UND DER SÄNGER DYLAN IN DER DEUTSCHLANDHALLE
Ausgepfiffen angeschrien mit Wasserbeuteln
aaaaabeworfen
von seinen Bewunderern, als er die Hymnen
ihrer Studentenzeit sang im Walzertakt und tanzen
aaaaaließ
die schwarzen Puppen, sah staunend in die Gesichter
der Architekten mit Haarausfall und 5000 Mark im
aaaaaMonat,
die ihm jetzt zuschrien die Höhe der Gage und
sein ausbleibendes Engagement gegen das Elend der Welt. So
aaaaasah
ich die brüllende Meute. Die Arme ausgestreckt im Dunkeln
aaaaaneben
ihren dürren Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte
der Welt in den Augen, betrogen um ihren Krieg,
zurückgestoßen in den Zuschauerraum
der Halle, die den Namen ihres Landes trägt, endlich
verwandt ihren blökenden Vätern, aber anders als die
betrogen um den, den sie brauchen: den führenden Hammel.
Die Wetter schlagen um:
sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief,
ist heute zwei Tage älter.
Das „Kleistische“ war es, was ich zu suchen begann, nachdem mir das schwierige Amt zugefallen war, dieses Jahr einen Träger des Kleist-Preises zu finden. Das Kleistische in und an einem heutigen Autor. Und: Ich wollte versuchen, der Tradition gerecht zu werden, in der dieser Preis seit den zwanziger Jahren steht. Sie ist anspruchsvoll, drückt einen aber auch in eine bestimmte Richtung. Als mir Thomas Brasch einfiel, war ich erleichtert, er schien mir beide Bedingungen zu erfüllen. Jetzt, da ich alles von ihm wieder oder neu gelesen habe, bin ich dessen sicher. Inzwischen stiegen noch Nebenmotive für die Wahl gerade dieses Namens in mein Bewußtsein, sie haben zu tun mit der spannungsreichen Entwicklung der Literatur in der DDR, mit den Widersprüchen, der Fremdheit, der Neugier, dem Neid zwischen den Generationen, der Neigung zu Schuldgefühlen Älterer gegenüber Jüngeren, den diffusen Anziehungs- und Abstoßungsvorgängen zwischen Frau und Mann. Ich will das alles nicht ausführen, will nicht zu ergründen suchen, wie viele von diesen mir damals dunklen Antrieben meine Entscheidung beeinflußt haben. Ganz sicher war mir eine Szene gegenwärtig, die vor elf Jahren in unserer Berliner Wohnung stattfand. Thomas Brasch sagte, er wolle weggehen. Er war nicht der erste, der da saß, aber er war der erste, dem ich nicht mehr abraten konnte. Insofern war sein Weggehen, das weiß er nicht, auch für mich ein Einschnitt, plötzlich gab es eine neue Frage, die hieß: Warum bleiben?, und die mußte nicht nur verbal, sie mußte hauptsächlich arbeitend beantwortet werden, denn nur die Produktion kann jene innere Freiheit hervorbringen, die den Zweifel über die Wahl des Lebens- und Arbeitsortes aufhebt. Wenn ich es richtig sehe, gehört Brasch zu denjenigen, die nicht aufhören können, sich mit ihren Erfahrungen auseinanderzusetzen, nachdem sie das Land verlassen haben, und die fähig geblieben sind, Entwicklungen zu erkennen, neue Schlüsse zu ziehen. Was fällt mir zuerst ein, wenn ich „Kleist“ denke? Der Riß der Zeit, der durch den Mann geht. Die Abwehr Braschs gegen insistierenden Deutungsversuche spürte ich deutlich, je länger ich in seinen Texten las, eine Scheu vor Entblößung, eine Warnung vor Zudringlichkeit. Ich will diesen Appell respektieren. Es ist das gleiche Gefühl, das ich bei Kleist habe: daß er seine Arbeiten gegensätzlichen, beinahe gleich starken Bedürfnissen abpreßt: sich unsichtbar zu machen, aber auch, sich vollkommen zu enthüllen. Der Riß? In ichnahen Texten ist er auffindbar an der Spur, die er ihnen hinterlassen hat.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Wie viele sind wir eigentlich noch.
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Schallplatte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem anderen,
verschwinden.
Ein Zitat aus dem Zyklus „Papiertiger“, Mitte der siebziger Jahre, das jeder seiner Generationsgenossen, auf die dieses „Wir“ sich bezog, verstand. Brasch war ihr Sprecher. Ich möchte dieses Gedicht auch dem hiesigen Publikum nicht „erklären“, vielleicht ist das nicht nötig. Aber es gibt eine, auch gutwillige, Erwartungshaltung an Literatur aus dem anderen deutschen Staat, die Texte nicht nur falsch interpretieren, sondern bestimmte Texte auflösen kann – so, als mache der andere Hintergrund ihre scharfen Konturen unsichtbar. Thomas Brasch hat diese Erwartung niemals bedient, sehr bald hat er, hier angekommen, den Kampf gegen das Verschlucktwerden aufgenommen. Um den Preis, möglicherweise, des Übersehenwerdens in seiner Eigenart. Dichter vom Kleistschen Typus wollen gebraucht werden und sehen sich in der deutschen Literaturgeschichte der letzten zweihundert Jahre, gegen ihren Willen, auf die exzentrische Bahn geschleudert.
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Der Utopie-Rest, nie ganz aufgezehrt, die Sehnsucht nach dem Land, das die Deutschen sich nicht zu schaffen wußten, in dem menschengemäß zu leben, mit dem menschengemäß auszukommen wäre. Wenn aber nicht, da aber nicht: der Riß, der nun durch das Land geht, die Wunde offengelegt, die unverstanden bleibt, wenn man sie leugnet oder nur bejammert, unheilbar, wenn man nicht ihre Entstehung bis zu den frühen, feinsten Gründen hin verfolgt: Braschs Eulenspiegel-Vision. Braschs zornig-traurige Bauernkriegs-Beschreibung in „Hahnenkopf“, das Heer der Bauern vor der Stadt Weinsberg.
Am Morgen stürmten sie
Die Tore der Stadt.
Trieben die Fürsten
Durch eine Straße aus Spießen.
Am Abend stritten sie sich.
Nachts gingen sie
In drei Richtungen auseinander:
Gegen das Heer der Fürsten im Süden.
Über die Grenze.
In ihre Dörfer.
Aus drei Richtungen kommend
Zerschlug die Fürstenarmee
Zwei Wochen später
Was vom Bauernheer übriggeblieben war
Und fing:
Was geflohen war
Und köpfte
Was sich
In den Scheunen
Versteckt hatte …
Und die Fürsten machten Ordnung und schärfere Gesetze, Gehorsam und Unterordnung, und der Prinz von Homburg bricht diese Gesetze und soll sterben: Staatsräson. Aber Natalie, die ihn liebt, tritt dem Kurfürsten entgegen, indem sie miteinander Unvereinbares in zwei Zeilen zwingt:
Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen,
Jedoch die lieblichen Gefühle auch.
