DER GLÜCKLICHSTE BIN ICH ALLER DIEBE
aus einer Weltenkammer voll Haß und Wut
hab ich mir gestohlen die Liebe
und zeige lachend mein Diebesgut
So mach es, Annette, mein Liebes, gut.
Martina Hanf & Kristin Schulz lesen Thomas Brasch zu dessen 70sten Geburtstag am 19. Februar 2015 in der Rumbalotte Continua.
Nachbemerkung. Editorische Notizen
Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht, von Ballade und Stückcollage zum Lied und Fototext – die vorgelegte Ausgabe zeichnet ein umfassendes Bild des reichen lyrischen Werkes von Thomas Brasch. Sie enthält erstmals sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte in chronologischer Reihe aus mehr als vierzig Jahren, darunter Raritäten wie das Poesiealbum 89, Braschs einzige DDR-Publikation von Gedichten, oder den vergriffenen Band Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, neben den verstreut veröffentlichten und für diesen Band zusammengetragenen Gedichten. Zahlreiche unbekannte wie bekannte Texte aus dem Nachlaß ergänzen und vervollständigen das Bild des Lyrikers Brasch. Kommentare – mit Nachweisen zur Textgenese, Angaben zu Namen von Personen, Widmungen und biographischen Details sowie Erläuterungen zu Zitaten und Selbstaussagen – bieten umfangreiche Zusatzinformationen zu jedem Gedicht. So vermittelt der Band ein detailliertes Bild der spezifischen Arbeitsweise des Autors – in Bezug auf die Prozesse der Entstehung der Texte bis hin zu ihrer zeitlich proportionalen Verteilung. Selbst wenn die genaue Datierung der Texte nicht immer zweifelsfrei festgestellt werden konnte, ergaben die Recherchen, vor allem die Sichtung der literarischen, brieflichen und dokumentarischen Materialien im Nachlaß, der sich im Archiv der Akademie der Künste befindet, ausreichend gesicherte Hinweise, die Rückschlüsse auf die zeitliche Zuordnung erlauben. Wo eine genaue Datierung nicht möglich war, erfolgte die zeitliche Zuordnung aufgrund des verwendeten Papiers, der Schreibmaschine bzw. signifikanter Änderungen oder inhaltlicher und stilistischer Merkmale. In Zweifelsfällen werden die jeweiligen editorischen Entscheidungen resp. Fassungsvarianten im Anmerkungsapparat dargestellt.
Die Abfolge des Bandes ergibt sich aus der chronologischen Reihe der vier zu Lebzeiten Braschs veröffentlichten Einzelbände von Gedichten: Poesiealbum 89 (1975), Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen (1977), Der schöne 27. September (1980) und zwei offne Fenster ODER ein liebes paar (1999). Es folgen – ebenfalls chronologisch – „Weitere Veröffentlichungen zu Lebzeiten“, in die auch die Texte aus den Bänden Rotter Und weiter (1978) und Engel aus Eisen (1981) integriert wurden. An diese schließen die Gedichte aus dem Nachlaß 1961-2001 an. Den Abschluß bilden die Anmerkungen zu den einzelnen Texten.
Zur Auswahl der Gedichte
In Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien und teils entlegenen Programmheften oder Katalogen konnten für den Zeitraum von 1968 bis 2000 insgesamt 70 publizierte Gedichte, darunter auch die Übertragungen der Texte von Adam Mickiewicz und György Dalos, ermittelt und in den Band aufgenommen werden; Anspruch auf absolute Vollständigkeit kann jedoch nicht erhoben werden.
Gedichte oder Lieder aus Stücken und Übersetzungen wurden ebenfalls gesichtet, hingegen in dieser Edition nicht berücksichtigt, da dort entweder die gebundene Rede stück- bzw. vorlagenbedingt ist oder die Lieder bzw. Gedichte innerhalb der Stücke eine dramaturgische Funktion erfüllen und also nicht von ihrem Kontext gelöst werden können. Für die im Nachlaß überlieferten Tagebücher und Briefe bzw. Briefentwürfe, die gleichermaßen durchgesehen wurden, gilt dieses Kriterium der Kontextbezogenheit ebenfalls. Aufgenommen wurden ausschließlich jene (Widmungs-)Gedichte, die von Brasch aus dem Fließtext hervorgehoben bzw. die eingelegt oder eingeklebt worden waren.
WIE ES UNS GEFÄLLT aber WIE GEFÄLLT ES UNS oder VIELLEICHT…, ein Zyklus von Texten für ein Kartenspiel – zu Lebzeiten Braschs nur in dem Programmheft zur Erstaufführung seiner Übersetzung von William Shakespeares Wie es euch gefällt (1993) abgedruckt –, wurde in die Edition aufgenommen, da Brasch diesen Zyklus auch in den letzten von ihm geplanten Gedichtband beim Suhrkamp Verlag (vgl. Briefwechsel Brasch/Suhrkamp Verlag, 7.5.2001, TBA 1159) integrieren wollte.
In formaler Hinsicht bildet der Band Kargo ebenfalls einen Sonderfall. Hier sind, neben Fotos und Dokumenten, alle literarischen Gattungen vertreten, mitunter sogar vermischt, so daß eine strenge Abgrenzung der Textgattungen voneinander problematisch erscheint. Kargo als Band ist eine Gesamtkomposition mit einer vorgegebenen Dramaturgie, der eine auszugsweise Veröffentlichung nicht gerecht werden würde, daher erfolgt ein vollständiger Abdruck.
Ähnliches gilt für den Band Rotter Und weiter. Da hier jedoch die Einteilung „Ein Tagebuch, Ein Stück, Eine Aufführung“ den stark theaterorientierten Band dokumentarisch gliedert und unterteilt, wurden in diesem Fall die Gedichte, die nur im Tagebuchteil vorkommen, herausgelöst und in der vorliegenden Ausgabe veröffentlicht, da einerseits der Band an sich bereits Montagecharakter besitzt und andererseits auch Brasch selbst die spätere Wiederverwendung einzelner Gedichte vornahm. Dennoch ist auch bei Rotter die Gesamtkomposition nur der Originalveröffentlichung abzulesen.
Den umfangreichsten Teil der vorgelegten Edition bilden die Gedichte aus dem Nachlaß im Thomas-Brasch-Archiv. Der Band enthält in diesem Teil zum einen Texte, die postum bereits herausgegeben worden sind (z.B. Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. Hg. von Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz, 2002; Thomas Brasch: Was ich mir wünsche. Hg. von Thomas Wild, 2007). Zum anderen werden hier Texte erstmals publiziert. Für die Aufnahme in den Band kamen nur Gedichte in Frage, die als gültige Fassung des Textes gelesen werden können. Bei verschiedenen Versionen eines Gedichtes folgt der Druck der überlieferten Fassung letzter Hand (die handschriftlichen Korrekturen wurden dabei berücksichtigt), dennoch birgt die Bestimmung Unsicherheiten. Diese sind gegebenenfalls in den Anmerkungen nachzulesen.
Im Nachlaß sind neben den vereinzelt abgelegten Gedichten bzw. Gedichtentwürfen (auf mehr als 1000 Blatt) auch einige, ursprünglich wohl zur Veröffentlichung vorgesehene Sammlungen überliefert. Die früheste Zusammenstellung lyrischer Texte mit dem Titel Erinnerung an morgen aus dem Jahr 1966 findet sich in einem von Hand gebundenen Manuskriptbändchen unter Signatur TBA 828. Es enthält vierzig Miniaturen, Gedichte und Lieder, von denen die meisten zu Lebzeiten jedoch unveröffentlicht blieben. Drei der Gedichte aus dem Band unterzog der Autor in späteren Jahren mehrmaliger Bearbeitung, bevor er sie in den 1980er Jahren zur Publikation freigab, andere hingegen stellte er in unverändert früher Version für den Abdruck in Roland Berbigs Buch Der Lyrikclub Pankow. Literarische Zirkel in der DDR zur Verfügung. Darüber hinaus existiert im Nachlaß beispielsweise eine titellose, unvollständige Sammlung unter der Signatur TBA 833, die als Vorstufe zum Schönen 27. September gelten kann, da sich ihre Entstehung auf den Zeitraum nach dem Landwechsel 1977 und vor 1979 einengen läßt. Das Manuskript umfaßt ausschließlich Gedichte aus den Jahren 1967 bis 1976, von denen sich einige nach strenger letztmaliger Überarbeitung im Schönen 27. September wiederfinden; zudem weist es Spuren von der Hand Elisabeth Borchers’, Braschs Lektorin im Suhrkamp Verlag, auf. Außerdem gibt es aus dem letzten Lebensjahrzehnt Braschs zwei Sammlungen unter den Signaturen TBA 830 und 1590 – beide dokumentieren Publikationsprojekte, die nicht realisiert wurden. Das Manuskript TBA 830 versammelt sowohl publizierte als auch unbekannte Gedichte sowie Prosa- und Theatertexte (vgl. dazu den Brief vom 11.2.1993 von Rainer Weiss, Braschs späteren Lektor bei Suhrkamp, an Brasch, TBA 1158). Weder die Paginierung noch alle Anmerkungen stammen in diesem Fall von Autorenhand. Auf die zweite Sammlung (Signatur TBA 1590) wird im nachfolgenden Text ausführlich eingegangen.
Editorische Prinzipien
Gedichte, die Brasch zu Lebzeiten in seinen Lyrik- und Sammelbänden veröffentlich hat, erscheinen in der Druckfassung. Unterschiedliche Varianten in verschiedenen Publikationen bzw. Überarbeitungen nach der Publikation werden in den Anmerkungen zitiert oder erwähnt. Bei verschiedenen Fassungen der verstreut veröffentlichten Gedichte wird die autorisierte Druckfassung bzw. die Fassung letzter Hand abgedruckt, Varianten bzw. Abweichungen werden ebenfalls in den Anmerkungen ergänzt. Wenn keine Vorlagen bzw. Varianten zu den zu Braschs Lebzeiten publizierten Gedichten im Archiv existieren, wurde dies nicht extra vermerkt.
Im Nachlaßteil wird, egal ob postum bereits publiziert oder noch unveröffentlicht, in allen Fällen getreu der Archivvorlage gedruckt, Abweichungen von der Druckfassung werden in den Anmerkungen vermerkt. Wenn in den Anmerkungen von durchnumerierten Fassungen bzw. frühester Fassung die Rede ist, so bezieht sich das immer auf die im Archiv vorliegenden Fassungen und deren Genese. Die Existenz weiterer Fassungen bei Personen aus dem Umfeld Braschs kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.
Alle formalen, ästhetischen Vorgaben der Gedichte (wie Einrückungen, Verse bzw. Umbrüche) werden der Vorlage entsprechend übernommen, da grundsätzlich davon ausgegangen werden muß, daß Brasch diese so beabsichtigt hat. Mitunter ergeben sich jedoch spezifische Umbrüche aufgrund verschiedener Satzspiegel bei den verschiedenen Publikationen. In manchen Fällen wurden hier Manuskriptvorlagen zu Rate gezogen; falls diese keine Klärung zuließen, wurde getreu der Druckvorlage gedruckt (z.B. bei dem Listengedicht „Leute, die an einem Bau teilnehmen“).
Die exakte Übernahme entsprechend der Vorlage gilt auch für alle Eigenarten in Interpunktion, Schreibung von Orten, Eigenamen, Personennamen (beispielsweise. Jim Morisson, Klaus Kinsky) etc. sowie sprachlichen Wendungen. Dem Leser obliegt es, im Zweifelsfall zu entscheiden, ob hier bewußte Setzung bzw. Sprachspiel oder Flüchtigkeit den Fehler bzw. die Abweichung vom orthographischen bzw. grammatischen Normfall hervorrief. Auch alle Abweichungen innerhalb eines Gedichts (beispielsweise in der Namensschreibung oder Interpunktion, wie Sophie/Sofie) wurden so übernommen, da nicht zu entscheiden ist, welche Variante die richtige ist bzw. ob Brasch an einer Vereinheitlichung überhaupt lag. Gerade seine „Verwahrlosung“ im Umgang mit regelgerechten Vorgaben der Sprache bzw. Grammatik läßt sich als poetisches Programm lesen. Allerdings liegen zahlreiche Texte wie z.B. etliche Widmungsgedichte nur in einmaliger handschriftlicher Ausführung vor und spiegeln in ihrer Form die Flüchtigkeit der Anlässe und Gelegenheiten, in denen Brasch die Texte schrieb, wider. Auch hier ist die Form folgerichtig und wird so übernommen (inkl. Überschrift/Titel/Unterschrift/Datum etc.). In Bezug auf Groß- und Kleinschreibung wurde streng nach Vorlage gedruckt und nicht vereinheitlicht bzw. angeglichen (beispielsweise in den Fällen, in denen die Interpunktion nach einem Punkt üblicherweise Großschreibung verlangte, wurde diese ignoriert, wenn es die Vorlage so vorgab). Solche Fälle werden in den Anmerkungen nicht als möglicher Fehler ausgewiesen, auch hier muß der Leser selbst entscheiden.
Fehler wurden nur dann im Textkorpus korrigiert, wenn sie als (tastaturbedingte) Tippfehler erkennbar waren (beispielsweise Verdrehungen wie bei „Geschcihte“ oder falscher Buchstabe wie „und/ind“), diese werden jedoch in den Anmerkungen ausgewiesen. Kommata, die Brasch mitunter vor der Abführung setzte, wurden korrigiert und nach der Abführung gesetzt. Fehlende bzw. falsche Leerzeichen bei Binde- bzw. Gedankenstrichen wurden ebenfalls korrigiert.
Die handschriftlichen und maschinenschriftlichen Fassungen der Gedichte im Nachlaß weisen oftmals Bearbeitungsspuren, Notizen oder Erläuterungen von Brasch, aber auch von fremder Hand auf. (Streng genommen existieren so zwei oder mehrere Fassungen auf einem Blatt, diese wurden für die Zählung jedoch nicht berücksichtigt, da die saubere Trennung der verschiedenen einzelnen Bearbeitungsstufen nicht immer möglich ist.) Überdies gibt es (mitunter stark fehlerhafte) Abschriften von dritten, deren Verfasser nur im Ausnahmefall ermittelt werden konnten, zudem unzählige Kopien aller genannten Varianten, von denen einige wiederum neue Bearbeitungsspuren, teils von Brasch, teils anderer Provenienz aufweisen. Mitunter wurde daher auf die handschriftliche Fassung zurückgegriffen und in den Anmerkungen darauf hingewiesen. Einen solchen Fall bildet die Manuskriptsammlung Sprechsaal (TBA 1590). Die Entstehung des Konvolutes läßt sich nach Gesprächen mit den Beteiligten wie folgt rekonstruieren: Thomas Brasch plante nach der Veröffentlichung des schmalen Mädchenmörder Brunke-Bändchens 1999 bei Suhrkamp eine möglichst vollständige Edition sämtlicher Brunke-Konvolute, die bei Hartmut Fischer (Juliettes Literatursalon, Berlin) erscheinen sollten. Thomas Wild begann im Dezember 2000 mit der Sichtung eines umfangreichen Konvolutes an Gedichten, die ihm in Form von Kopien aus dem Archiv der Akademie der Künste vorlagen, da Brasch bereits 1998 sämtliche Werkvorlagen an das Archiv übergeben hatte. Wild sortierte in Absprache mit Brasch aus, was nicht publiziert werden sollte, und die übrigbleibenden ca. 120 Gedichte tippte eine Sekretärin im Berliner Ensemble ab, wobei nicht in allen Fällen die Handschrift Braschs von ihr fehlerfrei transkribiert werden konnte. Nach dem 15.1.2001 wurde ausschließlich mit diesen mitunter fehlerhaften Dateien bzw. Ausdrucken weitergearbeitet. Die Brunke-Gedichte dienten dabei als Scharniere zwischen den einzelnen Teilen, wobei im Laufe der Arbeit aus „Brunke“ „B.“ wird. Die Änderungen an der Datei (insgesamt existieren vier Versionen: vom 23.4., vom 3.5., vom 8.5. und vom 10.5.2001) ergaben sich in Gesprächen. Wild arbeitete diese in die Datei ein, jedoch ist nicht mehr rekonstruierbar, auf wessen Vorschlag die Änderungen im einzelnen zurückgehen. Anfang Mai lag ein Konvolut vor, das Wild auf Veranlassung Braschs an den Suhrkamp Verlag schickte (8.5.2001), denn auch dort plante man einen Lyrikband. Damit wurde das Erscheinen der Brunke-Edition bei Hartmut Fischer in Frage gestellt und die Arbeit daran endgültig beendet. Dem Suhrkamp Verlag waren bereits im Jahr zuvor im Auftrag von Thomas Brasch Kopien aus dem Archiv übermittelt worden (vgl. Brief von Rainer Weiss, 2.3.2000, TBA 1774). Nach Sichtung der Kopien sah Siegfried Unseld die Veröffentlichung für 2001 (vgl. Brief vom 29.3.2000, TBA 1774) vor. Im März 2001 fragt der zuständige Lektor Rainer Weiss bei Brasch an, ob „ein Manuskript fertig [sei], bzw. [er sich] für eine Zusammenstellung entschieden“ habe (vgl. Brief vom 6.3.2001, TBA 1775). Am 7.5. (vgl. Brief in TBA 1775), also einen Tag vor der Sendung des Sprechsaal-Konvolutes aus Berlin nach Frankfurt am Main, schickt Weiss seine Gedicht-Auswahl an Brasch (die weder im Suhrkamp– noch im Thomas-Brasch-Archiv überliefert ist), er bezeichnet diese jedoch als „keineswegs bindend“. Im Brasch-Archiv liegt eine Fassung des Sprechsaal-Konvolutes, das weitestgehend mit der Fassung übereinstimmt, die Thomas Wild am 8.5.2001 dem Verlag ankündigt hatte. In dem Archiv-Ausdruck nahm Brasch jedoch handschriftlich noch einige Änderungen vor (im wesentlichen radikale Streichungen ganzer Gedichte). Dennoch ist auch hier kein systematisches Durcharbeiten von Seiten Braschs mehr erkennbar, so daß auch dieses Konvolut mit den Korrekturen nicht als Fassung letzter Hand gelten kann. Im Juni 2001 fragt der Verlag erneut nach dem Stand der Arbeit an den Gedichten (vgl. Brief vom 8.6.2001 in TBA 1775), doch ist brieflich keine Reaktion darauf überliefert. Danach gibt es innerhalb der Korrespondenz keine weiteren Erwähnungen des Lyrik-Bandes. Da die Abschrift der Gedichte für Sprechsaal nicht von Thomas Brasch stammt und somit die Autorschaft nicht eindeutig geklärt werden kann, wird zwar das Konvolut für die Anmerkungen berücksichtigt, aber es dient nur in begründeten Ausnahmefällen als Vorlage für den hiesigen Abdruck.
Martina Hanf und Kristin Schulz, Anhang
das dem Wünschen ebenso unbedingt die Treue hält wie der Wirklichkeit.“ (Thomas Wild)
Thomas Brasch, Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, ist eine der markantesten Figuren der jüngeren deutschen Literatur. Neue deutsche Dichtung, die von Goethe, Heine, Brecht, von Spruch und Lied herkommt, hat in ihm ihren Meister gefunden – und viel zu früh verloren. Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht über Ballade und Lied bis hin zu Stückcollage und Fototext – die „Gesammelten Gedichte“ ermöglichen es zum ersten Mal, sich ein umfassendes Bild des im Verlauf von 40 Jahren entstandenen lyrischen Werks zu machen. In zeitlicher Folge enthält die Ausgabe sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte – darunter Raritäten wie die in der Reihe Poesiealbum veröffentlichte Sammlung von 1975, Braschs einzige DDR-Publikation von Gedichten, oder, seit Jahren vergriffen, Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen aus dem Jahr 1977. Hinzu kommen die verstreut veröffentlichten Gedichte, die für diesen Band zusammengetragen wurden. Ferner zahlreiche Texte aus dem Nachlaß, unbekannte und bereits veröffentlichte. Unter Verwendung von Selbstaussagen bietet der Kommentar – mit Nachweisen zur Textgenese, Erläuterungen zu Namen, Widmungen, biographischen Details und Zitaten – umfangreiche Zusatzinformationen zu jedem Gedicht.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2013
− Eine Wucht von Buch, hart am ost-westdeutschen Riss: Erstmals sind die Gesammelten Gedichte von Thomas Brasch zu lesen. −
Er war ein Ereignis, von Beginn an. Als der 31-jährige Thomas Brasch zur Jahreswende 1976/77 mit seiner 22-jährigen Freundin Katharina Thalbach von Ost- nach West-Berlin soeben umgesiedelt war, gab’s im Spiegel Anfang Januar 1977 schon ein großes Brasch-Gespräch. Mit der Überschrift: „Ich stehe für niemand anders als für mich.“ Ein paar Tage später kam im West-Berliner Rotbuch Verlag Braschs Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne heraus. Der Titel ist, wie sonst zu jener Zeit nur Handke-Titel, schnell zum Sprichwort geworden und das Buch, das in der DDR nicht erscheinen durfte, ein Bestseller.
Mit nur 56 Jahren, noch jünger als einst Bert Brecht, ist 2001 der Poet, Dramatiker, Übersetzer, Geschichtenerzähler und Filmemacher Thomas Brasch dann gestorben, am Schiffbauerdamm, nebenan von Brechts (und inzwischen Claus Peymanns) Berliner Ensemble. Verglüht, von zuviel Koks, Alkohol, Krebs und Herzleiden gezeichnet, nannte er den BE-Intendanten, der Braschs schöne Shakespeare- und Tschechow-Übersetzungen bis heute spielt, seinen „Pay-man“. Der eigene letzte Prosaband war 1999 der Mädchenmörder Brunke, ein schmales Fragment von 97 Seiten – Destillat aus zehntausend Blättern und einem jedes Hirn und alle Buchdeckel sprengenden Projekt. Braschs „Brunke“ bleibt wohl ein Lebens- und Mord(s)roman allein für Liebhaber und Leser des digitalen 21. Jahrhunderts.
Und jetzt, endlich: „Die nennen das Schrei“, Thomas Braschs Gesammelte Gedichte im Suhrkamp Verlag. 1030 Seiten, eine Wucht von Buch. Ein Ereignis auch das. 1030 Seiten Gedichte und historisch-kritische Kommentare, ein Lyrikband, der 49,95 Euro kostet und sie wert ist – es gibt kaum einen ähnlichen Beweis in diesen Tagen für das, was man so unverwechselbar ein Stück „Suhrkamp-Kultur“ nennen kann.
Thomas Brasch wurde kurz vor Kriegsende als Kind einer Berliner jüdisch-kommunistischen Emigrantenfamilie im britischen Yorkshire geboren. Und darum heißt es gleich im ersten Poem zum „Vorspiel“:
Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
Er sei der „Sterbewitz“ und „Mordversuch“, was nach der deutschen Wende mit dem Schlussreim endet:
„Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.“
Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.
Schon in dieser Œuvertüre steckt der ganze (zerrissene) Brasch. Der selbstbewusst selbstironische Ton. Der Poet, der sein erbliches, sterbliches Subjekt voll romantischem Trotz mit nichts und niemandem vergesellschaften will.
Thomas Brasch stand für sich allein – und war doch ein Sehnsüchtiger
Thomas Brasch stand für sich allein und war doch ein Sehnsüchtiger, ein vom Tagtraum bis zum Nachtrausch Liebe suchender, sinnlicher Intellektueller. Kohlschwarze Augen, eine sonore Stimme, ganz cool. Ganz heiß. Den sarkastischen Witz aus Berlin und Britannien, die Melancholie, die Faszination für Tod und Gewalt aus teutonischen, kleistpreußischen Tiefen. Und ein Dialektiker, aber anarchischer als Brecht oder auch Heiner Müller, weil von keiner Macht, nicht einmal jener der Utopie, verführbar. Nur die deutsche Sprache kenne zudem „die Verschmelzung / der schlimmsten Gegensätze…: Staat und Bürger.“ Er hauste im Dazwischen, im existentiellen Niemandsland, und er schreibt als ost-westdeutscher Exilant auch über die eigene Geschichte, wenn in seinem starken, szenischen Prosa-Lyrik-Buch Kargo (von 1977) in Anspielung auf Georg Büchner der Name „Danton“ über diesen Zeilen steht: „Der Held auf der Bettkante. Was / er seinen Feinden entriß, haben seine Freunde / schon unterm Nagel: ihn.“
Die Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz haben nun aus den teils verstreuten, weil außer in Büchern und Zeitschriften auch in Theaterprogrammen und Sonderdrucken veröffentlichten Publikationen zu Lebzeiten sowie aus dem immensen Brasch-Nachlass (in der Berliner Akademie der Künste: 12 laufende Meter für 125 Archivbände) knapp 500 Texte vereint. Schon in seinem frühen Spiegel-Interview hatte Brasch von zweihundert Gedichten gesprochen, die er in der DDR geschrieben habe. Jetzt stammen im Tausendseitenband „Die nennen das Schrei“, wenn ich richtig gezählt habe, sogar 311 Texte aus dem Nachlass und sind hier überwiegend zum ersten Mal zu lesen.
In der DDR war im Februar 1975 einzig ein dünnes Heft mit Gedichten von Brasch veröffentlicht worden, in der Lyrikreihe Poesiealbum. Auflage 9000 Exemplare, sogleich vergriffen, der Autor ein offener Geheimtip, die Herausgeber der Zeitschrift von Entlassung bedroht, die offizielle Kritik vernichtend.
