DER JUNGE MIT EINER SCHUSSWUNDE IM NAMEN,
der Junge mit dem Fleischerhaken im Stammbaum,
der Junge mit der mathematischen Mausefalle
und der junge mit dem vergitterten Mund.
Der Junge mit dem langweiligen Film im Gesicht,
der Junge mit den in Steine verwandelten Wünschen,
der Junge mit der Rasierklinge in der Stimme
und der Junge mit dem vorlauten Mädchenfinger.
Der Junge mit den zu Honig zerschmolzenen Augen,
der Junge mit der halbierten Hornisse im Blick,
der Junge mit dem zu tief hängenden Geruch
und der Junge mit den Bügelfalten seiner Gefühle.
Der Junge mit seinen schier ausufernden Füßen,
der Junge mit einem Stahlstöpsel im Geblüt,
der Junge mit einem Fleischerhaken im Namen
und der Junge mit dem Stammbaum aus Schußwunden.
– Er zweifelt an der Zukunft des Gedichts: der Leipziger Autor Thomas Böhme. –
Im Antiquariat berappt man heute schon erkleckliche Sümmchen für seinen legendären ersten Gedichtband „Mit der Sanduhr am Gürtel“. Das mittlerweile rare Buch kam 1983 heraus, als Thomas Böhme noch am Literaturinstitut Leipzig studierte – und zwar im renomierten Berliner Aufbau-Verlag. Zwei weitere Lyriksammlungen brachte der Autor, längst über regionale Grenzen hinaus bekannt, dort noch unter, ehe das Traditionshaus sich nach dem Wendejahr ’89 neu ausrichtete.
Weil sein Genre dann als wenig lukrativ galt und weitgehend aus der Planung verbannt wurde, war Böhme wie andere seiner Zunft gezwungen, sich nach neuen Publikationsmöglichkeiten umzuschauen. Er fand sie in kleinen, feinen Privatverlagen. Dort veröffentliche er seither ein gutes Dutzend Bücher, meist exklusiv mit Graphik ausgestattet und auf edlem Papier gedruckt. Die Nachfrage lässt aus des Dichters Sicht freilich zu wünschen übrig. „meine Verlage sind zwar nobel und ambitioniert, aber kaum im Buchhandel zu finden.“
In die Reihe der unter solchen Bedingungen entstandenen Kleinode gehört der von Gino Hahnemann, in Personalunion Architekt, Bühnenbildner, Fotograf und Aktionskünstler, illustrierte Band „Nachklang des Feuers“, der Böhmes Werk zwischen 1998 bis 2004 zusammenträgt. Die Auslese erschien im Berliner Druckhaus Galrev, das von Rainer Schedlinski geleitet wird, als bereits fünftes Buch, das der in Leipzig lebende Böhme dort herausbringt. Er hänge mit einer gewissen „Sturheit“ an dem Unternehmen, sagt er, obwohl es durch die Stasi-Verstrickung des Chefs „stigmatisiert“ sei. Es handle sich für ihn einfach um einen sehr innovativen Verlag.
„Nicht wir werden das Gedicht verlassen, das Gedicht verlässt uns, / wie die Arbeit, die niemand / mehr braucht, wie Berufe, die keiner mehr ausübt“, prophezeit Böhme auf einer der ersten Seiten. Er, der sich mit dem Da-Sein auf dem steinigen Feld zwischen Hoch-Gelobt- und Kaum-Zur-Kenntnis-Genommen-Werden auch mit fast 50 noch nicht wirklich abfinden mag, befürchtet das Verschwinden der Poesie aus unserem Gesichtskreis. Dabei misstraut er konsequent wie wenige der erhabenen Sprache, den hehren Ausdrücken. Er polemisiert gegen die „schweifgeschmückten Sätze“ und „eitlen Parolen“, deren inflationärer Gebrauch ihn ermüdet.
Häufig ist in seinen Texten als Unterton eine Melancholie á la Gottfried Benn zu spüren, die auch aus dem immer wieder geschilderten Ermatten großer Gefühle erwächst. Der Autor wirkt traurig, wenn die „Tonspur“ einer Liebe erlischt oder die von ihm drastisch beschriebenen Gewöhnungseffekte des Alltags einsetzen: „meistens verblödet man, / weil man nichts bessres weiß, / sieht man gelegentlich fern.“
Viele Gedichte Böhmes bezeugen seine Leidenschaft für den Süden, sein Schwelgen in sommerlichen Landschaften. „Neapel ist eine Augenfarbe“, heißt einer seiner Titel. Und der stand bereits fest, als er die Stadt an der Amalfiküste noch gar nicht kannte. Erst im Frühjahr 2005 reiste er auf Einladung der Universität dorthin. Der Aufenthalt begeisterte ihn, denn er verlief „gänzlich unakademisch“, also vollkommen anders, als in Deutschland gewöhnt“. Außerdem erstaunte ihn, dass man sich im Ausland mehr für ihn interessiert als zu Hause. So forschte eine italienische Germanistikstudentin erst kürzlich für ihre Magisterarbeit über die hiesige Szene der 1980er und stieß dabei auf Böhmes Zeitschrift „Laternenmann“, ein illegales Produkt, das dazumal in „Einzeltäterschaft“ und Handarbeit entstand.
Neben klassischen Versen in freien Metren oder zuweilen auch gereimter Form finden sich in Thomas Böhmes Lyrikband Prosagedichte, wie man sie von Charles Baudelaire kennt. Sie zeigen, dass es dem Autor manchmal nicht leicht fällt, sich für ein Genre zu entscheiden. Es sind gewissermaßen Zwitter, die für ihn ein variables Potenzial bergen: Manchmal wachsen sie sich zu Versen aus, dann wieder werden sie zu Keimzellen von Romanen oder Prosastücken…
Ulf Heise
Versuch über Thomas Böhme
Martin Holz: Das Feuer machte ihm keiner nach.
Tom Bresemann von der Lettrétage liest ein Gedicht aus Thomas Böhmes Gedichtband Nachklang des Feuers.
Viktor Kalinke mit Thomas Böhme im Gespräch.
Schreibe einen Kommentar