Wiederum Utopie, nur noch aus Weibermund einklagbar: Ein Vaterland, „das braucht nicht diese Bindung, kalt und öd“. Das die geheiligte, wenn auch unnatürliche Ordnung zugunsten einer menschenfreundlichen Unordnung aufgibt. „Ein Traum, was sonst?“
„Dazu“ Brasch, hundertsiebzig Jahre später:
Hamlet gegen Shakespeare
Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
Die Figur macht ihrem Erfinder eine Rechnung auf, die allzu lange offen geblieben ist. Die zitierten Texte, bis auf den letzten, sind aus dem Band Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Kargo sei ein Kult, der besage, Männer mit weißer Haut seien Geister von Toten, die ihr Ende nicht finden, leben nicht mehr und sind noch nicht tot. Das „untergehende Schiff“ ist der Erdteil Europa. An Eurozentrismus leidet Brasch nicht.
Er ist in England geboren, seine Eltern, Kommunisten, Juden, lebten dort im Exil, der Sohn wächst in der DDR auf, von seinem zehnten Lebensjahr an eine Zeitlang in der später aufgelösten Kadettenanstalt. Wie Kleist. Merkwürdiger Zufall. „Eine herrschende Klasse, an Erhaltung und Zementierung des von ihr geführten Staates arbeitend, entledigt sich ihrer Kinder und überantwortet deren Erziehung der von ihr bestellten und bezahlten Bürokratie“: Brasch über „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil. Der eigene Sohn, fährt er fort, im Internat zum blutig geräderten Ödipus heruntergekommen und aufgestiegen, werde im nächsten Krieg als Offizierswerkzeug … zerbrechen, oder er werde den väterlichen Staat – beschreiben. – Unbillige, allzu billige Schlüsse scheuend, kann ich doch diese harsche und genaue Äußerung über gerade diesen Gegenstand nicht zufällig nennen. – Wie der junge Kleist widmet sich der junge Brasch einer Philosophie, wie jener erleidet dieser den Erkenntnis- und Ernüchterungsschock, mit einem freilich entscheidenden Unterschied: Kleist verzweifelt, in das unendliche Spiegel-Spiel des subjektiven Idealismus geraten, an Erkenntnismöglichkeit überhaupt. Brasch will die Veränderung der Verhältnisse nach den Vorschlägen der marxistischen Philosophie konsequenter, kompromißloser, auch anarchischer. „Daß einer auf dem Messer gehen muß, um ein Stück vorwärts zu kommen, ist für Sie wahrscheinlich sentimental“ Ein unerträgliches Reizwort übrigens für einen Autor seiner Art, gerade weil seine Unverfrorenheit doppelt, dreifach mit Gefühl gefüttert ist. Ich würde hier nicht von Sentiment sprechen wollen, sondern von einer bestimmten Art von Radikalität, die seit Hölderlin, bei Lenz, Kleist, natürlich bei Büchner, und dann wieder in unserem Jahrhundert, jungen deutschen Dichtern aufgezwungen wird. Brasch, der den sozialistischen Staat von links kritisiert, „sowohl kindliche wie plebejische Formen von Widerstand“ ausprobiert – Formen, die der Staat, jedenfalls damals, nicht toleriert −, Brasch wird zu Gefängnis verurteilt, eine Erfahrung, über die er sich nur karg äußert. Das folgende Gedicht scheint es zu erklären:
Die Stille ist die Schwester des Wahnsinns.
Zwischen Hocker und Tür fünf Schritte und
der Herzschlag zwischen den Schläfen.
Die Posen:
Widerstand / Härtetest / Selbstmitleid / Jammer / Gelächter
sind verbraucht: Leitartikel im eigenen Zentralorgan.
Danach: Arbeit in einem Betrieb – eine deutliche, bedeutsame Spur in den Texten jener Zeit. „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ Ein Schmerz, der in schnoddrige oder höhnische oder zynische Sätze versteckt wird. Der mythologische Held vom Herakles-Typus hat sich erledigt, auf komplizierten ästhetischen Wegen muß ein Dichter wie Brasch zu anderen, höchst fragwürdigen Figuren kommen, mit denen eine immer gefährdete Identifikation, Teilidentifikation möglich wird. Er zeigt keine Berührungsfurcht vor „kaputten Typen“ – im Gegenteil, die ziehen ihn gerade an. Lovely Rita. Sindbad. Rotter. Lackner. Im Westen dann: der Raubmörder Gladow. Die Schauspielerin Lisa. Die arbeitslosen Sakko und Oi – ein merkwürdiges Ensemble, ungewöhnlich für beide deutsche Literaturen. Nicht eine „Gestalt“ im herkömmlichen Sinn, die sich dadurch legitimierte, daß sie aus einem unantastbaren „inneren Kern“ heraus lebte. Schwer durchschaubare Dramaturgien. Der Film Domino sei, zum Beispiel, „ein Spiel mit Bildern über die Spaltung der Phantasie“. So hätte aber Kleist, bloß daß er keine Filme machte, ein jedes seiner Stücke auch beschreiben können. Sentenz der Lisa, die in Zeitlupe aus ihrem Schauspieler-Beruf herausfällt: Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht. Und jetzt sitzt ihr da.
Dichter, denen Brasch sich nahe fühlt, wurden genannt, Kafka gehört noch in diese Reihe, eigenartig nimmt Tschechow sich in ihr aus, den er übersetzt. (Überhaupt: die russische, die frühe sowjetische Literatur – Majakowski −, ein Pfund aus seinen DDR-Jahren, das er nicht verkommen läßt.) Hinzuzufügen wäre Georg Heym, „Lieber Georg“. „Da dieses Stück um eine Vorkriegssituation geht und die Hauptfigur ein Dichter, also Georg Heym ist, den diese Vorkriegssituation extrem angeht, das heißt der Riß, der durch die Gesellschaft geht, läuft auch durch ihn, und die Figur des Georg Heym auch für mich eine Möglichkeit war, äußerst autobiographisch zu sein, und ein Stück nach ’ner neuen, für mich neuen Dramaturgie zu schreiben…“ Vorletzte Szene, Überschrift: „Außerhalb des Spiels 1979“, den Nachrüstungsbeschluß reflektierend:
Meine Hand mit der Kreide bewegt sich schnell über die Steine und ich weiß jetzt daß ich ein Theaterstück schreibe das von einem Dichter handelt mitten in einem betäubend stillen Vorkrieg zwischen den unsichtbaren Gesetzen der Ökonomie unter dem Gewicht einer alten Ästhetik … Ich muß den Dichter von dem das Theaterstück handelt und der an einem Theater auftreten soll das es nicht gibt oder noch nicht auf die schnellste Weise zu Fall bringen Denke ich und meine Hand schreibt den Titel für die letzte Szene.
Dieser Titel heißt: „Endlich im Eis“. – „Ein früher Tod. Das ist auch was. Da brauchen wir den Beruf nicht zu lernen.“ „Grell und geschmacklos“ hat man Braschs Tonart genannt. Mit Recht. Kreativität, ein Grundwert bei Brasch, findet er nur noch bei Künstlern und Kriminellen.
