HALB SCHLAF
Für Uwe Johnson
Und wie in dunkle Gänge
mich in mich selbst verrant,
verhängt in eigne Stränge
mit meiner eignen Hand:
So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus:
Da weint er und da grinst er
und kann nicht mehr heraus.
Das sind die letzten Stufen,
das ist der letzte Schritt,
der Wächter hört mein Rufen
und ruft mein Rufen mit
aus meinem Augenfenster
in eine stille Nacht;
zwei rufende Gespenster:
eins zittert und eins lacht.
Dann schließt mit dunklen Decken
er meine Augen zu:
Jetzt schlafen und verstecken
und endlich Ruh.
Dieses Wachhalten von Wunschtraum oder
Angsttraum ist die Aufgabe der Kunst…
Thomas Brasch im Gespräch
mit Heike Kühn 1988
Thomas Braschs Arbeiten – Gedichte, Dialogstücke, prosaische dramatische und filmische Szenarien – sind aus einem Impuls heraus entstanden: der vital reagierenden Aktion eines Dichters auf die ihn umstellende Wirklichkeit, vorherrschend als gesellschaftliche Realitäten und Ordnungsgewalten, die er für sich, um sich ihnen zu stellen, um-zu-stellen trachtet, indem er sie, die er nicht ändern kann, beschreibt.
Man kann beliebige Verse, Sätze, Dispute aus diesen arbeiten herausgreifen, sie markieren bündig diesen existentiellen Konflikt, dem wir alle ausgesetzt sind; er aber stellt sich ihm in seinen Gestalten und Vorstellungen waghalsig auf offener Szene, reizbar und gereizt bis aufs blut, getroffen und zurückschlagend. Dieser allergische Reflex absoluter Vehemenz wurde ihm durch seine Biographie vorgezeichnet, in der extreme Positionen extrem aufeinandertrafen, auf die festgelegt und festgeschrieben zu werden er sich wiederum heftig zur Wehr setzt, die um und in ihm widerstreitenden Kräfte, die ihn – das Wort ist oft gefallen – zerreißen müßten, könnte er sie nicht in Sprache, Geste, bild aus sich heraus-stellen, sich von ihnen zu befreien – schöpferischer Akt, wie ihn nur die Kunst vermag: seine Ästhetik des Widerstands.
Denn als ihre authentischen Zeugnisse stellen sich Braschs Arbeiten dar, eben als Gedichte, als Prosastücke, als Drama alle bloß zufälligen privaten Anlässe, Behinderungen wie Begünstigungen unwirsch hinter sich zurücklassend, nicht aber die erklärte Absicht, Denken mitproduzieren, das nicht auf bestehende Ordnungsgesellschaften begrenzt ist, sie permanent in Frage stellt und den unhaltbaren zustand dieser Welt angreift: „Wünsche … nach einer Alternative zu der Art, wie wir leben.“
Nicht maßlos sind diese Entwürfe, selbst wenn sie, Genregrenzen überschreitend, den widerspruchsvollen Prozeßdemonstrieren, wie ihn Braschs Bücher bieten, die uns ungezügelt mit ungewöhnlichen Absagen und Vorschlägen kommen. Er kennt die von den Klassikern der Moderne geübten Sprechweisen, fügt ihnen aber eine schneidende Tonart hinzu, tradierte Topoi und Muster (Kassandra, Sindbad, Eulenspiegel) neu zur Disposition stellend mit dem radikalen Anspruch einer Generation nach Auschwitz unter den Bedingungen eines Planeten, der endgültig aus der Bahn zu geraten droht. Unangebrachtes Pathos? Es scheint mir diesen Arbeiten angemessen – Arbeiten, daß wir an ihnen Anstoß nehmen, uns, bei Strafe unserer Selbstvernichtung, an ihnen wund- oder gesundzustoßen, bequemere Konsequenzen sind hier nicht zu haben. „Wahrscheinlich übernimmt die Kunst die Funktion des Traums: Das durchzuträumen und durchzuspielen, was man sonst verdrängt. Es ist ein Privileg, ein öffentlicher Träumer zu sein.“
Für diesen Band habe ich die mir wichtigsten Arbeiten Thomas Braschs ausgewählt, sieht man von den außerordentlichen Filmen Engel aus Eisen, Domino und Der Passagier ab, die man über das dort gesprochene Wort in einem Buch nur unvollkommen wiedergeben kann, und von den Erzählungen Vor den Vätern sterben die Söhne, die als geschlossener Komplex mit zwölfjähriger Verspätung im Hinstorff Verlag Rostock erscheinen werden. Auf die Publikation seiner Stücke Lovely Rita, Lieber Georg und Mercedes in der Dialog-Reihe des Henschel Verlages sei hingewiesen, damit auf die gerechte Heimkehr eines bedeutenden Werkes deutscher Dichtung ins Land der Herkunft dieses Autors, die ihn einst zu dem Satz veranlaßt haben mag: „Es gibt in jeder Beschreibung etwas, das gleichzeitig der Stachel und die Aufforderung ist, die Verhältnisse zu ändern.
