– Zu Stefan Georges Gedicht „Der freund der fluren“ aus dem Band Stefan George: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel. –
STEFAN GEORGE
Der freund der fluren
Kurz vor dem frührot sieht man in den fähren
Ihn schreiten · in der hand die blanke hippe
Und wägend greifen in die vollen ähren
Die gelben körner prüfend mit der lippe.
Dann sieht man zwischen reben ihn mit basten
Die losen binden an die starken schäfte
Die harten grünen herlinge betasten
Und brechen einer ranke überkräfte.
Er schüttelt dann ob er dem wetter trutze
Den jungen baum und misst der wolken schieben
Er gibt dem liebling einen pfahl zum schutze
Und lächelt ihm dem erste früchte trieben.
Er schöpft und giesst mit einem kürbisnapfe
Er beugt sich oft die quecken auszuharken
Und üppig blühen unter seinem stapfe
Und reifend schwellen um ihn die gemarken.
Das Werk des Dichters Stefan George (1868-1933) umgibt heute, fast 60 Jahre nach seinem Tod, noch immer die Aura des Geheimnisvollen, Elitären, schwer Zugänglichen. Seinem, zum Teil selbst inszenierten, Ruhm zu Lebzeiten folgte eine Periode weitgehender Ignoranz, sieht man einmal ab von den wenigen für die nationalsozialistische Propaganda mißbrauchten Gedichten. Beinahe die Hälfte des lyrischen Werkes Georges entstand im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und entspricht durchaus dem Zeitgefühl des Fin de siècle. George selbst verstand sich als Antipode zum Naturalismus, als Wahrer der Tradition Goethes, Jean Pauls, Hölderlins und Nietzsches – allerdings im Sinne einer ,Poesie pure‘ – und nicht zuletzt als Sachwalter der Dichtkunst schlechthin. Wesentliche Impulse hatte er durch seine intime Kenntnis des europäischen Symbolismus empfangen. Seine Übertragungen der Lyrik Charles Baudelaires, Paul Verlaines und des Niederländers Albert Verwey (1865 bis 1937) machten diese Dichtung erstmals einer deutschen Öffentlichkeit bekannt. Die sich daraus ableitende Poetik stand im schroffen Gegensatz zur provinziellen, historisierenden und moralisierenden deutschen Lyrik der Jahrhundertwende, etwa eines Emanuel Geibel (1815-1884), der als der meistgelesene Lyriker seiner Zeit gilt. Georges Verdienst um die Entschlackung der poetischen Sprache kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, unbestritten ist sein Einfluß auf die Dichter des Frühexpressionismus. Gerade bei Georg Heym, der sich brüsk von George distanzierte, fand eine produktive Aneignung Georgescher Lyrik statt. Man vergleiche Heyms „Der Gott der Stadt“ mit „Der freund der fluren“.
Dieses Gedicht Georges gehört in den 1899 zunächst als Privatdruck veröffentlichten Band Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod, mit einem Vorspiel. Es ist Georges am strengsten gegliederter Gedichtband, bestehend aus drei Abteilungen zu je 24 Gedichten. Jedes Gedicht hat vier Strophen, jede Strophe vier Verse. Diese äußere Gleichförmigkeit bändigt aber nur eine Überfülle an Bildern, Stimmungen, Gesichten, die sich zur ornamentalen Weltordnung verknüpfen.
Hier schlingen menschen mit gewächsen tieren
Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
so hebt Der teppich an. Je zwei Gedichte bilden ein konträres Paar: „teppich“ folgt „urlandschaft“, „freund der fluren“ das Gedicht „gewitter“ usf.
Auch losgelöst vom Zyklus betrachtet, behält „Der freund der fluren“ den herben Reiz. Sein Material hat sich im Gegensatz zu manch anderen George-Gedichten nicht vernutzt. Peinlichkeiten allzu prätentiöser Gebärden erspart es dem Leser.
Die Form ist schlicht, fast liedhaft; fünfhebige Jamben, kreuzweise gereimt – dabei braucht man sich nicht weiter aufzuhalten. Dennoch überrascht die nahtlose Verfugung und Verschränkung der Verse, die ohne alle Füllsel, ohne schmückendes Beiwerk auskommen, und deren spröde Reimworte bis dahin im deutschen Gedicht nicht vorgekommen sein dürften.
Bereits der Titel, unaufdringlich alliterierend, löst Irritation aus. Wer ihn harmlos heiter mit Naturfreund übersetzt, wird schon nach den ersten beiden Versen stutzen. Nicht Wandersfreude, nicht „Im Frühtau zu Berge“ will sich da mitteilen, kein einladendes ,Wir‘, sondern Distanz. Der Sprecher hält sich bedeckt, ein lyrisches ,Ich‘ gibt es nicht.
Kurz vor dem frührot sieht man in den fähren
Ihn schreiten · in der hand die blanke hippe
die Tageszeit schafft nicht gerade Behagen, eher verbindet sich mit ihr die Vorstellung von Kälte und Aufbruch zur Arbeit. Das Verb „schreiten“ bestimmt das Tempo – eine maßvolle Feierlichkeit. Die „blanke hippe“ gar hat als traditionelles Attribut des Todes etwas Bedrohliches, erst in zweiter Linie mag man an die Sichel als Werkzeug denken. Zudem suggeriert der kaum gebräuchliche Plural „fähren“ die hünenhafte Gestalt des Schreitenden, andernfalls müßte er besagte Flußstellen durchwaten oder hindurchschwimmen. Gleichsam als Markzeichen für Georges Gedichte steht der das Komma ersetzende auf Zeilenmitte gestellte Punkt nach „schreiten“, der eine Pause erzwingt, ohne jedoch das Metrum zu verändern. Neben diesem typographischen Signum finden sich in Georges Texten noch eine Reihe orthographischer Eigenheiten, von denen die Kleinschreibung der Substantive heute am wenigsten auffällt. Um die Jahrhundertwende war darin eine deutliche Aufforderung zur Sprachreform im Sinne der Gebrüder Grimm enthalten.