Auch Kleist hat Goethen, wie er sich auch um dessen Gunst verzehren mochte, die gutartigen klassischen Widersprüche nicht servieren können, nicht die säuberliche Trennung der Konflikte in gut und böse, gesund und krank, anständig und kriminell. Widerspruch wäre ein zu behäbiges Wort für die Dauer-Reibung, in die neuere Autoren sich hineinbegeben müssen. Banal, auf die Verletztheit der Verletzbarkeit zu verweisen, die hinter aggressiven Gebärden meistens steht. Weil in der deutschen Geschichte nichts human zu Ende geführt wurde, müssen immer die Jüngeren sich gegen ihre Väter, Mütter erheben. „Vor den Vätern sterben die Töchter“ – auch das gilt. Lovely Rita sagt es, und gleich danach sagt sie: Pathos. Einen Horror vor Pathos teilt Brasch mit seinen Figuren. „Sie müssen keine Girlande um jedes Wort hängen. Gefühlsgymnastik will ich hier nicht sehen.“ Braschs Ekel vor erhabenen Gedanken und Gefühlen und den dazu passenden literarischen Wendungen.
Von den Rändern her – aber dies ist ja der Ort seiner Protagonisten: „Meine Figuren sind sicher die, die am Rand aus Unfähigkeit oder weil’s ihnen in der Mitte zu eng ist, sich aufhalten. Da sind sie natürlich immer gefährdeter, … gefressen zu werden; auf der anderen Seite gehören sie zu etwas, und gleichzeitig haben sie das Offene neben sich…“ – von den Rändern her nähere ich mich jenem zentralen Punkt, den ich vor allen anderen bei Brasch „kleistisch“ nennen will: Zwischen zwei Wertsystemen stehen, die ihn beide vor falsche Alternativen stellen. Das muß bei unbedingten Naturen zu paradoxen Lebensentscheidungen führen: Kleist, der sich von Paris aus zur französischen Küste begibt, willens, im Dienst seines Erzfeinds Napoleon gegen England kämpfend zu sterben. Brasch, der sehenden Auges, aber damals bleibt ihm nichts anderes übrig, den Boden verläßt, der ihn – sei es durch Engagement, Übereinstimmung, Mitarbeit, Anstrengung, Reibung, Widerspruch, Widerstand – kreativ gemacht hat. Geht, als sein Bedürfnis, „eine Sache öffentlich zu machen“, nicht befriedigt werden kann; als seine Stücke, „Gebrauchsgegenstände“, in der Schublade liegenbleiben, wo sie ihren Autor „nichts lehren“; als er schließlich anfangen muß, sich selber zu fragen:
Baue ich in die Dinge kleine Spitzen ein, um weiter die Dornenkrone des Verbots tragen zu dürfen?
Brasch, geprägt durch Wertvorstellungen dieses anderen Staates; dessen zentraler Begriff „Arbeit“ war und bleibt, Arbeit als soziale Kategorie; als Mittel, den einzelnen mit der Gesellschaft zu verbinden; kollektive Arbeit, die die Beziehungen der Menschen und Gruppen zueinander verändern sollte und imstande wäre, neue Bedürfnisse hervorzubringen: Brasch trifft im Westen auf die Macht des Geldes, auf Konsumzwang, und er trifft auf den Markt. Auf den „Verfall der Ordnung, die Staat heißt und ihren wütenden Überlebenskampf, zwischen dem Alten, das tot ist, aber mächtig, und dem Neuen, das lebensnotwendig ist, aber nicht in Aussicht…“ Schnell ist er der Fremde mit dem bösen Blick. Der Exote. Der Mann, der die für seinen Fall maßgeschneiderten Kategorien unhöflich, undankbar ablehnt; nicht „Dissident“, nicht „Exilschriftsteller“, auch nicht „im Westen lebender DDR-Schriftsteller“ genannt sein will; der gleich wieder anfängt, sich zu wehren:
Für mich sind alle diese Kategorien nicht mehr als hilflose Versuche, einen Schreiber leichter konsumierbar zu machen, indem man ihn auf einen Punkt reduziert.
Erstaunt registriert er „die fast vollständige Abwesenheit eines sozialen Erlebnishintergrundes bei den meisten Kunstproduzenten meiner Generation in diesem Land“. Das habe sicher mit der Art des Reichtums zu tun, die es hier gebe… Die Frage, ob er künstlerische Erkenntnis produzieren oder den Markt bedienen will, hat er entschieden. Das Instrumentarium für die Kritik der Gesellschaft von ihren Wurzeln her, in der DDR erworben, legt er nicht weg. Erfährt, daß seine Arbeit wiederum, „auf eine andere Weise, nicht gebraucht, benutzt oder zu einer Debatte verwendet wird“.
„Kleistisch“? Ich will mich hüten, Brasch meinerseits auf einen Punkt zu reduzieren. Ein Satz, der viel über das Spannungsfeld in seiner Arbeit aussagt: „Der Stoff von gestern, und die Form von morgen.“ Noch in der DDR schreibt er ein Stück, Rotter, das er „ein Märchen aus Deutschland“ nennt. Ein Stück über einen für jede Gesellschaft gebrauchsfertigen Menschen – ein „verhinderter Woyzeck“. Auch Kleist schreibt Märchen, oder wie soll man das Käthchen von Heilbronn sonst nennen, das zu Rotter steht wie das Positiv zum Negativ böser Alpträume. Der Prinz von Homburg („Ein Traumspiel“), Penthesilea – alles Märchen, schöne und schlimme Märchen für Erwachsene, in denen ein Kern von Utopie glüht. Bei Brasch steckt der „Entwurf von einer Welt, die lebenswert und erstrebenswert wäre“, weniger in den Aktionen der Figuren (sie können ja nicht handeln), schon gar nicht im Finale, er steckt in der Struktur der Texte. Experimente mit neuen Formen und Dramaturgien, die er weit revolutionärer findet als die Inhalte, die sie vermitteln könnten. Er setzt mit ihnen dem Bedürfnis der bürgerlichen Kunstkonsumenten nach Genuß einen Widerstand entgegen. Ein Publikum sieht sich unbedient, das sich die Kompromisse, die es nach steckengebliebenen Revolutionen eingeht, die Restaurationen, in die es sich nach unverstandenen Katastrophen rettet, mit seinen heroischen oder banalen Illusionen verdrängen oder erklären muß. Brasch versucht, den Filz der von angestauten verqueren Wünschen gesättigten, verkommenen nachbürgerlichen Beziehungen und Pseudo-Werte durch die Schärfe seiner Form, sie wie ein Skalpell benutzend, anzuritzen.
Zweimal nennt Brasch den Namen Kleist direkt, beide Male hat diese Erwähnung etwas mit Tod zu tun. In „Lieber Georg“ erzählt eine Figur von einem Doppelmörder namens Brunke, der zwei Schwestern erschossen und es dann nicht fertiggebracht habe, sich, wie vereinbart, selbst umzubringen. Er habe, sagt er vor Gericht, an den Dichter Kleist gedacht. Darauf Heym: Kleist? Daß ich nicht lache. Kopien überall.
Die zweite Erwähnung Kleists geschieht in einem Interview über Braschs Stück Lovely Rita. Die Kraft des Gedankens sei bei Penthesilea, sagt Brasch – und das sei ja eines der Vorbilder von Rita −, so ungeheuer scharf, daß sie sich selbst zu Tode denke. Rita dagegen „scheitert tödlich, indem sie überlebt“.