Gerhard Wolf, Nachwort, April 1989
Bei Philipp Reclam jun. Leipzig sind unter dem Titel Drei Wünsche, sagte der Golem Texte von Thomas Brasch erschienen, Gedichte, Stücke, Prosa, darunter die Dramen „Lovely Rita“ und „Rotter“. Vorangestellt ist Christa Wolfs Laudatio aus Anlaß der Verleihung des Kleist-Preises im Oktober 1987 in Frankfurt am Main. Die Auszeichnung war verdiente öffentliche Anerkennung eines deutschen Literaten, der an der Zerrissenheit seiner Heimat litt, seine Aufgeregtheit ästhetisch verfremdet, doch für SED-Doktrinäre zu offensichtlich herausfieberte und der schließlich von dem einen in das andere Deutschland wechselte.
Thomas Brasch, 1945 in England geborener Sohn jüdischer deutscher Kommunisten, in der DDR aufgewachsen, kritisierte diesen Staat mit fast anarchischer Radikalität. Seine Kritik nährte sich aus Erfahrungen aus der Kadettenschule (einer zeitweiligen Einrichtung hierzulande), aus dem Studium der marxistischen Philosophie, das er sich nicht durch Dogmatik verstellen ließ, aus dem Leben in dem Land, das nach außen abgeschottet war, und aus dem Aufenthalt im Gefängnis, in das er eingewiesen wurde, weil er Widerstand angemeldet hatte. Ein Sohn rebellierte gegen den übermächtigen, in Starrsinn verfallenen Vater, ein junger Bürger stand auf gegen einen verkrusteten, in Agonie sich krampfenden Staat, dessen Herrschende ihr einziges Ideal schamlos verraten hatten. Jeder Gedanke Braschs, jeder Satz im Grunde ist Protest. Freilich vehement auch und überhaupt gegen die kaputte Welt, in welcher die DDR brisant symptomatisch war für Unlösbarkeiten menschlichen Schicksals.
Insofern fällt der Zugang zu Braschs fragilen, aber auch barschen, oft fragmentarisch anmutenden Texten nicht eben leicht. Ihre Verschlüsselungen sind opulent. Am Stück „Rotter“ biß ich mich fest. Ich spürte plötzlich die geradezu unheimliche Gegenwartsnähe dieses assoziationskräftigen Werkes. Vielleicht war ich besonders empfindlich: Just in den Tagen nämlich las ich „Rotter“, als kund wurde, daß mit der Annahme des neuen deutschen Wahlgesetzes durch beide Parlamente die Republikaner gesellschaftsfähig werden. Mir graust. Mir scheint: Die Rotter sind unter uns. Indessen, auch das sei gesagt, sie müssen nicht unbedingt potentielle Republikaner sein. Wer ist der Typ solchen Namens? Ein Mann, der in dieser Charakterisierung in der Dramatik noch nicht vorkommt. Aber im Leben, im Alltag stirbt er offenbar nicht aus. Die Zeiten gebären ihn immer wieder neu: einen Menschen, der, bar eigener Ideale, gebrauchsbereit ist für jede Gesellschaft. Ein Vergleich mit Brechts Galy Gay aus Mann ist Mann ist vielleicht zulässig. Doch der manipulierte Packer ist ein kleines Licht, einer von ganz unten. Braschs Typ ist gefährlicher, weil mächtiger, weil willfährig funktionierender Führer. Etwa, als aktueller Vergleich: jüngst noch sozialistischer Betriebsleiter einer PGH, jetzt kapitalistischer Unternehmer einer GmbH.
