Thomas Brasch: Kargo

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Brasch: Kargo

Brasch/?-Kargo

FRIEDE DEN WÄCHTERN

An den Wänden die Drähte,
auf dem gebohnerten Fußboden Teppiche gegen
den harten Schritt der Stiefel
in deinem Rücken. Tür an Tür die Einzelzellen
der neuen Gesellschaft. Wessen Straße ist die Straße.

Die Stille ist die Schwester des Wahnsinns.
Zwischen Hocker und Tür fünf Schritte und
der Herzschlag zwischen den Schläfen.
Die Posen:
Widerstand/Härtetest/Selbstmitleid/Jammer/Gelächter
sind verbraucht: Leitartikel im eigenen Zentralorgan.

Schreie im Flur nach zehn Wochen oder zwölf: Ihr
Verbrecher. Das hastige Tappen der Füße über
den Teppich. Dein Ohr an der Tür.
No man is an island. Friede den Wächtern.
Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus.

 

 

 

Kargo

− das ist der Kult, der besagt: „Männer mit weißer Hautfarbe sind Geister von Toten, die ihr Ende nicht finden, leben nicht mehr und sind noch nicht tot“ – erschien, nachdem Thomas Brasch 1976 den Land-Wechsel von der DDR in die BRD vollzogen hatte. Es ist eine Sammlung aus Gedichten, Dialogen, Zitaten, Szenen, Dokumenten, Fotos, vom Autor zueinander in Beziehung gesetzt und eines der Kommentar des anderen, die, so Fritz J. Raddatz in der Zeit, „auf exemplarische Weise vorführt, daß hier jemand versucht, seinen Schock zu bewältigen, zu alphabetisieren. Schock – das kann zum Beispiel sein das heftiger werdende Gefühl, im bunten Karusselgeglitzer des Westens vollkommen allein zu sein, … Schock – das kann heißen, daß einer Furcht davor hat, ,ich‘ zu sagen.“

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1979

 

Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff

aus der eigenen Haut zu kommen

Braschs zweite Publikation nach seinem „Landwechsel“ von Ost nach West schloß sich unmittelbar an die erste an: Der Erzählungsband Vor den Vätern sterben die Söhne war Anfang 1977 im Rotbuch Verlag erschienen – mit Kargo wechselte er zum Suhrkamp Verlag, obwohl es für das Manuskript bereits mündliche Absprachen mit Rotbuch gegeben hatte, so der damalige Rotbuch-Lektor F.C. Delius. Der Band erschien im Juni 1977. Brasch nutzte Kargo als Experimentierfeld für neue Formen. So enthält der Band Texte aus der Zeit vor und nach seinem Weggang und spiegelt damit genau diesen Übergang von Ost nach West, ist dabei aber streng komponiert und gehorcht unter anderem den Prinzipien der Serie und der Spiegelung, neben seinen zahlreichen inter- und intratextuellen Verweisen. Er versammelt neben Gedichten u.a. Dokumente, Fotos, Theaterstücke, Szenen, Reflexionen etc., doch sind diese gattungstheoretisch kaum voneinander abzugrenzen. Brasch bediente sich mit Vorliebe der hybriden Formen, so schrieb er beispielsweise Gedichtzyklen fürs Theater (vgl. „Der Papiertiger“ oder „Hahnenkopf“), Mischformen wie „Ritas Vorstellung“ oder auch Prosatexte, die als Gedicht gelesen werden können. Darüber hinaus wechselte er oftmals die Gattung von Publikation zu Publikation. So gibt es z.B. frühere Versfassungen einiger Texte, die zu Prosatexten umgewandelt werden und beinahe wörtlich identisch sind (beispielsweise „Das Aquarium“ in „Eulenspiegel“).
In einem Brief an seine Lektorin Elisabeth Borchers schreibt er über Kargo:

Am Anfang des Textes [für die Programmvorschau des Verlags – d. Hg.] sollte betont werden, daß es sich bei dem Buch um eine größere Montage aus verschiedenen unterschiedlichen Teilen handelt, das heißt, das literarische Produktionsverfahren sollte stärker betont sein, um der Gefahr des Lesebuchs zu entgehen. Meine Technik, Fotos, Gedichte, Zitate und Stücke zueinander in ein Verhältnis zu setzen und sich gegenseitig kommentieren zu lassen, müßte als der wichtigste Aspekt herauskommen. Zu erwähnen ist dabei auch, […] daß auch die sogenannten Theaterstücke des Bandes ihren eigenen Charakter haben: Sie sind, zumindest im Fall von „Papiertiger“ bzw. „Eulenspiegel“ ja mehr Montage aus Gedichten bzw. Geschichten als herkömmliche dialogische Theaterstücke. (Brief vom 25.3.1977, SUA)

Bei den genannten Fotos ist in den seltensten Fällen die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Gedicht so eindeutig wie in dem Gedicht „H. M.“, in dem das Foto den zweiten Teil und damit den Schluß des Gedichts bildet und somit von einem literarischen Foto-Text par excellence gesprochen werden kann. Zudem haben auch die Fotos Kommentar- bzw. Verweisfunktion innerhalb der gesamten Struktur des Bandes, der mustergültig mit einem Foto als Einstieg eröffnet. Ebenso verhält es sich mit den Dokumenten, auch diese beziehen sich nicht unmittelbar und ausschließlich auf den Nachbartext, sondern verweisen auf Vorgängerbilder, Motivwiederholungen und -variationen, mitunter erstrecken sich Serien über den gesamten Band (vgl. das Foto des Mannes neben dem Fernseher). Brasch schreibt dazu in einem weiteren Brief an Elisabeth Borchers:

Kago ist der Name des Kultes, der im Gedicht „Ödipus“ im Band beschrieben ist und beinhaltet, daß die weißen Männer die Geister von Toten sind, die nicht leben und nicht sterben können. […] Der Band wird zusammengehalten durch die Fotos, von denen etwa 20 hineinsollen und die von jeweils drei vier Sätzen aus dem Tagebuch begleitet und kommentiert werden. Es sind Bilder aus der inneren und äußeren Landschaft, von Waldarbeitern mit Beilen, von flüchtenden Bierfahrern und träumerischen Mädchen, von fernsehenden Greisen und Frauen am Spültisch, eben Bilder von jenen Leuten, von denen der KAGO das obenerwähnte besagt. (Brief vom 10.3.1977, TBA 1157)

Brasch war dieser formale Aspekt und Zusammenhang überaus wichtig, „der das ganze nicht als ein Experiment herunterspielt, sondern als Form behauptet“, so daß der Band als ein „inszeniertes Buch“ oder „Fragment-Kino auf Papier im Sprachlosen Zeitalter“ gelesen werden kann und damit die herkömmliche Buchtradition verläßt (Brief vom 25.3.1977, SUA).
Elisabeth Borchers ist schon nach der ersten Lektüre begeistert:

Was soll ich Ihnen sagen, nachdem ich nun alles gelesen habe. Ich hatte nicht wenig erwartet, aber es ist mehr. Zu sagen, daß Vollkommenheit erreicht ist, schiene mir eher eine sachliche Feststellung zu sein. Das wäre zu wenig. Habe ich Ihnen je gesagt, daß Brecht für mich der Gipfel der Sprache ist? Als die Kritik vor Jahren einmal einen Autor zu seinem Nachfolger erklären wollte, habe ich mich nicht schlecht mokiert, im stillen. Und ich habe auch nicht daran geglaubt, daß es je jemanden geben kann. Jetzt werde ich eines Besseren belehrt. Bei niemandem seit Brecht habe ich diese selbstverständliche Einfachheit der Sprache erlebt. Wie Ihnen das gelingt, ohne auch nur den Hauch einer Anstrengung. Und dennoch ist das ein anderes Leben, ich will sagen, nicht Kopie von Sprach-, Denkungs-, Reaktionsart; unmißverständlich Eigenes verbunden mit dem Besten der Mittel. (Brief vom 11.4.1977 an Thomas Brasch, TBA 1157)

Der Band erregte auch nach seinem Erscheinen Aufsehen, Fritz J. Raddatz schrieb in der Zeit, es werde „auf exemplarische Weise vor[ge]führt, daß hier jemand versucht, seinen Schock zu bewältigen, zu alphabetisieren. Schock – das kann zum Beispiel sein das heftiger werdende Gefühl, im bunten Karussellgeglitzer des Westens vollkommen allein zu sein, … Schock – das kann heißen, daß einer Furcht davor hat, ,ich‘ zu sagen.“ (Fritz J. Raddatz: Versuche, aus der eigenen Haut zu kommen. Die Zeit, 11.11.1977)
Heiner Müller schrieb für den Spiegel eine sehr persönliche Rezension und las den Text u.a. auch „als Kritik an meiner Arbeit, soweit sie die Versteinerung einer Hoffnung darstellt“. Müller benennt hier vor allem die Differenz zwischen den Generationen als ausschlaggebend:

Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Lyrik, Haare und Bärte, Jeans und Beat, Ringelsocken und Guevara-Poster, Brecht und Dialektik). […] Ich entschuldige mich nicht dafür, daß ich den 32. Versuch von Thomas Brasch, Auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, nicht einfach als Literatur lesen und rezensieren konnte. Er geht mich zu viel an, und ich hoffe, daß ihm auch der 33. Versuch mißlingt. Er ist immer noch in seiner Haut der Beste, und Schiffsuntergänge sind kein Alibi für Selbstmord. Gerade die Spuren und Narben seiner DDR-Biographie zeichnen seine Texte aus der Masse der westdeutschen Literaturproduktion, die mich im ganzen herzlich langweilt. Ich weiß nicht, was sie dort für Folgen haben werden, in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht. (Der Spiegel, 12.9.1977)

Aus: Thomas Brasch: „Sie nennen das Schrei“. Gesammelte Gedichte herausgegeben von Martina Hanf und Kristin Schulz, Suhrkamp Verlag, 2013

Mit seinem zweiten Buch

Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen wechselte Brasch vom kleinen Rotbuch Verlag, der einiges für ihn riskiert hatte, zu Suhrkamp. Kargo zeigt die Begabung Braschs, seine rastlose Suche nach neuen Formen: Gedichte bilden mit Prosa, Szenen und Dialogen eine dichte Komposition. Jeder Text steht für sich und ist doch Teil eines komplexen Bezugsspiels, das montierte Dokumente und Fotos erweitert, die den Text kommentieren und fortschreiben. Die Suchbewegung ist ein wesentliches Moment dieser Literatur. Nie zerstörerisch wie bei Heiner Müller, nie führt sie an ein Ziel wie bei Brecht. Hinter seinen Texten steht eine Frage, an die eigene Person, an die Welt, das Leben, die Dichtung.

Insa Wilke, zeit.de, 29.7.2009

Wie es bleibt, ist es nicht

Thomas Brasch gehört zu den großen Begabungen seiner Generation. Begabung ist nach Becher die Fähigkeit, in gesellschaftlich aufschlußreiche Situationen zu geraten. An Gelegenheiten, diese Fähigkeit unter Beweis zu stellen, hat es Brasch in der DDR nicht gefehlt. Ich werde sie nicht aufzählen; sie sind in den Medien der BRD ebenso ausgiebig kolportiert worden wie in der DDR, anläßlich einer Publikation in der Reihe Poesiealbum, verschwiegen.
Zwei Methoden, mit Literatur fertig zu werden: Reden und Schweigen, Verkauf und Verbot. Entsprechend die zwei Gegenstrategien: Raubdruck und Samisdat. Keine Seite hat mehr ein Monopol auf eine der beiden Methoden, die Prioritäten sind noch verschieden. Behindern von Erfahrung, Drosselung von Surplus-Produktion an Ideologie sind Bedingungen des Status quo, an dem mit gleichen und/oder verschiedenen Mitteln im diplomatischen Clinch die feindlichen Systeme arbeiten. Solange der Anspruch auf das Adjektiv feindlich in der Wirklichkeit eingelöst wird, ist die Hoffnung auf unserer Seite.
Ich bedaure, daß der Besitz auch des zweiten Buches von Brasch in der DDR ein Privileg ist. Der Satz bleibt unvollständig ohne den Zusatz, daß in der BRD für den Gebrauch das gleiche gilt. Die wirkliche Lage hier, dort der künstliche Freiraum. Das kritisiert nicht den Land-Wechsel (eine gelungene Prägung im Suhrkamp-Klappentext zu Kargo, die an Wildwechsel erinnert und an ein Straßenschild bei Köpenick: Achtung, Bauarbeiter überqueren die Fahrbahn), der weder ein Votum gegen die DDR noch für die BRD war, sondern zunächst ein Arbeitsplatz-Wechsel. Seine (Braschs) Texte können hier, in der DDR, vielleicht besser arbeiten, wie underground immer; er, der sie schließlich schreiben muß, kann es wahrscheinlich besser (mit mehr Öffentlichkeit gegen weniger Widerstände) dort.
Das Dilemma ist nur individuell auflösbar, jeder für sich, und Deutschland gegen alle, die jeweilige Entscheidung immer jenseits der Kritik. Das bessere Deutschland bleibt eine Formel der Romantik, zunächst und auf lange wird das eine jeweils das andere des anderen sein. Das Elend des Vergleichens ist das Elend der Ideologie. Der vom 30.3.1977 datierte (also nach der Übersiedlung geschriebene) Text aus dem Arbeitsbericht, der dem Eulenspiegel vorangestellt ist, formuliert allerdings, meine ich, aus der Notwehr gegen linke Vereinfachung, einen Kurzschluß:
„Gespräch mit S und M. Beiden fällt auf, daß die Anmerkung über die Flucht der drei Schauspieler in Kunst nur die miese Seite der Medaille bezeichnet. Gleichzeitig ist sie nämlich ein Verstoß in die Form und damit natürlich eine Chance für gesellschaftliches Verhalten. Die Beschreibung der Ohnmacht ist der Beginn ihrer Überwindung. Dabei wird mir bewußt, wie stark nach meinem Wechsel von einem deutschen Land in das andere an mich die Erwartung herangetragen wird, aus einer hermetischen Kunstwelt herauszukommen und die Aufforderung formuliert wird, mich feuilletonistisch zu verhalten.“ „Dein asketischer Kunstbegriff hat vielleicht dort funktioniert, wo du herkommst, hier ist er lächerlich“, sagte mir einer, der sich als engagierter Kritiker der hier herrschenden Zustände versteht, „auf die Dauer wirst du um eine klare Stellungnahme nicht herumkommen.“
Das deutsch-deutsche Mißverständnis einer Stellungnahme, Ideologie als Ersatz für Wirbelsäule. Das ist auch das Dilemma des Eulenspiegel, der Ideologie allerdings erst dann benutzt, wenn er sie für seinen Lebensunterhalt braucht. In allen anderen Fällen ist sie Luxus. Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu ändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben.
Die Prämisse hebt die Konsequenz auf, die überdies, so formuliert, von Metaphysik nicht frei ist. Solange die Autoren Lohnarbeiter sind, kommt Literatur ohne Strategien nicht aus, die wiederum nur entworfen werden können aus der einen oder anderen Intention, Arbeitsbedingungen, das heißt die Welt zu ändern. Das braucht bis auf weiteres den Luxus der Produktion und Zertrümmerung von Ideologie.
Die meisten der in Kargo versammelten Texte kannte ich seit ihrer Entstehung, zum Teil in mehreren Fassungen, an einigen als Gesprächspartner beteiligt, und doch war die Lektüre des Buches eine neue und in vielem irritierende Erfahrung. Das hat nur am Rand mit der Autorität des Gedruckten zu tun, fremd nach dem Augenaufschlag eines Manuskripts, mehr mit dem Kontext, den die Montage, die Inszenierung der Texte, herstellt, viel mit dem optischen Widerstand der Photographien:
Die eisernen Mütter vor der Auslage des Spielwarenladens als Nachruf auf den Jazzmusiker Jack Tiergarten, Gesichter aus kaltgewordenem Fett, treusorgende Totengräber ihrer Nachwelt. Der alte Mann, Überlebender von zwei Weltkriegen, am unterhaltsam kriegerischen Bildschirm. Seine Photographierposen, steif zwischen Abwehr und Drohung, stellen ganze Seiten Lyrik in Frage. Die drei Waldarbeiter in der Haltung von Denkmälern der Stalinzeit, Äxte und Sägen in kunstgerechter Position, finstrer Kommentar zu Eulenspiegel: Ohnmacht der Beschreibung. Der Literatur, wenn sie Beschreibung bleibt. Die Behörden-Briefe als Widerhaken im Papiertiger, Banalität des Alltags gegen intellektuell pathetisches Leiden an Geschichte. Nicht jeder Autor kann seine Texte solchen Zerreißproben aussetzen.
Der Theaterkritiker Rischbieter bezeichnet Kargo als sorgfältig arrangierten Steinbruch aus verschiedenartigem Material. Richtig ist: Das Buch dokumentiert nicht den Prozeß einer Desillusionierung, die Enttäuschung liegt vor der Niederschrift, der Text ist ihre Folge. An den Bruchstellen bleibt abzulesen, daß die Enttäuschung mehr verdrängt als verarbeitet („verwunden“) ist.
Manche sind zu glatt (Der Schädel ist ein keimfreies Schlachthaus). Manche künstlich aufgerauht (Wenn die Leute über Eulenspiegel lachten und in die Hände klatschten für einen gelungenen Witz, warf er die Arme hoch, drehte sich auf dem Hacken und fühlte den Tod).
Die Ungeduld, zu warten, bis der Schock Erfahrung wird. Vielleicht aus dem Gefühl, daß man keine Zeit hat, weil die Väter davon zu viel verbraucht haben. Das Tempo der Fluchtbewegung bringt Verluste. Die Bilder sind vor der Anschauung da, die Konstruktion vor dem Detail. Der Weg aus der Enttäuschung ist nicht Flucht, sondern Arbeit an der Enttäuschung. Eulenspiegel, der vielleicht wichtigste Text des Buches, formuliert das negativ.
Daß die Texte fast ohne Ausnahme symptomatisch sind, d.h. ihre historischen Bedingungen der Kritik ausliefern, macht ihre Qualität aus. Sie fordern die Kritik, weil sie das Potential zu einer neuen (andern) Qualität einschließen. Ich lese sie auch als Kritik an meiner Arbeit, soweit sie die Versteinerung einer Hoffnung darstellt. Die Lektüre wirft die Frage auf, inwieweit die Darstellung ein Beitrag zur Versteinerung war und ist. Eine andere Fluchtbewegung, ein anderer Schritt in die Falle. Denkmäler sollten Toten vorbehalten sein, man bewahrt nichts, ohne es zu töten. Offenbar ist Kunst in der neueren Geschichte von Fallen besonders dicht umstellt.
Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Lyrik, Haare und Bärte, Jeans und Beat, Ringelsocken und Guevara-Poster, Brecht und Dialektik). Nicht die wirklichen Klassenkämpfe, sondern ihr Pathos, durch die Zwänge der Leistungsgesellschaft zunehmend ausgehöhlt. Nicht die große Literatur des Sozialismus, sondern die Grimasse seiner Kulturpolitik: den verzweifelten Rückgriff unqualifizierter Funktionäre auf das 19. Jahrhundert, als der Gegner noch „gesund“ war, die andere zählebige Kinderkrankheit der sozialistischen Frühgeburt. (Ein Staat, der sich als revolutionär versteht, muß zu seinem ersten Bedürfnis die Kritik der Bedürfnisse machen. Aber solange die Leitung vorwiegend von oben nach unten Strom führt, wird das Verdikt immer wieder gerade auf neue Bedürfnisse fallen.)
Die Wunde der offenen Grenze. Das Weiterbluten unter dem Notverband. Prag nicht als Trauma, sondern als das Ende eines Traumas. Ein Ende, mit dem der Beginn eines anderen gesetzt war, das nicht mehr im Bewußtsein angesiedelt ist, sondern in die Existenz greift. (Brasch-Eulenspiegel: Jetzt lernst du das Beste.)
Den Utopismus der Opposition. Von Harich, der inzwischen zum Endkampf um die ewigen Werte der Menschheit angetreten ist, über Biermann, der immer noch die Auferstehung eines Kommunismus herbeisingen will, der nur noch im Manifest umgeht, zu Havemann, eingesperrt in seinen Traum von der Rückgewinnung der Jungfernschaft für den Sozialismus in einem dritten Brautbett unter südlichem Himmel.
Ich entschuldige mich nicht dafür. daß ich den 32. Versuch von Thomas Brasch, Auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, nicht einfach als Literatur lesen und rezensieren konnte. Er geht mich zu viel an, und ich hoffe, daß ihm auch der 33. Versuch mißlingt. Er ist immer noch in seiner Haut der Beste, und Schiffsuntergänge sind kein Alibi für Selbstmord. Gerade die Spuren und Narben seiner DDR-Biographie zeichnen seine Texte aus der Masse der westdeutschen Literaturproduktion, die mich im ganzen herzlich langweilt. Ich weiß nicht, was sie dort für Folgen haben werden, in der DDR wird nach dem Erscheinen seiner Bücher Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo niemand mehr so schreiben können, als ob er sie nicht geschrieben hätte. Wie es ist, bleibt es nicht.