Eine weibliche Identifikationsfigur für einen männlichen Autor – ähnlich wie Penthesilea für Kleist. Rita, die einer „geschichtslosen Generation“ angehöre, sich nicht „mit dem identifizieren“ könne, „was war, … und nicht mit dem, was zu werden scheint“, und die sich aus der Diskrepanz zwischen ihrem hohen Anspruch und der trivialen Realität eine „Zeit herauskriminalisiert, die der eigenen Vorstellung von Glück oder von Lebenswerten am ehesten entgegenkommt“.
Folgt eine eigenartige Betrachtung über das Weibliche in der Kunst. Kunst sei nicht aus Zufall weiblich.
Das Undenkbare denken zu können, hat etwas sehr Weibliches. Etwas Ungeheuerliches denken, das tun viel eher Frauen… Kunstarbeit von Männern ist die Arbeit von Männern, die sich das Privileg nehmen, weiblich zu reagieren, das heißt etwas durchspielen.
Dies nun hätte Kleist nicht sagen können, sosehr es auf ihn zutraf: zu stark fühlte er sich durch „das Weibliche“ in sich bedroht. Seine tiefste Verletzung als Mann mußte er in einer militanten weiblichen Figur ausdrücken: Penthesilea. Seine tiefste, „weibliche“ Sehnsucht nach einer Vernunftordnung, in der Gefühle Geltung haben sollten, legte er in die Figur eines preußischen Offiziers. Er riß sich, wenn das denkbar wäre, über Kreuz auseinander. Brasch muß sich nicht zerreißen, um den Schmerz, den die Normalität ihm antut, durch Übersteigerung zu betäuben. Vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt, wählt er eines der Übel, hört nicht auf, es als Übel zu sehen, begründet seine Wahl, schonungslos auch gegen sich selbst, und preßt seiner Lage die Möglichkeit zu arbeiten ab. Sich nicht ins Aus treiben lassen – vielleicht ist dies eine neue Moral, die Schule machen könnte. Den Prozeß der Arbeit – bei Brasch möglichst ein kollektiver Prozeß – wichtiger nehmen als das Ergebnis. Die Verfertigung der Gedanken beim Reden vorführen. Radikale Existenzformen, die nicht in A-Sozialität, Tod oder Selbsttötung, in Isolierung oder Gewaltaktionen münden, in Haß, Ekel und Selbstekel, in totale Unwirksamkeit, hat die deutsche Geschichte für ihre männliche Avantgarde nicht entwickelt. Von der weiblichen schweige ich; sie ist nicht vorgesehen. Wenn „etwas durchspielen“ heute hieße, alle Möglichkeiten, auch die geringste Chance des Gebrauchtwerdens wahrzunehmen – in des Wortes Doppelbedeutung … Hier könnte Brasch mich fragen, ob ich nicht sehe, daß die „Leistungsgesellschaft schon auf die ehemals jungfräulichen Erdteile übergeschwappt“ ist. Ob ich die Meldung nicht gehört habe, daß in naher Zukunft sechs Multi-Konzerne sich die Medien- und Unterhaltungsbranchen der westlichen Welt untereinander aufgeteilt haben werden. – Ja, ich habe diese Meldung gehört.
Doch ich kann nicht umhin, wie ein Signal, das mir bekannt vorkommt, und mit einem Anflug von Freude zu lesen, was Brasch kürzlich einem Interviewer in der DDR sagte: „Möglich, ja, vielleicht wird meine Arbeit jetzt in der DDR gebraucht. Das wäre für mich mehr als eine Hoffnung, es wäre produktiv, das heißt: ich könnte etwas lernen; und wer nicht mehr lernen kann, kann sterben.“
Christa Wolf, Laudatio auf Thomas Brasch aus Anlaß der Verleihung des Kleist-Preises im Oktober 1987 in Frankfurt am Main.
handelt in der Dämmerung der Geldzeit, in der der Staat übermächtig und der Mensch entbehrlich wird. In den vier Kapiteln ist von Leuten die Rede „zwischen Widerstand und Wohlstand“; von Leuten, die „sich die Nadel ins eigene Fleisch treiben“, sie „verlassen einen Staat, der wird von allen guten Geistern verlassen“. Es ist die Rede von Bernd, dem Streifenpolizisten, der in ,Pinsels Kneipe‘ weint, „ich träume vom Töten der / muß das machen“. von Elisabeth ist zu lesen, der zweifachen jungen Mutter; sie versteckt sich hinter der Wohnungstür vor dem Gerichtsvollzieher, der ihr den lebensnotwendigen Fernsehapparat wegnehmen will, und stellt sicht tot. Und von Bob Dylan liest man, von seinem Konzert in der Deutschlandhalle, bei dem er ausgepfiffen wurde von seinen früheren Bewunderern, weil sie sich um ihren Führer betrogen sehen:
Die Wetter schlagen um
Sie werden kälter
Wer vorgestern noch Aufstand rief
ist heute zwei Tage älter.
Das Buch handelt von einem Tag, an dem die Geister auftreten, Opfer und Täter der Geldzeit: der Mörder Ratzek, der seine Schwester erschlug; Gary Gilmore, der seine Richter zu Tätern machte; Stevie Wonder, der blind durch die Stadt New York geht, in der „ich“ auf einem Dach stehe und auf die Morde in Little Italy hinunterschaue; die jüdische Großmutter, die in der Irrenanstalt einen Roman über die Ameisen schreibt, die aus Deutschland auswandern; Thomas Brasch, der als alter Mann am Bahnhof Zoo den Kniekehlen der Mädchen hinterherstarrt, mit seinen wertlosen Büchern unterm Arm, der Selbstkritik übt an seine frühen pathetischen Versen:
Klagen einer traurigen Generation… das ewige Lied von Vater und Sohn.
Es sind Gedichte und Balladen aus einer Zeit, in der das Alte nicht mehr möglich und das Neue noch nicht (oder nicht mehr) vorstellbar ist: Ein Tag zwischen Widerstand und Wohlstand, an dem Gedichte geschrieben werden; Körper einander festhalten und Berlin brennt wie in der Zeit des Brandstifters Marinus van der Lubbe; in der sich ein Mädchen wehleidig der „Großen Zeit“ von 1968 erinnert:
Möglich der 3. Krieg ist längst ausgebrochen
aus dem nächsten Kapitel der Legende
Er hat sich in den Mietwohnungen verkrochen
Dort tötet er lautlos bis zum endgültigen Ende.
Klappentext der Erstauflage im Suhrkamp Verlag, 1980
von Thomas Brasch (1945–2001) erschien 1980. Im selben Jahr wurde ihm der FAZ-Preis für Literatur verliehen, mit folgender Begründung: „In Der schöne 27. September verbindet Thomas Brasch Zartheit und elegische Erotik mit Nüchternheit und strenger Zeitkritik. Diese Verse, die sich gleichermaßen durch hohe Musikalität wie durch scharfe Intellektualität auszeichnen, tragen zur Erneuerung traditioneller Formen der deutschen Lyrik bei, zumal des Lieds und der Ballade, und weisen Thomas Brasch als poetischen Sprecher seiner Generation aus.“
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1980
Nach einer Lesung in West-Berlin, bei der auch einige westdeutsche und -berliner Poeten ihre Gedichte in dem bekannten untertreibenden Tonfall vortrugen, fragte Allen Ginsberg einen Berliner Kollegen: „But where is the vocal man, show me the vocal man.“
Die Frage blieb unbeantwortet. Nicht nur, weil deutsche Dichter sich lieber bescheiden geben; wohl auch deswegen, weil sie die Frage nach dem Mann mit der Stimme im deutschen Sprachraum etwas befremdlich fanden. Spätestens, seit Klaus Kinski in der Innenkurve der Deutschlandhalle Villons „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ ins Publikum schrie und wimmerte, richteten die deutschen Dichter ihren Ehrgeiz darauf, ihre Gedichte möglichst im Tonfall der telephonischen Zeitansage zu Gehör zu bringen.