Brasch, das war der junge Kerl, dessen Vater Horst zwar stellvertretender DDR-Kulturminister war, der aber 1968 schon Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer Truppen in Prag verteilt hatte (unter anderem zusammen mit Florian Havemann) und der deswegen zu 27 Monaten Haft verurteilt wurde. Davor hatte man den Studenten T. B. bereits wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten“ exmatrikuliert, er wurde „in die Produktion“ geschickt, bis ihm Brechts Witwe Helene Weigel als Chefin des BE einen Job im Archiv des Theaters verschaffte. Bis er in den Westen ausreiste. Bis er dort reüssierte, auch als Filmregisseur. Sein Debüt Engel aus Eisen (mit Katharina Thalbach, Karin Baal) ist 1981 der deutsche Beitrag beim Festival in Cannes, in seinem letzten Film Der Passagier – Welcome to Germany spielen 1988 neben der Thalbach unter anderen Hollywoodstar Tony Curtis und der Theatermacher George Tabori.
In dem Band findet sich manche Überraschung
Nun begegnet man, das gehört zum Ereignis, erstmals auch den Anfängen. So alt wie sein Idol Arthur Rimbaud, mit 15, 16 Jahren scheint Brasch dabei in harten, nie pennälerhaft schwülstigen oder schwärmerischen Tönen schon ziemlich weit bei sich zu sein (und will doch außer sich geraten). „Nimm mich mit“ heißt gleich das erste Gedicht von 1960, gemeint ist ein namenloser Soldat, von Krieg und Frieden und den Frauen und dem Tod ist die Rede. Von Braschs ersten und letzten Dingen. Da spürt man auch, was es bedeutet haben mag, dass dieser Junge von seinen Nomenklatura-Eltern mit elf (!) Jahren bereits in die „Kadettenschule der Nationalen Volksarmee“ gezwungen worden war. Ein Schicksal wie früher beim preußischen Knaben Kleist.
Und jetzt im Buch manche Überraschung. Eine frühe Hymne an die spanische Torwartlegende Enrico Zamorra „Der Mann, / an dem der Ball nicht vorbei kam“. Übersetzungen von Poemen aus dem Polnischen (Adam Mickiewicz) und Ungarischen (György Dalos). Widmungen an die Thalbach oder überraschenderweise an Jutta Lampe. Und Kritisches über Heiner Müller, der keinem rät, der vielleicht verrät, eine deutsche Sphinx. Daneben immer mal wieder der Post- oder Neoromantiker mit seiner machohaft kitschnahen Verehrung für Gangstertypen und tragisch behauchte Frauenmörder. Anyhow.
Wichtiger: Viel Tolles. Abgründiges. Auch Gewitztes. Am schönsten aber sind die Liebesgedichte, manchmal liedhaft, balladesk, „gemischt in Dur und Moll“. Und einmal, beim Jugend-Poem „Anna, du“ von 1967, ist die im Anhang mitgelieferte Variante sogar besser als die verknappte Fassung im Hauptteil: „Anna komm, mein warmer Stein / leg dich in mein Kissen / trink von mir und meinem Wein / morgen werd ich nicht mehr sein.“
Herzstein und Steinherz wollte er halten und brechen, nicht erweichen.
− Die Gedichte von Thomas Brasch. −
Dieses Buch erschlägt. Und immer trifft es einen Richtigen. Mit seiner Kraft schlägt es zu, schlägt die Lauen in die Flucht, schlägt die Trunkenen in Bann. Schlägt Hände aus oder schlägt ein, wo eine unstillbare Sehnsucht ihre Flügel herreicht. Es schlägt nichts vor, dieses tausendseitige Buch, es schlägt zurück, aber aus keinem Vorwärts, es schlägt sich seitwärts ins Zwielicht, es schlägt Bögen für wilde vergiftete Pfeile, es schlägt verwegenste Töne an, es schlägt wie ein Herz, es ist wie ein Zentralorgan, nur lügt es nicht, dieses Buch ist zum Sterben wahr.
Der Tod ist die Rettung der Dichter. Thomas Brasch würde sich wundern, wie hoch ins Unverzichtbare er mit der Zeit, die er nicht mehr erlebte, gepriesen wird. So ist das Leben: Irgendwann desertieren selbst Feinde auf die Seite der Bewunderer. Mit den weißen Fahnen der Verse schwenkend. Dichters Werk geht seltsame Wege, es geht den Dichter, der dran starb, nichts an. Das Werk kann tun, was es will, kann in eine Seele schneiden oder schneien, wann und wie es ihm beliebt. Mit Zartheit schneiden, sommers schneien.
Dieses Buch, herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz, erzählt den ganzen Brasch. Nicht sein Leben, sondern sein Dichten. Mehr als Leben. „Die nennen das Schrei“. Das ist der Satz des Hohns, des Eigensinns, der Abgrenzung zu denen, die den Schmerz für einen Ausdruck von Krankheit halten. Die Tinkturen und Rezepturen für Existenzaufhilfen halten. Und die womöglich jenen Dichtertyp gut finden, „der dem Schlosser die verlogene Krone / der Alltagspoesie verleiht“.
Der hier ist so nicht. Ein Radikalist des Empfindens. Das Programm, das dieses Buch erzählt, steht auf Verschleiß. Des Dichters Geschichte ist leidenschaftlich offenen Verquickung von Erdentritt und Höhenflug. Polarität, die er im Vers an Claus Peymann so benennt:
Die Krone und der Eimer
das Gold und das Wasser
der Morast und die Moral
…
das Spiel und das Gesetz.
Von allem alles, und jedes Extrem gleichzeitig und genießerisch. Die Gedichte sind somit Roman eines Daseins, nicht festzuhalten mit Reisepässen, nicht einklemmbar in Ordnungen, in eine Wohnung, in ein Bett, zwischen die Schenkel einer Frau.
ICH LIEBE DICH kann man
auf dreierlei Weise betonen.
Wie spricht man den Satz ohne Betonung?
Ideologie, hat Heiner Müller geschrieben, sei der Ersatz für Wirbelsäule. Brasch hatte Wirbelsäule. Müller hat den Satz 1977 in einem Text über Braschs Buch Kargo notiert, das im Untertitel heißt: „32. Versuch, auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen“. In Müllers damaligem Porträt steht auch die Definition für Begabung, und Müller hat diese Definition von Johannes R. Becher geliehen: Begabung sei die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlussreiche Situationen zu geraten.
Ich bin nicht wahnsinnig geworden. Ich habe mich nicht umgebracht. Das ist mein Bier. Drehen Sie sich um, wenn die Wut meine edlen Züge verzerrt.
Was heißt hier: Wut. Unter dem Pflaster schlägt das Blut der Widerstandskämpfer. Über dem Stadion der Weltjugend weht die Fahne des russischen Bären, der geschluckt hat die deutsche Ratte. Ruhe sanft.
Halleluja, der Aufstand fault zwischen meinen gelockerten Zähnen. Halleluja der Wind. Er fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.
In allen Gedichten des Bandes (der aus Zeitungen, Programmheften, Stücken, dem Akademiefundus, aller in Büchern gesammelten Lyrik schöpft und historisch-kritische Kommentare beigibt), spricht ein Mensch des gierigen Einverständnisses mit Chaos und Zwischen-Räumen. Was denn anderes blieb ihm? Er musste mählich, aber unausweichlich mit dem unsicheren Kredit des Wechsels einverstanden werden: geboren 1945 im britischen Exil der jüdischen Eltern; später dann die DDR, wo er als Kind mehrfach die Klasse wechselte. Immer der Fremde; die Biografie wühlt sich in den Widerspruch. Journalistikstudium und Exmatrikulation wegen „existentialistischer Anschauungen“. Kellner, Straßenbau, Filmhochschule Babelsberg – dann Gefängnis wegen „staatsfeindlicher Hetze“, Bewährung in der Produktion, Schlosser, Fräser. Ein Eisenfresser bleibt er auch als Dichter.
Der eigene Vater hatte den Sohn 1968 nach dessen Protest gegen Moskaus Panzer in Prag (deren malmende Ketten auch innigem SED-Wunsch entsprachen!) an die Polizei verpfiffen. Den Sohn, der als Kind in die Kadettenschule der NVA gesteckt worden war. Schriftsteller Christoph Hein, der langjährige Freund, schrieb:
Thomas Brasch hat sich gegen den Kadetten Brasch gewehrt. Dieser Versuch einer Disziplinierung, unverständlich in meiner Zeit, vollkommen unsinnig bei einem Menschen wie Brasch, zerbrach ihn nicht, zerstörte aber die Verbindung zum Vater.
Die höhere politische Weihe des Elternhauses als Ausbildungsplatz für ein erstarktes Denken der Treulosigkeit und für freiwillige Ächtung des ererbten Schutzraums. „In der Quelle sieh den Fluß / der dir die Lunge sprengt“.
Die wechselnden Betten im Westen: eine Notliege; die Feier der Freiheit: eine Notlüge.
Wo ich wohne ist meine Verkleidung.
So einer, alles Letzte wissend und in seinem Werk gern einen fairen Anteil an aller blutigen Lächerlichkeit der geschichtlichen Hysterien übernehmend, so einer wird sich nicht aufspulen an einem aufgeregt vereinten Deutschland:
Wer hat das Volk gemalt auf die zerfallnen Mauern
daß die Gesichter wurden zu Gespenstern.
Wie heißen diese Zeiten und wie lange solln sie dauern
die Stimmen abgegeben kauern wir jetzt in den Fenstern.
Er träumte vom Verrat, bevor er überhaupt glaubte, und er konnte an keine Utopie glauben, die, vom Ziel berauscht, eine geschichtlich elendige Schuld in Kauf nimmt. Verse berichten davon – ein sinnliches Dröhnen aus der kalten Schmiede der Erkenntnis. Aber da ist immer wieder auch ein tiefes, stilles Verwundern darüber, dass sich Erleben und Leere für einen Dichtungs-Augenblick ausgleichen können. Also: romantischste Liebe, jungenhafter Witz, gelöste Stimmungen. Vitalität und Bildmagie, als grüße, von ganz nah, Arthur Rimbaud. Herrliche Freude daran, sich nicht fortwährend zu ernüchtern (Man wird, lesend, süchtig nach Ansteckungsgefahr.) Und diese Lust an deutscher Sprache! – der Brasch auch Talent zum teuflischen Spiel bescheinigt, denn nur das Deutsche kennt „die Verschmelzung / der schlimmsten Gegensätze… Staat und Bürger.“
Das Buch enthält auch des Dichters einzige Lyrik-Veröffentlichung in der DDR: Poesiealbum 89, Verlag Neues Leben, 1975. Die beigefügte biografische Notiz: unverfrorene Radierung. Als sei es das System-Normalste, ein Jahr zu studieren und dann: „Arbeit in mehreren Berufen“. Das Heft endet mit den Zeilen:
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen.
Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
Bald darauf wird Brasch das „Loch“ zu verlassen suchen. Wir meldeten damals, aus den Schützen-Löchern von Macht und Gewohnheit, keinen Verlust.
Brasch war im grauen Halbdeutschland nicht zu zwingen, heimelig zu werden, im grellen Halbdeutschland wird er nicht heimisch.
Wo ich lebe, da will ich nicht sterben,
aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
– Berliner Ensemble: Katharina Thalbach und Martin Wuttke lesen Gedichte von Thomas Brasch. –
Katharina Thalbach. In Ihrem Spiel trifft die Gelsomina des Clowns Fellini auf die Achse Besson-Brecht, Lust trifft auf List, Leidfähigkeit auf Lachnerv. Weibs-Pumuckl, der bei Shakespeare Puck heißt. Schon das junge zarte schöne Grinsen hatte bei der Thalbach was vom Fach der Ko(s)mischen Alten. Kosmisch ist, wenn man am Erdenleben frech die Finsternisse liebt – wie sie dauerhaft Lichtmasken wechseln.
Martin Wuttke. Der barfuß zur Schule ging. Dresen, Schleef, Müller. Er bekam diese Namen nicht in die Haut gebrannt, aber sie stehen für das, was ihm spielerisch unter die Haut geht: das Raue, das Obsessive, das heiß Verachtete, das kalt Geliebte. Wuttke, einer der körperlichsten, verausgabensgeilsten deutschen Schauspieler: Geh hin und sieh und hör – und lab dich an der Selbsterkenntnis, dass mittlere Gemütstemperaturen lästig und langweilig sind. Nur im Kunsterlebnis ist solche Selbsterkenntnis – Genuss.
Womit nun endlich dieser Name fällig ist: Thomas Brasch. „Das wilde Tier“, wie die Thalbach sagt, die dreiunddreißig Jahre mit dem Dichter lebte. Die sagte, alle Braschs wären am Faschismus gestorben: Juden, vertrieben, Einsamkeit und Entwürdigung – dies wurde dann umgeleitet in „Kamfpgeist für den neuen Staat“ im Osten Deutschlands. Sie hat Thomas Brasch nie helfen können. Denn: Sie hat ihn geliebt. Das ist ein Unterschied – unbekannt bei den Biederleuten. Brasch: über Brecht reden, klug wie keiner – und auf Weiberknie schauen, spitz wie keiner. Leidend am Leben, mit brennendem Sprachgefühl für eine Dichtung gegen jegliche Macht. Er hatte Fieber, wo die SED ihre Zäpfchen der Benebelung in die Hirne schob; es war für’n Arsch.
Nun sind Braschs Gedichte erschienen, eine wuchtige Vollständigkeit (herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz); Thalbach und Wuttke lesen am Sonntag im BE. Dort, wo der Dichter, bei Peymann, seine letzte künstlerische Heimat hatte. Letzte Gunst, letzte Konflikte, viel Verständnis, viel Krieg – wenn Peymanns Werk zur Bilanz steht, wird diese Treue zu Brasch, von Bochum bis Berlin, ein großer Wert sein. Der Riecher für Räudige.
Thomas Brasch – so Fritz J. Raddatz am Grab des 2001 Gestorbenen – litt daran, „dass wir die Arme nicht mehr hochbekommen, um das Nötigste zu tun: jede staatliche Ordnung mit ihren Wurzeln aus unserem Leben und unseren Herzen zu reißen“. Jede staatliche Ordnung. Ein Aufruhr zur Einsamkeit. „Am schlimmsten sind jene, die nicht auffallen, die sich auf ein Ideal berufen, die auf Zukunft hoffen, die irgendwann noch immer nicht auffallen und die das als listigen Sieg ihres Charakters feiern.“ Brasch. Gilt heute, wie es immer galt. Aber es ist schon den Hinweis wert: ein Satz aus DDR-Zeiten.
Es gibt die Unerbittlichkeit. Brasch war ein erbittlicher Dichter. Verführbar, erweckbar, errreichbar, wo die Glashäuser der bürgerlichen Ordnung nach dem ersten Stein flehten. Brasch warf sich selber. Stürzte nieder. Viele stürzten nieder. Von ihm aber wird weiter gesagt werden, noch wo Aufprall geschah: Flug!
− Er war zornig, er war zärtlich, er war Beat: Thomas Brasch war ein großer Dichter dieses Landes und seiner Leiden. Nun erscheint sein lyrisches Gesamtwerk. Eine Entdeckung. –
Und was, wenn die DDR doch das bessere Deutschland gewesen wäre und nicht dieses kalte, enge und verklemmte Land, das die Feigheit züchtete und zum Verrat erzog: Karikatur des Antifaschismus, Gefängnis der Wörter, Friedhof der Utopien?
Was hätte das für die BRD bedeutet? Und was für das neue Deutschland?
Aber aus. Vorbei. Erledigt. Honecker, Biermann, Kohl und Merkel haben es geschafft: Da liegt die DDR, unter dem Betondeckel der öffentlichen Meinung, und es führt kein Weg mehr zurück, so scheint es, zum Ursprung, zum Wesen, zur deutschen Tragödie, zweiter Teil.
Und dann das. Dieser Brocken. Dieses Monstrum. Dieses Leben. Thomas Brasch. „Die nennen das Schrei“. Der Meißel, um den Schädel zu knacken. Die Sprache, um die Verhältnisse zu erschüttern. Der Spaten, um das Grab zu öffnen, in dem die deutsche Schuld liegt, das deutsche Drama und auch die Familie Brasch.
Tausend Seiten gesammelte Gedichte. Tausend Seiten Liebe, Krieg und Sterben. Tausend Seiten Schmutz, Schutt und Scheitern. Tausend Seiten Alltag, Anarchie und Geschichte, diese unordentliche Affäre. Tausend Seiten Deutschland.
Eine „doppelte Hure“, so hat Brasch es in einem Gedicht einmal genannt, dieses „graue Land“, in dessen „deutsche Erde“ er hineingestampft wurde, ein „Keinland“, doch „verlassen ( will ich nicht. Es klebt / mir an meinen Schuhen und / macht mein Weggehen schwer / aber spricht aus meinem Mund / und macht meine Hände leer“.
So ist diese Lyrik, selten leicht, heiter, beiläufig, vor allem am Anfang nicht, in den siebziger Jahren, als der Frieden, der keiner war, sich wie eine Abraumhalde zwischen Ost und West auftürmte und der junge Brasch, so dachte er, die Wortbrocken ganz allein wegschaufeln musste. 1975 erschien sein erster Gedichtband, da war er noch in der DDR: „Ich suche das Feuer in deinem brennenden Haus“, schrieb er. Ein Jahr später saß Brasch im Westen, er war ausgereist, frei, verloren.
Er ahnte es wohl, diese Verdammnis der Freiheit, die ihm am Ende den Raum zum Schreiben nehmen sollte – sie stand ihm so gut wie seine Lederjacke, die er im Fernsehen trug, er zeigte sie stolz wie die Narbe auf seiner Stirn. Er wurde hofiert, er beantwortete die immergleichen Fragen, sie hielten ihn für einen jüngeren, besser aussehenden Biermann, er hatte doch die Petition gegen dessen Ausbürgerung unterschrieben. Jetzt war er hier, noch einer von diesen Dissidenten, die konnte man gut gebrauchen, die waren ein Beweis dafür, wie verkommen die DDR war und wie famos die BRD. Dabei hatte er nicht weggehen wollen, er ging einfach, weil sie sein Buch nicht druckten. Ein kulturell „besetztes Land“ nannte er dann Westdeutschland, aber das wollte niemand hören.
Und weil das Schweigen so laut ist, das diese Gedichte umgibt, weil die Zeit so brüchig ist, die aus diesen Worten spricht, weil die Konflikte so wahr und wach sind, die sein Leben und Schreiben prägten, deshalb sollte man diesen Weg mit Brasch gehen, zurück in den Berliner Osten von 1976, wo es nach Kohleheizung riecht und der Einheitskluft der jungen Pioniere im Kleiderschrank, und dann rüber nach Charlottenburg zu den Neonbabies und der kalte-Krieg-Boheme mit ihren „zerknüllten Notizblock-Herzen“.
Brasch zeigt Deutschland in seinen Versen nackt und roh und wund, er zeigt, wie groß und mächtig der Krieg in dieses Land hineinragte und in jedes einzelne Leben, ganz ohne ZDF-Mehrteiler, er zeigt, wie die Mahlsteine von Ost und West jede Individualität zerrieben, er zeigt, wie schwer es ist, sich da zu wehren, „zwischen Widerstand und Wohlstand“, schreibt er, „lebt es sich ungesund“.
Dieses Deutschland, in das er kommt, ohne zu fliehen, ist ein Land, das sich selbst nicht sehen will, wie es war, wie es ist, wie es sein könnte. „Halt’s Maul, Kassandra“, so beschrieb Brasch diese Stimmung in Kargo, seinem zweiten Band mit Lyrik, der 1977 erschien – sein Schlüssel, sein Erfolgsjahr, auch der lange schon legendäre, oft zitierte, seltener gelesene Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne erschien in diesem Jahr, und nach so einem Titel gibt es natürlich kein Zurück mehr: Das war brutaler als Vatermord. Brasch war jetzt Beat, die Wasted German Youth hatte ihren Rimbaud, wenn sie nur gewollt hätte.
Aber irgendwie, und da fing das Problem schon an, wollte sie nicht, die deutsche Jugend, die mehr an Punk und New Wave dachte. Da haut also einer Sätze raus wie: „Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus“, oder: „Gegenwart, sagte ich, wann was das“, oder: „Ich stand auf, riß zwei Seiten aus der Neuen Deutschen Literatur und wischte mir den Hintern“ – und was er dafür bekommt, ist eine Fernseheinladung zum gepflegten Wut-Talk bei Fritz J. Raddatz.
Er wollte zwar ohnehin nicht „für eine tote Generation sprechen“, das schrieb Brasch in Kargo, für Menschen, die „keinen Grund haben für Nichts“ und die „keine Überzeugung haben, die länger vorhält als zwei Minuten“. Dabei wäre er, der ewige Nein-Sager, Raucher, Anarchist, eine gute Heldenfigur gewesen für politische Dandys, verliebte Mädchen, für alle Kämpfenden auf der Suche nach der Klarheit der Welt und der Worte – wenn er nur weniger verletzlich gewesen wäre, was manche für arrogant hielten, wenn er weniger fremd geblieben wäre, was manche für unnahbar hielten, wenn er nur in ein anderes Land gekommen wäre, aber es gab ja nur das.
Und so blieb Brasch ein Täter im Affekt. Weinerlich fand er die BRD und gefühlig, eine „mittelständische Tabulosigkeit“ prägte das Land, gegen den „reinlichen Schneewitchen-Kulturbegriff“ musste einer wie er anschreiben, der im Verbrecher die Avantgarde der Antikapitalisten sah, nostalgisch und nah bei Brecht: „Ein Land ohne Geld und ohne Leistungsgedanken, ein Land, in dem man Phantasie groß werden lässt.“ Und Revolution war keine Hoffnung.
Die Wetter schlagen um:
Sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief,
ist heute zwei Tage älter.
So schrieb Brasch in seinem Gedichtband Der schöne 27. September, der so gut ist, voller Wünsche und Wüten, voller Bilder und Beobachtungen: Über den „Sänger Bob Dylan in der Deutschlandhalle“, über den „Architekten mit Haarausfall und 5000 Mark im Monat“, über die „dürren Studentinnen mit dem Elend aller Trödelmärkte“ – über Ideale eigentlich, über Feigheit und Verrat im Westen, die jeden Tag passieren und für die sich niemand interessiert, weil es ja ein freies Land ist, das bessere Deutschland.
Und das sah Brasch eben etwas anders. Sein Blick, sagte er in einem seiner Interviews, die vor ein paar Jahren unter dem Titel Ich merke mich nur im Chaos erschienen, sei davon geprägt, „daß ein Teil meiner Familie ins Gas gegangen ist und daß dieses deutsche Volk, das etwas getan hat, was es in der Tier- und Menschenwelt nicht gab, nach diesem Krieg zu Recht in eine schreckliche Situation kommt. Ich komme aus einer Familie von Kommunisten, und ich hasse diesen Haß auf die DDR, der sich hier durch alle Schichten zieht, auch bei den Linken zu finden ist. Ich habe eine Sentimentalität gegenüber der antifaschistischen Tradition, in der ich groß geworden bin“.
Das sagt er, Sohn mit Kojak-Sonnenbrille und grünem Jaguar. Seine Schwester Marion, die einzige überlebende Brasch, beschreibt ihn so in ihrem Buch Ab jetzt ist Ruhe. Zehn Jahre lang hatte der Sohn nicht mit seinem Vater geredet, dem SED-Kader und stellvertretenden Kulturminister der DDR: der Vater, der seinen Sohn mit elf in die Kadettenschule der NVA schickte. Der Vater, der sich erschießen wollte, als er bei der Partei in Ungnade gefallen war. Der Vater, der seinen Sohn zwang, sich 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu stellen, wofür der Sohn zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt wurde.
Es war die DDR der Väter, die die Söhne mordeten, eine „Kreuzung zwischen Knast und Irrenanstalt“, so hat Brasch sie in einem Gedicht genannt, ein „irrsinniges Kind der viehischen Mutter Faschismus“ – „gezeugt im Jahr 45 im blutigen Bett Europa, als auch deine Schwester gezeugt wurde“: Ein doppeltes Trauma, das, so sah es Brasch, durch die Wiedervereinigung weniger geklärt als negiert wurde. Alles verdeckt, alles verschlungen. „Ich seh, ich seh, ich seh alles“, klagt Brasch im Gedicht „Kassandra“, „was hat mich hierher verschlagen.“
Er wollte nie ein politischer Dichter sein, sagte Brasch wieder und wieder – auch weil er wusste, dass politische Dichter wie Wahlplakate sind, die mit der Zeit verwittern und irgendwann hässlich im Wind zappeln. Dabei war alles, was Brasch tat, politisch, es konnte gar nicht anders sein: geboren 1945 im englischen Exil, wohin die Eltern, jüdische Kommunisten, vor Hitler geflohen waren, gestorben 2001 am Faschismus sagt seine langjährige Liebe Katharina Thalbach. Braschs Biografie ist wie ein Beipackzettel fürs 20. Jahrhundert.
Wie stark ihn all das geprägt hat, das versuchte er in seinen Gedichten zu reflektieren, den Gedichten, die seine stete Arbeit sind, klar und persönlich, oft traurige, schmerzensreiche Alltags- und Abschiedsverse, oft aus den Wirrten seines Liebeslebens, Thalbach immer wieder, die große Schauspielerin, mit der er 1976 in den Westen ging, aber auch eine Ursula, Susanne, Heike, andere:
Die Liebe der Magdalena
ist stark und meereskalt
und wer sie nicht erwidert
der wird nicht alt.
