Realität in Österreich nach 1938 zu ertasten sucht. Er ist also nicht wirklich wahnsinnig geworden – d.h. er nimmt die Gegenwart wahr, er ist erreichbar für Erfahrungen mit und durch andere Menschen, und was wäre Wahnsinn anderes, als nicht mehr erreichbar zu sein. Diese Gedichte stellen immerzu Fragen – sie können die im Dritten Reich Lebenden nur in Frageform herbeirufen. Dort wo Kramer Antworten gibt, nimmt seine Lyrik fast religiöse Züge an – am augenscheinlichsten in dem Gedicht Fronleichnam:
dem baren Haupte
tat es wohl, daß selbst in diesen Tagen
irgend etwas heilig war.
Und indes sie hinterm Zug dreinstarrten,
salzigen Auges, Mannsvolk, Weib und Kind,
schwenkten auf den Masten die Standarten
alle das verbogne Kreuz im Wind.
In der ersten Fassung dieses Gedichts schwenkten die Fahnen mit dem Hakenkreuz noch aus den offenen Fenstern: Hier deutet sich zumindest der Widerspruch an, daß hinter diesen Fenstern Leute leben, denen eben das verbogne Kreuz heilig ist. Indem Kramer die Hakenkreuzfahne auf den Mast transferiert, werden die Nazis zu einer abstrakten ungreifbaren Macht – die mit den konkreten Menschen nichts zu tun hätte.
Zunächst scheint dies auch für das Gedicht „Der Ofen von Lublin“ zu gelten:
Es steht ein Ofen, ein seltsamer Schacht,
ins Sandfeld gebaut, bei Lublin;
es führten die Züge bei Tag und bei Nacht
das Röstgut in Viehwagen hin.
Es wurden viel Menschen aus jeglichem Land
vergast und auch noch lebendig verbrannt
im feurigen Schacht von Lublin
Die flattern ließen drei Jahre am Mast
ihr Hakenkreuz über Lublin,
sie trieb beim Verscharren nicht ängstliche Hast,
hier galt es noch Nutzen zu ziehn.
Es wurde die Asche der Knochen sortiert,
in jutene Säcke gefüllt und plombiert
als Dünger geführt aus Lublin.
Kramer versucht in der ersten Strophe die Anonymität des Vorgangs deutlich zu machen: „Es steht ein Ofen […], es führten die Züge […], es wurden viel Menschen […]“; in der zweiten benennt er die Täter wieder mit dem Symbol der Hakenkreuzfahne, aber die anonyme und abstrakt-symbolische Macht wird – im Unterschied zu dem Fronleichnams-Gedicht – in ihrer Unheimlichkeit kenntlich, und zwar dadurch, daß sie es offenbar auf ganz konkrete Gebrauchswerte abgesehen hat: „Röstgut“, „Asche“, „Dünger“ – daß sie Menschen in Gebrauchswerte verwandelt. Bis zu diesem Punkt erscheint das Gedicht wie eine Selbstaufhebung der Kramer’schen Gebrauchswert-Lyrik. Die letzte Strophe jedoch antwortet mit dem Widerstand:
Nun flattert der fünffach gezackte Stern
im Sommerwind über Lublin.
Der Schacht ist erkaltet; doch nah und fern
legt Schwalch auf die Länder sich hin,
und fortfrißt, so lang nicht vom Henkerbeil fällt
des letzten Schinderknechts Haupt, an der Welt
die feurige Schmach von Lublin.
Auch die Gegenmacht wird symbolisch evoziert – als fünffach gezackter Stern; sie wird weniger benannt als beschworen und gefordert mit jener Prophezeiung, daß die gespenstischen Gebrauchswerte nicht verschwinden werden – der Schwalch, der sich auf die Länder legt. Die Anonymität des Vorgangs ist jedoch nicht undurchdringlich; Kramer gelangt zur persönlichen Schuld vieler kleiner Täter und er gebraucht dafür ein altertümliches Wort: Schinderknecht.
Das Gedicht stellt eine Ausnahme dar – nicht nur, weil es die „industrielle Vernichtung“ der Juden zum Gegenstand hat, sondern gerade auch in seiner Bewegung vom anonym scheinenden Vorgang bis zum konkreten kleinen Täter. Die Schinderknechte aber werden in Kramers Lyrik äußerst selten thematisiert, sie verschwinden hinter der abstrakten Symbolik der Hakenkreuzfahne; sieht man ab von jenen Gedichten, die Kramer über den nicht-österreichischen, nicht-deutschen Widerstand – über slawische Partisanen geschrieben hat: z.B. sehr beeindruckend: „Besuch beim Großherrn“. Da ist der alte Ton der Gaunerzinke zum Widerstandsmotiv geworden.