Die Unlust am Vortrag hat dann – ich weiß nicht, ob rückwirkend oder vorbeugend – auch die Gedichte selbst angesteckt: Reim, Refrain, Strophe, Lust am Vocal, alles, was ein Gedicht in den Verdacht bringen konnte, sich dem Lied oder der Liturgie anzunähern, fiel jener selbstauferlegten Zensur zum Opfer, deren wichtigster Maßstab ist: Bloß nicht singen.
Wenn doch einmal einer sich traute, ein Gedicht etwa im Stil des talking blues vorzutragen und ein ausgehungertes Publikum zu Beifallstürmen hinriß, so war von den Profis sofort zu hören: „Aber du mußt diese Gedichte mal lesen.“ Kein Zweifel, Ginsbergs Frage stieß in Berlin weniger auf Bescheidenheit als auf offene Ablehnung.
Wäre Thomas Brasch damals schon dagewesen, ich hätte ihn Ginsberg sofort vorgestellt. Zwar habe ich Brasch noch nicht vortragen gehört, und vielleicht liest er genauso verklemmt, wie er nicht schreibt.
Aber auf seine Gedichte, die in dem Band Der schöne 27. September versammelt sind, passen fast alle Übersetzungen, die das nächstbeste Wörterbuch für das Adjektiv vocal angibt: stimmlich, mündlich, klingend, widerhallend, laut, vernehmlich. Um gleich ein mögliches Mißverständnis auszuräumen: Auf den Begriff „Protestgedichte“ lassen sie sich nicht bringen, und sie sperren sich auch gegen Hörgewohnheiten, denen nur die laute Stimme als vernehmlich gilt.
Zwar trifft auf einige Gedichte dieses Bandes durchaus zu, was ein Eckart Krumbholz der einzigen in der DDR verlegten Gedichtsammlung von Brasch voranstellte: „Ein gewisser Hang zur Maßlosigkeit ist dabei nicht zu übersehen; hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen.“ Aber wer glaubt, daß Brasch immer noch DDR-Brötchen zerkleinert, wird nicht satt.
An jenen Flüchtlingsgesprächen, die hierzulande vor den Ohren eines dankbar schaudernden Publikums in allen literarischen Gattungen geführt werden – am bisher wirkungsvollsten in der Form des Schulaufsatzes mit dem Thema: Mein schlimmstes Ferienerlebnis −, hat Thomas Brasch sich nicht beteiligt, und er holt das auch in seinen Gedichten nicht nach. Eher bestätigt er die Befürchtungen, mit denen sich ein SPIEGEL-Leser den Jubel um einen anderen Reisenden im grenzüberschreitenden Verkehr verbat: „Der hat doch drüben auch schon Unruhe gestiftet.“
Eine Strophe aus dem Gedicht „Drei Wünsche, sagt der Golem“ könnte die schlimmsten Ahnungen dieses Mannes übertreffen:
Auf einer Atombombe über dem Bahnhof Frankfurt, antworte ich,
wie still ist das hier im siebten Himmel.
Nur der Wind und der Gestank der Demokratie:
Lachend falle ich nieder auf das Gewimmel.
Auf einer Atombombe fallen in die Stadt Frankfurt am Main
zu Ehren der Bundestagswahl die Stimme abgeben,
einen Gruß überbringen den Volkspartein:
Das Parlament soll bis zum siebten Himmel hochleben.
Ein derartiger Wunsch unterliegt bei uns dem Kunstvorbehalt, und folglich hat ihn der Dichter frei. Grell und geschmacklos, wie er sich ausspricht, bleibt er im Ohr und mag manchen Golem mit juristischer Bildung neugierig machen, die beiden anderen Wünsche zu hören.
Sosehr diese Strophe zur Entrüstung oder zum dezenten Überhören einlädt, für die Tonlage von Braschs Gedichten ist sie nicht charakteristisch, eher für seine Arbeitsmethode: für den Versuch, sich nicht an Grenzen zu halten; sei es die Grenze zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit oder die zwischen dem lauten und dem leisen Gedicht oder die zwischen dem Liebes- und dem Protestgedicht, und wie die Trendmeldungen sonst alle heißen.
In einer Literaturlandschaft, deren Pole durch Wallraff und Handke markiert scheinen, sind Braschs Gedichte schwer einzuordnen. Am nächsten komme ich ihnen wohl, wenn ich sie musikalisch nenne. Hier beginnt einer, der sich von vielen Sprechweisen beeinflussen läßt und viele beherrscht, ganz auf die eigene Stimme zu hören und sich hinzuschreiben auf einen Tag, eine Stunde, einen Augenblick; so in Dem Titelgedicht „Der schöne 27. September“:
Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und
mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.
Wenn überhaupt etwas, so ist dieser Wunsch, Gegenwart herzustellen, Zeit zu gewinnen für einen einzigen Augenblick — nicht durch beleidigte Abkehr von der Welt, sondern durch den Versuch, Ränder zu ziehen zwischen innen und außen −, das Programm von Braschs Gedichten. Gedichte als Zwischenberichte, gleichsam zwischen Tür und Angel geschrieben, die den kleinen und großen Schrecken zwischen den Viertelstunden nachgehen, zwischen – dies die Kapiteleinteilung des Bandes – Morgen, Mittag, Abend und Nacht.
Aus kurzen, oft flüchtigen Begegnungen und Anlässen läßt Brasch seine Mythen des deutschen Alltags entstehen und bringt sie zum Sprechen: den Hausmeister in der Droysenstraße 1, der den Hausflur wischt; das Photo der jüdischen Großmutter, das ihre Lebensgeschichte im wahnsinnigen Deutschland zu erzählen beginnt; ein Lied von Stevie Wonder, das einen an das Gedicht erinnert, das man immer einmal schreiben wollte; die Wiederbegegnung mit Nakry, die in zwei Jahren zehn Jahre gealtert ist und sagt: „Ich schieße, der Streifenpolizist schießt auch. / Der Unterschied, sagt sie, hat seinen Grund.“
Vor allem aber: Es sind Gedichte. Die Behauptung, die der Untertitel auf der Umschlagseite aufstellt, wird auf den meisten der folgenden 70 Seiten eingelöst. Jenen Gedichtveröffentlichungen, die sich nur dem Weitsichtigen als Gedichte darstellen und sich dann, sobald er die Brille aufsetzt, als Prosasätze erweisen, bei denen das Zeilenende lediglich die Interpunktion ersetzt, stellt Brasch ein trotziges, durchaus elitäres Formbewußtsein entgegen. Bei ihm füllen sich die Leertasten hinter der Zeile, die Leerzeilen zwischen den Strophen mit den Worten, die nicht gesagt werden, mit den Bildern und Träumen, die sich der Sprache verweigern.