So zerschossen und zerfressen ist die Sprache, so nah am Abgrund, an dem Thomas Brasch so viele Jahre balancierte. Die Gedichte aus dem Nachlass, von denen viele jetzt erstmals veröffentlicht werden, erzählen von den noch dunkleren Seiten dieses großen deutschen Dichters – mehr noch als Braschs Prosa, die ihm immer schwerer fiel, mehr noch als seine Theaterstücke, die immer spärlicher wurden, mehr noch als die drei Spielfilme, die Brasch im rastlosen jagen in den achtziger Jahren auch noch schuf: Für Engel aus Eisen bekam er 1981 den Bayerischen Filmpreis und wurde ausgebuht, als er der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung dankte, für Der Passagier von 1988 engagierte er Tony Curtis als Holocaust-Heimkehrer und wusste, dass er damit an ein Ende gekommen war.
Er arbeitete weiter für das Theater, für das er Tschechow und Shakespeare großartig übersetzte, er erlebte, wie ihm die Wiedervereinigung, der „flüchtige Beischlaf“, so nannte er das, gleich zwei Länder raubte und Städte, er trank, wie seine beiden Brüder, die sich zu Tode soffen, der eine war 29, der andere 45, und Thomas der Älteste, löffelte das Kokain in sich hinein. Er nannte den Tod seinen Bruder. Er ist an Deutschland gestorben. 2001. 1989. 1976. 1945.
„Das Land lieben, seine Verhältnisse hassen“, so hat Brasch in einem Gedicht das benannt, was die Voraussetzung für sein Schreiben war, und man kann sagen: Es hat ihn zerstört. Mitte der achtziger Jahre nahmen sie ihm sogar den deutschen Pass ab. Er dachte immer, er sei die Flamme und das Feuer, dabei war er nur der Docht.
Und als der jüdische Funktionärssohn merkte, dass er nicht weiter seine zornigen Arbeiter- und Außenseitergedichte schreiben konnte, verstummte er. Er hauste in seiner Wohnung direkt am Berliner Ensemble, um die Ecke von Brecht, mit Blick auf die Spree, 2700 Mark zahlte er dafür, und sein Lieblingsraum war der Lüftungsschacht, von dem aus er den Himmel sah. Er hatte Bierbänke dort stehen und Worte an die Wand gekritzelt, er war nicht verrückt, aber er war verzweifelt. Er schaute in den Spiegel, um zu sehen, ob er noch da war.
„Wenn ich da nicht selbst rauskomme“, sagte er, leider wieder ganz Sohn seines Vaters, „dann tauge ich auch nichts.“ Er sah gut aus in seinem Verfall, der Tod stand ihm, seine Schädel wurde episch, und wenn er eine Sonnenbrille trug, dann konnte man denken: Ja, genau, so muss das sein, Heiner Müllers cooler Cousin, der Seher, der Sprengmeister, Deutschlands großer Sänger.
Aber es ging eben nicht mehr. Er konnte nicht mehr und wollte nicht mehr. Er vergrub sich in seinem „Wörtergefängnis“, wie er es nannte, die Geschichte vom Mädchenmörder Brunke, die ihn sein Leben lang begleitet hatte, er wollte alles in ein Buch zwingen, das Land, das Drama, die Verletzung, die Liebe, aus den Tausenden Seiten Manuskript wurde ein dünnes Buch, das so traurig ist, weil man spürt, wie sich der Dichter immer wieder selbst in den Arm fällt, wie er sich weigert, ein letztes Mal, fast gegen seinen Willen. Er war ja nichts, ohne sein Schreiben.
Mein einziges Leben ist zwischen
2 Ländern: / das dauert so lange
leben dauern kann, / mein einziges
Leben heißt wie kann ich ändern /
diese einzige Welt, diese einzige
Stadt, diesen einzigen Mann.
Wie kann man dieses Land lieben? Wie kann einen dieses Land lieben? Wie Heinrich Heine war er da störrisch. Er wollte Deutschland zur Liebe zwingen.
Braschs Grab ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo sie liegen, die unglücklichen deutschen Dichter.
− Es gibt einen Rebellen, im Mundwinkel die Filterlose, der dichtet die deutsche Geschichte. Thomas Brasch besingt die Qualen dieses Landes. Und dabei seine eigenen. −
„Die nennen das Schrei“ heißt sein nun postum veröffentlichtes, lyrisches Gesamtwerk. Es ist ein Dichterleben in Versen und zugleich die deutsche Geschichte – von einem betrachtet, der draußen steht.
Brasch war Dramatiker und Drehbuchautor, Regisseur und Übersetzer. Viel Lyrik hat er geschrieben. 1945 wird er in England als ältester Sohn jüdischer Eltern geboren, die dort im Exil leben. Er wächst in der DDR auf. Sein Vater macht politisch Karriere und wird stellvertretender Kulturminister, die Mutter Journalistin.
Brasch ist jung, als er mit dem Schreiben beginnt: Die frühesten nachgewiesenen Verse stammen von 1953, seine erste Veröffentlichung ist zwei Jahre später die Fabel „Fuchs, Adler und Nilpferd“. Viele Gedichte – bisher weitgehend im Berliner Thomas-Brasch-Archiv verborgen – finden in „Die nennen das Schrei“ endlich ans Licht.
Auf mehr als 1000 Seiten versammelt das Buch den umfangreichen lyrischen Nachlass und die vier zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbände. Der ausführliche Kommentarteil bettet die Stücke in Braschs Œuvre, das Werk eines melancholischen Radikalen. Im Alter von 20 Jahren schreibt er:
Wir trommeln im Rhythmus des Jazz
unsre Lebensideen in die Köpfe.
Nur her unsre Nahrung,
verdaut wird nicht lange,
dann rülpsen wir euch UNSER Bild ins Gesicht.
Wir sind Missionare des Zorns.
Drei Jahre später beginnt die Stasi, ihn zu bespitzeln. Da hat er noch kaum etwas veröffentlicht und noch kein Theaterstück zur Premiere gebracht. 1968 wird er zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatte.
Im Vorwort seiner einzigen in der DDR veröffentlichten Gedichtsammlung Poesiealbum (1975) heißt es:
Hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen.
Brasch, der Dagegenschreiber. Ein Jahr später verlässt er das Land, weil sein Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne nicht erscheinen kann. Brasch will eben kein Dichter für die Schublade sein.
Die BRD bleibt ihm genauso fremd:
das land um mich
das hieß ausland und so wird es immer heißen
daß ich die gleiche sprache spreche wie dort in meinland
ändert nichts denn diese sprache klingt nur als sei sie so
und hat doch andern sinn
Christa Wolf nennt das 1987 in einer Laudatio auf Brasch den „Kampf gegen das Verschlucktwerden“.
Auch bei der Deutschen Einheit will Brasch nicht mitspielen. „Ich bin mein eigenes Volk. Ihr seid vereint / in dem Verein, der richtet und der henkt“. Er steht draußen, am Rand, so wie die meisten seiner Figuren – in seinen Dramen, Filmen und auch den Gedichten. „Ich glaube, diese Widersprüche, die (…) nivelliert wurden durch die Wiedervereinigung, das hat ihn wütend und auch traurig gemacht“, sagt Braschs Schwester Marion in einem Interview mit Radioeins.
Er sei „nicht nur dieser schwere Brocken“ gewesen, fügt sie hinzu, „laut und wütend“, sondern „auch ganz zärtlich“. Am 3. November 2001 stirbt Brasch, er wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beerdigt. 41 Jahre zuvor träumt er über eine Trauergemeinde:
daß ich aufsteh aus dem Sarg,
lache
und ein Buch vollschreibe
über diese Masken,
gute, schlechte,
und mich danach wieder lege
in den Sarg,
den schwarzen,
schönen
schlafen geh’
für immer.
Vielleicht sind seine gesammelten Gedichte genau dieses Buch.
Ein Ereignis. Zumindest für mich.
Der folgende Text wird aus Thesen bestehen, denn abschließend ist zu Brasch nichts zu sagen. Brasch selbst ist nicht abgeschlossen.
Ein Gedicht aus dem Nachlass, das eine Replik auf ein anderes seiner bekanntesten Gedichte ist:
Der schöne 27. November
Heute hat die Post das neue Telefonfreizeichen eingeführt
Statt des mir seit meiner Kindheit bekannten Tüt tüt tüt,
höre ich seit heute Nacht 24.00 Uhr einen endlosen Ton.
Wer sagt noch, hier ändere sich nichts
Das Original: „Der schöne 27. September“ begegnete mir kürzlich auf einer brasilianischen Seite im Internet:
O belo 27 de setembro
Eu não li jornal algum.
Eu não segui com os olhos mulher alguma.
Eu não abri a caixa dos correios.
Eu não desejei a qualquer um bom dia.
Eu não me olhei ao espelho.
Eu não conversei sobre os velhos tempos com ninguém,
nem sobre os novos tempos.
Eu não pensei sobre mim mesmo.
Eu não escrevi qualquer linha.
Eu não lancei os dados.
„Der schöne 27. September“:
Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen
und mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.
(Thomas Brasch)
Ins Portugiesische übersetzt hat das Gedicht der brasilianische Dichter Ricardo Domeneck. Er freute sich riesig, als ich ihm von der Brasch-Ausgabe erzählte.
Wenn einer nicht nachlässt, bildet sich ein kräftiger Nachlass. Vor allem wenn er so früh zu leben aufhört. Die Gedichte dieses Bandes, die aus dem Nachlass zusammengesammelt wurden, übersteigen jene, die zu Lebzeiten Braschs veröffentlicht worden sind. Das mag daran liegen, dass Braschs Hauptarbeitsfeld die Dramatik war und der Film. Und dass es aktuell meiner Meinung nach keine besseren Shakespeareübersetzungen gibt. Sein Umgang mit dem Blankvers ist einzigartig.
Aber um Braschs Gedichte soll es hier gehen.
Anhand der Texte lässt sich ein Autor rekonstruieren, der vielleicht Brasch ist.
Anhand dieser Texte lässt sich einer Zeit rekonstruieren, die vielleicht die Zeit Braschs war.
Anhand dieser Texte lässt sich ein Deutschland rekonstruieren (das allerdings nie das Deutschland Braschs war. Sie haben aneinander vorbei existiert.)
SIE SUCHT IM FREMDEN LAND
WAS SIE IM KOPF NICHT FAND
Piwi fliegt in die andere Hälfte der Welt
Über die Mauer über den Kopf von Karl Marx
vom neuen Deutschland in das noch ältere Deutschland
Piwi landet zwischen Leuchtreklamen
Das war ein Flug!
Brasch ist Rock ’n Roll. Die Generation die unmittelbar zu Kriegsende auf die Welt kam, und die sich auf nichts berufen konnte, schon gar nicht auf ihre Eltern.
Gut, bei Brasch trifft das nicht zu. Seine Eltern kamen als jüdische bzw. der Vater als jüdischer und kommunistischer Emigrant nach Deutschland zurück. In die DDR zumal, die ihnen Heimat werden sollte, die für Brasch aber nicht Heimat wurde, die sein Vater nicht, aber er um einige Jahre überlebte.
Ein Gedicht erzählt auch von einer Großmutter, die den Krieg in Bayern als Frau eines Katholiken überlebte. (Als Nebenlektüre sei übrigens Marion Braschs Roman Ab jetzt ist Ruhe empfohlen. Hier findet sich die Version in der Erzählung der jüngeren Schwester.)
Ich bin der Sänger nicht das Lied.
Ich zieh den Vorhang auf,
leer ist die Szene.
So beginnt das Gedicht „Jim Morrison“. Und gerade in der vom Westen abgekoppelten DDR erlangte die Musik der Doors fast mythische Bedeutung. Einer meiner Klassenkameraden kam immer zum Todestag des Sängers mit einem Trauerflor in die Schule. Eines Tages musste er auch sein FDJ-Hemd am gleichen Tag tragen. Seine Trauer wurde ihm als politische Provokation ausgelegt. Aber vielleicht trauerten ja beide, Brasch und Jochen (so hieß der Mitschüler) um beides. Um Morrison und ihre verratenen Ideale. Jedenfalls endet das Gedicht folgendermaßen:
geh mit fremden Schritten fremde Wege
wechsel Haut und Hemden
bin ein Bauer, bin ein Präsident
und vergesse, wer ich war.
Bin das Lied bin nicht der Sänger.
Dieses Buch zieht Lektüren an, neue und vergangene neu. Viel Brecht lese ich nebenher. Vor allem im Lesebuch für Städtebewohner.
Braschs Texte aber beschwören eine historische Situation, die ich als Kind und Jugendlicher erlebte, und lassen mich aus dieser Situation das vergangene Jahrhundert rekonstruieren, zumindest den Teil, der sich in Europa abspielte, denn die Zeiten vergehen verschieden. Jede Region hat ihren Puls.
Mit der ersten Zeile, dem ersten Vers katapultiert dieses Buch mich zurück in die Zeit der Entstehung der Texte, obwohl ich damals, im Fall des Poesiealbums 1974 erst 8 Jahre alt war und mich mit ganz anderen Gedichten und Sprüchen beschäftigte.
Aber:
Gerade in den Texten aus dem Poesiealbum: nahezu klassische Balladen, sehe ich das, was subjektive Geschichtsschreibung sein könnte, oder wenigstens damit gemeint.
Und später als ich Brasch zu begreifen begann, war er weg. Viele Helden waren fort bevor sie meine Helden wurden, so auch Brasch. Nur Heiner Müller saß verborgen hinter einer Wolke aus Zigarrenrauch und harrte aus.
Auf dem Vorsatz des Bandes ein gereimtes Gedicht. Brasch geht außerhalb der Zeit und trifft sie vielleicht gerade darum. In diesem Gedicht das Wort Fool wird nicht übersetzt. Dann die Balladen aus dem Poesiealbum. Bilder eines versehrten Volkes, dem, nachdem der Krieg aus war, des Krieges Härte geblieben war. Momentaufnahmen der Mörder.
Und es gibt auch Theaterstücke in den Gedichten, was seine Richtigkeit hat und auf das gemeinsame Muttermal verweist: die gebundene Rede. Und auf Shakespeare.
Vielleicht waren Müller und Brasch die beiden Wege, die aus Brecht herausführten. Müller stieg in den Mythos hinauf in einer Wolke aus Havannarauch, bestellte Single Malt; Brasch trank am Kiosk ein Bier und rauchte eine Filterlose. In gewisser Hinsicht ist Aufstieg also eine Form des Bleibens, Abstieg aber, ist gehen.
Faszinierend ist, dass man erst nach dreißig Jahren merkt, dass Brasch Brecht gewissermaßen durchbuchstabiert. Zumindest mir geht das so. Sogar im einzelnen Text tut er das. Aber zentral schien ihm das Lesebuch für Städtebewohner zu sein.
SPUREN VERWISCHEN
Die Zeilen verschwimmen die Zeichen
Ich habe sie geschrieben Ich kann
sie nicht mehr entziffern
Erst wenn ich tot liege unter der Erde
über die ich gegangen bin Kommt einer
und weiß was ich gemeint habe
Die Zeilen verschwimmen Die Zeichen
Brasch treibt Brecht zum Äußersten, in dem er ihn wiederbelebt, ihm dabei die arrogante Kühle nimmt, ihn mit Rockmusik anreichert. Weil Brasch z.B. die Frauen ernst nimmt, oder auf eine ganz andere Art ernst nimmt als Brecht. Für Brecht gab es nur die Hure und die Courage, beide verehrte er auf die je entsprechende Weise, aber als Typus. Sie sind Theaterfiguren, und Brecht ist sich ihrer Zuneigung sicher. Denn sowohl die Mutter als auch die Hure sind um ihrer selbst Willen auf ihn angewiesen.
Brasch hingegen verzettelt sich, würde Brecht sagen, in romantischer Liebe, nicht nur zu den Frauen im übrigen, und wird von ihr aufgezehrt. Brasch führt die Typen zurück in Individualität, macht aus Klassenangehörigen wieder Menschen.
DAS FÜRCHTEN NICHT UND NIE DAS WÜNSCHEN
darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht
das seellos süchtig sein auf keinen fall
nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden
da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle
er sieht genauso aus wie ich mich fühle.
An Brecht geschult meinten wir Nietzsche, wenn wir Marx sagten, wir wußten es nicht besser, und Brecht wahrscheinlich auch nicht. Brasch am wenigsten, oder am meisten.
KRANICH
Du hast den Kranich gesehn
hoch oben
mit weiten Schwingen,
frei,
unendlich frei.
Doch tröste dich:
auch er muß sterben,
vielleicht bald.
− Ein wirkungsmächtiges Lyrik-Buch mit Bildtteil und ausführlichen Erläuterungen. –
Thomas Brasch war Vieles, auch Prosaautor, Vor den Vätern sterben die Söhne ist vielleicht noch in Erinnerung. Brasch war auch Shakespeare-Übersetzer, und die Gedichte, die Lyrik waren seine zentrale Gestaltungsebene. Alles andere, auch seine Theaterstücke, aber auch seine Filme, u.a. Engel aus Eisen und Domino waren eigentlich lyrische Produkte oder, wenigstens, genaue Sprach-Verdichtungen. Am deutlichsten wird das im jetzt vorliegenden Band bei den Texten seines ersten, 1977 im Westen erschienenen Buches Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eignen Haut zu kommen. Dort finden sich neben klassischen Gedichtformen auch viele szenische Texte, die sich für die Bühne eignen, sprachlich aber so dicht gebaut sind, dass man sie eben auch als Gedicht lesen kann. Also die zugespitzte Einheit von Lyriker und Dramatiker, dafür stehen die Texte von Thomas Brasch.
Ästhetischer und philosophischer Ansatz
Seine Arbeitsmethode: Die Widersprüche verdichten, verknappen und auf den Punkt bringen, und zwar gegeneinander, inhaltlich und in der Form. In den frühen, noch in der DDR entstandenen Gedichten genauso wie in seinen später im Westen geschriebenen. Und es betrifft alle Gedichtgenres, die er bediente, das politische Gedicht genauso wie das Liebesgedicht. Thomas Brasch hat einmal gesagt: Mein Leben ist pure Geschichte. Er hasste Ost-West-Schwarzweißmalerei, er wollte im Westen auf keinen Fall ein sogenannter Dissident sein und sich auf den politischen Querdenker beschränken lassen. Das war ihm zu platt. Auch im politischen oder im Alltagstext war sein Ansatz ein ästhetischer und philosophischer. Ein Textbeispiel:
Mitten am Tag eine Furcht
Ich weiß nicht wovor
Über mir die gelbe Sonne
Vor mir das Kottbusser Tor
Hinter mir leises Rufen und Flüstern
Jeder Schritt wird mir schwer
Wer tut mir was Keiner ist hier
Aber alle sind hinter mir her
Dann ist es in der Straße still
Ich bin ausgedacht
Welches Feuer ich will
Habe ich angefacht
Auf These folgt Antithese, dann ästhetische Synthese. Brasch hatte sein Dichterhandwerk in der DDR gut gelernt.
Die Gedichte von Thomas Brasch liegen hier werkchronologisch vor. Man findet sein in der DDR erschienenes Poesiealbum, alle West-Veröffentlichungen, darunter Kargo und Der schöne 27. September, sein bester Gedichtband, wie ich finde. Hinzu kommen weitere Veröffentlichungen zu Lebzeiten und etwa 180 Gedichte aus dem Nachlass. Hier gibt es Neues zu entdecken. Und es existieren weiter hinten im Buch ein Bildtteil und eine ausführliche Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten.
Überraschende Kompromisslosigkeit
Thomas Brasch war ein Unversöhnter, und eines der bislang unveröffentlichten Gedichte beginnt mit der Zeile „Wir sind Missionare des Zorns“. Das sind bislang so noch nicht gelesene Zeilen von Thomas Brasch. Ein überraschender Punkt an diesem Buch ist auch die Kompromisslosigkeit, die aus Thomas Braschs Texten spricht. Ein weiteres Beispiel, aus „Gesang der Kokainintellektuellen“:
Das schneit Kinder,
das schneit die Horizonte werden weit
der Schnee, so schönes Kokain
fällt nieder auf die Stadt Berlin.
Überraschend genau und sorgfältig ist aber auch die vorzügliche Kommentierung durch die beiden Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz, die im 170 Seiten umfassenden Anmerkungsteil zu finden ist. Auch das verleiht der Ausgabe einen literaturhistorischen Stellenwert. Dieser Band ist die unwiderrufliche, künftig unverzichtbare Arbeitsgrundlage für alle Brasch-Forscher, weil sich hier zum ersten Mal ein umfassender Blick auf sein lyrisches Werk bietet. Der Bildteil aber ermöglicht auch sinnliche Einsichten in Braschs Arbeitsweise. Ein großartiges, wirkungsmächtiges, dickes und genaues Lyrik-Buch.
− „Die nennen das Schrei“ – Die gesammelten Gedichte von Thomas Brasch. −
1.
Die Ästhetik war „Außer Atem“. Thomas Brasch (1945 – 2001) trieb die Abgrenzung bis zur Pose und schrieb Gedichte für die Köchin im Ganymed bei Gelegenheit. Dann schrie er aus dem Fenster seinen Verdruss. Das hörte man nebenan, wo das Berliner Ensemble ist. Das Ende im Blick vor dem Anfang: das ist das erste Gesicht der Gedichte von Thomas Brasch. Der Fatalismus der Geschichte summt darin sein Lied vom Sozialismus. Der Kampf geht immer nur „um eine Niederlage“. „Wer unterliegen will, muss siegen“. Der Geschlechterkampf geht über den Klassenkampf hinaus.
Es ist sofort alles da, schon im ersten Band, einem Poesiealbum aus dem Jahr 1975, die Graphik von Einar Schleef. Das war monatliche Lyrik in der DDR, für neunzig Pfennig am Kiosk. Auch Hồ Chí Minh bekam sein Poesiealbum. Das Leben blutet aus Augen & Ohren, viel ist (wie) für das Theater geschrieben, es gibt Kursivschriftstellen, die sich als Regieanweisungen lesen lassen. „Wir können erst weiter, wenn wieder geschossen wird“.
Auch Braschs Krieg fand ohne Schlachten statt, er ist sich nicht zu schade, Potenz vorzutäuschen. Heiner Müller schrieb ihm einen Hass zu, „der in dieser Welt den Vätern zukommt“.
Am letzten Morgen von Neunzehnhundert76 verließ Brasch die DDR, mit Katharina und Anna Thalbach gemeinsam. Er reagierte so auch auf sechzig Änderungswünsche, die einer Veröffentlichung von Vor den Vätern sterben die Söhne im neuen Deutschland entgegen standen. In Müllers Besprechung von Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo erkennt der Rezensent die eigene Versteinerung. Außerdem sagt er:
Ich weiß nicht, was sie dort (in der Bundesrepublik) für Folgen haben werden, in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht.
Kargo ist viel Prosa, im Band der gesammelten Brasch-Gedichte fürsorglich untergebracht von den Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz, damit er nicht verschwindet. Drei Jahre Editionsarbeit steckt in der Versammlung, die alles Unfertige und Entwürfe außen vor ließ – und einer kritischen Ausgabe trotzdem nahe liegt.
2.
− Katharina Thalbach und Martin Wuttke lesen aus den gesammelten Gedichten im Berliner Ensemble. −
Das wuchtigste Ereignis der elisabethanischen Renaissance, so sagt es Heiner Müller, war die Zerschlagung der Armada als Signatur der Marginalisierung einer Großmacht. Kein anderer Vorgang wirkte sich so stark auf die Zeit aus, in der Shakespeare wirkte. Trotzdem ist an keiner Stelle seines Werks davon direkt die Rede. Es sind die Spiegelungen der Großwetterlagen einer Epoche, „die das Material eines Schriftstellers bilden“. Heiner Müller erklärte mit Shakespeare und dem Niedergang des spanischen Weltreichs seine Unzuständigkeit für explizite Wendeliteratur.
„Ich bin überhaupt nicht verpflichtet, jetzt hier das große Licht anzumachen“, schreibt Rolf Dieter Brinkmann – wenn ich Thomas Brasch lese, höre ich ein Reibeisen. Das ist die Stimme von Katharina Thalbach, die im Verlauf der Jahrhunderte zum Kobold wurde.
Das ist nur der Alkohol
Wenn man bei Tageslicht noch vernünftig wird
und den Arsch nicht in der Hose hat
sie auf die Knie fallen zu lassen, dann
setzt eine Krähe sich aufs Fensterbrett
spuckt Eisen in deinen Hals.
Für mich konntest du aus dem Vollen schöpfen, singt Katharina Thalbach dem heimlichen Vernehmen nach: Ins Paradies vertrieben / morgen will ich mir eine neue Religion erfinden“.
Katharina Thalbach frisst die Gedichte in sich ein, sie nimmt sich den Mann dafür jedes Mal, wenn sie mit ihm auftritt, vor so als könnte er ihre Möse noch schmatzen lassen: „Wie das schöne Moos aus Dankbarkeit ihn ein wenig Witterung aufnehmen lässt“. Man hört den libidinösen Grund der Angelegenheit, die DDR erschien Brasch als Heimat „der Verstellungsakrobaten“.
Ich finde, der Kapitalismus verstellt die Leute auch nicht schlecht. „Endlich verbrüdern sich die Schwestern / zwei Hexen unter Apfelbaum“.
Die Baustelle ist bei Thomas Brasch eine Mischung aus Knast und Irrenhaus. Aus Hohenschönhausen ruft es: „Wir sind draußen, ihr seid drin“.