Der literarische Rotter Braschs ist gelernter Fleischer. Er macht Karriere auf den Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges. Er macht Karriere in der Kommando-Wirtschaft. Er ist der „Neue Mensch“ – „ständig einsatzbereit, ohne hemmende Individualität im bürgerlichen Sinne“. Er ist „der Stoff, aus dem man Werkzeug macht. Ein leeres Blatt, auf das ein Lebenslauf geschrieben wird von der jeweils führenden Klasse. So was führt Leute zum Städteaufbauen, so was führt Leute zum Städteeinreißen, vorausgesetzt, es hat den Befehl dazu.“ Das Stück ist für diese Spielzeit im Berliner Ensemble angekündigt.
Für Braschs Lebenscredo steht — scheint mir — eine Passage aus dem „Papiertiger“, einer eigenwilligen Erfindung um zehn Personen, die sich mal gerade drei Meter nach vorn, drei nach hinten und vierfünfzig nach jeder Seite bewegen können. Der Text entstand Mitte der siebziger Jahre. Abschnitt sechs lautet:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nicht gewesen bin.
Wieviel Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Dasein, nach einem Heimatland, wo zu bleiben einem jungen Deutschen Herausforderung und Erfüllung sein könnte. Aber bei Brasch ist jede Deutung spekulativ. Daher mögen dieses Zitat und meine Assoziation genügen. Der Leser bilde sich sein eigenes Urteil.
Gerhard Ebert, Neues Deutschland, 14.9.1990
Natürlich ist es einfach, mit Tabus zu leben und zu schreiben. Es macht auch produktiv. Nur ein Fluß, der ein Flußbett hat, kann schnell fließen. In dem Sinn war die DDR natürlich als Lernphase für mich ein ungeheuer wichtiges Moment. Ich hätte in keinem anderen Land der Welt meine Jugend verbringen wollen. Ich war gezwungen, bis zu einem bestimmten Punkt genau zu denken. Und ich hatte den Vorteil, Dialektik lernen zu müssen… Wenn ich eins gelernt habe bei Leuten wie Hegel oder Marx oder dann bei Brecht: Es ist nichts so langweilig wie das, was nicht produktiv macht. Also muß ich mir eine Reibefläche suchen…
In einem Interview mit Gerhard Ebert gibt Thomas Brasch diese wesentliche Auskunft. Obwohl der 1945 im englischen Exil Geborene, 1946 mit seiner Familie nach Ostberlin übergesiedelt, im Dezember 1976 wieder in das Exil, diesmal nach Westberlin, mußte: „In keinem anderen Land…“ Wieviel Großmut verbirgt sich hinter solcher Äußerung, denn nur wenige deutsche Schriftstellerwege in jüngerer Zeit sind von soviel bitterer Erfahrung geprägt: die Funktionärseltern geben den Knaben auf die Kadettenschule; zweimal exmatrikuliert (Journalistik und Film); 1968 vom Berliner Stadtgericht (auf der Anklagebank auch Frank und Florian Havemann) zu zwei Jahren, drei Monaten Haft verurteilt, weil er auf Flugblättern gegen den Einmarsch in Prag protestiert hatte; nach vorzeitiger Haftentlassung „Bewährung in der Produktion“. Bis ihm Helene Weigel eine Stelle im Brecht-Archiv verschaffte und sein Schreiben förderte.