In ihrer Strenge und ihrem Kunstwillen haben diese Gedichte durchaus etwas Altmodisches. Versfuß, Strophe, Reim gelten Brasch nicht als alter Krempel und folglich auch nicht die Vorbilder, die in ihrer Lyrik immer auch an das Instrument dachten, von dem sich die Gattungsbezeichnung herleitet: Villon, Rimbaud, Brecht.
Viele von Braschs Gedichten nähern sich einer Liedform, häufig der Ballade, und für den Kreuzreim, mit dem eigentlich nur noch Udo Jürgens in seinen unsäglichen Schlagern hantiert, sind sie sich nicht zu schade. Allerdings bleiben Braschs Lieder immer in schönen Anfängen stecken, wirken wie Erinnerungen an eine alte Melodie, von der man nur noch den Anfang weiß, und werden dann gleich gestört: Ankündigungen eines privaten, von einem Romantiker betriebenen Senders, die sofort von den Programmen der öffentlichen Sendeanstalten überlagert werden.
So stolpert ein Gedicht, das als Ballade anfing, unversehens in eine Zeitungszeile, einen Kneipensatz, und die Beschimpfung des Publikums von Bob Dylan in der Deutschlandhalle findet plötzlich in einen bitteren, selbstanklägerischen Refrain: „Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.“
Ähnlich wie mit den Gedichtformen verfährt Brasch mit Raum und Zeit. In dem längsten Gedicht des Bandes kreist er, zunächst ganz Chronist, eine politische Figur in einem präzisen geographischen und historischen Kontext ein: van der Lubbe, Berlin, 1933. Aber mitten in der Erzählung vermischt sich die Stimme des Grenzgängers van der Lubbe, der aus Holland nach Deutschland kam „im eigenen Auftrag“ und von den Zuschauern aller Parteien zum Werkzeug der jeweiligen Gegenpartei erklärt wurde, mit der Stimme des Erzählers:
: Die Geschichte spielt in meiner Stadt,
die der Krieg zerschnitten hat
und aus tausend Häuserwunden
Blut noch heute alle Stunden
Unterm Pflaster seufzt und stöhnt
Totes das sich nicht gewöhnt
an den Tod. Und darüber fährt
feiges Volk das sich nicht kehrt
weiter taub und blind und stumm
Staat macht Angst und Angst macht dumm
Dieses Bauprinzip seiner Gedichte hat Brasch in einem Vierzeiler „Hamlet gegen Shakespeare“ selber am bündigsten benannt: „Das Unvereinbare in ein Gedicht: / Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.“
Diese Zeilen formulieren allerdings auch einen Maßstab für die Gedichte, die mir mißglückt erscheinen. Überall dort, wo das Gedicht diesen Riß vermeidet, wo die Ballade aufgeht wie in „Vorkrieg“, oder das Freie Sprechen die Ordnung nicht sucht wie in „Am Rand eines Erdteils“, löst das Gedicht bei mir hauptsächlich den Reiz des Schulterzuckens aus. Der Wunsch nach dem Lied erscheint mir schöner als die Einlösung dieses Wunsches; die Versuchung, endlich einmal zwanglos zu sprechen, ist produktiver als das Erliegen.
Auch stört mich an manchen Zeilen in diesem Band dieselbe kraftmeierische Attitüde, die mir an so unterschiedlichen Schriftstellern wie Wolf Biermann oder Heiner Müller so entsetzlich auf die Nerven geht und von irgendeinem Schlagersänger der 60er Jahre auf den einfachen Refrain gebracht wurde: „Yeah, yeah, yeah, I am a man.“ Glücklicherweise ist Brasch auch in solchen Posen, die er gelegentlich einnimmt, so deutlich, daß man nicht lange herumzureden braucht. Sie gehören zu einem Dichter, der zu heftig und zu zärtlich ist, um in die Schublade irgendeiner literarischen Trendmeldung zu passen.
Braschs Gedichte leben aus der gleichen Spannung, die alle guten Gedichte zusammen- und auseinanderhält: Zeugnisse eines bestimmten, unverwechselbaren Zeitgenossen, der von der Sprache besessen ist und in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit aufmerksam lebt.
Drüben mußte er wegen „staatsfeindlicher Hetze“ im Gefängnis einsitzen. 1976 erhielt er die Ausreisegenehmigung aus der DDR. Erst seit Thomas Brasch in der Bundesrepublik lebt, kann er seine Prosa, Theaterstücke, Gedichte veröffentlichen. Die Gedichte des Versbandes Der schöne 27. Septembers sind hier geschrieben. Er gliedert den Band in „Der Morgen – Der Mittag – Der Abend – Die Nacht“. Den Morgen deutet die Signalzeile „Zwischen Widerstand und Wohlstand“. Die langzeiligen Gedichte erzählen so etwas wie Moritaten aus geschichtlicher Vergangenheit und geschichtlicher Gegenwart, von Galilei aus Padua, Brecht in Santa Monica, dem Reichstagbrandstifter van der Lubbe in Berlin. „Der Mittag“ zeigt Erinnerungen an das geschichtliche und heutige Berlin. Auf eine Gruppe poetologischer Texte folgen Mitteilungen über „Das Tier mit den zwei Rücken“, kühl in der sprachlichen Form, aber Gefühl und Anteilnahme nicht ausschließend.
Brasch spricht in seinen Gedichten als distanzierter Beobachter. Man hat seinen Blick mit der berühmten starren Kamera der Andy-Warhol-Filme verglichen. Das Auge sammelt, die stilisierende Vorstellungskraft sichtet Details, zwingt das scheinbar Bedeutungslose in die Form, verleiht dem Zusammenhanglosen ein Stück Zusammenhang. Auf rhetorische Wirkung bedacht, läßt der Autor die Gedichte manchmal auf die Pointe zulaufen, als wären Einzelheiten und Vorgang um der Sentenz willen da.
Brasch erzählt den Auftritt Bob Dylans in der Berliner Deutschlandhalle, als „die brüllende Meute“ den ehemaligen Hymniker ihrer Studentenzeit auspfeift.
… dürre Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte
der Welt in den Augen, betrogen um ihren Krieg,
zurückgestoßen in den Zuschauerraum
… endlich
verwandt ihren blökenden Vätern, aber anders als die
betrogen um den, den sie brauchen: den führenden Hammel.
Das ist ein eindrucksvoller Bericht von der veränderten Protestszene. Der Erzähler könnte es bei diesem Vergleich mit den Nazivätern lassen. Aber jetzt addiert er sentenzhaft:
Die Wetter schlagen um:
Sie werden kälter.
Brasch spürt die Gefahr, wenn er in „Selbstkritik 3“ schreibt:
Geschrei nur noch im Schädel
Und ein Vers
Der bricht.