Heiner Müller, Der Spiegel, 12.9.1977

Thomas Brasch: Kargo. 32

Dies ist Braschs zweites, in kurzem Abstand auf Vor den Vätern sterben die Söhne folgendes Buch. Es enthält 32 Texte: Kurzprosa, Verse, Dialogisches; daneben Dokumente, Fotografien. Der erste Text, Ödipus, kehrt als letzter wieder, aber rückläufig, so daß der erste Satz des Buches auch sein letzter ist. In ihm findet sich auch die Auslegung des Buchtitels, des Kargo-Kultes, der besagt:

Männer mit weißer Haut sind Geister von Toten, die ihr Ende nicht finden, leben nicht mehr und sind noch nicht tot.

Das Buch schließt, indem es in seinen Anfang zurückmündet; die Versuche (wenn es denn welche sind), auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, könnten aufs neue beginnen; sie gelingen nicht, führen zu nichts, wenn davon Flucht und Rettung erwartet wird; sie führen nicht zu Verwandlung, nicht zu neuem Sein, in eine andere Haut auf sicherem Boden, in keine Wirklichkeit jenseits des Buches, vielmehr in dieses zurück, zurück zur Kunst; aber „Die Beschreibung der Ohnmacht ist der Beginn ihrer Überwindung“. Form, künstlerische Organisation des Buches ist hier Aussage, denn die Kunst – so Brasch – „war nie ein Mittel, die Welt zu ändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben“. Diese Versuche sind Selbstbegegnungen, Selbstbespiegelungen mit der Folge, daß die Selbsterkenntnis in der Fiktion die Zertrümmerung des Spiegelbildes bewirkt (daher vielleicht die Bedeutsamkeit des Ödipus-Motivs zu Beginn), die Existenz im Leeren zwischen Sein und Nicht-Sein, wie sie der Kargo-Mythos avisiert. Es sind Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen Braschs aus der DDR, die noch wie Obsessionen auf ihn wirken („Der Kampf mit einem Geist, der ständig in mein Bewußtsein dringt“). Und wenn die Texte nicht jene alptraumhafte Beklemmung derjenigen Kunzes aus den „wunderbaren Jahren“ haben, so deshalb, weil sie phantastischer, bizarrer, auch verspielter sind, die Wirklichkeit verfremden oder sie  o f f e n  brutalisieren und die verdeckte Brutalität meiden; weil sie in Stil, Ton und Form variabler sind und die menschliche Unmittelbarkeit der Wirklichkeitserfahrung durch Masken vermittelt oder Wirklichkeit zum Mythos wird. Dies gilt weniger von dem in den Band aufgenommenen, kürzlich in Berlin aufgeführten Stück Lovely Rita, umso mehr aber vom „Till Eulenspiegel“, einer hochinteressanten „Weiterentwicklung oder Korrektur eines Mythos“, die wohl auch als Antwort auf Christa und Gerhard Wolfs Filmerzählung vom Till Eulenspiegel und als  d e s s e n  Korrektur verstanden werden muß. Die Wolfs hatten in Till eine Entwicklung vom Schelmen zum Revolutionär gestaltet und Eulenspiegel in die Zeit der Bauernkriege versetzt. Dort läßt ihn auch Brasch, aber sein Eulenspiegel ist zugleich das Spiegelbild des modernen Intellektuellen, des Autors, der sein Selbstbildnis zerschlägt, als er sich in ihm erkennt.

In den Dreck, von der Bühne mit dem Mann, dem die Maske ins Fleisch gewachsen ist. In den Dreck mit der Fratze… Schmeißt Erde auf diese Puppe, die sich selbst nicht verstanden hat. Schmeißt Erde auf diesen Beruf.

Versuche, der eigenen Haut zu entkommen, werden zu Selbstgericht und Selbstbestrafung, und der Kampf mit einem Geist, der ständig ins Bewußtsein des Autors tritt, mag nicht nur der allegorisierte Geist der DDR aus der Farce nach Goethe „Herr Geiler“ sein, sondern wohl auch der Geist Kafkas.

Gerhard Kluge, Deutsche Bücher, Heft 2, 1978

Wieviele sind wir eigentlich noch

Kargo wiederlesen. –

I like people who shake other people up
and make them feel uncomfortable.