− Buchpräsentation mit Katharina Thalbach und Martin Wuttke im Berliner Ensemble. −
spiel du den wahn ich spiele seinen sinn
und wahnsinn heiße was uns zwei vereint
Thomas Brasch, aus: „Macbeth“
Ja, geschrien hat er, der Thomas Brasch, vermutlich auch oder vor allem im Rausch. Aus dem Fenster über dem Ganymed, in enger Nachbarschaft zum Berliner Ensemble, hat er geschimpft und gerufen. Eine Art Geheimdramaturg sei er gewesen, und guter wie böser Geist des Theaters am Schiffbauer Damm, wie Jutta Ferbers, die Dramaturgin des BE, zu berichten weiß. Und auch der Hausherr Claus Peymann schreibt in seinem Nachwort zu den Shakespeare-Übersetzungen, Brasch habe Shakespeare „wie im Rausch“ übersetzt. Herausgekommen sind sie vor elf Jahren, ein Jahr nach Braschs frühem Tod. Und wer hätte gedacht, dass es noch einmal eine neue Veröffentlichung von Thomas Brasch geben würde?
Nachdem 2002 Katharina Thalbach zusammen mit Fritz J. Raddatz Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer – Gedichte aus dem Nachlass veröffentlicht hatte, mussten ebenfalls elf Jahre vergehen, bis neben dem kleinen Bändchen Was ich mir wünsche: Gedichte aus Liebe (2007) nun die Gesammelten Gedichte vorliegen. Zu verdanken ist das der Archivarin von Thomas Brasch, Martina Hanf und der Autorin Kristin Schulz. Und man kann den beiden wohl nicht genug danken, ging doch mit der Veröffentlichung des immerhin 1029 Seiten umfassenden Bandes eine Buchpräsentation im Berliner Ensemble einher, die es in sich hatte. So haben sich denn auch einige Erwartungsvolle im Sonntagsputz zur vormittäglichen Matinee am 16. Juni eingefunden. Die Sonne scheint nun schon seit Tagen. Aus Richtung des Deutschen Theaters weht vom Vortag noch etwas neue Dramatik herüber (Brasch hätte gesagt: „Wer vorgestern noch Aufstand rief / ist heute zwei Tage älter“) und vor dem Berliner Ensemble kann man die Vorfreude unter den Wartenden auf das Erdichtete des alten und jungen Dramaten Brasch förmlich erschnuppern.
Drinnen zwei Tische auf der Bühne, am Rand ein Band mit Fotos. Brasch als Kind, als Junge, der junge Brasch mit der jungen Katharina Thalbach und dann später als rezitierender Richard II. „in einen schönen Rausch versetzt“. Seine letzte Übersetzung für Peymanns BE. Gleichzeitig Peymanns größter Erfolg und letzte Theatertreffeneinladung. Und somit auch ein später Erfolg für Thomas Brasch. Dann sieht er uns an, dieser rastlose Grübler, auf dem letzten Foto, für einen Moment, als würde er wissen, das wir jetzt genau da sitzen, auf ihn schauen und lauschen. Den zwei Vorlesenden, die ihm hier neu Stimme verleihen, und er besser keine kriegen könnte, als eben die von Katharina Thalbach und Martin Wuttke. Sagt da einer nachher, er höre beim Lesen von Brasch nur noch die Stimme der Thalbach. So als spräche der allein nur aus ihr, durch sie. Eine Liebe, ein Leben, eine Symbiose über den Tod hinaus.
Es beginnt Wuttke mit Selbstkritik, ein Werk aus den 80ern: „Klagen einer traurigen Generation… das ewige Lied von Vater und Sohn“. In Kargo (1977) hieß das noch: „Morgen will ich mir eine neue Religion erfinden mit Helden, Tempeln und Gebeten… Halleluja, der Wind fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.“ Helden sind auch heute wieder im (Sonder)Angebot. Das Freizeichen ist immer noch durchgehend. Nur das Monopol darauf hat nicht mehr die Post. Da sage noch einer, hier ändere sich nichts. Anfang der 70er bekennt Brasch im Poesiealbum 89 wehmütig:
Wie viele sind wir eigentlich noch.
…
Welchen Namen hat das Loch
in dem wir, einer nach dem anderen
verschwinden.
Da ist er schon mit einem Bein im Westen. Raus aus dem „Land ohne Namen, daß sich mit Anfangsbuchstaben anreden lässt“. Ein Land, in dem es Brasch nur als Blindem gelingt, „so zu beten, daß ich nicht schuld bin“.
Und ich bin nichts als meine Augen.
Wenn ihr die zwei begrabt, begrabt ihr wen.
Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehen.
Ich will nicht sterben. Nur was taugen.
Brasch will den leeren Kopf nicht mehr aufs Eisen legen, wie sein „Mörder Ratzek“. Der Dichter will etwas anderes.
Das andere Wort hinter dem Wort
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
Auch wenn der Riß mitten durch ihn selbst verläuft. Dann wieder der junge Brasch in verteilten Rollen. Es geht um Franz, der Lucie seine Fräsbank zeigen will und doch ganz anderes im Sinn hat. Es ist laut. Sie will weg zum anderen aus der Schlosserei. „Liebst du mich, Franz?“ „Ich kann nicht so reden, Lucie.“ Und als sie weg ist: „Das ist meine Maschine.“ Die Lesung ist da am stärksten, wo die Thalbach und Wuttke sich gemeinsam hochschaukeln. Da ist Ekstase und Spaß an Braschs schwarzhumorigem „Bericht vom Sterben des Musikers Jack Tiergarten“. Deftig wie Vian, da ist die Thalbach in ihrem Element. Die dicke Wirtin schlägt den Morgenrock zurück und Wuttke/Jack nimmt Witterung auf, vom duftenden Moos. Aber ohne Moos nichts los. Leicht gekürzt verfehlt die Trübsalflöte das Bemollha nur um ein paar Zentimeter. Keinen ausgekochten Jack-Kopf gibt es, dafür aber ein „Hahnenkopf 1525“. Schon Manfred Karge hatte sich mit Schauspielstudenten in seinem Erinnerungsabend „Vor den Vätern sterben die Söhne“ an Braschs Langgedicht über deutsche Geschichte versucht. Bei Thalbach und Wuttke wird man mit jedem Punkt und Komma tiefer hineingesogen.
Besungen wird auch das Künstler-Dreigestirn „Heine und Thalbach und ich“ (Brasch), eine Art Dreifaltigkeit aus Kopf, Bauch und Sohn. „Drei Köpfe eine Wand / Und Gelächter, weil keiner einen fand.“ Und auch der Säulenheilige Brecht meldet sich bei Brasch aus dem Grab. Zerfallen in der Erde Berlins, sieht er auch seine Nachfolger zerfallen über seinen Werken, mit einem Reimbesteck vor einer Erbse. Denn „die Verhältnisse sind gut, nicht dialektisch“. Das Ende einer Utopie? Das letzte Wort hat Martin Wuttke:
Als Gott den Menschen schuf
mit leichter Hand und schrägem Blick
gab er ihm auch einen Beruf
und um den Hals einen Strick
„Wenn ich nicht mehr da bin, wieviel wird euch fehlen.“ heißt es in „Sindbad. Tod sein oder die Rettung“. Für den nie angekommenen Reisenden war beides eine Option „Ich glaube an die Relativitätstheorie, aber wen ich nicht sehen will, ist Einstein.“ Brasch glaubte an die Lehre, aber nicht an die Gelehrten. Und er behielt Recht. „Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer.“ Katharina Thalbach hat es über 30 Jahre mitgelebt. Am Sonntag schien es so, als wäre da noch ein Hauch von „Antilopenduft”. Also wer Thomas Brasch wirklich endlich kennen lernen will, muss genau da durch. Und gelebt und gewohnt hat Brasch vor allem auch in seinen Gedichten. Gäbe es einen besseren Grund, sie wieder zu lesen?
Thomas Brasch lebt. In den Büchern seiner Weggefährten – der Schwester Marion Brasch, des Freundes Klaus Pohl – in seinen Filmen, Stücken, seinen legendären Shakespeare- und Tschechow-Übersetzungen, seiner Prosa und in seiner Lyrik:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Braschs Leben war ein zerrissenes und eng mit den großen Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte verbunden. 2001 starb der berühmte Dichter, der die meiste Zeit seines Lebens in Berlin verbrachte, in der Charité an Herzversagen.
Seine Lyrik erscheint jetzt in einer kommentierten Gesamtausgabe, die neben allen zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichten – darunter das Poesiealbum 89, Braschs einzige DDR-Veröffentlichung –, vergriffene Bände wie Kargo und vielen in Zeitschriften und Anthologien erschienenen Texten auch bisher unbekannte aus dem Nachlass enthält. Die markante, von Goethe, Heine und Brecht genauso wie von Popkultur und Berliner Lokalkolorit beeinflusste Lyrik stammt aus einer rund 40-jährigen Schaffensperiode, deren Chronologie sich im Band spiegelt.
Tobias Schwartz, zitty, 12.6.2013
− Wenn Haut auf Eisen trifft: Die Gesamtausgabe von Thomas Braschs Gedichten zeigt einen Autor von beserkerhafter Intensität. −
Es ist noch da, nach einem Dutzend Umzügen, ich ziehe es aus dem Lyrikregal zwischen Benn und Brecht hervor, das schmale Heft Nr. 89 aus der Reihe Poesiealbum, drei Bögen Lyrik von Thomas Brasch, für 90 Pfennig Ost, 1975 erschienen. Da war Brasch knapp dreißig, der Kampf um die sechzehn Gedichte hatte hinter den Kulissen mehrere Jahre gedauert. Es waren seine ersten veröffentlichten Texte, abgesehen von einigen verstreuten Gedichten in Anthologien, und das Ergebnis gefiel den Kulturfunktionären ganz und gar nicht. Fortan verweigerten sie jegliche Druckgenehmigungen.
Es muss um 1980 gewesen sein, als mir jemand das Heft zusteckte und mir zuraunte: „Der hat gegen die Ausbürgerung Biermanns unterschrieben, von dem ist danach kein einziger Text mehr erschienen, darum musste er in den Westen.“ Bücher von „solchen“ zog man zu dieser Zeit oft aus den Papiercontainern hinter der Stadt- und Bezirksbibliothek, wo sie ausgesondert worden waren, las sie als fünften Durchschlag oder schrieb sie selber auf der Schreibmaschine ab.
WIE VIELE SIND WIR EIGENTLICH NOCH.
Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
Erst viel später wurde mir bewusst, dass die Coverillustration mit dem gesichtslosen Mann, umstellt von Verbots- und Warnschildern, die Organe hinter der offenen Jeansjacke durchnummeriert, von Einar Schleef war, dem fast gleichaltrigen und im selben Jahr wie Brasch gestorbenen Dichter, Regisseur und Bühnenbildner. Dessen künstlerische Werke waren von ähnlicher berserkerhafter Intensität wie Braschs, über den Heiner Müller 1977 im Spiegel schrieb:
Gerade die Spuren und Narben seiner DDR-Biographie zeichnen seine Texte aus der Masse der westdeutschen Literaturproduktion, die mich im ganzen herzlich langweilt.
Er nannte keinen Namen.
Er sagte nicht, was er wusste.
Er wusste nichts, aber
das sagte er nicht.
Damit ließen sich als Vorladungen getarnte Verhöre überstehen. Das war eine Stimme, die uns, die eine Generation jünger waren, trotzdem wie die eigene vorkam. Aber die stillgestellte Zeit dehnte sich ins Unendliche, was waren da zwanzig Jahre. Thomas Brasch war nur die Avantgarde gewesen.
„Wenn er so durch die Straße rennt, / seht ihr das Feuer, das in ihm brennt.“ Die Zornigen unter uns Jugendlichen wollten nicht alt werden in der DDR. Die einen warteten auf die Ausreise, die anderen entzogen sich dem stetigen Zugriff des Staates, indem sie die verschiedensten Todesarten durchdeklinierten.
DAS HÄTTEN WIR UNS AUCH DENKEN KÖNNEN
Die hält nicht durch. Die packt ihren Koffer und
haut einfach ab.
das stürzt sich mit entschlossenem Gesicht
ins Messer, bis die Klinge bricht.
Es war dann aber die DDR, die starb. Das Wort PAPIERTIGER blieb in meinem Wortschatz. Trübsalflöte. Und: „Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Jahre älter.“
Das Poesiealbum 89 ist nun einverleibt in „Die nennen das Schrei“. Gesammelte Gedichte, wie es vorher schon aufgegangen war in der zweiten Veröffentlichung Thomas Braschs im Westen, 1977: Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen. Die Um- und Überarbeitungen lassen sich mithilfe des Bandes bis ins Detail nachvollziehen. Ebenso die Verfertigung eines Dichters von seinen frühen Anfängen mit fünfzehn, bis zu den letzten Texten kurz vor dem Tod. Vom Umfang her ist der Band eher eine Gedicht-Bibel denn etwas, was man sich so im Allgemeinen unter einem Gedichtband bei Suhrkamp vorstellt. 1030 Seiten Thomas Brasch, 250 Seiten davon Apparat, sorgfältig ediert von zwei ausgewiesenen Herausgeberinnen, Martina Hanf und Kristin Schulz. Mit dem 2004 erschienenen Thomas-Brasch-Arbeitsbuch Das blanke Wesen hatten sie sich einen Namen als Braschkennerinnen und -bekennerinnen gemacht.
Im chronologischen Lesen kristallisieren sich die Themen heraus. Haut ist eins. Eisen ein anderes. Und immer wieder die Konfrontation der Haut mit Eisen – eine Metapher des 20. Jahrhunderts. Eisensplitter, Hautfetzen. Nicht aus der Haut kommen.
Aber auch andere Motive ziehen sich durch das Werk: Ganoven und Vagabunden, Schichtarbeiter und die Kniekehlen junger Frauen, früher Tod und die Betrachtung beim eigenen Totsein, Utopie und Krieg, verlorener Frieden und verlorene Lieben, Jazz und Rock ’n’ Roll, von den Beatles, über die Stones bis zu den Doors, Sprachkritik und Liebe zur Sprache: „Nehm das Messer und / zerschneide meine Sprache“, heißt es im Gedicht „Jim Morrison“. Dessen „The End“ kehrt in Kargo als Ödipus in Ostberlin wieder, der an diesem Tag die Norm geschafft hat „1200 Schaltstücke in 540 Minuten“. Ein Gedicht, das in fünf Fassungen existiert, deren Provenienzen im Anhang genauestens erklärt werden.
Schlaf der herrschenden Klasse. Die Wände
zittern von der letzten Straßenbahn. Hinter der Wand
stöhnt die Nachbarin.
Wir beenden unser Programm, sagt die Ansagerin, ein letzter Blick auf die Uhr: Es ist 23 Uhr 5 mitteleuropäischer Zeit.
Halts Maul, Kassandra.
Thomas Brasch hat einmal erwähnt, dass der Wechsel von Ost nach West, von der einen intellektuellen Szene zur anderen nichts war gegen die Bewährung in der Produktion, in die man ihn nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag 1968, nach Untersuchungshaft und Exmatrikulation von der Filmhochschule zur Bewährung geschickt hatte. „Was da an Biographie gestiftet wurde, war immerhin nicht alles notwendig zum Leben. Es ist nicht nötig, diese Rechnung neu aufzumachen, aber sie verträgt es, offen zu bleiben“, schrieb Uwe Johnson, ein Seelenverwandter, in „Versuch, eine Mentalität zu erklären“.
Anders als die Zeit in der Kadettenschule, wohin der ehrgeizige Funktionärsvater Horst Brasch seinen ältesten Sohn im Alter von elf geschickt hatte und wo der Drill ihn fast zerbrechen ließ, hat die dreijährige Arbeit als Fräser im Berliner Transformatorenwerk Karl Liebknecht sein Schreiben ähnlich intensiv wie die Lektüre von Büchern geprägt und inspiriert. Sie hat seine Texte härter und sparsamer gemacht, Brasch feilte nicht mehr, er fräste, was sich nachvollziehen lässt im Buch, wenn man die ersten Fassungen der Gedichte mit den endgültigen vergleicht. Immer wurde da weggehauen, was beim Vergleich der Fassungen bis auf wenige Ausnahmen als überflüssig einleuchtet. In dieser Ausgabe lässt sich auch ablesen, wie sorgsam die Gedichtbände komponiert waren. Der schöne 27. September von 1980 zum Beispiel. Und von welch immenser Produktivität die ersten Jahre im Westen waren.
Man braucht kein Wissen um die Herkunft des Autors, um die Gedichte zu verstehen. Sie lassen sich als Identitätssuche lesen, das macht sie universell und auch für Jüngere, die ihn nicht mehr oder noch nicht kennen, interessant. Die Texte sind an Brecht, vor allem seinen frühen Gedichten geschult, an Heiner und auch Inge Müller, an Shakespeare. Brasch beherrschte, auch durch die stetige Übung an den Nachdichtungen, die ganze Klaviatur gebundener Verse, lang oder kurz, Blankverse oder frei. Und immer ist da auch das einsame Kind: Paul allein auf der Welt, der eines Morgens aufwacht, und niemand ist mehr da.
Trotzdem bleibt der grundlegende Zweifel, ob mit einem Band, auf dem Gedichte steht, Braschs Ästhetik Genüge getan ist, ob nicht gerade die Übergänge zu den anderen Gattungen, die Vermischungen und Überschneidungen, die beispielsweise die Komposition von Kargo ausmachen, nicht für den ganzen Brasch gelten. Ob nicht ein Band, auf dem Gedichte steht, dem Koffer in einer Szene von Charlie Chaplin ähnelt. Als er ihn zumachen will, hängen jede Menge Zipfel heraus, die er kurzerhand abschneidet. Aus diesem Gedichtband hängen Zipfel aus Prosa und Dramatik.
Am Ende hat sich Thomas Brasch an einem großen Werk verzettelt, dessen Protagonist auch durch die Gedichte geistert. Der Mädchenmörder Bruhnke. Ihm widmete er ein Bergwerk von Roman, von dem am Ende neunzig Seiten veröffentlichtes Substrat blieben und drei Koffer Papier. Aber gerade sein Scheitern daran macht ihn zu einem großen Dichter. Da war aus dem zornigen jungen Mann mit den schönen brennenden Augen längst ein alter Mann geworden, der beim Abschied von seinem Bruder Peter, der ein paar Monate vor ihm starb, in der Schlange zum offenen Grab stand und wütend war, unsagbar wütend. Worüber? Ich weiß es nicht.
„Das ist einer, der ins Kissen flennt. / Das ist einer, der sich selbst ausbrennt.“ Brasch starb nicht, wie in seinem Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne heraufbeschworen, vor seinem übermächtigen Vater, aber doch früh, mit 56 Jahren.
Seine Atemlosigkeit war am Ende nicht mehr nur eine im übertragenen Sinne. Er, der sich von Feinden umstellt fühlte, hatte nun einen Hauptfeind, seinen eigenen Körper. Annette Maennel hat sich anlässlich der Veröffentlichung der gesammelten Gedichte in der Netzzeitschrift Weibblick erinnert, wie sie Thomas Brasch aus der Klinik holen musste, weil er glaubte, dort nicht mehr sicher zu sein.
Das letzte Gedicht in dem werkchronologisch geordneten Band ist ihr gewidmet:
Ich will, denkst du, sehr betrübt sein
wie du, denke ich, es nie wirst.
Ich will, denke ich, dass mein Herzstein
an deinem Steinherz zerbirst.
Thomas Brasch, als Kind jüdischer Emigranten in Yorkshire geboren, kam mit seiner Familie 1947 nach Ostberlin. Sein Vater stieg in der DDR zum Stellvertretenden Minister für Kultur auf, der Sohn wurde zum Rebellen, jobbte, studierte an der Filmhochschule Babelsberg, kam 1968 wegen seines Protests gegen den sowjetischen Einmarsch in die ČSSR ins Gefängnis. 1976 konnte er in den Westen ausreisen. Der Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne (1977) und der Gedichtband Der schöne 27. September (1980) machten ihn berühmt. Brasch verband als Lyriker, Dramatiker und Erzähler in seinem Schreiben das Erbe Brechts mit Elementen der Popkultur. 2001 starb er 56-jährig an Herzversagen. In seinem Nachlass fanden sich Tausende von Manuskriptseiten; zwei Lyrikbände wurden postum veröffentlicht. Nun liegen die gesammelten Gedichte Thomas Braschs erstmals in einem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen, gründlich kommentierten Band von über tausend Seiten vor. Er wartet mit zahlreichen bisher unbekannten Texten auf. Viele von ihnen machen einen unfertigen Eindruck, sind aber gleichwohl aufschlussreich, weil sie Einblick in den kreativen Prozess geben. Und die Wiederbegegnung mit den Bänden Poesiealbum, Kargo und Der schöne 27. September lohnt sich allemal.
pap, Neue Zürcher Zeitung, 30.6.2013
In diesem nasskalten, lichtscheuen Frühjahr 2013 erschien bei Suhrkamp ein fast tausendseitiger Wälzer: „Die nennen das Schrei“ versammelt das gesamte lyrische Werk von Thomas Brasch (1945–2001). Ich muss auf diesen Autor, zwölf Jahre nach seinem Tod, aufmerksam machen, muss an ihn erinnern.
Thomas Brasch schrieb Gedichte, Prosa und Stücke, war genialer Übersetzer, besser: Nachdichter von Tschechow, übertrug, meist von Claus Peymann beauftragt, eine ganze Reihe von Stücken Shakespeares in ein wunderbar klares und robustes Deutsch, schrieb Drehbücher, drehte Filme (wie Engel aus Eisen mit dem fabelhaften Hilmar Thate)… Brasch war getrieben von der Gier nach Leben, von Zorn und Wut, besessen von einem Brechtschen Arbeitsethos, ein Künstler, der sein Glück nicht fand, nicht in der DDR, wo er als Sohn eines hohen Funktionärs aufwuchs, und nicht im Westen, der damaligen Brandtschen Bundesrepublik, in die er 1976 wechselte. Trotz großer Erfolge, vor allem am Theater, trotz bedeutender Preise und Ehrungen, trotz Anerkennung, die er erfuhr, blieb er aber einer, der nicht dazugehörte, ein Rebell, der sich und seinen Ort zu suchen nicht aufgeben konnte.
Ich weiß nicht, ob ich sein Freund war. Aber wir waren uns nahe, zumal wir miteinander zu arbeiten hatten, und Arbeit war ihm das Wichtigste; ich war sein Lektor mehr als ein Jahrzehnt. Und ich behaupte: Als Lyriker war und ist Thomas Brasch einer der herausragenden, der bleibenden „Stimmen“ des 20. Jahrhunderts. Dieser Band, „Die nennen das Schrei“, beweist es nachdrücklich.
DER GLÜCKLICHSTE BIN ICH ALLER DIEBE
aus einer Weltenkammer voll Haß und Wut
hab ich mir gestohlen die Liebe
und zeige lachend mein Diebesgut
So mach es, Annette, mein Liebes, gut.
„Aus einer Weltenkammer voll Haß und Wut / hab ich mir gestohlen die Liebe / und zeige lachend mein Diebesgut“ – oder, an Heinrich Heine gewandt:
Das Lieben hat ihn krank gemacht
Die Krankheit liebte ihn
Hat ihm sein Lächeln ausgelacht
Und ihn in den Tod geschrien
− oder:
Tränen heute und Lieder
Bäume verdunkeln den Mond
Ich komme immer wieder
Dorthin wo keiner mehr wohnt.
An allen Ecken und Enden dieser Gesammelten Gedichte begegnet man dem Mann, der sich dem schmerzlichen Konflikt seines Denkens und Empfindens mit seiner Zeit und ihrem „Geist“ stellte, in der er fremd war und blieb, unbehaust, voller Sehnsucht nach Utopie(en), glücklich, wenn er arbeiten konnte an Projekten, die so groß waren, dass die Mühen, die sie brauchten, ihm oft den Atem zu nehmen drohten („Ich will doch nur das Atmen lernen…“, wie es in einem der späteren Gedichte heißt).
T.B. AN T.B.
Nein, jetzt geh nicht an einen fremden Ort:
Du würdest uns und uns die Zeit vertreiben:
Bevor wir schreiben dieses, welches Wort
bleibst du, denn Weggehn heißt jetzt Dazubleiben.
Wovon ist hier die Rede: fliehen oder such
Ich will doch nur das Atmen lernen
Bist du es? Ich? Den ich verlaß verfluch.
Dann komm zu dir statt mich so zu entfernen.
Ich erinnere mich an zahlreiche Begegnungen: an erste Gespräche in einer der vielen Berliner Kastanienalleen, bei denen er mir verdeutlichte, was er von mir und seinem Verlag erwartete, an viele Besuche in einer Schöneberger Altbauwohnung, in denen mir klar wurde, dass wir es miteinander aushalten mussten, er, der den Verlag Brechts als Resonanzraum seiner Bücher brauchte, und ich, der diesen Verlag liebte und seinen Verleger, an unzählige Ausbrüche eines Temperaments, das aus nichtigem Anlass eine biblische Anklage formulieren konnte, die dann wiederum – auf herumliegenden Zetteln, auf Briefpapier, in Faxen, umgehend verschickt – zu Gedichten, Notaten, bestechenden Aphorismen führte. Ich vergesse nicht seinen Humor, seine Intensität, sein Zuschnappen, wenn er einen falschen Ton hörte, ich vergesse nicht, wie zart er sein konnte und wie treu er war – zum Beispiel in seiner Beziehung zu seinem „Lebensmenschen“, zu Katharina Thalbach. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch in Braschs Wohnung am Schiffbauerdamm, als zu sehen war, dass dieses Genie nicht mehr lange zu leben hatte, und ich erinnere mich an eine todtraurige Beerdigung, die dennoch einen Glanzpunkt hatte: Fritz J. Raddatz‘ Rede auf einen Dichter, ein ergreifender Abschied von einem Freund – von einem, der gegeben hatte und dem doch selbst nur schwer zu helfen war.