Die beiden folgenden Verse „Und wägend greifen in die vollen ähren […]“ schwächen die Wucht des ersten Eindrucks ab. Jetzt erscheint der „freund der fluren“ als ein seine Felder inspizierender Bauer, wobei die Zeile „Die gelben körner prüfend mit der lippe“ auch eine animalische Komponente birgt.
Der bäuerische Habitus des Mannes wird durch Strophe zwei und drei aufrechterhalten. In der zweiten Strophe ist er ein des Weinbaus Kundiger. Georges Abstammung von Küfern und Wirtsleuten aus dem Binger Weinbaugebiet schlägt sich in einer kenntnisreichen, von Fachbegriffen durchsetzten Schilderung des Winzeralltags nieder. Die Mühsal des Kultivierens schließt zärtliche Pflege ebenso ein wie das Zurückschneiden wilder Triebe.
Auch die dritte Strophe ist ganz dem Gedanken der Hege und Fürsorge gewidmet. Durch den vorgezogenen Konjunktionalsatz „[…] ob er dem wetter trutze […]“ erreicht der Dichter in den ersten beiden Versen eine unerhörte Spannung. Derartige Satzumstellungen finden sich bei George häufig, sie sind nicht gleichzusetzen mit der sogenannten poetischen Inversion, die die meist unschöne Vertauschung einzelner Satzglieder zugunsten von Reim oder Rhythmus bezeichnet. Solche gefälligen, leichten Lösungen hat George stets abgelehnt.
Bemerkenswert scheint mir, wie der Vorgang der Wetterbeobachtung in ein knappes, plastisches Bild gebracht wird: „und misst der wolken schieben“. – Mittels dieser ,harten Fügung‘ erreicht George, daß die mannigfaltigsten metereologischen Erscheinungen sprachlich aufs äußerste komprimiert werden. Die beiden sich anschließenden Verse bilden einen sanften Kontrast zum rauheren Ton des Eingangs. Sie gestatten die Vermutung, daß der „freund der fluren“ sich nicht in einem um seine Ernte besorgten Bauern erschöpft. Möglich, daß George, der sich als Mentor eines Kreises Gleichgesinnter, als gestrenger und liebender Meister einer Schar von Jüngeren begriff, davon spricht, wie er das von ihm beanspruchte Amt auszufüllen gedenkt. Der „liebling“, dem er „seinen pfahl zum schutze“ gibt, stünde dann nicht nur für den „jungen baum“, sondern auch für den Jünger, den Freund, dem der Dichter Orientierung und Halt bieten möchte. Der Vers „Und lächelt ihm dem erste früchte trieben“ wiese letztlich auf den Sinn solcher Jüngerschaft hin. Daß dem George-Kreis geistige und künstlerische ,früchte‘ entsprossen sind, steht außer Frage. Daß diese vielfach nicht die Kraft und Originalität des ,Meisters‘ erreichten, ist unter anderem der absoluten Dominanz und dem uneingeschränkten Autoritätsanspruch Georges zuzuschreiben, was ja auch das Gedicht verrät. Die „lieblinge“ gedeihen nur unter seiner argwöhnischen Obhut, „der ranke überkräfte“ indessen muß gebrochen werden.
Es sei hinzugefügt, daß der Text eine sinnbildliche Deutung zwar zuläßt, sie aber niemandem aufzwingt. Die Stärke des Gedichts besteht gerade darin, daß es nicht vordergründig belehrend wirkt. Der „freund der fluren“ bleibt eben auch dämonische Urgestalt, heidnisch-pantheistische Feldgottheit, deren Woher und Wohin im Dunkel liegen und deren Werkzeug, die „hippe“, an die Vergänglichkeit gemahnt.
Noch aber steht die vierte Strophe zur Diskussion. Hier scheint das Gedicht beinahe umzukippen, gerät das Bild allzusehr in die Nähe der Idylle. Der vormals „in den fähren“ Schreitende hantiert nun gebückt mit dem Gerät des Gärtners, mit Harke und „einem kürbisnapfe“. Doch so beschaulich der Anblick des Gießenden auch sein mag, wie sehr die Leidenschaft beim „quecken ausharken“ im Zaume gehalten wird, am Schluß, gewissermaßen aus dem Raum hinausschreitend, ist es wieder der Hüne, unter dessen „stapfe“ die „gemarken“ so „üppig blühen“ und „reifend schwellen“. Die Natur antwortet auf die Mühe des Bauern, Winzers und Gärtners oder gar auf die eines segnenden Flurgottes mit aller ihr zu Gebote stehenden Pracht und Fülle. Und in diesem Sinne wollte wohl auch der Dichter George seinen bändigenden Einfluß auf die ungestüme Jugend gedankt wissen, was in der Realität leider nicht funktionierte. Wirklich autonome Künstler wie Hugo von Hofmannsthal erfuhren des Meisters Mißbilligung, sobald sie eigene Wege beschritten, den Expressionismus gar strafte George mit völliger Ignoranz. Ungeachtet dessen gelten seine besten Gedichte als Initialzündungen für die deutsche Lyrik des 20. Jahrhunderts. „freund der fluren“ würde ich unbedingt hinzu zählen.
Thomas Böhme, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992
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