Viel Nachholebedarf hat der ehemalige DDR-Leser auch bei Thomas Brasch. Denn nur Eingeweihte wußten seinerzeit von den Geniestreichen des jungen Autors. Als er vor der Nachwuchsgruppe des Berliner Schriftstellerverbandes sein nicht nur sprachbrisantes Bauernkriegspoem „Hahnenkopf“ vorstellen konnte (Bernd Jentzsch legte es, einzige DDR-Veröffentlichung, als Heft 75 des Poesiealbums vor), glich dies einer Sensation. Der in der DDR Totgeschwiegene hatte sechs Stücke, zwei Szenen und über zweihundert Gedichte im Gepäck, als er die Ausreise vorzog.
(…)
Gerhard Wolf vermochte es, mit den knapp 250 Seiten des Reclam-Bändchens Drei Wünsche, sagte der Golem eine erregende Auswahl aus Thomas Braschs bisherigem Werk vorzulegen.
Die Männer mit den weitgerühmten Namen.
Sie schrien sich die ausgedörrten Kehlen wund
und waren plötzlich weg, so wie sie plötzlich kamen.
In dieser Lyrik, ob sie auf Sindbad, Galilei, Kassandra (wir erleben sie vorm Bockwurststand in der Schönhauser Allee) oder den Mann von der Haustür nebenan zugeht, setzen Verszeilen Signale mit der ungebändigen Kraft und dem Gerechtigkeitssinn der Jungen. „Beweg dich Mann, oder geh unter.“ Nicht stolpern. Nicht fallen. Kein Halt nirgends.
… aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
(„Der Papiertiger“)
Braschs Lyrik, bei Suhrkamp umfassender vorgestellt, besteht neben der Prosa und seinen dramatischen Arbeiten völlig gleichberechtigt.
Im „Eulenspiegel“-Text, der die literarische Vorlage mit überraschenden Assoziationen neu in die Gegenwart führt, dokumentarische Einsprengsel, manchmal so dicht, daß sie auf einer knappen Seite einen Einakter vorführen. Da kommt beispielsweise ein junger Arbeiter von der Schicht, und seine Geliebte ist nicht da. Wie sie dann kurz vor ihrer Arbeit an die Tür pocht und er sie fragt, mit wem sie geschlafen habe. Und sie nichts sagt. Und er ihr den Rock herunterreißt und sie vergewaltigt. Und wie sie „mach schnell“ sagt. Weil sie nun zur Schicht muß.
Für eine tote Generation sprechen
Ach, aber ach, vor den Vätern sterben die Töchter
im Schauspiel Lovely Rita (die Siebzehnjährige schläft im Nachkrieg mit einem Besatzungsoffizier und tötet ihn schließlich) wird eine Grundproblematik des Erzählungsbandes fortgeführt, sagt die Frau 5:
Du bist wie dieses Land: Freiwillig vergewaltigt, unterm fremden Schenkel, den Schoß geöffnet…
Rotter dann, der dreizehn Jahre nach seiner Uraufführung (1977 in Stuttgart) zu spät auf die Bühne des Berliner Ensembles treten durfte: Solch einer funktioniert in allen Systemen als Untertan, ob als Hitlerjunge oder als sozialistischer Aufbauleiter. Und neben ihm Lackner, der Unangepaßte. Aber beide haben ein erbärmliches Ende.
Thomas Brasch, der seine Figuren bis auf die Rippen ertastet, hat sich, obwohl oft in Bedrängung und in Versuchung, nirgendwo politisch vereinnahmen lassen. Für ihn zählt einzig die literarische Leistung, der dialogische Widerpart, mit der er sich der Gesellschaft stellt. Er macht Keime der Utopie ausfindig und sagt von sich, daß er am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts das Wort Demokratie nicht benutzen würde.
Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu ändern, aber immer ein Versuch, sie zu über-leben.
Hannes Würtz, neue deutsche literatur, Heft 458, Februar 1991
Eckart Krumbholz: Spannend, gespannt und sperrig bröckelnd
Sonntag, 5.8.1990
Elke Erb liest Thomas Brasch zu seinem 70. Geburtstag am 19. Februar 2015 in der Rumbalotte Continua.