Das Land, das ICH heißt, ist mir kalt,
es ist mir leer und färbt mich alt.
Doch dort willst du geborgen sein,
ja, geh dahin und bleib allein.
Mit „Die nennen das Schrei“ liegt ein gewaltiges Buch vor, fabelhaft ediert von Martina Hanf und Kristin Schulz, ein poetischer Kosmos. „Wer in mein Leben will, muß in mein Zimmer“, schrieb Thomas Brasch einmal – und mit diesem Buch gelangt man zu ihm, ins Innerste eines singulären Schriftstellerlebens.
− Thomas Braschs Lyrik in einem Band. –
Man kann sich die Szene im Internet anschauen. Da hat Thomas Brasch im Januar 1982 in München für sein Regiedebüt (Engel aus Eisen) soeben den immerhin mit 50.000 Mark dotierten Bayerischen Filmpreis erhalten. Und was tut der Geehrte, abweisend aufs Podium steigend? Er beißt die Hand, die ihn füttert, bedankt sich nicht etwa bei der Münchner Staatsregierung, sondern bei der DDR-Filmhochschule. Für seine Ausbildung. Der Saal zischt und buht, der anwesende Ministerpräsident – Franz Josef Strauß sein Name – fängt sich freilich schnell und feiert mit Haifischgrinsen die „liberalitas avaria“, die sich gerade angesichts eines solchen Affronts bewähre. So war er, der deutsche Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur, Lyriker und Übersetzer Thomas Brasch. Wer im Westen geglaubt hatte, den 1976 nach dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung mit seiner damaligen Partnerin Katharina Thalbach aus der DDR in die Bundesrepublik Gewechselten als antikommunistischen Muster-Oppositionellen vereinnahmen zu können, wurde rasch enttäuscht· Brasch ließ sich nicht vereinnahmen, von keiner Ideologie, von keiner Fraktion; von keiner Front im Weltbügerkrieg. Wollüstig unnachgiebig, den Respekt hier wie dort verweigernd, setzte er sich zwischen alle Stühle.
Indes war da mehr als rumpelstilzchenhafte Aufsässigkeit: eine wilde, anarchische, romantische Sehnsucht, die mit dem Hier und Jetzt prinzipiell auf Kriegsfuß stand. Braschs einzigartiger, weil die Literaturgattungen fantastisch entgrenzender Band Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen” von 1977 enthält ein Gedicht, das mit diesen Zeilen endet:
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin
Das erinnert an Schuberts „Wanderer“, der mit der Zeile endet: „Da, wo du nicht bist, ist das Glück.“ Fünf Zeilen des Gedichts fallen in das Wort „aber“, und man ist geneigt, Braschs komplette widerborstige Existenz als ein einziges „Aber“ zu interpretieren. Damit hält es niemand lange aus. Und tatsächlich starb Brasch, nachdem er mit Zigaretten, Alkohol und Drogen jahrelang gegen sich selbst Krieg geführt hatte, bereits 2001, 56 Jahre alt, in Berlin. Ein Leben auf der Kippe und auf der Klippe, das sich freilich mit einer Dringlichkeit sondergleichen in Literatur umgesetzt hat.
Die Zuhörer konnten das unmittelbar erleben, als Katharina Thalbach vor fünf Jahren mit ihrer Tochter Anna in der Kölner Oper Gedichte und andere Texte von Brasch las – Anlass war die Uraufführung von Torsten Raschs nach einem Brasch-Text komponierter und von Thalbach inszenierter Oper Rotter. 2008 gehörte Brasch zu den Vergessenen des Literaturbetriebs – zu den, dieser Eindruck teilte sich spontan und bestimmend mit, ungerecht Vergessenen. Der Suhrkamp-Verlag, Braschs Verlag seit der Übersiedlung in den Westen, scheint ebenfalls zu dieser Auffassung gelangt zu sein, denn soeben sind in einem über 1.000 Seiten umfassenden, von Martina Hanf und Kristin Schulz penibel edierten, mit erläuterndem Kommentar, Zeittafel, Register und Originalfotos versehenen Band unter dem Leitzitat Die nennen das Schrei Braschs Gesammelte Gedichte erschienen. In zeitlicher Folge enthält er sämtliche zu Lebzeiten in Kompendien oder verstreut veröffentlichte Lyrik, darunter Raritäten wie das noch in der DDR veröffentlichte Poesiealbum – die einzige im Arbeiter- und Bauernstaat zustande gekommene Publikation (die Aussicht, in Honeckers Gemeinwesen nicht mehr veröffentlichen zu können und nicht etwa die Liebe zum freien Westen war auch der Grund für die Aussiedlung gewesen). Hinzu kommen zahlreiche Texte aus dem Nachlass, teils publiziert, teils unbekannt.
Man darf noch einen weiteren Anlass für die begrüßenswerte Edition vermuten: Mit ihrem autobiografischen Roman Ab jetzt ist Ruhe hat die letzte Überlebende der Geschwister, Marion Brasch (die beiden anderen, ebenfalls künstlerisch tätigen Brüder starben in noch früherem Alter als Thomas), das Interesse für diese bemerkenswerte Familie erneut stimuliert. Das Buch beschreibt auch den Aufstand der Söhne gegen den Vater, einen Kommunisten jüdischer Herkunft, der 1946 (da war Thomas ein Jahr alt) aus dem britischen Exil in die nachmalige DDR ging und es in deren Nomenklatura weit nach oben brachte.
Thomas Braschs Sehnsucht mochte in ein Nirgendwo zielen, aber sein Leiden war nicht ortlos: Es galt der eigenen Herkunft und Sozialisation – und es galt der deutschen Vergangenheit und den deutschen Gegenwarten. Die DDR bezeichnet er in einem Gedicht als „Kreuzung zwischen Knast und Irrenanstalt“, „ein irrsinniges Kind der viehischen Mutter Faschismus“, „gezeugt im Jahr 45 im blutigen Bett Europa, als auch deine Schwester gezeugt wurde“ – eben die Bundesrepublik, mit Uncle Sam als Vater. Und in beiden Systemen bringt allein schon die deutsche Sprache den von Brasch bemisstrauten Phänotyp des „Staatsbürgers“ hervor: „Staat und Bürger: Das ist der Rest der Großen Umwälzung: / Als Staat pflanzt sich der Bürger fröhlich fort.“
Der Leser wird sofort hineingezogen in eine eigentümliche Sphäre aus Schmerz und Wut, aus passioniertem Widerstand gegen alles gezähmte und kanalisierte Denken. Der tobt sich freilich an den unterschiedlichsten Gegenständen aus, durchaus nicht nur an politischen: Vor allem gibt es da viele an etliche Adressatinnen gerichtete Liebesgedichte, in denen sich Braschs – sagen wir einmal – unruhiges erotisches Leben spiegelt. Aber es gibt auch Sprüche und Lieder, Porträts in Poesie-Gestalt, etwa von Braschs Förderin Helene Weigel – und viel Gelegenheitslyrik: für Verleger, Lektoren, Freunde, Kollegen.
Die Formen sind außerordentlich vielfältig und reichhaltig, sie umfassen den Vierzeiler und das vielstrophige Kettengedicht, die lyrische Prosa und die gebundene Form in unterschiedlichsten Metren, mit und ohne Reim. Aber wie Braschs Sprache oft sarkastisch, schnoddrig, drasisch-roh ist, so spürt man allenthalben das Aufbegehren gegen den rhythmisch glatten Fluss, den Willen, die Oberfläche aufzurauen, das Gebilde schwergängig zu machen. Auch liegt das wie auch immer „Gemeinte“ nicht plan zu Tage, vielfältige intertextuelle Bezüge, zeithistorische Versteckspiele und andere Indirektheiten fordern die intellektuelle Anstrengung des Lesers heraus.
Sicher kann man für diese Lyrik Vorbilder geltend machen – Heine und Brecht wären hier vor allem zu nennen, auch im Sinne einer Verwandtschaft im Geiste. Aber was besagt das schon angesichts dieser unverbrauchten Bilderwucht, dieses unverwechselbaren Tons: „Halleluja, der Aufstand fault zwischen meinen gelockerten Zähnen. / Halleluja, der Wind. Er fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.“ Bleibt zu hoffen, dass der Band Auftakt zu weiteren Unternehmungen ist: Die Dramatik und die Prosa des Autors laden genauso zur Wiederentdeckung ein.
Markus Schwering, Kölner Stadt-Anzeiger, 5.7.2013
Schon als Person war Thomas Brasch eine charismatische Erscheinung – unruhig, rebellisch, zerrissen, ein Kettenraucher und auch diversen anderen Süchten zugetan. Und bei alldem… ein Romantiker von hohen Gnaden. Als er nach gut zwei Jahren DDR-Knast im Zuge der Biermann-Ausbürgerung 1976 ausreiste, landete er im gutbürgerlichen Westberlin und veröffentlichte 1978 den wegweisenden Gedichtband Der schöne 27. September mit dem legendären Gedicht „Der Sänger Dylan in der Deutschlandhalle“:
Die Wetter schlagen um:
Sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief,
ist heute zwei Tage älter.
Brasch schrieb Prosa, Theaterstücke, Übersetzungen – und doch ist die Poesie sein eigentliches Hauptwerk. Mit 1.000 Seiten und über 300 hier erstmals veröffentlichten Gedichten bietet der Band auch Brasch-Kennern viel Neues. Es gilt, einen Mann zu entdecken, dessen Persönlichkeit kaum von zwei Buchdeckeln zu bändigen war. Ein Klotz von einem Buch, eine Wucht von Poesie!
Bielefelder, 29.7.2013
– Sein Leben war mit politischen Zäsuren verwoben: Der Sammelband „Die nennen das Schrei“ mit Thomas Braschs Gedichten zeigt die ganze literarische Wucht und Radikalität des 2001 verstorbenen Schriftstellers. –
Wer durch sein Leben wollte, der musste durch sein Zimmer, ließ er ausrichten, via Neunzeiler. In seinem Zimmer, so stellt man sich vor, da war die Luft schwer vom Zigarettenrauch, vielleicht von den Gedanken, die kreisten. Er aber, Brasch, eingesperrt, einsam, getrieben, sah durch „Augenfenster“ in die Welt hinaus.
Es lohnt dabei unbedingt, dem Dichter und Schriftsteller Thomas Brasch in sein Zimmer zu folgen. Der Suhrkamp Verlag legte jüngst dessen lyrisches Gesamtwerk vor. „Die nennen das Schrei“ heißt der Band, dank dem man die gedanklichen Gebäude betreten kann, die der große und etwas in Vergessenheit geratene Berliner Schriftsteller hinterlassen hat.
Der Band umfasst seine Gedichte zu Lebzeiten wie auch das umfangreiche Werk aus dem Nachlass. Darunter finden sich zahlreiche Texte, die nicht eindeutig einer Gattung zuzuordnen sind: Prosagedichte, Collagen, an Aphorismen oder lyrische Skizzen erinnernde Texte.
Auf 1.030 Seiten wird die ganze literarische Wucht und Radikalität des 2001 gestorbenen Schriftstellers, Film- und Theatermachers erkennbar. Thomas Brasch war in seinem Werk kaum zu fassen, er war als Mensch kaum zu fassen. Ein einsamer Mann. Ein brodelnder, von einigen als unangenehm beschriebener Charakter. Ein pausenloser Denker mit Hang zum Exzess. Er fehlt.
Er fehlt vor allem deshalb, weil das Kunstverständnis, das er repräsentierte, heute in der deutschsprachigen Literatur so nicht mehr oft zu finden ist. Brasch wollte die unbedingte Kunst, die im stetigen Widerstreit mit sich selbst sein musste, dialektisch, ideologiefern, unversöhnlich. Er hat mit der Sprache, mit dem Leben, mit den Identitäten gerungen. In jeder Zeile des 1945 geborenen und in der DDR aufgewachsenen Schriftstellers schwingt dieser Kampf mit.
Zu seinem künstlerischen Schaffen bemerkte er einmal gegenüber Verleger Siegfried UnseId, er sperre sich nun wieder in sein „Wörtergefängnis“ ein, und so muss man sich die Arbeits- und Lebensweise – beides ist nur zusammen denkbar – des Thomas Brasch auch vorstellen: Mit der „Sucht zu denken, immer wieder Widersprüche zu finden, immer wieder Fehler zu machen, um aus diesen Fehlern mit einer neuen Qualität hervorzukommen“, wie Insa Wilke ihn in ihrer 2010 erschienenen Biografie Ist das ein Leben zitiert.
In der zu den bekannteren Texten zählenden Hommage an den Schriftsteller Uwe Johnson („Halb Schlaf“) schreibt Brasch:
So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus:
Da weint er und da grinst er
und kann nicht mehr heraus.
Brasch, den einige während seiner Tätigkeit am Berliner Ensemble den guten und den bösen Geist des Schiffbauerdamms nannten (wo er auch lebte), versuchte Grenzen zu sprengen, die dort begannen, wo aus einem Gedanken ein Wort, dann ein Satz wird.
Er führte „eine Existenz im und durch das Schreiben“: wie Wilke schreibt. In „Über Kunst“ heißt es es:
Und ich. Bin nichts als meine Augen
Wenn ihr die 2 begrabt, begrabt ihr wen.
Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehn. (sic)
Ich will nicht sterben. Nur was taugen.
Dasein ist bei Brasch zunächst bloße Wahrnehmung. Diese gilt es in Wörter zu übersetzen. Die Widersprüche, die sich dann ergeben, werden zu seinem Werk – vielleicht lässt sich anhand dieser Gedichtzeilen nachvollziehen, warum Brasch einmal ein hochdotiertes Angebot eines Verlegers ausschlug. der dessen Autobiografie gerne publiziert gesehen hätte.
Ein überzeugter Sozialist
Die Biografie Braschs ist deshalb so interessant, weil sie eng mit der deutsch-deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben ist. Geboren wurde er 1945 im britischen Westow/Yorkshire, wo sich die Familie mit jüdischen Wurzeln im Exil befand. Nach der Rückkehr nach Deutschland ging Brasch in Cottbus und Naumburg zur Schule, ehe er zum Abitur nach Ostberlin kam. Brasch ist der Sohn des stellvertretenden DDR-Kulturministers Horst Brasch. Bruder Klaus war Schauspieler und starb mit 29 Jahren, seine Schwester Marion Brasch kennt man heute als Autorin (sie hat 2012 einen Roman über ihre Familie veröffentlicht) und Radiomoderatorin.
In der DDR bekam Brasch keinen Fuß auf den Boden: obwohl oder eher weil er überzeugter Sozialist war. Mit dem sozialistischen Realismus konnte er sich weder in der Kunst noch im Leben arrangieren. Erst warf man ihm „linksradikale Tendenzen“ vor, später lehnte der Rostocker Hinstorff-Verlag Prosatexte Braschs wegen „Verzerrung der Arbeitswelt und des Jugendlebens in diesem Staat“ ab.
Im Jahr 1968 wurde Brasch in der DDR wegen „staatsfeindlicher Hetze“ inhaftiert. Über die Gefängniszeit schreibt er in „Friede den Wächtern“:
Schreie im Flur nach zehn Wochen oder zwölf: Ihr
Verbrecher. Das hastige Tappen der Füße über
den Teppich. Dein Ohr an der Tür.
No man is an island. Friede den Wächtern.
Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus.
Als er Ende 1976 nach West-Berlin ausreisen durfte – gemeinsam mit Lebensgefährtin Katharina Thalbach, mit der er über 30 Jahre befreundet war –, wollte er dort nicht als DDR-Dissident gelten. Seine schriftstellerische Karriere begann: Im Westen reüssierte er mit Lyrik, Hörspielen, Theaterstücken, später auch mit Filmproduktionen. Die im Band enthaltenen lyrischen Publikationen Kargo. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen (1977) und Der schöne 27. September (1980) waren literarische Ereignisse. Sein Lebenswerk sollte ein Romanmonstrum namens „Mädchenmörder Brunke“ werden, das als 15.000-Seiten-Manuskript im Brasch-Archiv liegt. Bisher erschien es nur in einer schmalen, hundertseitigen Ausgabe im Jahr 1999.
Seine damalige Ankunft im Westen beschreibt Brasch wie folgt:
Ich bin mit 31 Jahren in dieses Land gekommen
Christus war 31 als er nach Jerusalem kam
ich will ihnen nichts predigen
ich kann ihnen mit meinen Wörtern nichts sagen, was sie verstehen (?)
ich komme aus dem deutschen Bauch in die harte deutsche Leber
sie haben Beschwerden deutsche
in Ost und West
im Osten sind sie unbeholfen im Westen sind sie flott
sie haben mich
gedruckt nicht geruckt
So sehr Braschs Leben, auch sein Wirken, mit politischen Zäsuren verbunden war, so sehr hat er es vermieden, sich als politischen Schriftsteller oder gar als Autor einer Littérature engagée (wie Jean-Paul Sartre die politische Prosa genannt hat) zu sehen. Was wiederum nicht hieß, dass sein Werk nicht hochpolitisch gewesen wäre: Für ihn war die schriftstellerische Tätigkeit politisch sui generis. Brasch wird etwa mit den Worten zitiert, die ganze politische Energie des Schriftstellers müsse in sein Werk fließen. Dass er gemeinsam mit Günter Grass, Sarah Kirsch und Peter Schneider 1980 einen Brief an den damaligen Kanzler Helmut Schmidt unterzeichnete, ist im Rückblick überraschend: Das Wettrüsten im Kalten Krieg steuerte damals einer neuerlichen Konfrontation entgegen – die Autoren forderten Schmidt auf, „der besonderen Verantwortung der Deutschen für den Frieden gerecht zu werden“: Vielmehr hatte Brasch mit seinen Mitunterzeichnern aber auch nicht gemein.
Heine, Rimbaud, Dylan
Mit dem Politikbetrieb kam Brasch ein Jahr später erneut in Berührung, als ihm für Engel aus Eisen der Bayerische Filmpreis von Franz Josef Strauß überreicht wurde. Auf seine Dankesrede hätte die Jury wohl gern verzichtet: Brasch sprach über den „Widerspruch der Künstler im Zeitalter des Geldes“: der nur scheinbar zu lösen sei: „mit dem Rückzug in eine privatisierende Kunstproduktion oder mit der Übernahme der Ideologie der Macht“.
Als Figur im Literaturbetrieb lässt sich Brasch vielleicht mit Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann oder auch Arno Schmidt vergleichen. Es sind starke, gewaltige und doch empfindsame Zeilen, die man beim Blättern im Band mit Freude aufsaugt. Auch Braschs berühmteste Zeilen finden sich hier. In „Der Papiertiger’“, einem in 18 Kapitel aufgeteilten Langgedicht, heißt es:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin
bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Oft finden sich bei Brasch Ähnlichkeiten mit späteren Diskurspop-Lyrics. Und obwohl Brasch nicht – wie etwa Brinkmann – der frühen Popliteratur zuzurechnen ist, gibt es doch Texte, die man dort einordnen könnte. Schaut man schließlich, welche Figuren durch seine Gedichte rauschen – Heine, Goethe, Shakespeare, Jim Morrison, Rimbaud, Kinski, Jagger, Dylan, Brecht –, so lässt sich nachvollziehen, in welch breitem kulturellen Feld Braschs Einflüsse lagen. Dank der Brasch-Archivarin Martina Hanf und der Autorin Kristin Schulz, die den Band herausgegeben haben, kann man den vor fast zwölf Jahren an Herzversagen gestorbenen Brasch nun wiederentdecken.
Dieser umfangreiche Gedichtband enthält alle veröffentlichten und aus dem Nachlass zahlreiche unveröffentlichten Gedichte des Lyrikers Thomas Brasch (1945–2001), der in England geboren wurde und in Berlin lebte. Herausgegeben und kommentiert wurden diese Gedichte von Kristin Schulz und Martina Hanf.
Das Buch enthält Gelegenheitsgedichte, Balladen, Lieder, Stückcollagen aber auch Fototexte. Unter diesen Gedichten finden sich Raritäten wie die 1975 veröffentlichte Reihe Poesiealbum, die lange vergriffen war.
Zu jedem Gedicht findet man Selbstaussagen, Nachweise zur Textgenese, Erläuterungen zu Namen, Widmungen, biografische Details und Zitate.
Eingeteilt ist das Buch in die Abschnitte:
− Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen.
− Der schöne 27. September
− zwei offne fenster ODER ein liebes paar
− Weitere Veröffentlichungen zu Lebzeiten
− Gedicht aus dem Nachlass
− Bildteil
− Anhang
Bedauerlicherweise ist es nicht möglich, eines der Gedichte in seiner Gesamtheit vorstellen zu können, weil es rechtliche Schwierigkeiten mit den Erben geben könnte. Den Inhalt nachzuerzählen halte ich für wenig ergiebig, weil es bei einem Gedicht in erster Linie die Sprachmelodie ist, die den Leser fasziniert und hinter die Worte in die Seelenwelt des Dichters blicken lässt.
Gefallen hat mir, im Bildteil handgeschriebene Gedichte von Brasch lesen zu können. Der Dichter hatte eine sehr schöne Schrift, die auf wohlüberlegtes Schreiben hinweist. Oft hat er Worte verändert und zeigt dass ein Gedicht nicht aus einem Guss entsteht, sondern ein gedanklicher Prozess ist, der Wortveränderungen mit sich bringt. Diese gedanklichen Prozesse nachzuvollziehen und zu analysieren, halte ich für besonders interessant, mehr noch als das perfekte Ergebnis zu bewundern, denn es sagt weitaus mehr über diesen schreibenden Menschen aus, der die bemerkenswerte Gedichte schrieb.
− Thomas Brasch – „Die nennen das Schrei“. Die Wiederauferstehung eines Dichters aus dem Archiv. −
Ein Gedicht braucht ganz wenige Menschen, um durchzukommen.
Christoph Meckel
Die Ästhetik war „Außer Atem“. Thomas Brasch (1945–2001) trieb die Abgrenzung bis zur Pose und schrieb Gedichte für die Köchin im Ganymed bei Gelegenheit. Dann schrie er aus dem Fenster seinen Verdruss. Das hörte man nebenan, wo das Berliner Ensemble ist. Das Ende im Blick vor dem Anfang: das ist das erste Gesicht der Gedichte von Thomas Brasch. Der Fatalismus der Geschichte summt darin sein Lied vom Sozialismus. Der Kampf geht immer nur „um eine Niederlage“. „Wer unterliegen will, muss siegen“.
1998 übernahm die Berliner Akademie der Künste das private Archiv von Thomas Brasch einschließlich der Geburtsurkunde. Martina Hanf, wissenschaftliche Mitarbeiterin, organisierte die Prozesse der Einlagerung und betreut weiterhin die Sichtung in der Akademie. Nun hat sie, nach drei Jahren gemeinsamer Arbeit mit der Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz, Braschs gesammelte Gedichte unter dem Titel „Die nennen das Schrei“ im Suhrkamp Verlag herausgegeben.
Jamal Tuschick: „Die nennen das Schrei“ ist auch ein editorisches Mammut mit seinen tausend Seiten und rund fünfhundert Gedichten – etwa dreihundert aus dem Nachlass und hundertfünfundachtzig erstmals veröffentlichten. Wo kommt die Liebe zur Sache her und wie gegenwärtig ist Brasch in Ihren Augen?
Martina Hanf: Die Braschsachen machen mich trunken. Darin steckt eine Kraft, die nur selten auftritt. Ich finde, Brasch als Dichter ist absolut gegenwärtig. Man darf sich aber auch nichts vormachen: Autoren überleben kaum je noch ihren Tod.
Tuschick: Frau Hanf, Sie sind Brasch persönlich begegnet?
Hanf: Ja, zuerst auf Feten im Prenzlauer Berg. Das ist lang her, „da konnte man noch DDR zu uns sagen“. Als Brasch dann sein Archiv der Akademie gab, fingen wir an, uns zu unterhalten. Einmal sagte er: „Wehe, du lässt mich in den kleinen Särgen (Archivkästen) liegen“.
Er hat sich selbst immer wieder an einen Rand getrieben. Anders ging Kunst für ihn nicht. Er konnte einen in die Verzweiflung führen. Es war schwer, Ordnung in sein Werk zu bringen. Alle Frauen, die mit ihm zusammen waren, haben das wohl versucht, aber ab 1996 lebte er schließlich allein am Schiffbauerdamm, gleich neben dem Berliner Ensemble. Allein in einem Chaos. – Allein für das Brunke-Konvolut braucht es dreißig Archivkästen.
Tuschick: Es ist alles sofort da, schon im ersten Band, einem Poesiealbum aus dem Jahr 1975, die Graphik von Einar Schleef. (Das war monatliche Lyrik in der DDR, für neunzig Pfennig am Kiosk. Auch Hồ Chí Minh bekam sein Poesiealbum. Das Leben blutet aus Augen & Ohren, viel ist (wie) für das Theater geschrieben, es gibt Kursivschriftstellen, die sich als Regieanweisungen lesen lassen.)
Hanf: Ja, das Poesiealbum 89. Dafür wäre der Bernd Jentzsch (Herausgeber) beinah entlassen worden, da hat die Zensur geschlafen. Darin kommt die Stasi als Firma vor.
Tuschick: Frau Schulz, Sie sind Müller-Spezialistin, was haben Sie von Brasch?