So läßt sich vermuten: Die Aufhebung der konkreten Täter im abstrakten Symbol des Hakenkreuzes beruht auf der Schwäche des österreichischen Widerstands und ist darum nur die andere Seite jener Versöhnung, die ich – im Unterschied zu Bolbecher und Kaiser – nicht als kritische, sondern als problematische sehe. „Was Kramer intendierte“, schrieben Bolbecherl Kaiser vor über 15 Jahren, „ist nicht die Scheinradikalität totaler Verurteilung, sondern die kritische Versöhnung, die ihm gerade durch die Überzeugung von Stärke und Unversehrtheit der Kräfte, die sich gegen den Faschismus gestellt haben, denkbar wird.“ Diese Überzeugung aber war, was die Kräfte hier in Österreich und Deutschland betrifft, falsch – und darum wurde es auch die Versöhnung. Sie beruht allerdings auf einer Sehnsucht – und diese Sehnsucht ist echt: die Sehnsucht nach einem starken Widerstand aus der österreichischen Bevölkerung. Kramer versucht Gedichte zu schreiben, als ob der österreichische Widerstand das Land von den Nazis befreit hätte und die Vernichtungslager gestürmt. Da dies aber nicht geschah – droht Kramers Antifaschismus immer wieder in die abstrakte Symbolik des Hakenkreuzes und die konkrete Geste der Versöhnung zu zerfallen. Sieht man sich das „Requiem für einen Faschisten“ an – als das Paradigma dieser Versöhnung −, dann erkennt man deutlich die Schwäche des realen Widerstands. „Ich hätte ihn mit eigner Hand erschlagen“ – nicht hierin aber sieht Kramer das Versäumnis:
Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen;
doch unser keiner hatte die Geduld,
in deiner Sprache dir den Weg zu sagen:
dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld
Was Kramer hingegen als Versäumnis gegenüber dem Lebenden erscheinen will, macht er gut im Requiem über den Toten. Er paßt sich an – oder drastischer, aber treffender ausgedrückt: er läßt sich über den Tisch ziehen. Und wirklich verlernt Kramer seine eigene Sprache, indem er das angeblich Versäumte nachholen möchte:
Ich setz für dich zu Abend diese Zeilen,
da schrill die Grille ihre Beine reibt,
wie du es liebtest, und der Seim im geilen
Faulbaum im Kreis die schwarzen Käfer treibt.
Daß wir des Tods und Ursprungs nicht vergessen,
wann jeder Brot hat und zum Brot auch Wein
vom Überschwang zu singen wie besessen,
soll um dich, Bruder, meine Klage sein.
Brot und Wein sind nur noch die Voraussetzungen für etwas Anderes – der Sinn liegt nicht mehr in den Gebrauchswerten selber, sondern diese sind nur mehr Mittel für einen höheren Sinn – „des Tods und Ursprungs“, und der „Seim, der im geilen Faulbaum die schwarzen Käfer treibt“, hört sich nicht zufällig an wie eine kleine Hommage an Gottfried Benn. Kramer hat seinen besonderen Materialismus auch schon verloren, sobald er dem Nazi die Hand zu reichen versucht.
Und was dachte dieser im Requiem besungene Nazi-Dichter seinerseits über Theodor Kramers Lyrik der Gebrauchswerte? An Friedrich Sacher schrieb Josef Weinheber 1932: der „epische Realismus eines Kramer“ sei eine „jüdische Erfindung“ – „tollwütiges Seelenunvermögen des sekundären Menschen“. In deiner Sprache dir den Weg zu sagen? Zum Glück konnte das Theodor Kramer nicht wirklich – so sehr er sich auch anpassen mochte. Denn diese Sprache ist bereits der Weg, und er führt zum Ofen von Lublin.
Gerhard Scheit, in: Zwischenwelt. Chronist seiner Zeit – Theodor Kramer, 2000, Theodor Kramer Gesellschaft und Drava Verlag
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Günther Doliwa: Gewaltig ist das Leben
literaturkritik.de, April 2008
Daniela Strigl: Hieb auf den Kopf, Griff ans Geschlecht
Der Standart, 29./30.3.2008
Cornelius Hell: Für die, die ohne Stimme sind
Die Furche, 27.3.2008
Theodor Kramers Gedicht „Geboren ward ich in die Wende“ gesungen von Wenzel.
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