Die Ursache dessen, daß das Urteil der Nachwelt über den Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen, liegt im Toten. Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist.
(Franz Kafka)
I
Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
(Thomas Brasch)
Berührende, große Poesie: Wunschtraum, Utopie.
Der Philosoph Ernst Bloch, von Thomas Brasch höchst geschätzt, hat solche Sehnsucht, solche Hoffnung auf etwas in dieser zerrissenen Welt, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“, so schmerzlich gekannt wie Brasch.
Wo liegt die Heimat poetischer, philosophischer Juden?
Was war die Heimat des Thomas Brasch?
Die Sprache? Das neue Jerusalem?
Welches waren seine Utopien, Tagträume, Glücksphantasien? Welches seine Alpträume, Ängste?
Die Todesangst der Melancholie läßt nur die eine Erklärung zu, daß das Ich sich aufgibt, weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt.
(Sigmund Freud)
Die großen Gedanken Sigmund Freuds – schon der vierte berühmte Jude nach wenigen Zeilen: Zufall? Wohl kaum – hatte Brasch noch in der DDR kennen gelernt und für sich fruchtbar gemacht: auch im Dialog mit Franz Fühmann.
Von welchen Dämonen, Erinnyen fühlte Brasch sich gejagt?
Vom faschistischen Judenmord? Von Kriegen?
Vom ostdeutschen Staat? Vom westdeutschen Kapitalismus?
Von Über-Vätern wie Shakespeare, Brecht, Heiner Müller?
Hatten Ruhmsucht, Revolte, Melancholie, Narzissmus, Todessehnsucht, Selbsthass, Selbstzerstörung des Thomas Brasch, der mir ein Freund war, in den letzten Jahren ein ferner, fremder, verlorener Freund, hatten seine poetischen und persönlichen Hass- und Liebesorgien spezifisch jüdische Aspekte und Formen?
Zeuge hochemotionaler Diskussionen darüber unter jüdischen und nicht-jüdischen Künstlern, unter Freunden und Nichtfreunden wurde ich erneut nach Thomas Braschs Beerdigung.
Der Streit dauert an. Er ist aufregend. In Deutschland besonders.
Zu viel geredet.
Zu selten geschwiegen.
Und Angst immer. Vor allem und vor jedem.
Vor dem Verlassen und dem Verlassenwerden.
Vor der Gesellschaft und vor der Einsamkeit.
Vor meiner unnachgiebigen Verteidigung einer
unwürdigen Unabhängigkeit.
Und immer der Gedanke an Sterben.
(Thomas Brasch)
II
Als sich Weihnachten 1979 weltweit die Nachricht verbreitete, Rudi Dutschke, der militante Führer der westdeutschen Studentenrevolte von 1968, sei am Heiligen Abend in Dänemark in einer Badewanne ertrunken, 39 Jahre jung, rief mich Thomas Brasch in meiner Wohngemeinschaft an, in der er und Kathi Thalbach nach ihrem Verlassen der DDR einige Monate herzlich willkommene Mitbewohner waren und in der auch Rudi Dutschke die Jahre davor gelebt hatte, wenn er in Berlin war.
„Selbstmord, ja? Hat Rudi ein Ende gemacht?“ fragte Thomas tief berührt und fassungslos.
Noch vor kurzem hatten wir über die Sozialismus-„Alternative“ von Rudolf Bahro diskutiert: heftig, hart, polemisch, wie ohne Kränkungen nur unter guten Freunden möglich.
Nein, Thomas, das halte ich für ausgeschlossen. Rudi war Revolutionär, doch auch Christ. Freitod ist seinem ganzen Wesen fremd. Du kennst ja seine Kämpfernatur, seinen gigantischen Lebenswillen.
Ich war Thomas Brasch und seiner großen Liebe Katharina Thalbach samt Töchterchen Anna in den frühen 70er Jahren erstmals begegnet. Wie auch Sanda Weigl, Wolf Biermann, Klaus Brasch, Heiner Müller und anderen Dichtern, Schauspielern, Sängern.