Jim Morrison

Thomas Brasch zu lesen ist das Gegenteil von gemütlich. So war es und so ist es. Die Zeit hat seine Texte nicht milde gemacht. 2010 wäre er in Rente gegangen, er wäre es wohl eher nicht. Seine Texte sind jung, aufregend, anstrengend für die üblichen verdächtigen Hirnzellen. Noch immer braucht es eine andere Aufmerksamkeit als bei vielem anderen literarischen Sprachgebrauch und nicht vorrangig historische Kenntnisse. Letztere liefert er notfalls mit, pars pro toto eine Episode aus dem Bauernkrieg oder die Fortsetzung desselben in der Eulenspiegel-Version. Statt Kenntnis sagen wir lieber Interesse, als da wäre ein solches an einer Revolution, in deren ästhetischem Gefolge sich Genies wie Chlebnikow verschlissen haben oder Majakowski, der „dem eigenen Lied auf die Kehle“ trat, was ein gutes Motto für Thomas Braschs gesammelte Werke wäre. Als da wäre das Interesse an der kurzen Geschichte eines Staates, der über die drei Buchstaben DDR nie hinauskam, an denen sich Autoren wie Heiner Müller oder Franz Fühmann abarbeiteten oder eben Thomas Brasch. Insbesondere an dem zweiten D, das für „Demokratische“ stand und von Anfang an eine offenkundige, für den jungen Schriftsteller sogar eine schreiende Lüge war. Eine weithin akzeptierte Lüge, versteht sich, eine vernünftige Lüge sozusagen, antwortend den Wahrheiten der deutschen Geschichte.
In sinnlicher und schwarzer Identifikation nennt Thomas Brasch Helden seiner Generation beim Namen: Jim Morrison und Jimi Hendrix. Die beiden früh Verstorbenen waren nur zwei und drei Jahre älter als er selbst. „Vor den Vätern sterben die Söhne“. Und Che Guevara, versteht sich, der personifizierte Traum von der immerwährenden Revolution, jenseits eschatologischer Visionen ein Pin-up-Boy, der für den Weg als Ziel stand, entsprechend der Typologie aus dem „Mythos von Sisyphos“ die Figur des Eroberers: „Die Größe hat das Feld gewechselt. Sie liegt im Protest und im aussichtslosen Opfer.“ Hingerichtet wurde ,der Che‘ 1967. Lovely Rita, Heldin der gleichnamigen dramatischen Szenen, entstammt einem Schunkelsong der Beatles, der im selben Jahr auf dem Album Sgt. Pepper erschien. Da war Thomas Brasch 22 Jahre alt. Die Theaterfigur, die er unter ihrem Namen entwickelt, erst Opfer, dann Täterin, hat nichts gemein mit dem braven Milieu des Originals.
Auch Braschs Ödipus, seine Kassandra, sein Don Juan verlassen nicht minder ihre mythologischen, literarischen oder Opern-Konnotationen und wechseln von der Bühne in diese Texte, genaugenommen ins Leben – wenn ich so sagen darf. Wenn dieses rabiate Existenzielle, wenn dieses Herausgeschrieene, wenn dieses absolute, alltagsferne, auf brennende Punkte fokussierte Sprechen Leben genannt werden kann. Auf jeden Fall für die Bühne. Wie schrieb ein Kritiker, als Lovely Rita 1978 in Westberlin auf die Bühne kam, mit Braschs Lebensgefährtin Katharina Thalbach in der Hauptrolle: Der Autor habe dieses Stück geschrieben „im fiebrig-abstrakten Sprachduktus expressionistischer Stationen-Dramen“ und, er habe „zuviel … in seine szenische Ballade gepackt“. Aber das war es ja gerade, das machte die Lektüre damals aus, dieses Zuviel, dieser Sog, dieser Duktus, der behauptete, anders könne es nie und nimmer gewesen sein. So wird gelebt, geliebt, gesoffen schwadroniert, schließlich gemordet und gestorben. Der Genosse Vorsitzende des dramatischen Zentralkomitees von Thomas Braschs Texten ist der Tod. Das versteht sich wie bei Shakespeare. In der deutschen Version nach dem zweiten Großen Krieg. In Ostdeutschland in der stehenden Zeit des allzu realen Sozialismus. Alternativlos! Leben die Bücher bald?, fragte Hölderlin. Kargo: ja. Wie auch sein Vorgänger, womit ich eine Art Booklet meine, eine Broschüre von Bedeutung. Zentrale Teile der Collage Kargo, das, was sich tatsächlich in der Mitte des Suhrkamp-Hardcoverbandes findet, kannte ich schon, bevor ich das Westbuch in die Hand bekam. Es war „Hahnenkopf“, und es war insbesondere „Der Papiertiger“.
Beide erblickten in der einzigen Drucksache, die Brasch in der DDR vergönnt war, das Licht der ostdeutschen Zeitungskiosk-Öffentlichkeit. Nicht ganz ein Buch, war es immerhin das Poesiealbum 89 von 1975, noch von Bernd Jentzsch herausgegeben, ausgestattet mit einer Umschlagvignette und einem beeindruckenden Grafik-Alptraum von Einar Schleef. Zwei Bogen alias 32 Seiten literarischer Munition. Die ist mir nicht ohne Grund mehrfach gestohlen und zum Glück von einem Freund wieder beschafft worden. Darin nun las ich die Frage das erste Mal, die meinetwegen postpubertäre Frage: „Wieviele sind wir eigentlich noch?“ Damals, als sie einem Leser in Ostberlin auf den Kopf zu gestellt wurde, lautete die Antwort: Wenige! Zu wenige, die dem radikalen Anspruch an ein ganzes, ein kompromissloses Leben gerecht wurden. Zu wenige, die in einem durchpolitisierten und Anpassung erpressenden Alltag am Einsatz für Alles oder Nichts festhielten. Zu wenige, die durchhielten. Zu wenige, die nicht einknickten, sich nicht anpassten. Zu wenige, die den Weg gingen, den Brasch meinte. Einen Weg, der selbstverständlich selten gegangen wurde und wird, der, pathetisch gesagt, in nichts als Einsamkeit führt. Manchmal gibt es einen Lohn dafür, postum. Wenn ich an die früh verstorbenen Brüder Klaus, Peter und Thomas Brasch denke, so fällt der manchmal verdammt gering aus.
Das Loch, durch das einer nach dem anderen verschwand, war eine Zeit lang ein ganz bestimmtes Loch. Schon vorher, aber erst recht ab Mitte November 1976, nachdem Wolf Biermann „die Staatsbürgerschaft der DDR aberkannt“ worden war, klaffte es auf und schluckte mehr und mehr Dichter, Schauspielerinnen, Künstler. Zu lokalisieren war das Loch unter anderem im „Tränenpalast“ in der Mitte Berlins, dem Zugang zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße, der bekanntlich im sowjetischen Sektor lag, in Ostberlin, in Berlin-Hauptstadt-der-DDR. Hier war das Loch, durch das der Westmensch nach dem Besuch im Ost-Zoo wieder ausschlüpfte, durch das seltener der privilegierte Ostmensch ging (der Stephan-Hermlin, der Heiner-Müller, die Christa-und-Gerhard-Wolf, der Uwe-Kolbe oder andere sogenannte Dienstreisende) und schließlich immer einmal dieser und jene, welche „aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen“ wurden. Unter diesen immer wieder jemand mit der Erfahrung von Verfolgung und Haftstrafe, wie im Falle von Thomas Brasch, der gemeinsam mit Katharina Thalbach und deren Tochter Ende 1976 von hier aus zum Bahnhof Zoo fuhr.
Langsam offenbart sich, was die Lektüre desselben Buches heute doch so anders macht. Die Kraft der Texte trifft wie gesagt unverändert. Auf dem sinkenden Schiff „sind Monologe zu hören, die in den Ohren gellen wie das Gebrüll eines Verdurstenden in der Wüste“. („Und gäb es in Europa ein Wasser, das mich lockte, So wärs sein schwarzer Tümpel, kalt…“) Die Irritationen sitzen an ihren Stellen, „es sind Lieder zu hören, die klingen wie ein Gurgeln“. („Ich trieb mit loser Spante, ich schwamm und ward durchschwommen: Ein Leichnam um den andern, der rücklings schlafwärts zog.“) Das Credo dieser poetischen Existenz könnte nicht klarer im Raum stehen: „Es sind Gedichte zu hören, die sich anhören wie Gebete eines Ertrinkenden.“ („Vorbei war der Spektakel, den sie am Ufer machten, Hinunter gings die Flüsse, wohin, das stand mir frei.“)
Das forcierte Sprechen in Braschs Texten weist via Maître Brecht zurück auf die jungen Dramatiker Büchner und Grabbe. Und gleich Rimbaud jagt es durch Lüste und Höllen des Aufbegehrens an der heißen Bruchzone zwischen Eros und Thanatos. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich Jugend selbst neu definiert. Im Hintergrund die flackernde Folie der Fackelaufmärsche der Nazis, ging es für Nachgeborene aufwärts in die elektroakustisch unterlegten Revolten der 1950er, die politischeren der 1960er Jahre und so weiter. Für deren westdeutschen poetischen Ausdruck steht mit seiner grandiosen Verächtlichkeit der Dichter (und Übersetzer amerikanischer Avantgarde) Rolf-Dieter Brinkmann: „zwei jahre bevor thomas brasch / in die bundesrepublik herübersiedelte ließ ich mein leben / zu seinem verdrusse…“ Immer irgendwie zeitversetzt und doch parallel verlief die Entwicklung im Osten vor dem Hintergrund der FDJ-Aufmärsche: die Kämpfe um Jeans und Rock ’n’ Roll, literarisch gestaltet von den älteren Klaus Schlesinger und Ulrich Plenzdorf, in härtere, in grausame Sprache getrieben von dem jüngeren Thomas Brasch. Erfahrungen in der Produktion machte er nicht mehr so freiwillig wie Volker Braun. Und die Grundfragen des neuen, sozialistischen Wirtschaftens, die Brecht didaktisch und Heiner Müller pathetisch und mythologisierend auf die Bühne brachten, geraten bei ihm zur bitteren Farce: „Das helle Licht der Sonne zeigt es klar: Alles bleibt so, wie es immer war.“ Eine andere Erfahrung war nicht zu machen im Schlagschatten der Mauer, die den Versuch einer selbsternannten Elite markierte, aus der Geschichte auszusteigen. Unter Geiselnahme des „Staatsvolks der DDR“, wie wir so trefflich bezeichnet wurden in der Ära Honecker. Dass Thomas Brasch vor seiner Ausreise eine Audienz beim Staatschef gewährt wurde, bei der er „mit beschränktem Respekt und mit Handschlag verabschiedet“ wurde, lesen wir mit kurzem Befremden. Doch eigentlich auch wieder nicht. Der Respekt galt vermutlich der Herkunft des jungen Schriftstellers. Die Geschichte der jüdischen Familien, die aus dem Exil nach Ostdeutschland zurückkehrten und deren Angehörige in der DDR Verantwortung übernahmen wie der Vater von Thomas Brasch, unter anderem stellvertretender Kulturminister, oder der von Gregor Gysi, langjähriger Staatssekretär für Kirchenfragen, oder der Stiefvater von Monika Maron, einst Innenminister, diese Geschichte harrt noch der genaueren Betrachtung .
Selbstverständlich lese ich Kargo heute anders, ich schaue es anders an. Was ich oben eine Collage nannte, besteht ja nicht nur aus Texten verschiedener Genres. Mit den Fotografien (die u.a. vom Autor selbst und von Roger Melis stammen) und eingefügten Dokumenten ist, was vor uns liegt, auch ein persönlich grundiertes Geschichtsbuch. Beileibe kein einfaches, keines des: So ist es! oder: So war es! Keines jener Literatur, die ohnmächtig ist, weil sie „Beschreibung bleibt“. Zwischen den scharfen Kanten der Texte und den subkutanen Schocks, die von den unspektakulär daherkommenden Fotos ausgehen – verwandte, gern drastischere Effekte auch bei Brinkmann, man denke an Rom.Blicke – erleben wir den Geist der Geschichte als Vertreter des schwarzen Humors. Heiner Müller stellt dazu fest, nicht jeder Autor könne „seine Texte solchen Zerreißproben aussetzen“. Thomas Brasch wohl. Sogar bis auf den Punkt des letzten Fotos, Schnappschuss einer jungen Frau am Fenster. Daneben steht der Text „Danton“, in dem sie ihm, Danton, gleich den Kopf vom Hals reißen werden „für ihre neue Welt“. Wir schauen auf das romantische Foto … und blättern um: „Halts Maul, Kassandra.“
Anders als der Autor und seine männlichen Geschwister durch ihre frühen Tode sind wir dem 20. Jahrhundert entronnen. Einerseits von darin gemachten Erfahrungen geprägt, können wir doch mit ihm umgehen als mit einem „abgeschlossenen Sammelgebiet“. Lektüre, die an die Tabus ging, war zum mentalen Überleben in der geschlossenen Gesellschaft notwendig, für die Selbstbehauptung als Person insgesamt, will sagen, schließlich auch für das körperliche Überleben. Thomas Braschs Texte brannten in diesem Sinne auf der Haut, im Auge. Wir fühlten und sahen den Schmerz genauer mit ihnen. Doch reflektierten wir nicht so wie heute, post festum. Wir tauschten uns nur aus mit einem verstehenden Nicken, wir teilten schweigend das Einverständnis.
Jetzt sprechen wir. Jetzt leisten wir uns den Kommentar. Jetzt interessiert uns vielleicht sogar etwas wie Literaturgeschichte. Unsere Sprache wird ruhiger, wir haben noch etwas längeren Atem, ohne zu wissen, wie viel. Thomas Brasch und sein Kargo“ dagegen – forever young.

