Thomas Böhme: Mit der Sanduhr am Gürtel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Böhme: Mit der Sanduhr am Gürtel

Böhme-Mit der Sanduhr am Gürtel

SENF ODER CURRY?

Mit lyrik wirst du mal keine müde
mark verdienen sagte der müllmann zum
kellner und ohne sich umzudrehen
verschwand herbert roth
in der eigens für ihn
installierten steckdose

Er hatte ganz rote ohren
und mir war das peinlich mit scheckheft
am würstchenstand stehend
und ich nahm nichtmal senf oder curry
dazu

 

 

 

Nachsatz

Noch ist der Tag nichts als ein klammes Niemandsland zwischen
Osten und Erd, doch gleich wird der Habenichts lauthals gerühmt von
Tausenden Vögeln! Auch wo der Himmel verbaut ist, etwa in
Leipzig, reichts, daß sie da sind – und? Sie lassen sich hören!
Richard Leising: „Vom Minimum“

Über den späten Nachfahr Jakob Böhmes, des Schusters & Philosophen, nachdenkend, flatterten mir seine, Thomas Böhmes, allerletzten Gedichte auf den Gartentisch. Work in progress! Frankiert mit so raren Kreationen der demokratisch republikanischen deutschen Post wie See- und Fischadler: geschützte Vögel! Jäh gab ein Windstoß den Blättern (dreizehn an der Zahl) neuen Auftrieb, daß die Apfelbäume noch einmal in Blüte standen. Kaum daß ich noch die Zeile haschen konnte: „Stadt wo ich sitze & schreibe & angst hab & wünschte:“ Was wünscht sich dieser Jungdichter, dem ich bei anderer Gelegenheit leichtsinnigerweise empfahl, öfter mal ein Päckchen Rasierklingen zu frühstücken. Harmonie des Protestes? Pathos beim Straßenbahnfahren? Kopfschüttelndes Unverständnis, ohne daß Thomas Böhmes makelloser Bart aus der Fasson geriet. Hier wird nicht gekratzt, hier wird das Staunen neu geboren, man reibt sich die Augen nach einem Kinobesuch im Casino: San Francisco tönt überm Auensee aus den offenen Fenstern gohliser Bürgerhäuser. Jenes stupore der alten Dichter… Halt nein, ich will mit geschichtsträchtigen Analysen keine Leser vertreiben. Aber was wünscht er sich, der Böhme? Daß seine Stadt vom Nußgehäuse ihres Kerns bis an die neuen Peripherien ihre Ringe entfalte, ohne dabei seine Kreise zu stören? Anfangs schalt ich ihn einen Tagebuchdichter, kunstlos, wo ist das Gedicht im Gedicht und wo das dritte Gedicht, das dem Leser nachts in die Träume springt? Dann begriff ich, hier wird mit Starkstrom gearbeitet, hier wird ohne Versteck und Leerzeile aufeinandergepackt, Zeile um Zeile, Treppe um Treppe, bis sich oben angelangt die Hausordnung mit Bob Dylan versöhnt – versöhnen könnte, wenn man auf den Dichter hört! Treppensteigen, Treppefegen, Musik mit dem Blick auf den wachsenden Bauch seiner Freundin. Und siehe, es wird alles gut. Die Stones vom Teller, das Gulasch vom Wildschütz, die Bücher aus der Leihbibliothek oder frisch von Reclam im Einkaufsnetz, oben schlägt die blaue Uhr am Alten Rathaus – Hare Krischna! Im schönen Leipzig unterm bitterfelder Himmel findet einer seine Kindheitslektüre Karl May wieder in den Grashalmen Walt Whitmans, im Wahnsinn von Ginsberg & Kerouac, bei Pasolini und in der Lektüre von The Naked Lunch. Ist das der Urenkel, dem der Leipziger Dichter Georg Maurer „in einer den Musen bitteren Stadt Leipzig“ prophezeite: „Dann wird morsch sein der runde Tisch und vielleicht süß die Stadt“. – Wer in die Ferne zieht muß das alles selber werden, Karl May, Dylan, Kerouac, und er verlöre die Stadt. Böhme der Philosoph weiß das – „Bleiben will ich weil ich EUCH liebe, big bastards!“ Böhme der Alchimist spaziert durch die gohliser Böhmerstraße, wie sie der leipziger Maler Max Schwimmer gemalt hat, im Schatten Pisarros und Cézannes, Empfindung wird Form. Denn man täusche sich nicht, der locker-schlenkernde Ton aus der offenen Manschette ist nicht Zu-Fall; dieser raunende Beschwörer der rhythmischen Langzeile weiß, was er macht. Ist sie süß geworden, Maurers Stadt? Im Regen des Rosenthal, die jungfräuliche Parthe am Zoo, sanft die Jazzkonzerte in der Kongreßhalle im Wechsel mit dem lauten Beethoven; das war in den Fünfziger Jahren nicht anders als heute. Die Schlangen im Zoo, die Mädchen aus der nahen Schule am Nordplatz sind geblieben, was sie waren; die Haarmoden haben gewechselt. Wer unbedingt aus der Stadt weg will, gelangt bis nach Berlin-Mahlsdorf, da hat man das alles noch einmal, vielleicht unruhiger, gestaltloser. Wagnis Berlin oder die große Pose, die sich im Sprachgestus selber erschlägt? Lanze für Leipzig. Für mich, der ich seit zwanzig Jahren der Stadt da unten im Süden demonstrativ den Rücken zukehre, bringt dies auch Nostalgie. Nun gut, sage ich mir: geschützte Vögel (s.o.) sind nicht gefeit gegen das Aussterben. Doch ist dies die Stunde, da sie fliegen. Hier, Leser, zwischen Berlin-Mahlsdorf und Leipzig-Grünau, erlebst du live, was sonst nur der Recorder konserviert oder was mit fremden Federn im Schaukasten hängt.
Ich will noch ergänzen, der Dichter ist in diesem Jahr Vater geworden – und hat sich die Zukunft in Gestalt einer immer rätselhaft bleibenden Tochter ins Haus geholt. Ansporn, seiner Doppel-Arbeit nachzugehen, als Werberedakteur und als Dichter. Und: er ist noch keine dreißig. Traue keinem unter dreißig! Er hat noch alles vor sich.
Thomas Böhme, ich grüße Sie mit den Worten eines unglücklichen Dichters (den zu lesen ich gerade Ihnen, Sie Sonntagskind, empfehlen kann): „César Vallejo, ich hasse dich zärtlich!“