„Der schöne 27. September“, das Titelgedicht, markiert einen Tag, an dem der lyrische Sprecher keine Zeitung gelesen, kein Gespräch geführt, keine Zeile geschrieben hat. Der Text besteht aus lauter Negationen des Kontakts. Das ist Trauer und eine Art von Befreiungsprozeß zu ungestörter Gegenwart; Reaktion auf Verletzungen, aber auch lustvolle Vereinzelung. Hamlet, der unversöhnbar verletzte Held, streitet nicht nur gegen den König, den Repräsentanten des Staates, sondern auch gegen Shakespeare, den Ordnung stiftenden Autor:
HAMLET GEGEN SHAKESPEARE
Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
Wieder einmal geht der Heinesche Weltriß nicht nur durch die Ordnungssysteme der Gesellschaft, sondern in das Ordnungsgebilde des Gedichts selbst ein.
Eine resignative Stimmung fließt durch die meisten Gedichte der Gegenwart. Eine härtere Art von Wahrheit, als sie in den Programmpapieren von Institutionen steht, bleibt den lyrischen Autoren auferlegt. Kompromisse, Retouchen, frisierte Bilanzen sind ausgeschlossen. Der Protest in den Gedichten ist leiser geworden, die Hoffnung geringer, die Auseinandersetzung mit wahrnehmbarer Wirklichkeit härter. Die Dichter bleiben Widerständler eigener Art: Widerständler unserer nivellierenden Ordnungen und unseres verharmlosenden Bewußtseins. Aus jedem Gedicht spricht ein sensibler Ästhet, ein Parteigänger des Wahrhaftigen, eine Leidensgestalt des Lebendigen, ein Ich, das sich wehrt und die Sprache ehrt: Wahrnehmung und Moral als poetische Form.
Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986
Hannah Markus: Zu genau komponiert, unfertig abgenabelt.
Nachlass, Druck, Deutung: Thomas Braschs Gedichtband Der schöne 27. September
Fritz J. Raddatz: Leben ist fahren: im Kreis
Die Zeit, 28.3.1980
Thomas Zenke: Die Wetter schlagen um, sie werden kälter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.1980
Wilfried F. Schoeller: Kalte Wut mit Lautstärke
Frankfurter Rundschau, 24.5.1980
Anton Krättli: Lieder vom Ende der Zeit
Neue Zürcher Zeitung, 10.6.1980
Peter von Becker: Im Ansturm der Windstille
Süddeutsche Zeitung, 5.7.1980
Michael Schneider: Transit durchs Reich linker Melancholie
Ders.: Den Kopf verkehrt aufgesetzt, Luchterhand Verlag, 1981
kru.: Abhängigkeit und Stolz
Neue Zürcher Zeitung, 27.5.2004
Uwe Wittstock: Vom Glück, nein zu sagen
Literarische Welt, 26.9.2009
Timo Brandt: Der schöne 27. September des eigenwilligen Elegikers Thomas Brasch (geb. 1945, gest. 2001)
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 25.2.2014
DER SCHÖNE 27. SEPTEMBER
es nicht gewesen zu sein
aaaaaaaaaaaes nicht zu werden
Heute bin ich nicht einkaufen gegangen.
Ich habe keinen Kuchen überbracht.
Kein Klempner kam mir ins Haus.
Ich schrieb nur ein Gedicht.
Ich las es dir nicht vor.
Ich erzählte dir nichts davon.
Die Sonne sank hell und warm im Park hinter den Baum.
Du übtest für morgen Klavier.
Für übermorgen. Stunden.
Ich postete ein Gedicht von Katharina Lanfranconi.
Eines von Lars Gustafsson.
Ich postete ein Gedicht von Thomas Brasch.
Wir hielten uns im Arm auf der Couch.
Es regnete nicht.
Ich schrieb nicht in mein Tagebuch einen Satz mit: Ich bin
Timo Brandt
In der Zeit zwischen der Herausgabe von Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen 1977 und dem Erscheinen des Lyrikbandes Der schöne 27. September im März 1980 hatten sich die Produktionen Braschs auf die Bereiche Theater und Film ausgedehnt. Beachtlichen Erfolg erlebte beispielsweise sein Stück Rotter, aus dem sich das Projekt für die nächste Publikation Rotter Und weiter entwickelte, die 1978 bei Suhrkamp herauskam. Während in dem Band Rotter wiederum unterschiedliche literarische Genres vertreten sind, von Gedichten, tagebuchartigen Aufzeichnungen bis hin zum Stück, erweitert durch Materialien wie Fotos oder Rezensionen, versammelt Der schöne 27. September lyrische Texte im engeren Sinne: Balladen, Lieder, Gedichte, freie Verse und rhythmisierte Prosa. In Korrespondenz zum Titel ist der Band in vier Kapitel gegliedert: „Der Morgen“ / „Zwischen Widerstand und Wohlstand“, „Der Mittag“ / „Berlin brennt, Der Abend“ / „Kleine Ästhetik und Die Nacht“ / „Das Tier mit den zwei Rücken“, wobei für die Zuordnung der insgesamt vierzig Gedichte der jeweilige Untertitel den entscheidenden Ausschlag gab. Wann genau die Idee zu dem Band reifte, läßt sich nur bedingt rekonstruieren, da sich weder in der Korrespondenz im Thomas-Brasch-Archiv noch im Suhrkamp-Verlagsarchiv hierzu Aussagen finden lassen. Einzig dem Vorschautext des Verlages vom September 1978 ist zu entnehmen, daß der Band ursprünglich unter dem Titel Gedichte bereits für das erste Quartal 1979 geplant war (vgl. TBA 1310). Auffällig viele Texte sind jedoch erst 1979 entstanden, wobei auch ältere Gedichte, die aus Braschs Sicht Bestand hatten, nach neuerlicher Bearbeitung in die Auswahl einbezogen wurden. Hierzu gehören zum Beispiel „Mörder Ratzek weißer Mond“, „Im Garten Eden, Hollywood genannt“ und „Märchen von Ruth“. Die Intensität, mit der an fast jeder Zeile der Gedichte, in der Regel mit der Tendenz rigoroser Verknappung beziehungsweise sprachlicher Vereinfachung, gefeilt wurde, spiegeln in seinem Nachlaß die zahlreichen überlieferten Fassungen und im Marbacher Suhrkamp-Bestand neben dem Verlagsmanuskript (vor dem 17.12.1979 zusammengestellt, SUA V) auch die Korrekturfahnen (nach dem 17.12.1979, SUA K) wider. Bis kurz vor Drucklegung erfolgten demnach – neben Überarbeitungen der einzelnen Texte – Änderungen u.a. in der Auswahl insgesamt sowie in der Anordnung der Gedichte innerhalb des Bandes. So sind beispielsweise die im Verlagsmanuskript enthaltenen Gedichte „Selbstkritik 36“, „Mitleid mit Bernd, „Der schöne 27. September“ (hier ist nicht das Titelgedicht gemeint, sondern eine gleichnamige Vorstufe zum später eigenständigen Text „Der schöne 27. November“), „Das unmögliche Gedicht“, „Der Tod des Isaac Babel“ und „Mein Lehrer W. N.“ in den Korrekturfahnen entfallen. Dafür wurden die Texte „Schlimmer Traum“, „Selbstkritik 3“, die Neufassung von „Der schöne 27. September“ sowie „Hamlet gegen Shakespeare“ neu aufgenommen. Welchen Wert Brasch auf die Auswahl der Titel und die Gestaltung der Pointen legte, läßt sich anhand der verschiedenen Bearbeitungsstufen einzelner Gedichte (im Schnitt gibt es mindesten zwei Fassungen im TBA), bis hin zu den letzten telefonisch (laut Auskunft der Lektorin Elisabeth Borchers) erfolgten Änderungen in den Korrekturfahnen ermessen. Auch die Korrekturfahnen weichen noch leicht von der Druckfassung des Bandes ab (neben minimalen inhaltlichen Korrekturen verschiebt sich von zwei Gedichten sogar noch einmal die Plazierung im Band).