Uwe Kolbe, Text+Kritik. Thomas Brasch, Heft 194, edition text + kritik, Mai 2012

 

Gespräch mit Thomas Brasch

– Am 23. November 1978 führte Hans Ester in Utrecht das folgende. Gespräch mit dem Autor. –

Hans Ester: Was hat Sie, Herr Brasch, zum Schriftsteller gemacht? Und vielleicht darf ich sofort eine zusätzliche Frage stellen: Haben dabei auch besondere literarische Erfahrungen eine Rolle gespielt?

Thomas Brasch: Ich kann nur sagen, warum ich angefangen habe, zu schreiben. Das hatte ganz private Gründe. Weil ich in ein Mädchen verliebt war. Sie wollte nichts von mir, und nachdem ich alle möglichen Mittel probiert hatte, dachte ich, in Berlin gibt es einen Preis für das beste Gedicht eines Oberschülers. Vielleicht, dachte ich, ist es gut, wenn ich den Preis gewinne, weil sie mich dann von einer ganz anderen Seite sieht. Ich habe ein Gedicht geschrieben, ein sehr langes Gedicht, das überhaupt nichts mit dem Mädchen zu tun hatte, und habe den Preis gewonnen, das Mädchen habe ich nicht bekommen. Das war, was mich zum Schriftsteller gemacht hat.

Ester: Eine andere Frage, die bei mir aufkam, nachdem ich einige Ihrer Werke gelesen hatte, ist die, ob ein Mann wie Kafka Sie beeinflußt hat. Im Hinblick auf das Vater-Sohn-Verhältnis, das in Ihrem Werk eine bedeutende Rolle spielt, habe ich sofort an Franz Kafka denken müssen.

Brasch: Das Vater-Sohn-Verhältnis spielt doch bei einem großen Teil Literatur eine wichtige Rolle. Nein, Kafka hat mich sicher nicht beeinflußt. Aber jeder hat seinen Vater zu tragen, das ist wirklich so seit Ödipus. Der hat ihn noch umgebracht, bei uns ist das komplizierter.

Ester: Die Kultur in der DDR wird von den Anfängen an von einer marxistisch geprägten Kulturpolitik getragen. Seit 1954 gibt es das Ministerium für Kultur, dessen erster Minister Johannes R. Becher war. Welches Verhältnis hatten Sie von Anfang an zu der offiziellen Kulturpolitik? Konnten Sie sich mit gewissen Positionen identifizieren?

Brasch: Es hat mich überhaupt nicht interessiert. Also weder war ich dagegen, noch war ich dafür, sondern meine Anstöße zum Schreiben waren immer viel persönlicher.

Ester: Nun ist Kulturpolitik in der DDR untrennbar verbunden mit den gesamten gesellschaftlichen und politischen Auffassungen in der DDR. War Ihr Verhältnis zur Politik allgemein durch Desinteresse bestimmt?

Brasch: Die Politik hat mich schon interessiert, weil die Politik in der DDR natürlich ins Leben jedes Menschen wirklich greift. Es muß ja nicht so sein wie hier, wie es hier scheinbar ist, daß irgendwo Gesetze gemacht werden, und man sich für die Gesetze interessiert oder nicht interessiert. Die Politik in der DDR ist eine ständige Abwehrpolitik, eine Abwehr gegen außen. Und das trifft einen natürlich. Für jemand, der schreibt, bedeutet es zum Beispiel, daß er ganz bestimmte Bücher nicht lesen kann. Wir haben das damals zu ernst genommen, also, ich hätte schon allerhand dafür gegeben, Mann ohne Eigenschaften oder Ulysses zu haben, nicht für eine Woche geliehen zu bekommen. Also, ich mußte den Mann ohne Eigenschaften in einer Woche lesen, weil es dann jemand anders lesen wollte. Das ist bei dem Buch ein bißchen kompliziert. Politik greift natürlich ein in das Leben von Leuten. Und die politische Situation in der DDR als einem Staat, der glaubt, sich ständig verteidigen zu müssen, was sicherlich auch Gründe hat, berechtigte Gründe, spielt im Leben der Leute eine Rolle als ein Druck, der da ist, auch als eine Langeweile.

Ester: Sie sagten vorhin, Kafka hätte bei Ihnen keine Rolle gespielt. Hätte er eine Rolle spielen können, haben Sie Kafka gelesen?

Brasch: Ja, ich habe Kafka gelesen, ich habe Kafka auch viel zu früh und falsch gelesen. Sicher spielt das eine Rolle. Aber, wenn man so gefragt wird, ob das eine Rolle spielt, dann müßte ich mein eigener Literarhistoriker sein und müßte sagen, also da ist ein Modell. Das will ich lieber anderen überlassen. Sicher ist, daß das eine Rolle bei mir gespielt hat.

Ester: Wie kam man in der DDR zu so einem Mann ohne Eigenschaften?

Brasch: Das hat einer durch Westberliner Studenten rüberschmuggeln lassen und dann verliehen, und dann gab es einen Plan, wer es wie lange haben kann. Da war ich schon einer von den Privilegierten, als ich siebzehn war. Es war die Frise-Ausgabe , die erste, die es damals gab, die relativ komplett war. Weil man wußte, ich schreibe, kriegte ich es etwas länger. Es hat ein bißchen etwas Infantiles, man liest dann auch jedes Wort wie aus einem Gebetbuch.

Ester: Was meinen Sie, wenn Sie sagen, daß manche Dinge für Sie als Lektüre etwas zu früh gekommen sind?