Fritz Rudolf Fries, Nachwort, Juni 1982

 

Welt und Kehrseite

Reißerisch die Rezension aufzumachen, könnte man mit dem Gedichtsatz beginnen: „Herrlich pißt es sich in einen musizierenden nachttopf / der militärmusik schmettert…“ (aus „Würfel / Spieldosen & ein musizierender Nachttopf“), und könnte gleich die ganze Poetologie, „Die Summe großer Vorhaben“ in der Selbstaufforderung erkennen:

Leipziger toiletteninschriften studieren, zehn zeilen
für ein gutes Gedicht klauen.

Doch wenn wir auch alle auf die eine oder andre Weise Werberedakteure sind wie der Entdecker solcher Gebilde (sprich: Ideologiehersteller sind), so möchte ich doch lieber mit Rücksicht auf das mehr traditionelle und humanistische Publikum den Anfang viel behutsamer setzen. So eine Abstraktion wie „Welt“, „Welthaltigkeit“ eignet sich stets dafür, und siehe da, unser Verfasser hat sie nicht vergessen. „Aus dem Stundenbuch“ also dies:

Welt dringt in mich ein wie licht durch gemalte fenster eindringt die fassaden schlagen zu frust geht um.

Aber ich merke schon, das ist nicht unbedingt besser, warum muß er auch so ein Modewort wie „Frust“ einschleusen, ohne das wär’s zeitloser. Und so wage ich gar nicht erst, dem kaum noch geneigten Leser die „Blaue Stunde“ mit der Feststellung „In dieser dämmerstunde im juni liebe ich solche irren stimmen aus texas“ anzutragen. Lassen wir’s beim allerersten Satz des Gebildebuches bewenden:

Er war jung und glaubte das auch noch ’ne weile durchzuhalten.