Schulz: Auch Braschs Krieg fand ohne Schlachten statt, Heiner Müller schrieb ihm einen Hass zu, „der in dieser Welt den Vätern zukommt“. In Müllers Besprechung von Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo erkennt der Rezensent die eigene Versteinerung. Außerdem sagt er: „Ich weiß nicht, was sie dort (in der Bundesrepublik) für Folgen haben werden, in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht.“ Kargo ist übrigens viel Prosa, wir haben Kargo im Band wie Konterbande untergebracht, damit diese Brasch-Prosa nicht verschwindet.
Müller erklärt außerdem Braschs „Land-Wechsel“ sehr effektiv:
Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Ringelsocken). Nicht die wirklichen Klassenkämpfe, sondern ihr Pathos.
Tuschick: Darin steckt ein Vorwurf der Uneinsichtigkeit, Müller überzieht damit auch Kargo. Er schreibt: „Die Ungeduld, zu warten, bis der Schock Erfahrung wird“.
Schulz: Ja, Müllers Termine mit der Geschichte waren andere, folglich auch seine Reaktionen auf „die Geburtsfehler der sozialistischen Frühgeburt DDR“. Müller ist im Material geblieben. (Leben im Material: das ist die Verbindung einer Biografie mit der Geschichte eines Landes).
Tuschick: Für Müller war die DDR eine Baustelle, für Brasch ist sie eine Mischung aus Knast und Irrenhaus gewesen. Da ist ein Staat zerfallen: extremistisch gesprochen, wie eine Tonform für Literatur. Ihre überlegene Ästhetik formulierte sich im Widerstand gegen die Absurdität einer verordneten Literatur.
Schulz: Sie entstand unter einer Skulptur aus literarischem Schrott. Dieser Untergrund hatte in Pankow eine Anschrift, ein Wohnzimmer als Salon. Friedrich Christian Delius erzählt das gern: wie er fünfundsiebzig zum ersten Mal Brasch trifft, den Dichter des Poesiealbum 89. Delius besuchte Brasch und Katharina Thalbach auch in der Wilhelm-Pieck-Straße. Er sah die Manuskripte von Vor den Vätern sterben die Söhne und von Kargo und ist gleich begeistert. Der Text gelangte unter der Hand in den Westen, Brasch wurde zu Honecker gelassen, aber Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo konnte trotzdem so nicht in der DDR erscheinen wie es seinem Autor nötig erschien. Brasch drohte Gefängnis, das denkt man heute nicht mehr.
Tuschick: Gefängnis kennt er schon, das geht nicht mehr als neue Erfahrung. Er hat die Wahl zwischen Wiederholung und weg. Er überlässt anderen das Feld seiner Erfahrungen. Nicht, dass Westberlin ihm passen könnte. Nichts passt mehr richtig.
Hanf: Obwohl der Erfolg ihm auf dem Fuß folgt, eingeleitet von einem Spiegel-Gespräch, das eins vor allem anderen klarstellen soll: Thomas Brasch ist nicht als Dissident in den Westen gekommen. Er hätte plakative Kritik an der DDR auch als Verrat an seinem Vater empfunden. Biermanns Ausbürgerung hielt er für (vom Staat) abgesprochen mit Biermann.
Er redete immer von „seiner kleinen DDR“. Als es die nicht mehr gab, hat es ihm die Sprache verschlagen. Brasch, das war der Egomane im Kollektiv: eine Antinomie, aber so entsteht Kunst.
Tuschieck: Was haben Sie ausgelassen?
Hanf: Unfertiges. Entwürfe. – Und das Gedicht, für das er 1961 den Gerhart Hauptmann-Preis bekommen hat. Da hat Brasch die Publikation selbst ausgeschlossen.
– Das Lied war sein lyrisches Element: Erstmals liegen die Gedichte von Thomas Brasch vollständig vor. Der umfangreiche Band zeigt einen Poeten in der Nachfolge von Brecht bis Jim Morrison. –
Eine Lebensgeschichte, wie sie die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb: Thomas Brasch wurde 1945 als Sohn jüdischer Emigranten in Großbritannien geboren. Seine Eltern waren in der Exil-KPD tätig und siedelten nach Kriegsende in die Sowjetische Besatzungszone um. Der Vater machte politische Karriere in der DDR, der Sohn Thomas wurde 1956 zusammen mit 250 anderen ausgewählten Söhnen von SED-Funktionären in die Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg (Saale) aufgenommen; „fast wie ein Gefängnis“, schrieb Brasch später über diese Institution.
Gegen Ende der Schulzeit und zu Beginn des Journalistik-Studiums an der Karl-Marx-Universität in Leipzig häuften sich Schwierigkeiten, wurde Brasch rebellisch, exmatrikuliert, begann ein neues Studium, diesmal der Dramaturgie, wurde von der Staatssicherheit beobachtet und schließlich wegen „staatsfeindlicher Hetze“ gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Danach arbeitete er als Handwerker und versuchte, mit seiner Literatur Geld zu verdienen. Gefördert wurde er von Heiner Müller, aber auch von Helene Weigel, die ihm eine Anstellung am Brecht-Archiv verschaffte. 1975 erschien unter Schwierigkeiten Poesiealbum, sein einziger Gedichtband in der DDR, Theaterstücke wurden kurz vor der Aufführung gestoppt. Nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann verlässt Brasch die DDR.
Im Westen angekommen, hat er zunächst große Erfolge mit den Erzählungen Vor den Vätern sterben die Söhne und dem Gedichtband Der schöne 27. September. Brasch dreht Filme wie Engel aus Eisen, der in Cannes präsentiert wird. Er übersetzt für das Theater, Tschechow und vor allem Shakespeare, aber in diesen späten Jahren und auch nach der Wiedervereinigung entstehen nur noch wenige eigene Texte. Im Jahr 2001 starb Thomas Brasch. Er liegt in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben.
Intensiv war Braschs Leben auch im Privaten. Er hatte einen Sohn mit der Liedermacherin Bettina Wegner, für die er Texte schrieb, lebte mit Katharina Thalbach zusammen, der er wunderbare Liebesgedichte widmete, kümmerte sich mit um ihre Tochter Anna Thalbach.
Brasch gehört zu jener Generation, die den Sozialismus nicht mehr als „Hoffnung auf das Andere“ erfahren hat, sondern nur noch als „deformierte Realität“, so hat es Heiner Müller festgestellt. In einem frühen Gedicht fragt Brasch:
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen.
Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
Er erzählt die Geschichte eines Kommunisten, der nacheinander die Bilder von Lenin, Stalin, Pieck und Ulbricht an der Wand auf- und wieder abhängte, dann das Bild seiner Frau, zuletzt einen Spiegel, in den er hineinsah:
„Wer ist das“. schrie er,
„kann man denn nie allein sein.“
Wer sich immer nur über Außengrößen definiert, besitzt kein Ich mehr. Allerdings konnte Brasch mit der westlich-liberalen Gesellschaft ebenso wenig anfangen wie mit dem real existierenden Sozialismus. Er sprach vom „Gestank der Demokratie“ und wusste, dass er mit seinen Worten dem Westen nichts sagen konnte, was dieser verstand. So kann Brasch in einem Gedicht, geschrieben kurz vor dem Verlassen der DDR, feststellen: „Wer die Mauern durchbricht, ist verloren“, aber auch: „Wer die Mauern nicht durchbricht, ist verloren.“
Dieser Verlorene schrieb von seiner Jugend bis zu seinem Tod Gedichte, die nun erstmals vollständig in einem Band vorliegen, unter Einbezug sehr vieler bisher unveröffentlichter Texte aus dem Nachlass, mit Anmerkungen versehen und schön gestaltet. Lediglich der Titel dieser Sammlung ist unpassend, denn er suggeriert, dass es sich um eine Art neoexpressionistischen Dichter handelt, während Braschs bemerkenswerteste Leistungen auf dem Gebiet des Liedes liegen. Hier kommt es zu einer sehr interessanten Mischung, denn einerseits ist Brecht die große Bezugsfigur für Brasch. So spricht die Suhrkamp-Lektorin und Dichterin Elisabeth Borchers in einem Brief von der „selbstverständlichen Einfachheit“ der Sprache Braschs, die sie so nach Brecht nie mehr erlebt habe. Aber Brasch nahm genauso amerikanische Rockmusik auf, also die intensivste Fortsetzung der Lieddichtung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Bob Dylan, Jim Morrison, Jimi Hendrix und andere sind seine Helden.
Aus diesen Einflüssen ergeben sich eigene Bild- und Sprachmischungen. Brasch stellt sich eine helle Nacht in Berlin vor dem KaDeWe vor, in der Stevie Wonder gespielt und Brecht gelesen wird, während das Ich das Knie seiner Geliebten bewundert. Rockmusik vitalisiert ihn so, dass er ausrufen kann: „Halleluja, der Wind. Er fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.“ Im Gedicht „Der schöne 27. September“ beschreibt das Ich, was es alles nicht getan hat, und schließt: „Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.“
Beim Lesen denkt man an die Fortschreibung solcher Lieder etwa durch Rainald Grebe, der in seinem Song „Es ist gut“ am Ende eines Tages feststellen kann: „Und ich hab wieder nicht die Welt gerettet.“ Brasch hat ein starkes Bewusstsein davon, Glied einer solchen Kette von Liedsängern zu sein. Darin konnte er Zugehörigkeit erfahren, befreit von der Last seiner Person: „Bin das Lied, bin nicht der Sänger“, heißt es im Gedicht „Jim Morrison“.
Dirk von Petersdorff, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.7.2013
– Zerrissen, aufrührerisch und wunderbar: Alle Gedichte von Thomas Brasch liegen jetzt gebündelt vor. –
Zu seinen Lebzeiten wurden von Thomas Brasch nur zwei Gedichtbände publiziert: Poesiealbum 89 im Jahr 1975 im Osten und Der schöne 27. September 1980 im Westen. Viele seiner Gedichte schwirrten umher, fanden sich in Theater-, Film- und Montagetexten, Zeitungen und Zeitschriften, Programmheften und Briefen, sehr viel mehr noch in seinen Nachlassmappen.
Veröffentlichtes, Verstreutes wie Nichtveröffentlichtes bündelt jetzt ein Buch, zeigt Aufstieg und Niedergang eines Dichters, seine Verletzlichkeit und seine Zerrissenheit. Mit dem Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne erreichte er seinen größten Erfolg. Thomas Brasch, 1945 in Westow in England geboren, aufgewachsen in der DDR als Sohn eines hohen Staatsfunktionärs, von Helene Weigel gefördert, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ im Gefängnis gesessen, 1976 in den Westen ausgereist, 2001 in Berlin gestorben. Eine deutsche Biografie.
Der Ehrgeiz der beiden Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz, alle von Brasch jemals geschriebenen Gedichte in chronologischer Reihung zu versammeln, mag im Interesse fragwürdiger Wissenschaft sein, aber im Sinne des betroffenen Dichters ist es vermutlich nicht. Die Anfänge liegen um 1960, als Brasch noch ein Junge von fünfzehn Jahren und strammer Schüler einer Kadettenschule der NVA war.
Das Krachen des Schusses ist vorbei
Du liegst im Sand,
der rot sich färbt
und schmutzig ist.
Du, Held,
bist ausgelöscht.
Vierzig Jahre später endet das Dichterleben mit dem umwerfenden Vierzeiler:
Hör mein verflucht und zugenähtes Herz:
hörst du? Es klopft + schlägt nicht, sondern klirrt
Es ist aus Blut und Fleisch nicht, nur voll Schmerz
Ein Klumpen Eis hat sich in mich verirrt.
Dazwischen finden sich Poetenseminaranklänge neben erotischen Versen in bester Brecht-Tradition, Heinrich-Heine-Aufgüsse neben trefflichen Widmungsgedichten. Brasch selbst nennt sich „Aushilfs-Heine minus Brecht“.
Als Kuriositäten dürfen ein Gedicht auf die DDR sowie Persiflagen auf Wolf Biermann und Karl Mickel verbucht werden. Erstaunlich, dass die meisten Strophen, die Brasch für ungültig hielt, immer noch besser sind, als alles, was sich Lyriker, die heute in Braschs Blütezeitalter sind, aus den Fingern saugen.
Als äußerst fragwürdig erweist sich die Aufnahme des gesamten, 1977 erschienenen Kargo-Buches, eines experimentierfreudigen Konglomerats von unterschiedlichsten Textformen und Fotos. Die darin enthaltenen Gedichte herauszulösen, wäre ausreichend gewesen und das vorliegende Buch um einiges handlicher geworden.
Was vielleicht ein Lesebuch sein möchte, ist in erster Linie ein wissenschaftliches Werk mit schwergewichtigem, 250 Seiten umfassenden Anhang: Bildteil, editorische Notizen, detaillierte Anmerkungen zu jedem einzelnen Gedicht, Biografie, Bibliografie, Danksagung, alphabetisches Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge. Wer es vermag, während der Lektüre die akademische Verwissenschaftlichung auszublenden, kann durchaus Merkwürdiges und Wunderbares entdecken.
Im Februar 2013 lasen Katharina und Anna Thalbach vor ausverkauftem Dresdner Schauspielhaus Gedichte von Thomas Brasch. Nie im Leben hätte der noch lebende Brasch eine Einladung erhalten, um dort eine Lyrik-Lesung zu geben, wenn doch, wäre das Haus nicht ausverkauft gewesen. Geschweige denn, dass ein Stück von ihm inszeniert worden wäre. Dichterschicksal.
Michael Wüstefeld, Sächsische Zeitung, 15./16.6.2013
In der orientalischen Gestalt des Seefahrers Sindbad erkannte einst der Dichter Thomas Brasch sein schicksalsträchtiges Ebenbild. Ein Mann, der nach dem Untergang seines Schiffs allein auf dem Meer dahintreibt, ohne jede Aussicht, ein rettendes Ufer zu erreichen. Seine Freunde und Weggefährten hat der Sturm zerfetzt, seine einzigen Gesprächspartner sind die Stimmen in seinem Schädel. „Jetzt hast du den Boden unter den Füssen verloren“, lässt Brasch seinen Sindbad sagen, „ausgelöscht ist alles in dir.“ Und diese Erfahrung einer Auslöschung der Existenz hat auch der Dichter Brasch in der DDR durchleben müssen. Die ihm zugedachte Bilderbuchkarriere hatte der 1945 geborene Sohn jüdischer Emigranten durch seinen ästhetischen Eigensinn frühzeitig zerstört. Während sein Vater zum stellvertretenden Kulturminister der DDR aufstieg, wurde Brasch 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei in Umlauf gebracht zu haben.
Gewaltige Schätze
Kurz zuvor hatte er sich als junger Lyriker in der Tradition Brechts und Heiner Müllers exponiert und aus einem libertären Marxismus heraus die Defizite seines Staates benannt. Trotz der politischen Renitenz des Dichters gelang es seinen Förderern, ihm 1975 eine einzige Publikation in der DDR zu ermöglichen, ein schmales Heft in der Reihe Poesiealbum, in dem gleich das fünfte Gedicht ein Bild brutaler Polizeigewalt entwarf. Für einen derart selbstbewussten Poeten war kein Platz im SED-Staat. Thomas Brasch verliess 1976 die DDR, ohne je im Westen heimisch zu werden. Aus einer rauschhaften Produktivität stürzte er Mitte der achtziger Jahre in eine tiefe Schreibkrise, deren Folgen er durch ruinösen Umgang mit seiner Gesundheit noch weiter vertiefte. 2001 starb er im Alter von 56 Jahren an Herzversagen. Eine erste Nachlasspublikation mit Gedichten dokumentierte bereits 2002, welche gewaltigen literarischen Schätze der Öffentlichkeit verborgen geblieben waren. Nach jahrelanger Recherche haben nun Martina Hanf, Mitarbeiterin im Thomas-Brasch-Archiv in der Berliner Akademie der Künste, und die Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz all diese Schätze ans Tageslicht gehoben. Die Gesammelten Gedichte von Thomas Brasch enthalten nicht nur die vier zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbände, sondern einen weit umfangreicheren Teil von verstreut publizierten oder unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass. Den rund 800 Seiten mit Gedichten, Balladen, zarten und finsteren Liedern und tonlosen Versen der Verzweiflung folgen auf 200 Seiten eher knapp gehaltene textkritische Kommentierungen.
Auch der szenisch angelegte Band Kargo aus dem Jahr 1977 ist in dem wuchtigen Buch enthalten, obwohl es sich dabei um einen Grenzgang zwischen den Gattungen handelt und Brasch darin eindrucksvoll Gedichte mit Fotografien, dramatischen Szenen und Prosaaufzeichnungen verknüpfte. Im Kargo-Band findet sich auch jenes ergreifende Gedicht über die Unbehaustheit, das ursprünglich aus dem Kontext des erwähnten „Sindbad“-Poems stammt und vom Autor später in den szenischen Zyklus „Der Papiertiger“ eingefügt wurde. Das Ich des Gedichts gerät hier in unaufhebbare Paradoxien:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Jeder Vorsatz, jeder Entschluss des Ich wird hier durch ein „aber“ dementiert; nirgendwo ist ein Bleiben möglich ausser in der Paradoxie. Das Ich des Dichters betrachtet sich selbst in einer permanenten Fluchtbewegung, desintegriert in jeder Faser seiner Existenz. Eine nomadisierende Geste, eine trotzige Markierung der eigenen Aussenseiterposition prägt auch das späte „Vorspiel“, das der Autor zu einer Bearbeitung von Shakespeares Romeo und Julia geschrieben hat. Es ist 1990 unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung entstanden, und das im britischen Yorkshire geborene Emigrantenkind Brasch porträtiert sich darin als sarkastischer „Sterbewitz“:
Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
Ich heiss: The Fool. Das wird nicht übersetzt.
Suchbewegung des Einsamen
Ein Dichter des bitter ironischen „Sterbewitzes“ ist Thomas Brasch immer geblieben. Der einst als „Ulysses aus Charlottenburg“ umjubelte Dichter besichtigt in seinen späten, zu Lebzeiten nie veröffentlichten Gedichten den Rest seiner künstlerischen Existenz. Das Resultat dieser poetischen Selbsterkundung sind bewegende, tief anrührende Gedichte eines Mannes, dem die Welt zerbrach. So verläuft die Suchbewegung des Einsamen auf einem gefährlichen Terrain: auf den Albtraumpfaden „zwischen einsam und allein“, gebannt in ein ewig währendes Unglück. Dort, im Gehäus seiner Isolation, sitzt er fest, dort spürt er das Herannahen der eigenen Vergänglichkeit. Dort sehnt er sich schliesslich für einige poetische Augenblicke nach einem Aufatmen:
WAS IST DAS ZWISCHEN EINSAM UND ALLEIN:
als wär ich mir vergangen wie im Flug
rings um die Erde doch ein Stein
bin ich mir nicht geworden. Ach genug
für einen zweiten andren Flug hab ich
noch Kraft und Lüfte auch.
Dass ich mich endlich selber brauch.
– Ein Lyrikband mit 1030 Seiten, davon dreihundert allein für den kritischen Apparat, das ist eine Seltenheit. Die gesammelten Gedichte von Thomas Brasch, darunter ganz viele Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass, belegen: Es gibt sie noch, die Suhrkamp-Kultur. –
Sein Leben war ein deutscher Familienroman. Kurz vor Kriegsende als Kind jüdischer Eltern im englischen Exil geboren, wuchs er in der DDR auf. Sein Vater war ein hoher SED-Funktionär, zeitweilig stellvertretender Kulturminister. Der Sohn rebellierte nicht nur gegen den Vater, sondern auch gegen den von ihm mitgestalteten Staat. Dessen Repressionsapparat hatte Thomas Brasch früh kennen gelernt: als Schüler auf einer Kadettenanstalt, als politischer Gefangener (wegen Flugblättern gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei), als kritischer Schriftsteller, den man erst „zur Bewährung“ in die Produktion geschickt hatte und dem man dann die Publikation im eigenen Land grundsätzlich und für immer verweigerte. In dieser aussichtslosen Lage ging Thomas Brasch, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna, in den Westen. Sein bei Rotbuch in West-Berlin erschienener Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne machte den Übersiedler schlagartig bekannt.
Am Ende stand die Selbstzerstörung
Braschs Marktwert indes sank bald, nachdem er sich nicht auf die Rolle des DDR-Dissidenten reduzieren ließ. Er hatte seinen eigenen Kopf, gab sich eher mit dem Sperrigen ab als mit den Erwartungen des Publikums. Seine Theaterstücke wurden von der Kritik hoch gelobt, aber selten aufgeführt, allein Braschs Shakespeare- und Tschechow-Übersetzungen spielt man immer noch. Im Gedicht kommentierte Brasch die Marktlage damals betont kaltschnäuzig:
Die Wetter schlagen um
sie werden kälter.
Wer vorgestern noch Aufstand rief
ist heute zwei Tage älter.
Im wirklichen Leben nahm er die schwierige Rolle des Intellektuellen keineswegs auf die leichte Schulter. Er zog sich mehr und mehr zurück, gelegentlich gab er den genialischen Berserker, von keinem verstanden, von allen verkannt; am Ende betrieb er eine mutwillige Selbstverwüstung. Thomas Brasch starb mit nur 56 Jahren im November 2001.
Die Zerrissenheit indes war nicht nur die Pose eines (von ihm in einem Gedicht spöttisch so genanten) „Kokainintellektuellen“, sie war seine Lebenshaltung und sein Selbstverständnis als Künstler. Da lebte einer in zwei Vaterländern, von denen keines ihm geheuer war: „Ausgesetzt dem eigenen Schädel / Ausgesetzt dem fremden Land auf beiden Seiten einer Grenze“. Der aufbrausende Ton, der kraftvoll zupackende Gestus, die „tänzelnde aggressive Intelligenz“ (F.C. Delius) zeigen: Hier versucht einer sich mit Worten zur Wehr zu setzen gegen alle Versuche der Vereinnahmung, Umzingelung und Zurichtung für fremde Zwecke, seien es die des Staates, der Macht oder der Utopie.
Schon in seinem ersten, 1975 noch in der DDR veröffentlichten Bändchen, schlägt Brasch den kraftvoll aufbegehrenden Ton an, und er hält ihn, mit vielen Abstufungen und Modulationen durch bis in die letzten Gedichte aus dem umfangreichen Nachlass. Viele von ihnen kann man hier zum ersten Mal lesen, einschließlich aller Vorstufen und Bearbeitungen, auf dreihundert Seiten Anhang nach allen Regeln der Kunst textkritisch kommentiert. Die beiden Herausgeberinnen haben ganze Arbeit geleistet. Sie nahmen auch den lange vergriffenen Band Kargo komplett mit auf, auch wenn dieses Experiment mit Formen, Materialien und Reflexionen die üblichen Gattungsgrenzen sprengt – eine richtige Entscheidung. Geht es doch darum, deutlich zu machen, wie Brasch arbeitete, wie er vorhandenes Material um- und weiterdichtete.
Der editorische Aufwand rechtfertigt wohl auch den Ladenpreis von fast fünfzig Euro. Schade nur, dass der hausbibelschwere Band dadurch jungen Lesern vielleicht doch zu teuer wird. Gerade sie können hier einen entdecken, der jenseits pennälerhafter Kraftmeierei Generationskonflikte thematisiert, der sich als junger Mensch unsichtbar machen und nicht verschluckt werden will.
Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden
In einem seiner zahlreichen „Selbstkritik“-Gedichte (sein fortlaufender poetischer Gegenentwurf zu dem in autoritär-kommunistischen Staaten verordneten Widerrufen unbotmäßiger Positionen) heißt es später abwägend:
Ich habe so voll meinen Mund genommen
mit Klagen einer traurigen Generation
(nie losgegangen, nie angekommen):
das ewige Lied von Vater und Sohn
Aggressiv und anmutig zugleich
Es geht in Braschs Gedichten durchaus nicht nur selbstquälerisch, sondern auch spielerisch zu. Er verstand es, fremde Tonfälle ebenso wie alte Strophenformen sich anzuverwandeln. Dieser Poet, der es mit sich und der Welt nicht leicht hatte, hat auch einige der schönsten Liebesgedichte der letzten Dekaden geschrieben.
Ja, in der Liebe war es wie im Sport
und wie im Krieg war’s in der Liebe auch
das Bett, das Schlachtfeld, der Center Court
ich unterwerf dich mir, so hieß der Brauch.
In frühren Zeiten tat man das mit Stil
mit Eleganz und leichter Raffinesse
Man siegte schweigend und der Gegner fiel:
ins Bett, ins Grab oder ganz einfach auf die Fresse.
Solche Töne hört man selten, und man kann beim Blättern in diesem Band immer wieder staunen, wie er das hinbekam: aggressiv und anmutig zu sein, furios und formbewusst, zornig und zärtlich zugleich.
– Gesamtausgaben nerven. Sie sind schwer, kleingedruckt und gerade im Lyrikbereich erschlagen sie einen. Thomas Braschs gesammelte Gedichte „Die nennen das Schrei“ sollte man sich trotzdem zulegen. Einmal wäre es schade, wenn die Gedichte des 2001 viel zu früh verstorbenen Dramatikers vergessen würden. Zum anderen lässt der von Martina Hanf und Kristin Schulz hervorragend recherchierte Anhang das enge Geflecht von persönlichen Beziehungen und politischem Hintergrund entstehen, auf dem Braschs Gedichte über 40 Jahre gewachsen sind. –
Brasch, Kind kommunistischer Führungskader der DDR, begehrt gegen den Staat auf. Er wechselt zwischen Kadettenanstalt, Filmhochschule, Gefängnis und Bewährung in der Produktion, bevor er 1976 in die BRD übersiedelt, ohne seine DDR-Pass abzugeben. Brasch blieb Kind der DDR. Ähnlich wie seine Theaterstücke sind auch seine Gedichte stark von Brecht geprägt. Wie der Mann mit der Schiebermütze und der Zigarre nutzt auch Brasch den Kapitalismus, um diesen zu kritisieren. So lässt Brasch sich von CSU-Mann Strauß den bayrischen Filmpreis verleihen, um sich dann in seiner Rede bei der Filmhochschule der DDR zu bedanken. Wie Brecht ist auch Brasch ein großer Frauenverehrer.