Brasch: Na ja, es ist nicht zu früh, sondern, wenn etwas verboten ist, gewinnt es plötzlich einen Wert, der unverhältnismäßig ist, der natürlich auch bedeutet, daß man den größten Unfug liest. Ich hatte relativ großes Glück, in der Zeit, nachdem die Mauer gebaut wurde – die Mauer kam, als ich fünfzehn war –, und ich war vorher oft nach Westberlin gefahren und hatte mir Hemingway gekauft. Das war damals für mich sehr wichtig. Aber auch das gewinnt einen übergroßen Wert. Es war ja auch mit Gefahren verbunden, nach Westberlin zu fahren. Man konnte aus der Schule rausfliegen. Es war mit Gefahren verbunden, umzutauschen, Ost-Geld in West-Geld. Man mußte es wieder zurückschmuggeln. Es durfte eigentlich niemand sehen, weil jeder einen fragen konnte, woher man es hatte. Und damit gewinnt eine Sache an Wert wie eine verheiratete Frau, mit der man sich versteckt trifft.

Ester: Neben den Anstößen von außerhalb der DDR hat es in der DDR auch eine interne literarische Entwicklung gegeben. Ich denke dabei ganz besonders an die wichtige Lyrik-Bewegung, die 1962/1963 einsetzte. Hermlin ließ Wolf Biermann damals auftreten. Das hat zu heftigen Diskussionenen in den Parteiorganen und literarischen Zeitschriften geführt. Sind von dieser Lyrik-Bewegung auch Impulse für Sie ausgegangen?

Brasch: Ich glaube, diese Lyrik-Bewegung ist etwas Anderes, etwas Wichtigeres. Als die Mauer gebaut wurde und niemand mehr nach West-Berlin gehen konnte und sich Hemingway kaufen oder Vom Winde verweht angucken im Kino, was immer die intellektuellen Bedürfnisse waren, hielt Walter Ulbricht eine sehr interessante Rede, die sagte, daß die Künstler der DDR jetzt die kulturellen Bedürfnisse der DDR-Bürger selbst befriedigen müßten und daß wir jetzt, wo die Mauer zu ist, anfangen müssen, kritisch zu uns selber zu sein, weil die Westberliner Besserwisser nicht ständig Beifall klatschen, wenn jemand mal kritisiert. Und so entstand 1961, Anfang 1962 eine sehr lockere, sehr freie und sehr selbstbewußte Atmosphäre in der DDR. Das heißt, nicht alle schielten mehr nach dem Westen. Was so die entscheidenden Wundernamen, Verlage wie Suhrkamp oder Fischer oder Rowohlt machten, war plötzlich nicht so sehr wichtig. Wichtig war, was wir selber für uns machten. Dadurch entstand drei Jahre lang eine Atmosphäre, die eigentlich die große Zeit der DDR war. Also, es wurden Stücke gespielt von Hacks, der damals noch gute Stücke schrieb, und von Müller, Braun fing an mit seinen Gedichten, Biermann sang, Böttcher machte den Film Jahrgang 45, der dann nicht gezeigt wurde. Es wurden überhaupt sehr viel mehr Filme gemacht, die sich mit Problemen auseinandersetzten. Diese ganze Lyrik-Bewegung schwappte aus der Sowjet-Union herüber, wo Jewtuschenko und Wosnessenskij vor zehntausend Leuten Gedichte gelesen haben.

Ester: Kam Ihrer Meinung nach diese Bewegung im Bitterfelder Weg zum Ausdruck?

Brasch: Nein, das ist schon die Gegen-Bewegung. Die Bewegung in der Sowjet-Union schwappte über. Wir interessierten uns damals plötzlich weniger für Camus oder Sartre oder die Verbotenen Früchte als mehr dafür, wie wir etwas anfangen konnten mit diesem Land, was für eine poetische Landschaft dieses Land eigentlich ist, ohne nach den Normen des Westens zu schielen, also innerer Monolog als Garantie für Qualität zum Beispiel. In dieser Zeit entstand auch die Lyrik-Bewegung als eine Möglichkeit, plötzlich Literatur als eine Verbindung zwischen Leuten zu verstehen. In einer Zeit, in der in Westdeutschland Gedichte geschrieben wurden, die gingen so: Tür/Tür/Haus/Haus/ein/ein/aus/aus oder rein/rein/raus/raus oder so ähnlich, also die wußten überhaupt nicht, was sie noch schreiben sollten, da fingen wir plötzlich an, über unsere Situation zu reden. Und zwar glaube ich, auch in ästhetisch ho her Qualität. Weil Dinge uns näher gingen als den westdeutschen Leuten ihre Dinge nahe gingen. Das wurde abgebrochen durch das 11. Plenum, also im November 1965, als die Partei merkte, daß da etwas im Gang ist, was sie nicht ganz unter Kontrolle hat.

Ester: War das eine Ablehnung einer zunehmenden Subjektivierung innerhalb dieser Lyrik oder hatte die Partei allgemeinere Bedenken gegen eine Form der Dichtung überhaupt?

Brasch: Sowohl als auch. Sie merkten, daß einfach was entsteht, was noch gar kein Ziel hat und keine soziologisch genau zu erklärenden Wurzeln. Etwas passierte, und das war für sie schon schlimm.

Ester: Der Grund für die Ablehnung muß also darin gesucht werden, daß die gesellschaftliche Entwicklung geplant worden war und nun etwas passierte, das nicht planmäßig war, nicht in diese Planung hineinpaßte. Die Planer wurden auf Grund der Entwicklung unsicher. Kann man das vielleicht noch konkreter fassen? Fehlte, nach Ansicht der Partei, in dieser Dichtung die sozialistische Perspektive, fehlte die Typik, die man apriori verlangte? Mit welchen Argumenten wurde gegen diese Bewegung gekämpft?

Brasch: Es waren verschiedene Argumente. Hacks wurde verboten mit Die Sorgen und die Macht, weil das eine vergröberte Darstellung der Realität war. Heiner Müller wurde schon früher verboten mit Die Umsiedlerin, was jetzt Die Bauern heißt, weil es eine vergröberte Darstellung der Kollektivierung der Landwirtschaft ist. Sarah Kirsch wurde angegriffen, weil sie zu subjektiv war, Biermann wurde angegriffen, weil er zu anarchistisch war. Für jeden hatte man etwas Passendes. Es ist ja eine Gesellschaft, die das Bedürfnis hat, ganz durchgeplant zu sein. Diese Gesellschaft merkt plötzlich, daß ein Raum entsteht, der nicht kontrollierbar ist. Niemand von den Leuten war gegen die DDR.

Ester: Es ist aber doch der ganzen marxistischen Kulturpolitik der DDR inhärent. daß kontrolliert wird. Das ist auch eine der Aufgaben des Kulturministeriums.

Brasch: Die Zensur in der DDR hat drei Stufen. Das ist der Lektor im Verlag, das ist das Kulturministerium und das ist die Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED. Die Kulturabteilung entscheidet in sehr heiklen Fragen. Wenn das Manuskript bis dahin kommt, dann weiß man schon ziemlich sicher, daß es abgelehnt worden ist.

Ester: Haben die Verlage in der DDR selber eine zensurierende Funktion übernommen?

Brasch: Die Autoren haben auch schon eine Art Selbstzensur-Funktion. Der Zensor im Kopf schneidet schon Gedanken ab, die man noch nicht mal gedacht hat. Das ist die damit verbundene Gefahr.

Ester: Aus dieser Tatsache kann man dann doch wohl mit Recht die Schlußfolgerung ziehen, daß die dortige Kulturlandschaft sich erheblich unterscheidet von der Kulturlandschaft westlicher Provenienz. Was meinen Sie dazu?

Brasch: Bei Leuten, die sich bewußt in Verhältnis setzen zu dieser Kulturpolitik. Es gibt andere, die so fröhlich drauflosschreiben und plötzlich veröffentlicht werden. Die wissen dann gar nicht, was ihnen geschieht. Man kann sich nicht ideologisch verhalten bei Literatur. Daraus entsteht ein Konflikt. Dann fängt man an zu saufen.

Ester: Bleibt aber die Frage, ob innerhalb der Künste der Spielraum der individuellen Entfaltung verschieden sein kann.

Brasch: Bei der Malerei ist es ziemlich klar, bei der Malerei und bei der Musik ist es so, daß die Kulturpolitik in der DDR sehr lange eine sehr strikte Politik gemacht hat und gesagt hat: Wenn jemand zwei Dreiecke auf eine Leinwand malt, das ist für uns keine Kunst, das gibt es nur im Westen, das interessiert uns hier nicht. Und dazu die beiden Dreiecke verfolgt hat mit ideologischen Argumenten, und zwar mit der Begründung: Das machen Sie, weil es im Westen Mode ist. Daran ist sogar etwas Wahres, da brauchen wir gar nicht lange drüber zu reden. Sie haben die Rock-Musik zum Beispiel ziemlich lange verboten, sie haben die abstrakte Malerei ziemlich lange untersagt, beziehungsweise nicht ausgestellt. Und dann haben sie den Kurs geändert, sie haben sich gesagt: Ach, laß die doch spielen auf dem Spielplatz, es schadet uns ja nichts, laß sie doch ihre Dreiecke malen und Rock-Musik machen. Sie haben die Taktik natürlich geändert, was auch ganz schlau war.

Ester: Werden Musik und Malerei in der DDR als weniger gefährlich gesehen?