In Ostberlin natürlich. Noch stand die Mauer.
Rudi Dutschke, der sich nach dem Attentat vom 11. April 1968 (eine der drei Kugeln steckte bis zum Ende in seinem Kopf, führte zu epileptischen Anfällen bei Überanstrengung) qualvoll zurück ins Sprechen, Denken, Schreiben gekämpft und 1973 qualvoll eine Doktorarbeit erfolgreich beendet hatte („Zur Differenz des asiatischen und westeuropäischen Weges zum Sozialismus“), lebte damals mehr schlecht als recht von Forschungsstipendien.
Und ich, kein 68er!, Philosophiestudent höheren Semesters, träumte zu der Zeit, berühmter Wissenschaftler, Philosoph oder Schriftsteller zu werden – Hauptsache: berühmt.
1970 hatte ich Rudi Dutschke in einem Zehlendorfer Studentenwohnheim kennen gelernt. Bald hatten wir ähnliche geistige Väter, Utopien, Interessen, Projekte entdeckt – etwa die kritische empirische Erforschung von Arbeitsformen und proletarischen Verweigerungs- und Widerstandsstrategien in realsozialistischen Fabriken. Und so suchten zwei West-Intellektuelle wenigstens einen ECHTEN OSTDEUTSCHEN ARBEITER – und fanden den Dichter Thomas Brasch. Ich glaube, über Wolf Biermann oder Robert Havemann.
Der Student und Dichter Brasch hatte nach Verhaftung und Verurteilung zu 27 Monaten Gefängnis – „staatsfeindliche Hetze“ wurde sein Protest gegen die gewaltsame Zerschlagung des Prager Frühlings genannt – sowie seiner Exmatrikulation von der Filmhochschule zwar noch kein Gedicht oder Theaterstück in der DDR veröffentlichen dürfen, gab Rudi Dutschke und mir jedoch bereitwillig, großzügig und vertrauensvoll seine Aufzeichnungen, die er, freigelassen auf Bewährung, als Fräser im Transformatorenwerk „Karl Liebknecht“ zu Berlin, gemacht hatte. (DANKE für Deinen deutsch-deutschen Manuskript- und Bücherschmuggel, liebe Christel Sudau! – erste DDR-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau – sie wurde an der Grenze nicht durchsucht – wie Thomas Brasch und Rudi Dutschke starb sie, enge Freundin von Sarah Kirsch, allzu früh.)
III
… und wären doch nicht hier, hätte die DDR ihnen nicht wehgetan. Sie leben fern von ihr, immer noch haben sie das Tischtuch nicht gänzlich zerschneiden mögen. Hier ist eine Rechnung nicht abgeschlossen: Noch im Zorn verlangen sie das Gespräch.
(Uwe Johnson)
Deutsch-deutsch Verwundete, zerrissen wie Vaterland und Muttersprache: Johnson, dem Brasch ein ergreifendes Gedicht gewidmet hat, ging lange vor dem Mauerbau von Ostdeutschland nach Westberlin. Dutschke folgte ihm 1961. Brasch 1976.
Die Grenze überschreiten vom Zorn in die Kälte,… mit einem Sprung, der stehenbleibt, ein Fuß diesseits, der andere jenseits über der Grenze, mit einem Sprung, der nicht weiterbringt.
(Thomas Brasch)
Seinen Verwundungen, Kränkungen zum Trotz wird Thomas Brasch die DDR als Gesellschaftsexperiment, als abstrakt-utopischer Sozialismusversuch nie gleichgültig sein. Bis zu ihrem Untergang, bis zu seinem Tod wird er, politisch wie künstlerisch, mit ihr streiten wie mit einer Person, wie mit einem Vater, den man liebt und hasst. Es war wohl Samuel Beckett, der in einem Roman mit liebevoller Ironie einen Typus von Atheisten beschrieb, die grimmig einen Gott beschimpfen, dessen Existenz sie leugnen. Brasch und Dutschke verband diese Ambivalenz. Mir, obschon in Radebeul bei Dresden geboren, doch aufgewachsen im Westen Deutschlands, war sie fremd. Gemeinsam aber lehnten wir diese Art von Sozialismus ab, träumten von einer befreiten Welt: ohne Hunger und Krieg, ohne Erniedrigte und Beleidigte, wie Dostojewski schon formuliert hatte, sehnten uns nach einer mit der Natur, ja dem gesamten Kosmos versöhnten Menschheit, nach einem Garten Eden auf Erden.