Für den Vorschautext zur Veröffentlichung formulierte Brasch in einem Brief an den Verlag folgende Beschreibung:
mein Gedichtbuch […] handelt in der Dämmerung der Geldzeit, in der der Staat übermächtig und der Mensch entbehrlich wird. In den Kapiteln […] ist von Leuten die Rede, die „sich die Nadel ins eigene Fleisch treiben“ und die „verlassen einen Staat, der wird von allen guten Geistern verlassen“. […] Das Buch handelt von einem Tag in meinem Leben, an dem die Geister auftreten, Opfer und Täter der Geldzeit: der Mörder Ratzek, der seine Schwester erschlug, Gary Gilmore, der seine Richter zu Tätern machte, Stevie Wonder, der blind durch seine Stadt New York geht, in der ich auf einem Dach stehe und auf die Morde in Little Italy herunterschaue; meine jüdische Großmutter, die in der Irrenanstalt einen Roman schreibt über die Ameisen, die aus Deutschland auswandern; Thomas Brasch als einen alten Mann am Bahnhof Zoo den Kniekehlen der Mädchen hinterherstarrend, mit seinen wertlosen Büchern unter dem Arm, der Selbstkritik übt für seine früheren pathetischen Verse: „Klagen einer traurigen Generation… das ewige Lied von Vater und Sohn“. – Gedichte und Balladen aus einer Zeit, in der das Alte nicht mehr möglich und das Neue noch nicht (oder nicht mehr) vorstellbar: Ein Tag zwischen Widerstand und Wohlstand, an dem Gedichte geschrieben werden, Körper einander festhalten als Tier mit den zwei Rücken und Berlin brennt wie in der Zeit des Brandstifters Marinus Van der Lubbe, in der sich ein Mädchen wehleidig der „Großen Zeit“ von 1968 erinnert: „Möglich der 3. Krieg ist längst ausgebrochen / aus dem nächsten Kapitel der Legende / Er hat sich in die Mietwohnungen verkrochen / Dort tötet er lautlos bis zum endgültigen Ende“. (Brief von Thomas Brasch an Elisabeth Borchers, Berlin, 29.10.1979, vgl. SUA. Dieser Brief ging mit kleineren Änderungen der Lektorin in den Vorschautext des Verlages ein.)
Wie auch bei anderen Buchpublikationen äußerte Brasch dem Verlag gegenüber konkrete Vorstellungen zur Gestaltung des Bandes, für den er sich ein größeres Format in schlichter Aufmachung mit großzügiger Schrift vorstellte. In dem erwähnten Brief an die Lektorin heißt es weiter:
Es müßte alles mögliche getan werden, um das Buch nicht teurer als 12 Mark werden zu lassen, damit die Leute, für die es gemeint ist (die proletarisierte Intelligenz – Studenten, die Taxi fahren) das Buch kaufen können.
Als die Lyriksammlung endlich erschien, war die Resonanz auf das Buch selbst über die Landesgrenze hinaus enorm. Im Spiegel vom 28.4.1980 schreibt Peter Schneider:
[…] auf seine Gedichte, die in dem Band Der schöne 27. September versammelt sind, passen fast alle Übersetzungen, die das nächstbeste Wörterbuch für das Adjektivvocal angibt: stimmlich, mündlich, klingend, widerhallend, laut, vernehmlich. Um gleich ein mögliches Mißverständnis auszuräumen: Auf den Begriff ,Protestgedichte‘ lassen sie sich nicht bringen, und sie sperren sich auch gegen Hörgewohnheiten, denen nur die laute Stimme als vernehmlich gilt. (in: Peter Schneider: Mythen des deutschen Alltags. Erstdruck in: Der Spiegel, 28.4.1980) Andere Rezensionen betonen ebenfalls die Musikalität der Gedichte, deren Ton aber auch Irritationen hervorrief und vielfach als Provokation verstanden wurde. Marcel Reich- Ranicki aber stellte fest:
Und fragte mich jemand, welches deutsche Buch mich im Frühjahr 1980 am tiefsten berührt hat, ich würde antworten: Thomas Braschs Gedichtband Der schöne 27. September. (TBA 1310).
Am 30.11. 1980 wurde Brasch für den Band mit dem F.A.Z.Preis für Literatur geehrt (vgl. auch die Begründung der Juroren auf der Urkunde in TBA 1209). In Kürze war die erste Auflage vergriffen, eine zweite folgte noch im selben Jahr, die dritte 1983. Neu aufgelegt, erweitert durch ein Nachwort von Christa Wolf’, erschien das Buch 2004 in der Bibliothek Suhrkamp.
In der DDR erwirkte Gerhard Wolf den vollständigen Wiederabdruck von Der Schöne 27. September in der Sammlung: Thomas Brasch: Drei Wünsche, sagte der Golem. Gedichte, Stücke, Prosa. Hg. von Gerhard Wolf. Leipzig 1990.
Aus: Thomas Brasch: „Die nennen das Schrei“. Gesammelte Gedichte herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz, Suhrkamp Verlag, 2013
Liebe Frau Martina Hanf –
ich fühle mich, obwohl ich kaum (1x) mit Thomas Brasch zusammenkam, doch in der guten Pflicht, ein paar Andeutungen zu seinen Dingen zu versuchen. Einmal: Vor den Vätern sterben die Söhne wird bleiben als eine Faust voll von Steinchen und Samenkörnern in den Wind der Geschichte (oder wie man das nennt) geschmissen, schütteres Kornfeld, zum Lesen. Dann Der schöne 27. September: eins der ruhigsten und zartesten Gedichte überhaupt. Und dann die liebevolle Evozierung des Th. Br. in jüngstem Buch von Barbara Honigmann. Und als ich vor ∽ 1 Jahr in Berlin war, zeigte mir Claus Peymann mindestens 4, 5 x das Fenster beim Berliner Ensemble, hinter dem Brasch gelebt hat und gestorben sei.
Und so grüßt Sie Peter Handke
Peter Handke, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004
THOMAS BRASCH
Wer frißt wogegen wen
Wen beißt wer aus Spaß
Was treibt wen zu was
Wem ist dies gleich das
Was will dunkel von hell
Was liebt züchtig an grell
Wer steht hinterm wieso
Wieso wird was nicht froh
Wann ist böse gut
Wie wird Liebe Wut
Wer steht hinterm Wem
Wem den Hals umdrehn
Schreibt was treibt
Treibt was bleibt
Welche Richtung
Nimmt die Dichtung
Peter Wawerzinek
In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.
Christoph Rüter: Brasch – Das Wünschen und das Fürchten
Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.
Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
„Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.
Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.
Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will
Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders
Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch
Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015
Annett Gröschner liest Thomas Brasch zu dessen 70. Geburtstag am 19. Februar 2015 in der Rumbalotte Continua.
Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020
Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020
Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021
Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021
Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021
Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021
Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021
Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021
Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).
Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.
Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.
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