Garantiert wird er das nicht lange durchhalten. Auch ihn hat inzwischen der „Apparat“ („Zwei jahre büroarbeit: schon nennt man mich fleißig“, in „Verstreute Bilanzen“ – „Sich stark machen für die kommenden aufgaben: rechnungen / anweisen, anweisungen ausstellen, zahlungen einstellen / ordnungen einhalten, sitzungen aushalten…“ na und so weiter, wer kennt das nicht, uns erwischt es ja alle einmal). Der Wert der Gedichte besteht vielleicht gerade darin, daß ihr Texter „Auf halbem Weg“ zurückschaut. Schon ist er kräftig dabei, sich sozialer Organisation im allgemeinen und seiner eigenen Organisiertheit im besonderen klarzuwerden, und noch bewegt ihn so eine wunderherrliche Unschuld jugendlich subkulturell unterlaufener Arbeitsteilung. Die amerikanischen Beatniks, als wären sie nicht längst olle Männer oder tot, winken herüber. Jack Kerouac schwenkt On the Road, seine Bibel aller intelligenteren Tramps, wild ins Blickfeld des Dichterauges. Wüst hantieren Rolling Stones und sonstige Ölgötzen der Massenhysterie. Wie auch immer deren Anliegen unterschiedlich zu achten wären, nüchtern dürfen sie, die Massengötzen, weder sein noch dürfen sie ernüchternd wirken. Sie haben nicht so sehr, sie sind alle große Schicksale, und schicksalhaft treten sie in die Texte. Born to be wild. Live fast love hard die young. Der „Exodus“ der Morgenlandfahrer, der kann ohne sie gar nicht auskommen. Weil der Exodus nicht Auszug ist, sondern Einzug in jenes Reich bloßen Lebensgefühls: Nichtsein oder Sein, Haltlosigkeit oder Halt, Fernweh oder Weh – alles eine Frage massenkulturell strukturierter Schicksalssentimentalität. „Schnupfen“ bleibt nicht aus:

Vertrieft schaue ich in das schwimmende teelicht und wünsche mir so die seifenblasen meiner ideen zu sehen wie früher…

Doch sei die Nähe zur „Szene“, zu jener anderen Sorte von teils angejahrten Berufsjugendlichen, denen nämlich, die eine halb künstlerische, halb aussteigerische Lebensform entfalten, nicht unterschätzt. Denn es ist eine Lebenskultur, die auf den Pfaden geheimer Ideologieelektrik selbst die braven Hausmütter und Hausväter unter den Jüngeren wenigstens in der Freizeit, und wer hätte die nicht und hätte sie nicht gern, wie ein großes Heimweh für Stunden, und dann massenmedial vermittelt, anrührt. Den Gedichten bekommt diese Nähe zu einem Szenario an Haltungen, das den Traum aller Revolutionen, die da nur so gewesen sind, zum Ausdruck bringen möchte. Freizügigkeit, Offenheit (Whitmans, der Beats Open road), Libertinage, Kollektivität, Hedonismus, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Individualität… wenn wir lange nachdenken, fällt uns noch viel ein. Ein Hedonismus wäre das, der zwar kollektiv sein könnte, aber der natürlich nichts mit Konsumdenken zu tun hat. Eine Libertinage wäre das, die etwas mit individueller Begabung, nichts aber, bei Gott, mit Bindungslosigkeit zu tun hat. Eine Freundlichkeit wäre das, die groß, frei und zügig sein kann, aber nie indifferente Grimasse. Und so fort. Die Utopien sind mitten unter uns. Sie jedoch leihen der Sprache ihren Gestus. Ein Miteinander von Werten, denen – für sich gesehen – niemand widersprechen kann, der jemals das Erbe aller historischen Revolutionen und Rebellionen ernst genommen hat, durchdringt gestisch den Text: Verletzlichkeit und Schnoddrigkeit zugleich sind doch nur die äußere Haut, die Hülle, der (jugendlich schöne) Schein für jenes Wertgewese, dieses Utopiekonglomerat.
Bevor ich das nun leichthin der Kritik unterwerfe, möchte ich es noch ein bißchen verteidigen. Denn in den Texten waltet ein ungebrochener, ein verzweifelter Sinn für die Realien unseres Lebens. Der Gestus der Jugendutopie ist eben das Mittel, diese auch in der Gedichtschreibe gegenständlich zu machen, ist Verfasser einer Welt, die – zumindest scheinbar – ohne Transzendenzgehabe auskommt. Was so einem begegnet, wenn man durch Stadtzentren und Bahnhöfe, durch Hinterhöfe und Buden, durch Kneipen und Feiern wandert, ist da: „… hier bin ich thomas der schwindler und laß meinen schimmel weiden auf binsenmatten“, sagt er „Beim Meister“. Er schwindelt freilich kaum, wenn er sich eine Welt samt Kehrseite zusammensetzt, und wird ihm vielleicht auch gerade darum schwindlig dabei, ausweichen kann er beiden nicht, denn sie sind unausweichlich, Welt und Kehrseite, Fete und Erbrochenes. Und so ist die Jugendutopie nicht nur das Instrument für die Herstellung von textlichen Realien, die realen Realien sind ebenso der Urgrund für den utopischen Gestus. Da läuft er übern „hauptbahnhofvorplatz“, sieht Leute (oder Kunden?) und schreibt:

Und ich lauschte ergriffen ihrer brutalen sprache
Der in kaum einem buch auffindbaren knappen & unpathetischen sprache
Der erotischen Sprache mit ihrem technischen vokabular
Der sprache einer silbernen glitzernden sciencefiction-ära
(„Jedermann liebt den Samstagabend“).

Da kann man nichts machen, was ist, das ist, das hat er aufgeschrieben.
Doch täuschen wir uns nicht. In der Brutalität der Gedichtsprache, in ihrer Utopie, gebildet aus Schnoddrigkeit und Verletzlichkeit, wirkt mehr. Liebeshunger natürlich, uneingestanden aber auch so was wie Vergewaltigungssehnsucht. Das jetzt ist selbstverständlich nicht unbedingt in jeder beliebigen, jedenfalls nicht in umgangssprachlicher Hinsicht wörtlich zu nehmen. Bedingt wohl schon. Die Utopie des Open road ist von mehr geschwängert als nur dem Sperma der Freizügigkeit. Sie hat auch den Samen der Gewalt, des Machtrausches als eines Rausches der persönlichen Allmacht in sich. Ich habe an diesem Punkt gezielt den amerikanischen Begriff Open road genommen, weil er auf die Folgen mitverweisen kann, wenn sich ein ganzes Staatswesen aus dieser Ideologie speist und sich die gesamte Welt zum Spielfeld seiner Möglichkeiten erwählt. Die Wunderherrlichkeit der Jugendutopie ist so unschuldig nicht, wie sie sich drapiert, unschuldig nur insofern, daß sie von ihrer Schuldanfälligkeit nichts ahnt oder zunächst nichts Genaues nicht weiß.
Ich kann allerdings für mich noch nicht entscheiden, welche Haltung die Texte zu dieser zwielichtigen Angelegenheit einnehmen. Sie schweben teils warenästhetisch fasziniert in der Jugendkultur:

… die vollendung der seifenblase der halluzination einer seifenblase in Farbe das blubbert wie echos von pink floyd das rieselt wie der kosmische staub der tangerine dream spee gekörnt color… (in „Spee Color gekörnt“).
Und sind doch (wie Andy Warhols Suppendosenbilder) auch Kritik dessen, was sie so suggestiv beschreiben? Teils sind die Texte ganz klare Absagen:

Meine freunde erkannten daß ich ein spießer bin… Meine freunde sind öfter besoffen als ich… Sie fühlen sich unbeobachtet beim geschlechtsakt… Sie glauben sich überwacht beim reden… Sie verborgen keine westbücher mehr… Erst verachten sie nur die arbeit später verachten sie auch sich selbst… („Meine Freunde ziehen mit einer fahrbaren Plastikmaus über den Korridor“).

Insofern ist ja alles in der Ordnung. Aber für mich bleibt die Frage, inwieweit sich die rückblickende Selbstkritik von einer Desillusion, die immer gut ist und poetisch nützlich, weiterbewegt zu einer Dekonstruktion der Utopiemöglichkeit selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, daß sich dafür Zeichen fänden, manchmal bin ich nur irritiert. „Harmonie des Protestes?“ fragt Fritz Rudolf Fries im „Nachsatz“ zu diesem Band, und in einem ndl-Beitrag, wovon ein Auszug zum Klappentext gekürt worden ist, vermerkt Peter Gosse „anheimelnde Schnoddrigkeit“ zur Schau gestellt.
Ob es das ist, was ich mit, zugegeben, ein wenig undeutlichem Zweifel umzirkle? Lassen wir das offen. Auch ein Kritiker darf ja vielleicht mit sich uneins sein.