Brasch: Wie Eisler über Musik sagt: Die Musik ist die dümmste der Künste. Die Musik artikuliert, wenn sie nicht wirklich sehr, sehr intelligent ist, und es gibt nicht so sehr viele intelligente Komponisten, ein sehr dumpfes Lebensgefühl, Resignation allgemein, es kann der Verlust eines Hausbootes sein oder der Verlust des Sozialismus. Sie artikuliert sehr allgemeine Gefühle und die Malerei eigentlich auch. Die Kulturpolitik hat begriffen, daß allgemeine Gefühle nicht schaden können, Trauer, bitteschön, warum nicht.

Ester: Ich würde unser Gespräch gerne auf Ihr Theaterstück Rotter lenken. Sie haben, wenn ich mich nicht irre, mal von Ratlosigkeit gesprochen auf Seiten derjenigen, die Zuschauer des Stückes sind. Selber habe ich noch keiner Aufführung beigewohnt. Aber auch meine Leseerfahrung kann mit Hilfe des Wortes ,Ratlosigkeit‘ umschrieben werden. Sie haben diesem Begriff dann auch noch das Adjektiv ,produktiv‘ beigefügt. Worin sehen Sie das produktive Element der Ratlosigkeit? Was ist da produktiv?

Brasch: Ich bin gerne in dem Zustand der Ratlosigkeit, weil ich anfange, mir Gedanken zu machen, weil ich anfangen muß, neu zu überlegen. Aber erstmal habe nicht ich von Ratlosigkeit geredet, sondern Hensel in der FAZ hat von Ratlosigkeit geredet. Aber ich finde das schon einen ganz guten Begriff, weil ich nicht gerne beraten werden möchte. Und mir ist es eigentlich auch ein bißchen unangenehm, wenn ich genau weiß, was ich will. Mir sind Zustände ganz angenehm, in denen ich am Nullpunkt bin, ich meine nicht, im Englischen sagt man ,down‘, sondern an so einem Punkt wo ich nicht richtig weiß, ob es richtig ist, was ich mache, oder falsch. Und da finde ich Ratlosigkeit produktiv, weil es der einzige Zustand ist, der einem das Gehirn wieder in Bewegung setzen kann.

Ester: Im Zusammenhang mit Rotter haben Sie von einem Woyzeck gesprochen, von einem ,verhinderten Woyzeck‘. Weshalb nennen Sie Rotter einen verhinderten Woyzeck?

Brasch: Woyzeck bringt seine Freundin um, Rotter nicht, Woyzeck macht sich ganz frei, indem er die Frau umbringt, Rotter wird Angestellter.

Ester: Am Ende von Rotter steht aber auch der Tod.

Brasch: Der steht da bei allen von uns am Ende. Aber Rotter stirbt nicht, indem er sich frei macht, sondern er mattet ab, wie Goethe sagt.

Ester: Wobei ja auch noch darüber diskutiert werden kann, ob Woyzeck in der Tat Selbstmord verübt. Sind Sie vom Selbstmord Woyzecks ausgegangen?

Brasch: Nein, bei Woyzeck interessiert mich die befreiende Tat. Mich interessiert, daß er völlig besinnungslos eine Tür aufstößt. Daß in der Tür die Frau steht, die er liebt, nimmt er überhaupt gar nicht mehr wahr. Rotter kann das nicht, Rotter ist ein Angestellter, der sich mit einer Aktion oder mit einer erleichternden Aktion keinen Weg verschaffen kann, sondern er macht eine Karriere. Sein Ausweg ist viel organisierter, viel dünner, viel kleiner, viel kläglicher…

Ester: Rotters Ausweg, von dem Sie sprechen, bedeutet für mich als Leser des Stückes die Möglichkeit, das Geschehen in vertraute Vorstellungen zu integrieren. Ist dieser Rückzug ins Vertraute auf Seiten des Lesers oder Zuschauers ein ,passendes‘ Verhalten gegenüber dem Geschehen auf der Bühne?

Brasch: Beim Rotter der Rückzug ins Vertraute?

Ester: Ja, ich habe die Funktion, die er später übernimmt, diese Aufbau-Funktion als etwas Positives gesehen.

Brasch: Sicher, das ist es ja auch. Er ist doch ein lieber Mensch geworden, ein Haustier, ein ziemlich erregter Mann oder Junge, der domestiziert wird.

Ester: Sehen Sie diesen Prozeß des Domestizierens als negativ oder als positiv? Welche Intention wollten Sie zum Ausdruck bringen?

Brasch: Wahrscheinlich lebt man als Haustier ganz gut. Einem Wolf, aus dem ein Hund geworden ist, dem geht es doch ganz gut. Der kann ja mal kläffen, wenn Fremde kommen. Und das ist schon bei Rotter ein bißchen so. Das heißt, er lebt gesichert. Ich kann es gar nicht moralisch werten, ich kann nur sagen, daß die Art von Sicherheit, die Rotter sucht, die findet er im Kollektiv, die findet er einfach in der Aufgabe. Es ist völlig egal, ob das ein Krieg ist oder ein Aufbau oder ein Beruf oder eine Ehe. Er hat eine Aufgabe, und dann geht es ihm plötzlich gut. Das hat natürlich auch etwas Erregendes, es bleibt das anarchische Element bei ihm immer störend da. Er sucht ja immer wieder Situationen, in denen er so halbwegs frei ist. Natürlich ist der Krieg von oben angeordnet, aber er sucht sich immer etwas mehr, eine freie Situation, immer noch den Rest. Natürlich ist der Aufbau Deutschlands angeordnet, aber er sucht immer etwas mehr und nicht nur aus Karrieregründen, sondern auch, um dieses Anarchische, diesen anarchischen Stachel, den er hat, diese Verlassenheit, die er hat irgendwo unterzubringen.

Ester: Als Zuschauer oder als Leser von Rotter – ich meine persönlich, daß das Stück auch als Lesestück faszinierend wirkt – sucht man im Stück vertraute Elemente. Wenn es solche Elemente nämlich nicht gibt, dann scheint mir eine derartige Form von Literatur sinnlos. Was geben Sie noch an Vertrautem und wo ziehen Sie die Grenze zwischen vertraut und unvertraut bzw. verwirrend, grotesk?

Brasch: Das ist schwer zu sagen.

Ester: Ist es Ihre Intention, daß ich im Stück vertraute Dinge wiedererkenne?

Brasch: Ich zumindest habe das Bedürfnis, mich zu erkennen. Ich kann es für Sie gar nicht sagen, ich kenne Sie ja gar nicht. Wieso soll ich wissen, was Ihnen vertraut ist?

Ester: Wenn Leser oder Zuschauer Ihnen ihre Erfahrungen mitteilen, können Sie dabei dann Freude empfinden?

Brasch: Ja, sonst wäre ich ein Bewohner vom Mond, der Ihnen Sachen erzählt. Ich hoffe, ich bin nicht vom Mond.

Ester: Mir scheint, daß zwischen Rotter und der Geschichte eine enge Verbindung besteht. Ich wenigstens habe in Rotter historisches Wissen wiedererkannt. Was bedeutet in diesem Stück die ,Geschichte‘? Wollten Sie Geschichte zusammenfassen?

Brasch: Nein, mich interessiert Geschichte nur als so ein Grollen am Horizont, wo jemand hinläuft, weil er meint, da passiert was, und eigentlich nie richtig hinkommt. Geschichte als ein, wie ich bereits gesagt habe, als ein ferner Vorgang. Im Nebel irgendwo passiert etwas, und um geborgen zu sein, um das Wort mal zu verwenden, läuft man dahin und meint, da sind sehr viele Leute, da ist man unter Leuten und nicht mehr so allein, wie Rotter es am Anfang ist. Er läuft dahin, und die treibt einen plötzlich, die Geschichte, so in ganz andere Situationen und neue, neue private oder neue politische Situationen.

Ester: Ist dieser Gang in die Geschichte nicht ein allgemeinmenschlicher Zug?

Brasch: Rotter läßt sich in die Geschichte fallen.

Ester: Läßt nicht jeder sich in die Geschichte fallen?

Brasch: Das kann ich nicht sagen, ob es für jeden Menschen gilt, ich kann es wirklich nur für diese Figur sagen, und diese Figur ist jemand, der einen Beruf hat, der ihn nicht interessiert, der ihn – mehr noch – ekelt. Aus diesem Beruf schneidet er sich heraus und trifft seine eigene Pulsader und fällt dann in die Geschichte, also in so eine Bewegung ein.

Ester: Kann man von einem Vorbehalt Rotters gegenüber der sozialistischen Gesellschaft sprechen?

Brasch: Rotter fängt ja schon 1932 an. Das ist also keine sozialistische Gesellschaft. Der Rotter interessiert mich 1932, weil er in einer Situation ist, in der ich auch war.

Ester: 1932?

Brasch: Nein, nicht 32, aber die Situation, in der man einen Beruf lernen muß, der einen nicht interessiert.