Die Utopie des Thomas Brasch jedoch war weit radikaler als die des Rudi Dutschke. Brasch war ein Rebell gegen JEDE Form der Macht, jede Form der Entfremdung, jede Form der Herrschaft und Hierarchie, jede Form der Autorität, jede Form des Staates. Mit Rousseau und Bakunin, mit James Dean und Bob Dylan träumte er von der absoluten Freiheit des einzelnen Menschen.
„Alles anders machen“, schreit Braschs Held Robert in Vor den Vätern sterben die Söhne:
Alles anders machen. Ohne Fabriken, ohne Autos, ohne Zensuren, ohne Stechuhren. Ohne Angst. Ohne Polizei.
Dutschke war christlicher Marxist, sprach von Klassen und Massen, sagte: WIR.
Brasch war Dichter und Anarchist, sprach von Individuen, sagte: ICH!
Und ich? Das Weltkind in der Mitten meist. Fasziniert wie erschreckt vom zuweilen maßlosen Existentialismus Thomas Braschs.
Rudi nannte mich: lieber Genosse (furchtbar! – entschuldige, Rudi). Für Thomas war ich: lieber Jürgen oder Miri.
Trotz, nein, natürlich gerade wegen solch aufregender Unterschiede wollten wir gemeinsam ein Buch schreiben, das selbstverständlich weltweit Aufsehen erregen und der Revolution geistige Impulse geben würde: Der poetische Ostrebell von 1968, der politische Westrebell von 1968 und der philosophische Rebell der 70er Jahre formulieren – synoptisch, auf jeder Seite drei Spalten – ein neues Manifest; formulieren zu den großen Utopien, den ewigen Träumen und Themen der Menschheit oder Einzelner ihre jeweiligen Er-Fahrungen, Gedanken, Gefühle, Haltungen.
IV
Ja, das war wohl die wesentliche Faszination für mich und viele: Thomas Brasch wagte inmitten eines Kollektiv-Wahns ICH zu rufen. Inmitten eines oft verlogenen Altruismus von seinen Wünschen, Obsessionen, ganz persönlichen, ganz konkreten Utopien zu sprechen.
Offen von literarischem und filmischem Ruhm zu träumen, sich als frauenverschlingender Minotaurus zu inszenieren – und sich als neuer, genialer Zarathustra zu gebärden.
Damals machte mich, obschon er zu Nietzsche wohl durch mich gekommen war, sein riesiges Selbst-Bewusstein, ja sein Größenwahn fassungslos. Zugleich beneidete ich Brasch darum.
Hatte sein Sendungsbewusstsein, sein Prophetentum, sein Sichauserwähltfühlen mit seiner großbürgerlichen Herkunft zu tun?
Mit seinen jüdischen Wurzeln? War es arrogant-aggressives überspielen der tiefen Unsicherheit eines Heimatlosen, Zerrissenen, verzweifelt eine Identität Suchenden?
Damals verstand ich Thomas Brasch wohl nicht tief genug. Ich hatte Ernst Blochs Geist der Utopie noch nicht gelesen:
Kein Vorstoß ins ,Höhere‘, auch der wirklich produktive nicht, geht ohne Selbstbehauptungen ab, die nicht oder noch nicht wahr sind. Auch der junge Musikant Beethoven, der plötzlich wußte oder behauptete, ein Genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb Hochstapelei skurrilsten Stils, als er sich Ludwig van Beethoven gleich fühlte, der er doch noch nicht war. Er gebrauchte diese durch nichts gedeckte Anmaßung, um Beethoven zu werden, wie denn ohne die Kühnheit, ja Frechheit solcher Vorwegnahmen nie etwas Großes zustande gekommen wäre.