Utz Riese, Neue Deutsche Literatur, Heft 5, Mai 1984

Der rockigste Gedichtband der DDR, neu aufgelegt

Anfang der 1980er Jahre, da traute sich der Aufbau Verlag etwas. Er veröffentlichte Gedichtbände von Kolbe, Mensching und Böhme. 1983 war das, als Thomas Böhmes Sanduhr am Gürtel erschien. Darüber wundert sich der Leipziger noch heute. Das Buch wurde zu einem Bestseller. Und zu einem Geheimtipp.
Denn auch in der DDR waren 5.000 verkaufte Bände eines Gedichttitels nicht selbstverständlich. Und dass sie schneller aus den Buchhandlungen verschwanden als selbst begehrte Belletristik-Titel, war auch im Leseland DDR eher ungewöhnlich. Aber die Zeit war danach. Auch wenn noch niemand absehen konnte, wie das enden würde, was 1980 in Polen und 1983 in der Sowjetunion begann. Und schon gar niemand auf eine deutsche Einheit wettete mit einer Bundesrepublik, in der gerade eine konservative „Wende“ eingeläutet worden war.
Böhme war 28, als sein Gedichtband erschien. 26 war er, als er die meisten Gedichte davon schrieb – Gedichte voller Musik, Fernweh, mal depressiv, mal schnodderig. Das, was man manchmal auch einfach Tagebuch-Lyrik nennt. Es gibt geniale Tagebücher in der Weltliteratur, die sind solche Lyrik. Es gibt auch geniale Prosa-Stücke, die sind ebenfalls solche Lyrik. Die so genannte Beat-Literatur ist voll davon. Auch wenn im Grunde nur ein Klassiker dieser Beat-Literatur die DDR-Grenze je offiziell überschritt: Kerouacs On the road. Erschienen unter dem Titel Unterwegs als Taschenbuch bei Reclam Leipzig 1978. Natürlich zitiert Böhme dieses Buch. Natürlich schleppt er es mit auf seinen Reisen.
Und natürlich empfindet man beim Lesen der nunmehr 30 Jahre alten Gedichte dieselbe Ziellosigkeit, die Sehnsucht nach mehr, nach irgendetwas Wesentlicherem da draußen wieder. Denn Böhme hat eben nicht nur Tagebuch geschrieben, schon gar keine Gedichte zum Tage. Er hat die Stimmung seiner Zeit eingefangen. Seine Tage, sein Leben in der Mockauer Straße in Leipzig. Hier schön festgehalten für all die Leute, die Böhme in Literaturführern zur Stadt Leipzig nach wie vor ignorieren.
Vielleicht liegt’s auch an der falschen Perspektive. Man nimmt die 40, 45 Jahre „dazwischen“ nicht ernst, weil man diese ganz Geschichtsepoche einfach nur über Stasi, SED, Diktatur, Westfernsehen und Intershop definiert. Und damit immer weiter und weiter in einer schmalspurigen Interpretation West. Womit man das ganze Land auf ein simples Pro und Kontra reduziert. Auf Partei und Kirche.
Ausgeblendet werden dabei ganze Strömungen, die das Land bewegten und veränderten und ohne die der Herbst 1989 ebenfalls nicht denkbar ist. Und dazu gehört – gerade auch in Leipzig – die Nähe zum Beat. Bei Böhme allgegenwärtig. Sein Leben ist begleitet von der Musik seiner Zeit. Er zitiert seine Lieblings-Bands allenthalben. Und er kann sie zitieren, denn natürlich findet sich in ihren Texten dieser nie zu befriedigende Anspruch nach dem ganzen, dem unbeschnittenen, dem freien Leben. Der natürlich in der verschlossenen DDR einen ganz anderen Widerhall fand. Was nicht einmal Bob Dylan bei seinem legendär verkorksten Berlin-Konzert begriff.
Es war selbst im Straßenbild der DDR zu sehen. Man trug Jesuslatschen, Stirnband und bestickte Weste. Man besorgte sich diese unsäglichen Sonnenbrillen, ließ die Haare wachsen. Und man trampte selbst in die mecklenburgische Provinz mit Gitarre und dem Gefühl, sich wegzubewegen. Auch wenn man nie rauskam. Die Sehnsucht nach Weite mussten Länder wie Ungarn oder Bulgarien erfüllen. Mazedonien vielleicht. Oder eben der völlig zerkratzte Pasolini-Film im Casino-Kino.
Und kein Dichter gab diesem Gefühl treffender Ausdruck als Böhme. Selbst Leute, die sonst keinen Gedichtband in die Hand nahmen, fanden sich wieder in diesen rockigen, rhythmisch eingängigen Texten, in dieser Atmosphäre und Ungeduld, diesem Suchen und Treiben. Selbst die Erotik hat das Raue, Abgenutzte der Zeit, das Traurige und Schwermütige, das über dem ganzen Land zu liegen schien.
Auch das hat Böhme genau eingefangen: Den Farbton einer ganz bestimmten Zeitspanne, in der alle Gründe schon rumorten, die dem Land und seinen Mächtigen wenige Jahre später die Legitimation nahmen.
Und das liest sich noch heute lebendig, plastisch, eingängig. Eigentlich kann man so einen Band mit „Gedichten & Gebilden“ sogar in einen wasserfesten Umschlag packen und wieder mitnehmen auf die Reise fortwohin. Nach Mazedonien, Schweden oder in die Toskana. Oder an den Kulkwitzer See.
Dieser Anspruch an Leben und Weite ist so aktuell wie bei Kerouac. Nur das Treppenhaus muss man nicht mehr wischen wie einst. Hat man mehr Zeit, die Sanduhr an den Gürtel zu hängen, den Gedichtband einzustecken und einfach mal wieder um die Häuser zu ziehen. Irgendwohin, wo man Leute trifft, die noch Träume haben.