In der Gesamtausgabe sind neben seinen bissig bösen politischen Gedichten auch seine zum Teil erst jetzt veröffentlichten Gedichte an Freundinnen ein großer Genuss. Nach Prosagedichten der frühen Jahre findet er mehr und mehr zum Reim, der seinen Versen die Leichtigkeit nicht nimmt, sondern ihrer Zärtlichkeit eine rumpelige Pointiertheit gibt. Mit 23 schreibt er
Anna, Du
warmer Stein
leg dich in mein Kissen
nimm von mir und nimm vom Wein
morgen wirst du nichts mehr sein
nur das musst du wissen
Rumpelige Pointiertheit
Liest man Braschs Gedichte, streift man durch 40 Jahre deutsche Geschichte, begegnet der Öde der Werktätigen der DDR, der Konsumversessenheit der BRD und immer wieder der immer noch gültigen Kritik am absurden Kulturbetrieb („Selbstkritik 1“). Nach den Texten der frühen Jahre, wie etwa dem noch in der DDR veröffentlichten Poesiealbum 89, folgen die Texte aus Kargo, die Brasch größtenteils unter dem Eindruck der schönen neuen Welt der BRD nach seiner Übersiedlung verfasste. Neben einer Zusammenstellung von Fotos und Kurztexten finden sich immer wieder wie Momentaufnahmen wirkende Gedichte:
23.30 MEZ
Das kalte Licht verschwimmt
zur Mauer übern Fluß.
die Hure flucht und krümmt
sich unterm Kuss.
Auch die Texte aus dem damals sehr erfolgreichen Band Der schöne 27. September setzen sich ironisch mit dem Leben im Westen auseinander. Brasch fängt hier die Starre der Vorwendezeit der 80iger Jahre ein. Die 68er sind Establishment geworden. Brasch spottet über die enttäuschten Bob Dylan Fans: „Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.“ In „Widmung für ein Haus“ beschreibt er, wie der nächste Krieg im Privaten schon lange Realität ist:
Vielleicht ist der 3. Krieg längst angebrochen
aus dem nächsten Kapitel der Legende:
Er hat sich in die Mietwohnungen verkrochen:
dort begräbt er zwischen steinerne Wände
lebendige Liebespaare. Daß sie bis auf die Knochen
einander bekriegen. Dass sie am Ende
erschöpft SOS gegen die Wohnungstür pochen.
Braschs produktivste Zeit sind die 80er Jahre. Er schreibt für das Theater und dreht unter anderem den preisgekrönten Film Engel aus Eisen. Mit Der Passagier setzt er filmisch neue Maßstäbe. Persönlich ist er zu diesem Zeitpunkt jedoch schon im Drogensumpf versunken („Der schnelle Schnee“). Er verliert sich in seinem letzten großen Projekt „Mädchenmörder Brunke“, bevor nach seinem körperlichen Zusammenbruch eine Herzoperation missglückt.
Viele unveröffentliche Gedichte
Wirklich neu an der Sammlung von Martina Hanf und Kristin Schulz sind die vielen bisher noch unveröffentlichten Gedichte Braschs. Sie ließen sich so hervorragend recherchieren, da Brasch bereits vor seinem Tod seine sämtlichen Aufzeichnungen an das Archiv der Akademie der Künste übergeben hatte. Schade, dass man sich die hervorragenden Erklärungen zum Hintergrund und zur Entstehung der Gedichte so mühsam aus dem Anhang klauben muss. Sie hätten mit Jahreszahl der Gedichtentstehung auf die Seiten der Gedichte gehört.
Mit „Die nennen das Schrei“ ist trotzdem ein großer Wurf gelungen, gerade weil nicht nur das Bekannte zusammengestellt wurde. Wer auf Entdeckungsreise gehen will, dem seien die zahlreichen Widmungsgedichte empfohlen, wie etwa das an die unbekannte Beatrice, das auch Braschs Leben zu spiegeln scheint:
ZU WACHSEIN IST; WAS DICH SO STERBEMÜDE MACHT
Dein Feuer ist es, was dich löscht, statt dich entfacht
Dein kaltes Trauern ist, was dich auslacht:
Was dich mal leben machte, hat dich umgebracht.
– Suhrkamp ehrt den Dichter Thomas Brasch. –
„ich habe keine zeile geschrieben“, schreibt Thomas Brasch (1945–2001). Ein Ruheloser, der vom Nichtstun träumt, muss trotzdem immer weitermachen.
Sämtliche Gedichte des Autors liegen jetzt in einem mehr als 1000 Seiten umfassenden Band vor. „Die nennen das Schrei“ haben die Herausgeber den Band betitelt, der zu Recht als Ereignis gefeiert wird. Tomas Brasch erweist sich als versierter Dichter für ungemütliche Lebenslagen.
Als Thomas Brasch mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach 1976 die DDR verließ, wurde er in der Bundesrepublik sofort zum Literaturstar. 1977 erregte der Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne Aufsehen. In der DDR hatte Brasch zuvor lediglich einen schmalen Gedichtband veröffentlichen dürfen. Als er eine Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnete, war an weitere Publikationen endgültig nicht mehr zu denken.
Anders im Westen, dessen Feuilletonisten sich auf den Dissidenten Brasch stürzten. 1980 veröffentlichte er die Gedichtsammlung Der schöne 27. September. Die Sprache ist direkt, niemals schwülstig, für ausufernde Formulierungen bleibt dem Getriebenen keine Zeit. „Ich will nicht wechseln / und auch niemals ruhn“ heißt es. In diesen kurzen Versen kommt eine Haltung zum Ausdruck, die sich durch viele Gedichte zieht: die Weigerung, sich festlegen zu lassen.
In Westdeutschland hatte Brasch den Exotenstatus des ehemaligen Ostdichters. Gegen diese Vereinnahmung hat er sich immer gewehrt. Einen Verweigerungshelden im Geiste fand er in Bob Dylan, der bei einer Deutschland-Tournee von seinen alten Bewunderern ausgepfiffen wurde. Denn er habe „die Hymnen ihrer Studentenzeit“ im Walzertakt gesungen, notiert Brasch. Im Konzert sieht er vor allem die gut verdienenden „Architekten mit Haarausfall“, die meinen, für ihr Eintrittsgeld einen Protestsänger erwarten zu dürfen. Doch „Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.“
„Alles bist du “ formuliert Brasch in einem Liebesgedicht aus dem Nachlass: „Aber nie wirst du der sein, / Der immer hier bleibt.“ In diesem permanentem Auf-dem-Sprung-sein drückt sich ein obsessiver, zum dauerhaften Glück unfähiger Charakter aus: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Hartmut Horstmann, Westfalen-Blatt, 31.7.2013
– Mit „Die nennen das Schrei“ liegt zwölf Jahre nach seinem Tod das lyrische Gesamtwerk von Thomas Brasch vor. –
Es gibt einen Rebellen, im Mundwinkel die Filterlose, der dichtet die deutsche Geschichte. Thomas Brasch besingt die Qualen dieses Landes. Und dabei seine eigenen. „Die nennen das Schrei“ heißt sein nun postum veröffentlichtes, lyrisches Gesamtwerk. Es ist ein Dichterleben in Versen und zugleich die deutsche Geschichte – von einem betrachtet, der draußen steht.
Brasch war Dramatiker und Drehbuchautor, Regisseur und Übersetzer. Viel Lyrik hat er geschrieben. 1945 wird er in England als ältester Sohn jüdischer Eltern geboren, die dort im Exil leben. Er wächst in der DDR auf. Sein Vater macht politisch Karriere und wird stellvertretender Kulturminister, die Mutter Journalistin.
Brasch ist jung, als er mit dem Schreiben beginnt: Die frühesten nachgewiesenen Verse stammen von 1953, seine erste Veröffentlichung ist zwei Jahre später die Fabel „Fuchs, Adler und Nilpferd“. Viele Gedichte – bisher weitgehend Im Berliner Thomas-Brasch-Archiv verborgen – finden in „Die nennen das Schrei“ endlich ans Licht.
Auf mehr als 1000 Seiten versammelt das Buch den umfangreichen lyrischen Nachlass und die vier zu Lebzelten veröffentlichten Gedichtbände. Der ausführliche Kommentarteil bettet die Stücke in Braschs Œuvre, das Werk eines melancholischen Radikalen.
Im Alter von 20 Jahren schreibt er: „Wir trommeln im Rhythmus des Jazz / unsre Lebensideen in die Köpfe. / Nur her unsre Nahrung, / verdaut wird nicht lange, / dann rülpsen wir euch UNSER Bild ins Gesicht. / Wir sind Missionare des Zorns.“ Drei Jahre später beginnt die Stasi, ihn zu bespitzeln. Da hat er noch kaum etwas veröffentlicht und noch kein Theaterstück zur Premiere gebracht. 1968 wird er zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt, nachdem er gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert hatte.
Im Vorwort seiner einzigen in der DDR veröffentlichten Gedichtsammlung Poesiealbum (1975) heißt es:
Hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen.
Brasch, der Dagegenschreiber. Ein Jahr später verlässt er das Land, weil sein Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne nicht erscheinen kann. Brasch will eben kein Dichter für die Schublade sein.
Die BRD bleibt ihm genauso fremd:
das land um mich
das hieß ausland und so wird es immer heißen
daß ich die gleiche sprache spreche wie dort in meinland
ändert nichts denn diese sprache klingt nur als sei sie so
und hat doch andern sinn
Christa Wolf nennt das 1987 in einer Laudatio auf Brasch den „Kampf gegen das Verschlucktwerden“.
Auch bei der Deutschen Einheit will Brasch nicht mitspielen.
Ich bin mein eigenes Volk. Ihr seid vereint
in dem Verein, der richtet und der henkt
Er steht draußen, am Rand, so wie die meisten seiner Figuren – in seinen Dramen, Filmen und auch den Gedichten. „Ich glaube, diese Widersprüche, die (…) nivelliert wurden durch die Wiedervereinigung, das hat ihn wütend und auch traurig gemacht“, sagt Braschs Schwester Marion in einem Interview mit Radioeins.
Er sei „nicht nur dieser schwere Brocken“ gewesen, fügt sie hinzu, „laut und wütend“, sondern „auch ganz zärtlich“. Am 3. November 2001 starb Brasch, er wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beerdigt. 41 Jahre zuvor träumte er über eine Trauergemeinde:
daß ich aufsteh aus dem Sarg,
lache
und ein Buch vollschreibe
über diese Masken,
gute, schlechte,
und mich danach wieder lege
in den Sarg,
den schwarzen,
schönen
schlafen geh’
für immer.
Vielleicht sind seine gesammelten Gedichte genau dieses Buch.
Main Post, 6.6.2013
– Verlegerische Großtat: Thomas Braschs „Gesammelte Gedichte“ bei Suhrkamp. –
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin haben sie ihn begraben: den Lyriker, Dramatiker und Übersetzer Thomas Brasch. Dort liegt er nun, neben Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Christa Wolf. Auch sie haben sich in ihren Werken an Deutschland abgearbeitet, aber keiner tat es wohl so radikal, so bedingungslos, so poetisch wie er. Für Brasch hatte das Schreiben zwei Voraussetzungen: „Das Land lieben, / seine Verhältnisse hassen.“ Aus jenem Riss heraus, für und gegen das „Keinland“, wie er es einmal nannte, entstanden einige der schönsten und wahrsten Gedichte, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden. Und so wie dieser zornige und zärtliche, dieser ruhelose Bruder Rimbauds schon zu Lebzeiten ein Ereignis war, so ist auch dieses Buch ein Ereignis: Thomas Braschs „Gesammelte Gedichte“. Man kann nur den Hut ziehen vor dem verlegerischen Anspruch und Mut, mit dem der Suhrkamp Verlag einmal wieder eigene Wege geht. Der Band enthält sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte, darunter einige Raritäten. So ist die in der Reihe Poesiealbum erschienene Gedichtsammlung, Braschs einzige DDR-Publikation, ebenso vertreten wie das szenische Prosa-Lyrik-Buch Kargo, das lange vergriffen war. Aber die beiden Herausgeberinnen haben auch zahlreiche noch unbekannte Texte aus dem Nachlass zusammengetragen. Er wollte nie ein politischer Dichter sein, sagte Brasch einmal. Dabei gab es wohl nur wenige Schriftsteller, in deren Leben und Schreiben sich das deutsche Drama so stark eingebrannt hatte wie in seines. Endlich stört dieser Zerrissene mit seinen Gedichten wieder unsere „mittelständische Tabulosigkeit“, reibt sich auf an der Liebe und am deutsch-deutschen Schutt, lässt uns wieder zweifeln am öffentlich befriedeten Gestern und Heute – und läst uns staunen über einen wie ihn.
Madeleine Prahs, kreuzer, 08/2013
Anmoderation: „Ein gewisser Hang zur Maßlosigkeit ist nicht zu übersehen; hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen.“ Mit diesen warnenden Sätzen wurde der junge Dichter Thomas Brasch 1975 mit seinem Poesiealbum dem Publikum der DDR empfohlen, empfohlen allerdings mit einem unüberhörbaren Vorbehalt.
Zuvor schon war der Sohn jüdischer Emigranten als Dissidend aufgefallen. Er hatte 1968 eine Gefängnisstrafe erhalten, weil er Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei verteilt hatte. 1976 ging Brasch in den Westen und wurde ein paar aufregende Jahre als „Ulysses aus Charlottenburg“ gefeiert. In den späten 1980er Jahren schien er als Künstler zu verstummen. Zwölf Jahre nach dem einsamen Tod von Thomas Brasch im November 2001 ist nun im Suhrkamp Verlag ein gewaltiges Buch erschienen, das auf 1030 Seiten seine „Gesammelten Gedichte“ vereint.
In der orientalischen Gestalt des Seefahrers Sindbad erkannte einst der Dichter Thomas Brasch sein schicksalträchtiges Ebenbild. Ein Mann, der nach dem Untergang seines Schiffs allein auf dem Meer dahintreibt, ohne jede Aussicht, ein rettendes Ufer zu erreichen. Seine Freunde und Weggefährten hat der Sturm zerfetzt, seine einzigen Gesprächspartner sind die Stimmen In seinem Schädel. „Jetzt hast du den Boden unter den Füßen verloren“, lässt Brasch seinen Sindbad sagen, „ausgelöscht ist alles in dir.“ Und diese Erfahrung einer Auslöschung der Existenz hat auch der Dichter Brasch in der DDR durchleben müssen. Die ihm zugedachte Bilderbuchkarriere hatte der 1945 geborene Sohn jüdischer Emigranten durch seinen ästhetischen Eigensinn frühzeitig zerstört. Während sein Vater zum stellvertretenden Kulturminister der DDR aufstieg, wurde Brasch 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, Flugblätter gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei in Umlauf gebracht zu haben. Kurz zuvor hatte er sich als junger Lyriker in der Tradition Brechts und Heiner Müllers exponiert und aus einem libertären Marxismus heraus die Defizite seines Staates benannt. Trotz der politischen Renitenz des Dichters gelang es seinen Förderern, ihm 1975 eine einzige Publikation in der DDR zu ermöglichen, ein schmales Heft in der Reihe Poesiealbum, in dem gleich das fünfte Gedicht ein Bild brutaler Polizeigewalt entwarf. Für einen derart selbstbewussten Poeten war kein Platz im SED-Staat. Thomas Brasch verließ 1976 die DDR, ohne je im Westen heimisch zu werden. Aus einer rauschhaften Produktivität heraus stürzte er Mitte der achtziger Jahre in eine tiefe Schreibkrise, deren Folgen er durch ruinösen Umgang mit seiner Gesundheit noch weiter vertiefte. Am 3. November 2001 starb er im Alter von 56 Jahren an Herzversagen.
Eine erste Nachlass-Publikation mit Gedichten dokumentierte schon 2002, welche gewaltigen literarischen Schätze der Öffentlichkeit verborgen geblieben wären. Nach jahrelanger Recherche haben nun Martina Hanf, Mitarbeiterin im Thomas Brasch-Archiv in der Berliner Akademie der Künste, und die Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz all diese Schätze ans Tageslicht gehoben. Die „Gesammelten Gedichte“ von Thomas Brasch enthalten nicht nur die vier zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbände, sondern einen weit umfangreicheren Teil von verstreut publizierten oder unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass. Den rund 800 Seiten mit Gedichten, Balladen, zarten und finsteren Liedern und tonlosen Versen der Verzweiflung folgen auf 200 Seiten noch eher knapp gehaltene historisch-kritische Kommentierungen.
Auch der szenisch angelegte Band Kargo aus dem Jahr 1977 ist in dem opulenten Band enthalten, obwohl es sich dabei um einen Grenzgang zwischen den Gattungen handelt und Brasch darin eindrucksvoll Gedichte mit Fotografien, dramatischen Szenen und Prosa-Aufzeichnungen verknüpfte.
Im Kargo-Band findet sich auch jenes ergreifende Gedicht über die Unbehaustheit, das ursprünglich aus dem Kontext des erwähnten „Sindbad“-Poems stammt und vom Autor später in den szenischen Zyklus „Der Papiertiger“ eingefügt wurde. Das Ich des Gedichts gerät hier in unaufhebbare Paradoxien:
Sprecher:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Jeder Vorsatz, jeder Entschluss des Ich wird hier durch ein „aber“ dementiert; nirgendwo ist ein Bleiben möglich außer in der Paradoxie. Das Ich des Dichters betrachtet sich selbst in einer permanenten Fluchtbewegung, desintegriert in jeder Faser seiner Existenz. Eine nomadisierende Geste, eine trotzige Markierung der eigenen Außenseiterposition prägt auch das späte „Vorspiel“, das der Autor zu einer Bearbeitung von Shakespeares Romeo und Julia geschrieben hat. Es ist 1990 unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung entstanden und das im britischen Yorkshire geborene Emigrantenkind Brasch porträtiert sich darin als sarkastischen „Sterbewitz“:
Sprecher:
Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-
Versuch, jaja, ich weiß. Auch der macht Spaß,
weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,
denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.
Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint
in dem Verein, der richtet und der henkt.
Ich will, dass Ihr euch hier zu Tode lacht,
voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,
ersauft in Tränen mitten in der Nacht.
Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.
Ein Dichter des bitter Ironischen „Sterbewitzes“ ist Thomas Brasch immer geblieben. Der einst als „Ulysses aus Charlottenburg“ umjubelte Dichter besichtigt in seinen späten, zu Lebzeiten nie veröffentlichten Gedichten den Rest seiner künstlerischen Existenz. Das Resultat dieser poetischen Selbsterkundung sind bewegende, tief anrührende Gedichte eines Mannes, dem die Welt zerbrach. So verläuft die Suchbewegung des Einsamen auf einem gefährlichen Terrain: auf den Albtraumpfaden „zwischen einsam und allein“, gebannt in ein ewig währendes Unglück. Dort, im Gehäus seiner Isolation, sitzt er fest, dort spürt er das Herannahen der eigenen Vergänglichkeit. Dort sehnt er sich schließlich für einige poetische Augenblicke nach einem Aufatmen:
Sprecher:
WAS IST DAS ZWISCHEN EINSAM UND ALLEIN:
als wär ich mir vergangen wie im Flug
rings um die Erde doch ein Stein
bin ich mir nicht geworden. Ach genug
für einen zweiten andren Flug
hab ich noch Kraft und Lüfte auch.
Daß ich mich endlich selber brauch.
Michael Braun, Saarländischer Rundfunk, 17.6.2013
– Thomas Braschs ganzes Leben war ein Riss. Die gesammelten Gedichte „Die nennen das Schrei“ zeigen das Werk eines Sprachgenies. –
Thomas Brasch war der herausragende, der begabteste Lyriker seiner Generation. Was macht sein Werk so bedeutend? Da ist nicht nur die formale Perfektion – der er zugleich stets geradezu erbittert misstraute; sie also zerstörte. Alles, was heil war, zerbrach er, un-heil ist sein Werk, Unheil atmet jede Zeile. Er hat etwas geschafft, geschaffen, was ganz, ganz selten ist: Das Subjekt ist nicht Teil von Geschichte. Das Subjekt ist Geschichte. Daher es – mit wenigen schwachen Ausnahmen – keinen Erzählton in dieser Lyrik gibt. Sie ist existenzialistisch im un-Sartre’schen Sinne. Existenz als Katastrophe. „Leben ist Fahren: im Kreis.“ So ist eines der erschütternden Motive, die sich wie die Adern durch den Marmor durch sein gesamtes Œuvre ziehen, die totale Einsamkeit des Menschen; Liebe ist nur ein Annäherungsversuch, zum Scheitern verurteilt von Beginn an: „das lieben lernen doch einander fremd auch bleiben“, Brasch hat mir einmal im Gespräch gesagt, Liebe sei, mit auf dem Rücken verschränkten Armen aufeinander zuzugehen. Diesen Zusammenbruch jeglichen Hoffnungshorizonts finden wir durchgehend im Werk, scharf, genau, schmerzend:
So lehrten Sie, einander aus dem Weg zu gehn,
wie schön auf diese weise, lust zu steigern
sich voneinander wegzudrehn statt anzusehn,
einander nicht verweilen, nur verweigern.
Schön wie verlust die lust ersetzen kann
und menschenbaum sich wieder spaltet, ach, in frau und mann
So fühlte der Mann, für den Frauen die (bessere) Welt waren; dessen zarte Liebesgedichte betörend sind; der sein Leben lang – bis zur Todesstunde – die Hand seiner großartigen Gefährtin Katharina Thalbach umklammerte; der wie eine Replik auf Courbets Gemälde L’Origine du monde schreiben konnte: „Wenn eine Frau stirbt, ist die Geschichte am Ende.“ Thomas Brasch langte nach dem Unerlangbaren. Nicht zufällig ist das Hauptwort seines Œuvres „Haut“. Mit ihr wollte er die Welt umspannen; doch die Welt entzog sich ihm, so riss seine Haut. Das ist das Existenzielle dieser Lyrik. Er sah wohl „Der Schnitzer bin ich und das Holz“ und sah zugleich „das Finster in meinem Schädelhaus“. Hier lebte ein Mensch, der sich nicht selber berühren mochte, der viel geliebt hat, aber nicht sich. Thomas Brasch war sich ein Fremder:
Ich sehe mich nicht.
[…]
Was sie da hören, bin ich nicht,
[…]
Ich bin in mir allein
die Augen, die nach innen sehen, sind leer
Wo bin ich nur, wo, was und wer?
Das ist so schrecklich schön, kalt wird einem, der liest, wie ein Mensch sich die eigene Haut vom Leibe schält; ein Objektsubjekt:
Wer immer in mir wohnt,
ich mein nicht mich,
ich mein den Mensch in mir,
wird nicht zufrieden sein,
bevor er alles los ist,
auch sich selbst.
Dieser Mann war nicht einmal sein eigener Ort; ortlos im herkömmliches Sinne ohnehin – der 1945 im Londoner Exil geborene Jude, Kind eines späteren DDR-Bonzen, der den eigenen Sohn verriet, und „Insasse“ eines Landes, dessen Grundgesetz Verrat war und das er 1979 verließ. Braschs ganzes Leben war ein Riss. Der klaffte so tief, wie seine schriftstellerische Arbeit ihn als Wunde bewahrte; von der Erstveröffentlichung (Vor den Vätern sterben die Söhne) bis zu den hier versammelten Gedichten aus dem Nachlass. Noch 1978 nannte er für das Schreiben zwei Voraussetzungen:
Das Land lieben,
seine Verhältnisse hassen.
Das eine ohne das andere ist nichts.
Das andere ohne das eine muß ich verlassen.
Ein erotischer Vorgang, – so wenig „erfüllbar“ wie die Liebe, die trennt. Brasch, vor der Wahl zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen, wählte – das Unmögliche. Nicht ohne Konsequenz folgte er den verehrten drei großen B: Büchner, Benn, Brecht. „Folgen“ heißt nicht nachahmen (gelegentlich, etwas läppisch bis in die Präsenspartizipien hinein, allenfalls Brecht). Folgen heißt, sich unters Mikroskop zu legen, gar mit dem Skalpell sich selber bei lebendigem Leibe zu sezieren. Ohne Schluchzen. Es gibt keine Zeile des Selbstmitleids bei Brasch: sehr selten ein Gran Selbstironie:
Ich gebe alles zu. Ich bleibe nicht beim Thema. Ich beziehe nicht Stellung. Ich kratze mir nur den Dreck weg zwischen den Zehen. Ich habe mich noch immer nicht engagiert.
Genau besehen, genau gelesen war dieser wunderbare, zur Liebe geborene Mensch zeitlebens tot; death driven sagt man in Amerika. Wenn ich das Wort „diesseitig“ auf Thomas Brasch anwende, dann ist damit gemeint: ohne Gegenwart, ohne Zukunft, im schnappenden Rachen Vergangenheit hängen noch Restfetzen Leben. Schonungslos, fast unbarmherzig gegen sich bilanzieren das seine Verse im scheppernden Ton des Zerscherbelns:
Mein einziges Leben ist zwischen 2 Ländern:
das dauert so lange leben dauern kann,
mein einziges Leben heißt wie kann ich ändern
diese einzige Welt, diese einzige Stadt, diesen einzigen Mann.