Das Genie Franz Schubert sah das ganz lakonisch so:
Wenn ich nicht daran glaube, daß ich ein Adler und kein Zeisig bin, kann ich kein Adler werden.
Thomas Brasch glaubte früh daran, ein Adler zu sein.
Vielleicht kränkte es ihn, dass ihn nicht ALLE und SOFORT als Königsvogel erkannten. Oder nicht gebührend feierten oder fürchteten.
Adler sind stolz und sehr sensibel.
V
Traum oder Tod oder Schlaf
Komm in den Steingarten
wo ich dich nie traf
will ich jetzt auf dich warten
(Thomas Brasch)
Die Träume, Hoffnungen, abstrakten und konkreten Utopien des Adlers Thomas Brasch – wurden sie ihm wenigstens zeitweise, teilweise wenigstens Wirklichkeit?
Anarchie, Ruhm, freie Liebe, Heimat?
Die Welt, das irdische Jerusalem ist unerlöst, blutige Wunde, Jammertal. Gedichte werden das kaum ändern. Und doch:
Aus einer Weltenkammer voll Haß und Wut
hab ich mir gestohlen die Liebe.
Außer mit der wunderbaren Schauspielerin und Regisseurin Kathi Thalbach soll der Erotomane Brasch mit weiteren 1.500 Frauen und Mädchen (Huren inklusive) geschlafen haben (Casanova und ich erbleichen vor Neid).
Auch die Blaue Blume hat Thomas Brasch gefunden – noch vor dem Schnee-Fall.
Und Ruhm erlangt.
Und sein Judentum – „mein ,Volk‘“ – angenommen am Ende.
Gewiss: Seine Träume mutierten zuweilen zu Alpträumen, seine Sehnsüchte zu Süchten, zur Krankheit zum Tode.
Doch wie ein Engel, wennschon mit kotbefleckten Flügeln, wie ein Kind verweigerte er Gewöhnung ans Böse dieser Welt.
Den letzten Satz schrieb ich schon einmal.
In einem Essay über den messianisch-anarchistischen Adler Ernst Bloch.
Er stimmt auch für Thomas Brasch. Auch deshalb wird sein Werk bleiben.
Ach ja, aus unserem gemeinsamen Werk wurde nichts auf Erden. Rudi Dutschke starb jung wie Che Guevara.
Nun ist auch Thomas tot.
Doch unser Buch werden wir noch schreiben:
Vielleicht im himmlischen Jerusalem.
Jürgen Miermeister, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004
AUF DEM DOROTHEENSTÄDTISCHEN FRIEDHOF
(Thomas Brasch)
Ein Ring um den Mond
und Höfe ums Auge.
Auf dem Friedhof, da wohnt
dorotheenstädtisch ein Tauge-
nichts, staunendes Klümpchen
Gewebe aus viel mehr Licht,
als die Friedhofsordnung gestattet.
Es fremdeln wir alle von Zeit zu Zeit
vor dem, der die Kraft hat,
sich selbst heimzuleuchten.
Das Hemd ohne Taschen,
für uns ist’s zu weit,
ihm haftet es an wie die feuchten
Häute der Erde.
Er ging. Und ging rasch.
Wir blieben vorhanden, seitdem.
Doch das Vergessen ist unbequem.
Geübt will es sein, geprüft und bestanden.
Es hat einst ein Bürger des Landes Brasch
zwischen all unsren Stühlen gesessen,
auf der Reise nach Jerusalem
zu seinen lieben Verwandten.
Anna Real
Joochen Laabs: Sein eigener Herr
Neues Deutschland, 16.10.1998
Cornelia Geißler: Der Dichtergärtner
Berliner Zeitung, 15.10.2018
In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.
Christoph Rüter: Brasch – Das Wünschen und das Fürchten
Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)
Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.
Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
„Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.
Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.
Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will
Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders
Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch
Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015
Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020
Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020
Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021
Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021
Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021
Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021
Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.
Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).
Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.
Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.
Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.
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