Ralf Juhlke, Leipziger Internet Zeitung, 28.4.2011
(Rezension bezieht sich auf eine neue Ausgabe dieses Buches)

 

Einstand: Thomas Böhme

Thomas Böhme ist 25 Jahre, von Beruf Bibliotheksfacharbeiter. 1976/77 hat er Deutsch und Kunsterziehung in Greifswald studiert, er ist unverheiratet (noch, sagt er) und kinderlos (noch, sagt er bedauernd).
Böhme ist in Leipzig geboren, und er will – im großen Ganzen – in dieser Stadt sein Leben leben. Daß, wie es im Gedicht „Lanze für leipzig“ heißt, „der glockenhelle sopran in der vorderen reihe beim weihnachtsoratorium popelt“, ist einer von hundert Gründen, und eher der hundertste als der erste. Ich nenne ihn, weil die in ihm zur Schau gestellte anheimelnde Schnoddrigkeit ebenso zu Böhme gehört wie das tiefernste Beschwören der „immerwiederkehrenden frage nach dem sinn eines daseins von so beängstigender einmaligkeit“ oder die Betroffenheit angesichts dessen, daß „manche im blues ihre rote wut ersäuft“ haben, oder jene elegische Selbstironie:

aus ists mit meiner ganzen herrlichen bosheit.

Wollte man, entgegen allen empfindsamen Einwänden, Gedichte auf Begriffe bringen – bei Böhme hätten Begriffs-Paare herzuhalten wie Respektlosigkeit / (uneingestandenes) Pathos, burschikos überhobener Tatdrang / schwer zu ergründende Laschheit. Diese Texte – für mich leben sie durch ihr rebellisches und gleichzeitig harmoniesüchtiges Pendeln um eine undeutliche Mitte, in die zu gelangen herbeigesehnt wie (weil Ruhefinden Verstummen hieße) gefürchtet wird.
Besagtes Pendeln kommt mir vor wie das Kratzen an den haarschmalen Fugen einer als zu festgefügt wahrgenommenen Welt. Mithin sind Böhmes Gedichte verlangter sozialer Bewegung abgewonnen, sie engagieren sich. (Kein Wunder, daß als einer ihrer unheiligen Taufpaten der Kommunist Degenhardt genannt ist, „Vater franz“.) Formal sind die besten Stücke in balligen, genau rhythmisierten Langzeilen gearbeitet, darin folgend den leidenschaftlichen Versehrungsberichten Allan Ginsbergs (Poesiealbum 127), in denen die planetarische Feierlichkeit Walt Whitmans mithallt.

Peter Gosse, neue deutsche literatur, Heft 5, Mai 1981

 

DOPPEL–MOPPEL
Für Thomas Böhme

1. MOPPEL

als MOPPEL sich wie
der ein band voll gins
berg sprach und den tag

lang nur noch die ge
dichte von allen
hörte wo er war

auf dem klo im flur
am kinderbettchen
vorm herd am schreibtisch

kam ihm die STIMME
bald sehr bekannt vor
da sprach MOPPEL schnell

seine vermutung
aus: allen sagte
es ists meine stim

me? und nichts geschah
hätte allen ihm
bloß geantwortet

 

2. MOPPEL

wäre dies nicht zu
heftig gewesen
für MOPPELS gemüt

Peter Wawerzinek

 

 

 

Viktor Kalinke mit Thomas Böhme im Gespräch.

 

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Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Thomasböhme“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Thomas Böhme

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