So schoss er die Wörter, kleine Rettungsringe, empor, nicht in den Himmel: denn einen Himmel, der Hoffnung verspricht, kannte Thomas Brasch nicht. Er hatte sich einen Dom aus schwarzem Glas erbaut, in dessen drückende Kuppel rasten seine Sätze, ritzten die Buchstaben die schwarzen Scheiben; aber retten konnten sie nicht. Sie kollerten, dräuten, drohten – er hörte sich als dunkel tönendes Echo. Er betete zu Außenseitern. Die Altarfiguren des Thomas Brasch waren Genet, Pasolini, Haarmann, Rothko und ein Mädchenmörder, der noch nicht Gestalt angenommen hatte. Braschs Weihrauch war da längst schon weiß, „der Schnee“, den er in einem Gedicht feiert. Kokain. Leben konnte man so nicht.
Er floh. Vor sich. Vor der Zeit. Vor der Welt, die ihm kein Obdach bot. Er hatte kein Obdach, nirgendwo. Mal zog es ihn in die Schweiz; mal wollte er bei mir wohnen – doch die erste Flasche war noch nicht ausgetrunken, da verschwand er schon wieder in der Hamburger Nacht. Dann ging er nach San Francisco, von wo ein ankerlos Treibender nächtelang, stundenlang anrief, Filmpläne. Stücke, ein schöner Knabe; die Schimäre Amerika, der er rasch wieder entrann. Auch die Wohnung der letzten Jahre, neben dem Berliner Ensemble, über dem Restaurant Ganymed – wo er rauchte, Wodka aus großen Wassergläsern trank und den grünen Tee nicht anrührte – war nicht mehr als eine Behausung – leer: ein Bett, ein, zwei Stühle. „Eingerichtetes“ galt Brasch als Staffage; so, wie ihm sogar einst Nahestehende, die es sich „gerichtet“ hatten, widerwärtig geworden waren. Ein Abwehr-Gedicht gegen Heiner Müller, den großen Imitator – nicht zufällig vom großen Illuminator Bob Wilson oft in Szene gesetzt – legt davon Zeugnis ab so gut wie das über die Brecht-Erben:
Jetzt bin ich
berühmt, aber mein bestes Stück nicht (Fatzer). Von den schlechten
leben meine Kinder und lernen meine Nachfolger…
In dieser seiner Schiffbauerdamm-Klause las er mir stundenlang vor, ich merkte kaum, wie der Rücken schmerzte, hockend auf einem Holzschemel. Er las aus einem inhaltlich zersplitterten Manuskript, dem „Brunke“-Konvolut über den Mädchenmörder, über dessen Genesis die hervorragenden Herausgeber dieses Bandes Auskunft geben: Es war eine Höllenfahrt des Erhabenen, ein 1.000-Seiten-Text ohne Sinnzusammenhang, ohne Handlung, ohne jegliche Dramaturgie. Und es war ein Ereignis. So schneidend-wundersame Wortakrobatik, weit ausschwingend und sprachberauschend war noch keine Brasch-Prosa gewesen; sie hebelte den Zuhörer – gelegentlich war „die Thalbach“ katzenleise zugegen – aus Zeit und Welt. Berauschend, sage ich. Aus dem Sprachgenie war ein Sprachmagier geworden. Das Kokain. Es hatte sein Vermögen zu formen zerstört. Seit Langem hatte sich in Berlin ein Freundeskreis so dringlich wie erfolglos bemüht, Brasch von der Droge zu entwöhnen. Immer wieder hatte auch ich ihn beschworen, einzuhalten mit der synthetischen Zerstörung, manchmal mit hilflosen Witzen:
Wenn man davon impotent wird – es soll ja Männer geben, die darauf nicht so enorm erpicht sind.
Immer wieder, in Briefen, in Gesprächen, in Endlostelefonaten hatte er „Ich verspreche es, Herr Professor“-Gelübde abgelegt, die den Tag nicht überdauerten. Meinen langen De-Profundis-Brief „Ich flehe Sie an, den Krieg gegen sich einzustellen“ hatte er über sein Bett gehängt – auf dem Nachttisch harrte schon die nächste Dosis Vernichtungspulver. Mort à crédit – Tod auf Raten – heißt das Buch des von ihm bewunderten Céline. Er muss das wie eine Rezeptur gelesen haben. „Ach, wenn ihr mich gestorben habt…“
Als am 23. November 2001 der Sarg auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof hinabgeglitten war, ging ich mit Otto Sander die Gräber entlang, um zu rauchen. Wir umarmten uns stumm – aber in Wahrheit umarmten wir einander nicht. Der Hauch einer letzten Liebesumarmung des einzigartigen Schriftstellers Thomas Brasch umwehte uns, der so hochsinnig in der Finsternis seines Lebens versunken war, dem er freundlich sein wollte.
– Liebeslieder, immer wieder: Thomas Braschs Gesammelte Gedichte sind voller Wut, Scherz, Shakespeare, Brecht und Heine. –
Im allerersten Gedicht gibt es ein einzelnes Sprengstoffwort, in dem alles verdichtet ist, was den auf tausend Seiten nachfolgenden Dichterkosmos ausmacht: „Ich bin der Sterbewitz“, sagt das lyrische Ich des Dichters, Schriftstellers, Theater- und Filmemachers Thomas Brasch. Aber wie geht ein Sterbewitz? Bringt er den Erzähler um oder den Zuhörer? Verhöhnt und überflügelt er den Tod, zwingt er zum Totlachen oder zum Ernstwerden, ist er ein scharfer Beißer oder doch eher ein melodramatischer Galgenvogel? Das Gedicht jedenfalls, das Brasch 1991 als Vorspiel zu seiner Bearbeitung von Romeo und Julia veröffentlichte, mündet in shakespearehaft abgründiger Komik:
Ihr seid das Volk. Ich bin’s, der euch verhetzt.
Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.
Das Volk, das sind die anderen. Mit dem Ost-Wir und dem West-Wir will Brasch, der sich auf den skeptischen Beobachterspuren von Brecht und Heiner Müller bewegt, nichts zu tun haben. Nach der Wiedervereinigung zieht er sich jahrelang zurück, um an seinem Prosaband Mädchenmörder Brunke zu arbeiten; den mahnenden Schriftstellergroßsprecher hat er nie gegeben. Geboren 1945 in England als Sohn jüdischer Emigranten, wächst er von 1946 an in der sowjetischen Besatzungszone auf. Der Vater, Horst Brasch, arbeitet am Aufbau des Sozialismus und wird in der DDR stellvertretender Kulturminister. Der Sohn rebelliert ein Leben lang, gegen den Vater, die DDR, die Bundesrepublik. Nachdem er 1976 als einer der Ersten die Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung unterzeichnet hat, siedelt er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Katharina Thalbach nach West-Berlin über.
Jetzt werden seine Stücke, wie Lovely Rita oder Rotter, mit großem Erfolg im Westen inszeniert. 2001 stirbt er, 56 Jahre alt, in Berlin; die letzten Jahre hat er am Schiffbauerdamm gewohnt, vergraben in seine „Brunke“-Fassungen. Vielleicht muss man das alles noch einmal ins Gedächtnis rufen, denn leider ist Brasch nie so berühmt geworden wie viele seiner literarisch deutlich weniger wagemutigen Kollegen.
Brasch hat tatsächlich immer unter „einem Himmel aus Stahl“ geschrieben, so steht es 1977 in seinem Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne; seine Tonlage war dabei gar nicht so sehr bitterironischer Art, sondern eher beschwingt aggressiv, ohne den Anflug von Resignation, der dem Bitterironischen anhaftet. Es gibt, gerade in den Gedichten, einen fast schon foolishen Schwung, der die Wut in etwas anderes übersetzt – und oft steckt dieser Schwung im Reim; genauer gesagt, in einem metrisch verknappten Schlussvers:
das hemd ist schon zerrissen
die haut ist längst zerfetzt
wenn wir doch sterben müssen
dann jetzt
heißt es schon 1974 im „Hahnenkopf“-Gedicht über die Weinsbergschlacht; und das klingt, als ob das knappe „dann jetzt“ den gesamten gescheiterten Bauernkrieg mit einem einzigen Knall in die Luft fliegen ließe.
Der Reim kann, manchmal in balladenhafter Heine-Manier, alles aufheben, wenn es um Leben und Tod geht; oder umgekehrt den vermeintlich freischwebenden Humor über eine scharfe Klinge springen lassen – wie im dreigroschenopernden „Fortschrittstango“ von 1986:
Sie müssen essen, sie müssen trinken
sie wollen nicht verderben,
denn nichts tun sie weniger gern
als sterben
Dieses lyrische Ich war ein wütender, aber eben auch ein komischer Vogel, und wenn er sich zu den „Missionaren des Zorns“ (ein Gedicht von 1965) zählte, dann bezog sich das auf Musik, auf Jazz und auf einen Rhythmus, der das Gegenteil von glatt war. Seine Liebesgedichte kreisen oft in entrückt-ironischen Heine-Sphären, und manchmal wird die Liebe zum „Diebesgut“, gestohlen der „Weltenkammer voll Hass und Wut“.
In den mehr als tausendseitigen Gesammelten Gedichten kann man sich durch sämtliche Umlaufbahnen des Lyrikers Brasch hindurchlesen, durch die bekannten und die unbekannten. Die Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz veröffentlichen sowohl die bislang unpublizierten Gedichte aus dem Nachlass als auch die bereits zu Lebzeiten erschienenen Bände wie das Poesiealbum, Kargo oder Der schöne 27. September.
Im 1977 erschienenen Kargo-Band waren allerdings die unterschiedlichsten Textgattungen vertreten, und so finden sich in diesen Gesammelten Gedichten unter anderem auch Bühnenstücke wie Lovely Rita wieder, nebst Prosatexten und Fotodokumenten. Der sorgfältige, weit ausholende Anmerkungsteil der Herausgeberinnen dürfte dabei Brasch-Spezialisten wie auch Brasch-Neuentdeckern zugutekommen; das 1968 veröffentlichte Gedicht „Vom Pflanzen und Ernten“, erfährt man dort, sei im Ostberliner Oktoberklub zur Melodie von Bob Dylans „Masters of War“ gesungen worden.
Fast ein Drittel dieses fabelhaften Ziegelsteins gilt dem unbekannten Dichter, den die Herausgeberinnen aus den Dokumenten des Thomas-Brasch-Archivs geborgen haben. In den dreihundert teils erstveröffentlichten Gedichten aus den Jahren 1960 bis 2001 scheinen nacheinander der Verliebte, der Shakespeare-Süchtige und der Todestheoretiker in den Vordergrund zu treten, manchmal auch alle zusammen; Widmungs- und Gelegenheitsgedichte von eher dokumentarischem oder anekdotischen Interesse sind auch darunter.
Mitreißend sind Braschs Gedichte aber vor allem dann, wenn der Wütende, der Verliebte und der Fool aufeinandertreffen:
Halts Maul, du einzelner Vogel, du
flucht einer, der doch selber ein einzelner Vogel ist, und weiter:
singst dich in Schlaf, bringst mich um Ruh
du schreist nach der neuen Jahreszeit
ich liege im Bett. Das ist zu breit.
Hab keine Angst: Ich bleib mehr schlecht als recht:
Gebärde mich als Herr, doch bleib ein Knecht.
Fühl mich wie Shakespeare, doch bin Aushilfs-Heine minus Brecht
An mir ist nur das Falschgeld echt.
So launig selbstironisch Thomas Brasch sich in diesen Versen aus einem Liebesgedicht Anfang der Neunzigerjahre gibt, so bitter, ja, finster, verzweifelt, zornig und todtraurig konnte er in anderen Gedichten sein. Kein Ton war diesem Dichter fremd, wenn man in seinem gesammelten lyrischen Schaffen aus rund vierzig Jahren blättert. Der umfangreiche Anhang der Herausgeberinnen informiert neben den editorischen Anmerkungen auch über die jeweiligen Umstände der Entstehung. Neben den schon zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbänden, denen man gern wieder begegnet, sind vor allem die Nachlassfunde interessant, weil sie zeigen, dass auch Thomas Brasch, dieser vielseitige Schriftsteller, Theater- und Filmemacher, am Ende so etwas wie ein Spätwerk zu kennen schien. Knapp geht es da zu, unverstellter, karger, als in frühen Jahren:
Sein Stuhl ist leer. Sie sieht, wie er über die Straße hinkt.
Wie sie ihn sieht und winkt,
sieht er.
sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte enthält und man sich dadurch ein umfassendes Bild machen kann, von einem großartigen Lyriker, der im tiefsten Sinne faszinierende, existentielle Gedichte schrieb. Weil das Werk dieses Dichters, der sein Leben „ohne Halt“ lebte, uns in seiner Schönheit und Lebenswahrheit tiefst bewegt.
Manfred Orlick: Ein Gedichtbuch als Ereignis
literaturkritik.de, September 2013
Mario Osterland: Gesammelte Widersprüche
fixpoetry.com, 18.9.2013
Tobias Schmidt: Der eigenen Haut entkommen
literaturkritik.de, Mai 2015
sprenger spricht #books&sports
(13) Fußball-Romantik pur – möge es nützen!
– Die nennen das Schrei Gesammelte Gedichte von Thomas Brasch – Buchpräsentation mit Katharina Thalbach und Martin Wuttke im Berliner Ensemble. –
spiel du den wahn ich spiele seinen sinn
und wahnsinn heiße was uns zwei vereint
Thomas Brasch, aus: Macbeth
Ja, geschrien hat er, der Thomas Brasch, vermutlich auch oder vor allem im Rausch. Aus dem Fenster über dem Ganymed, in enger Nachbarschaft zum Berliner Ensemble, hat er geschimpft und gerufen. Eine Art Geheimdramaturg sei er gewesen, und guter wie böser Geist des Theaters am Schiffbauer Damm, wie Jutta Ferbers, die Dramaturgin des BE, zu berichten weiß. Und auch der Hausherr Claus Peymann schreibt in seinem Nachwort zu den Shakespeare-Übersetzungen, Brasch habe Shakespeare „wie im Rausch“ übersetzt. Herausgekommen sind sie vor elf Jahren, ein Jahr nach Braschs frühem Tod. Und wer hätte gedacht, dass es noch einmal eine neue Veröffentlichung von Thomas Brasch geben würde?
Nachdem 2002 Katharina Thalbach zusammen mit Fritz J. Raddatz Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer – Gedichte aus dem Nachlass veröffentlicht hatte, mussten ebenfalls elf Jahre vergehen, bis neben dem kleinen Bändchen Was ich mir wünsche: Gedichte aus Liebe (2007) nun die Gesammelten Gedichte vorliegen. Zu verdanken ist das der Archivarin von Thomas Brasch, Martina Hanf und der Autorin Kristin Schulz. Und man kann den beiden wohl nicht genug danken, ging doch mit der Veröffentlichung des immerhin 1029 Seiten umfassenden Bandes eine Buchpräsentation im Berliner Ensemble einher, die es in sich hatte.
So haben sich denn auch einige Erwartungsvolle im Sonntagsputz zur vormittäglichen Matinee am 16. Juni eingefunden. Die Sonne scheint nun schon seit Tagen. Aus Richtung des Deutschen Theaters weht vom Vortag noch etwas neue Dramatik herüber (Brasch hätte gesagt: „Wer vorgestern noch Aufstand rief / ist heute zwei Tage älter“) und vor dem Berliner Ensemble kann man die Vorfreude unter den Wartenden auf das Erdichtete des alten und jungen Dramaten Brasch förmlich erschnuppern.
Drinnen zwei Tische auf der Bühne, am Rand ein Band mit Fotos. Brasch als Kind, als Junge, der junge Brasch mit der jungen Katharina Thalbach und dann später als rezitierender Richard II. „in einen schönen Rausch versetzt“. Seine letzte Übersetzung für Peymanns BE. Gleichzeitig Peymanns größter Erfolg und letzte Theatertreffeneinladung. Und somit auch ein später Erfolg für Thomas Brasch. Dann sieht er uns an, dieser rastlose Grübler, auf dem letzten Foto, für einen Moment, als würde er wissen, das wir jetzt genau da sitzen, auf ihn schauen und lauschen. Den zwei Vorlesenden, die ihm hier neu Stimme verleihen, und er besser keine kriegen könnte, als eben die von Katharina Thalbach und Martin Wuttke. Sagt da einer nachher, er höre beim Lesen von Brasch nur noch die Stimme der Thalbach. So als spräche der allein nur aus ihr, durch sie. Eine Liebe, ein Leben, eine Symbiose über den Tod hinaus.
Es beginnt Wuttke mit Selbstkritik, ein Werk aus den 80ern: „Klagen einer traurigen Generation… das ewige Lied von Vater und Sohn“. In Kargo (1977) hieß das noch:
Morgen will ich mir eine neue Religion erfinden mit Helden, Tempeln und Gebeten… Halleluja, der Wind fegt durch unsere verstaatlichten Hirne.
Helden sind auch heute wieder im (Sonder)Angebot. Das Freizeichen ist immer noch durchgehend. Nur das Monopol darauf hat nicht mehr die Post. Da sage noch einer, hier ändere sich nichts. Anfang der 70er bekennt Brasch im Poesiealbum 89 wehmütig:
Wie viele sind wir eigentlich noch. … Welchen Namen hat das Loch
in dem wir, einer nach dem anderen
verschwinden.
Da ist er schon mit einem Bein im Westen. Raus aus dem „Land ohne Namen, daß sich mit Anfangsbuchstaben anreden lässt“. Ein Land, in dem es Brasch nur als Blindem gelingt, „so zu beten, daß ich nicht schuld bin“.
Und ich bin nichts als meine Augen.
Wenn ihr die zwei begrabt, begrabt ihr wen.
Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehen.
Ich will nicht sterben. Nur was taugen.
Brasch will den leeren Kopf nicht mehr aufs Eisen legen, wie sein „Mörder Ratzek“. Der Dichter will etwas anderes.
Das andere Wort hinter dem Wort
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.
Auch wenn der Riß mitten durch ihn selbst verläuft.
Dann wieder der junge Brasch in verteilten Rollen. Es geht um Franz, der Lucie seine Fräsbank zeigen will und doch ganz anderes im Sinn hat. Es ist laut. Sie will weg zum anderen aus der Schlosserei. „Liebst du mich, Franz?“ „Ich kann nicht so reden, Lucie.“ Und als sie weg ist: „Das ist meine Maschine.“ Die Lesung ist da am stärksten, wo die Thalbach und Wuttke sich gemeinsam hochschaukeln. Da ist Ekstase und Spaß an Braschs schwarzhumorigem „Bericht vom Sterben des Musikers Jack Tiergarten“. Deftig wie Vian, da ist die Thalbach in ihrem Element. Die dicke Wirtin schlägt den Morgenrock zurück und Wuttke/Jack nimmt Witterung auf, vom duftenden Moos. Aber ohne Moos nichts los. Leicht gekürzt verfehlt die Trübsalflöte das Bemollha nur um ein paar Zentimeter. Keinen ausgekochten Jack-Kopf gibt es, dafür aber ein „Hahnenkopf 1525“. Schon Manfred Karge hatte sich mit Schauspielstudenten in seinem Erinnerungsabend „Vor den Vätern sterben die Söhne“ an Braschs Langgedicht über deutsche Geschichte versucht. Bei Thalbach und Wuttke wird man mit jedem Punkt und Komma tiefer hineingesogen.
Besungen wird auch das Künstler-Dreigestirn „Heine und Tahlbach und ich“ (Brasch), eine Art Dreifaltigkeit aus Kopf, Bauch und Sohn. „Drei Köpfe eine Wand / Und Gelächter, weil keiner einen fand.“ Und auch der Säulenheilige Brecht meldet sich bei Brasch aus dem Grab. Zerfallen in der Erde Berlins, sieht er auch seine Nachfolger zerfallen über seinen Werken, mit einem Reimbesteck vor einer Erbse. Denn „die Verhältnisse sind gut, nicht dialektisch“. Das Ende einer Utopie? Das letzte Wort hat Martin Wuttke:
Als Gott den Menschen schuf
mit leichter Hand und schrägem Blick
gab er ihm auch einen Beruf
und um den Hals einen Strick
„Wenn ich nicht mehr da bin, wieviel wird euch fehlen.“ heißt es in „Sindbad. Tod sein oder die Rettung“. Für den nie angekommenen Reisenden war beides eine Option „Ich glaube an die Relativitätstheorie, aber wen ich nicht sehen will, ist Einstein.“ Brasch glaubte an die Lehre, aber nicht an die Gelehrten. Und er behielt Recht. „Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer.“ Katharina Thalbach hat es über 30 Jahre mitgelebt. Am Sonntag schien es so, als wäre da noch ein Hauch von „Antilopenduft“. Also wer Thomas Brasch wirklich endlich kennen lernen will, muss genau da durch. Und gelebt und gewohnt hat Brasch vor allem auch in seinen Gedichten. Gäbe es einen besseren Grund, sie wieder zu lesen?
Wir waren achtzehn, als wir uns kennen lernten.
Ich hatte Jahre zuvor den Staat verlassen, lebte in Westberlin und ging dort auf ein Gymnasium. Freunde und Familie besuchend wurde ich an einem Sonntag von einer Mauer überrascht, die mir die Rückkehr verwehrte und mich zwangsweise wieder zum DDR-Bürger machte.
Thomas Brasch beendete gerade die Schule, hinter ihm lag eine Kadettenanstalt, in die er vom Vater als Kind gesteckt wurde und gegen die er revoltiert hatte.
Kadettenanstalt – ich ahnte nicht, dass zum Ausgang des 20. Jahrhunderts noch eine solche Anstalt für Minderjährige existiert. Für mich war sie mit Namen wie Friedrich, Katte und Kleist verbunden und unvorstellbar in meiner Zeit. Ich weiß nicht, weshalb ihn der Vater dazu nötigte. Vielleicht aus dem jahrhundertalten Bestreben deutscher Juden, vollständig und ausnahmslos zum deutschen Gemeinwesen und Staat zu gehören, sich im Deutsch-Sein von keinem übertreffen zu lassen. Unausgesprochen und unbewusst auch die Angst vor dem nächsten Pogrom.
Thomas Brasch hatte sich gegen den Kadetten Brasch gewehrt. Dieser Versuch einer Disziplinierung, unverständlich in meiner Zeit, vollkommen unsinnig bei einem Menschen wie Brasch, zerbrach ihn nicht, zerstörte aber endgültig die Verbindung zum Vater.
Unsere Freundschaft war eng und heftig und wichtig für uns, für mich. Brasch sprühte vor Witz und Einfällen, das graue Leben in Halb-Berlin, wie er das östliche Berlin nannte, bekam mit ihm Farbe. Wir schrieben beide, zeigten die Arbeiten einander im juvenilen Bewusstsein künftiger Bedeutung, kritisierten einander, regten an. Wir opponierten selbstverständlich und überall, politisch und auch völlig unpolitisch, wir verfassten Flugblätter und verteilten sie, was dem staatlichen Sicherheitsdienst bedeutsamer schien als uns selbst. Und wir schrieben. Wir produzierten viel und rasch. Veröffentlichungen waren ausgeschlossen, was uns anfangs wenig beeindruckte: was kümmert die jungen Adler die Heimtücke der Würmer.
Dann kam wieder der allmächtige Vater ins Spiel, der nach dem Grund für die ihm unverständliche Entwicklung und die aus seiner Sicht feindlichen Überzeugungen seines Sohnes forschte. Er fand den Schuldigen im Freund seines Sohnes, der aus dem Westen kam, mit einer etwas anderen Bildung und anderen Kultur und anderen Büchern. Um seinen Sohn zu retten, musste er diese Freundschaft zerstören, diesen Eindringling zunichte machen. Er tat, was er meinte, tun zu müssen, und was er tun konnte, das war nicht wenig: er setzte die Staatsmaschinerie gegen einen jungen Mann ein, der ihm eine Mesalliance für seinen Sohn schien.
Einige Jahre haben wir uns dagegen gewehrt, habe ich diese Freundschaft, die mir wichtig war, aufrechtzuerhalten gesucht, dann zerbröselte sie. Die Freundschaft starb, nicht die Zuneigung.
Als ich Thomas Brasch nach Jahrzehnten wiedersah, er war bereits von der Krankheit und dem Tod gezeichnet, zeigte es sich: die Rechnung war nicht abgeschlossen, die Zuneigung ungebrochen. Nun allerdings war alles Vergangenheit: eine Jugend, Landschaften in Halb-Berlin, Personen, die wir waren und nicht mehr sind und geblieben sind.
Und nun ist diese Vergangenheit am Vergehen.
Und bald ist es vorbei.
Christoph Hein, Rede anlässlich der Matinee für Thomas Brasch am 25. November 2001 im Berliner Ensemble.
NACHRUF
Für Thomas Brasch
Du hast den Kopf aus der Schlinge gezogen.
Nun wiegt dein Hintern schwerer.
Ich habe mir in die Tasche gelogen.
Sie ist davon nicht leerer.
Du haßt, was du liebst.
Du liebst, was ich töte.
Ich les, was du schriebst.
Bin blaß. Erröte.
Da stammelt die Mär von Kain und Abel.
Du hast. Ich habe. Und was wird sein.
Berlin, der überhobene Nabel
Völkeraltar oder blühender Stein.
Richard Pietraß
In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.
Christoph Rüter: Brasch – Das Wünschen und das Fürchten
Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.
Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
„Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.
Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.
Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will
Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders
Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch
Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015
Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020
Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020
Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021
Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021
Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021
Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021
Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021
Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).
Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.
Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.
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