Ester: Eine eminent wichtige Frage scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, inwiefern man seinen subjektiven Vorbehalt gegenüber der Gesellschaft durchsetzen kann. Diese Frage kann doch auch angesichts von Rotters Rebellion gestellt werden. Dabei scheint mir das eine Frage, die für die DDR-Literatur überhaupt von Bedeutung ist.

Brasch: Es ist schwer bei Rotter. Das ist eine Figur, die mich interessiert gerade als der Widerspruch zwischen Anpassung und Auflehnung. Daß bei ihm eine Rolle immer wieder eine Rolle spielt. Es ist bei ihm nicht unter einen Hut zu bringen. Es ist ganz schwer, etwas zu sagen über so eine Figur oder über das, was die Figur über sich selber formuliert. Rotter ist natürlich Figuren ähnlich, die sich nicht formulieren können, indem man nicht begreift, was an ihm Anpassung und was Auflehnung ist. Und das ist, was mich interessiert.

Ester: Ist von daher gesehen Rotters Jugendfreund Lackner als Kontrastfigur geplant? Ist das Ende aber nicht für beide gleich?

Brasch: Lackner stirbt ja nicht, Lackner steht auf und geht weg. Lackner sagt dann nur noch einen Satz und sagt „Das ist ein guter letzter Satz“, steht auf und geht weg. Der Lackner ist schon etwas anderes.

Ester: Haben Sie Lackner auch nicht als positive Figur darstellen wollen?

Brasch: Ich kenne so ein Wort wie positiv nicht. Ich finde es auch ein uninteressantes Wort. Wenn ich sage: Sie sind ein positiver Mensch, er ist ein negativer Mensch und er ist ein Dozent…

Ester: Können Sie etwas mit dem Begriff des Bösen anfangen?

Brasch: Ich wüßte nicht, was das ist, das Böse. Das ist für mich wie Hänsel und Gretel, Hänsel und Gretel sind gut und die Hexe ist böse. Das hat mich nie interessiert.

Ester: Spielen moralische Kategorien im Hinblick auf Ihre eigene Geschichtsdeutung eine Rolle?

Brasch: Keine. Mich interessieren moralische Kategorien wie gut und böse oder gut und schlecht oder richtig und falsch nicht. Mich interessieren nur Leute, die an den Verhältnissen, in denen sie sind, kaputtgehen, sie versuchen zu überlisten, sie erleiden müssen. Aber gut und böse interessieren mich nicht. Das ist wirklich eine Kategorie, aus der ich…

Ester: Soll ich daraus schließen, daß die Verhältnisse automatisch schlecht sind?

Brasch: Die Verhältnisse sind immer schlecht.

Ester: In bezug auf Ihr Werk wurde mal von einer ,vagabundierenden Ästhetik‘ gesprochen. Ihre Ästhetik entzieht sich demnach geläufigen Vorstellungen, oder sei überhaupt nicht vorhanden. Was halten Sie von einer solchen Aussage?

Brasch: Gar nichts. Mit tut es für die Ästhetik leid, daß sie inzwischen vagabundieren muß. Das ist doch Dummheit, das sind doch Hilfsmittel, zu denen Leute greifen, die Artikel innerhalb von drei Tagen schreiben sollen. Sie müssen irgendwelche Begriffe finden. Das Sophokles gelebt hat in einer lebendigen, blutigen Literatur und der Kreislauf, den Literatur hat, immer ein Kreislauf ist, der durch Schreiber geht, und zwar durch den und durch den und dann durch mich und dann weiter. Es ist doch ganz klar, daß für jemanden, der heute denken kann, jemand wie Brecht oder Grabbe oder Büchner oder Lenz, das kann man doch nicht lesen, ohne Folgen zu haben, wie man auch nicht mit Frauen oder Städten was zu tun haben kann, ohne daß einem davon Folgen bleiben. Es wäre doch unehrlich, so zu tun, als hätte man die nicht gekannt oder nie gesehen. Wenn die Leute also meinen, daß sie jetzt nachweisen müssen irgend etwas, dann ist es gut dafür, daß sie sich selbst nachweisen können, daß sie schlaue Köpfchen sind. Uninteressant ist es trotzdem. Aber das beschreibt nur ihre Außenseiterstellung zur Literatur, es beschreibt nur ihre blutsaugerische Haltung zur Kunstproduktion.

Ester: Die Summe der Kritiken ist wohl, das begrifflich zu fassen, was sich gerade einer begrifflichen Festlegung entzieht.

Brasch: Das ist ja der Beruf von denen, dafür kriegen sie ihr monatliches Geld.

Ester: Vielleicht ist es aber doch legitim, als Leser nach dem Zweck – wenn ich Ihr Buch Kargo unter die Lupe nehme –, nach dem Zweck dieses Durcheinanders von Bildern, Gedichten, Prosastücken und Dialogfragmenten zu fragen.

Brasch: Es soll nichts bezweckt werden. Sondern, ich wollte ganz gern – es ist auch ein Kritiker, der gesagt hat, was ich ganz gut fand, organisierter Steinbruch, – das war jemand, der etwas besser gelesen hat –, ich wollte ganz gern noch mal einen Haufen zusammenwerfen und sehen, wie der aussieht, und das eine hat schon was mit dem anderen zu tun, weil ich ja alles gemacht habe und ich glaube, daß das eine was mit dem anderen zu tun hat, aber bezwecken, was heißt bezwecken?

Ester: Man ist als Leser geneigt, nach einem Prinzip der Organisation zu suchen. Sie haben bewußt gewählt

Brasch: Doch es ist schon eins da. Wichtig ist, daß ich es verstehe.

Ester: In Kargo sind mir zunächst die Bilder des alten Mannes aufgefallen. Der Mann, der ganze Körper des Mannes strahlt Krankheit, auch Verzweiflung aus. Und dazu dann der Fernsehapparat, der gar nicht zu dem Leben des Mannes zu gehören scheint. Soll die Bilderfolge den Leser auf irgend eine Weise lenken?

Brasch: Ich kann nur sagen, daß mir das Bild an der Stelle nötig erschien und schön anzusehen.

Ester: Warum diese Folge von Bildern? Es ist immer der gleiche Mann?

Brasch: Es ist aber immer ein anderes Fernsehbild. Die Zeit ist offensichtlich weitergegangen. Im Fernsehen ist schon ein anderer Film.

Ester: Von den Dichtern, die in den drei letzten Jahren die DDR verlassen haben, hat man im Westen oft eine scharfe Kritik an der DDR erwartet. Auffallend ist, daß auf diesen Ton in den meisten Fällen nicht eingegangen wird, man hüllt sich in bezug auf gesellschaftliche Fragen in Schweigen. Die DDR wird von diesen Dichtern nicht generell abgelehnt. Bei Robert Havemann, dem die DDR-Behörden es nun wahrlich nicht leicht machen, fällt auch auf, daß er die DDR mit Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft verbindet. Schwingt diese Liebe zur DDR nicht auch in Ihren Äußerungen mit?

Brasch: Die DDR ist einfach ein Land, das sehr viele Schrammen hat und jemandem zufügt, der in ihr lebt. Die DDR ist einfach das Land, in dem ich großgeworden bin, wie bei anderen Leuten das Dorf, aus dem sie kommen. Ich bin nicht sentimental gegenüber der DDR. Ich werde nie sagen, ich habe ein ideologisches, nein, ich habe ein biologisches Verhältnis zur DDR, kein ideologisches Verhältnis zur DDR. Die DDR ist eine sehr gute Schule, ein sehr gutes Internat, aus dem man nicht herauskann.

Ester: Warum nennen Sie dieses ,Internat‘ sehr gut?

Brasch: Weil man lernt, Dinge ernstzunehmen, die sich auf dem kleinsten Raum abspielen. Man lernt sie ernstzunehmen und gleichzeitig darüber zu lachen, daß man sie ernstnimmt. Die DDR ist ein sehr gutes Internat, man kriegt keinen Ausgang, man muß nur, das heißt, in der DDR rebelliert man gegen die Lehrer, gegen alles, wogegen man nach Musil, nach Hesse oder welcher Literatur auch immer, gegen ein Internat rebelliert. Irgendwann muß man aus einem Internat heraus. Die DDR kann im Augenblick nur ein Internat sein, weil sonst alle Schüler weglaufen würden, und zwar nicht, weil es ein schlechtes Internat ist, sondern weil es abgesperrt ist. Man hat immer Sentimentalitäten gegenüber Internaten, weil: man ist so angenehm aufgehoben und beobachtet. Das ist eine Internats-Psychologie, die mich inzwischen nicht mehr so interessiert – diese Internats-Psychologie –, aber es ist eine sehr gute Schule, weil in der Bundesrepublik die Leute sehr viel schneller sich so bewegen konnten. Sie sind eben nach Holland gefahren oder nach Belgien oder nach England oder nach Amerika. Ich war bis 31 nie wirklich im Ausland. Für mich ist das etwas ganz Neues, für mich ist das wie aus dem Mutterschoß noch mal zu kommen, mit der ganzen Angst, aber sicher auch mit dem Blut noch bedeckt. Selbst wenn es pathetisch klingt, es ist es, glaube ich, nicht.

Ester: Zum Schluß möchte ich Ihnen noch eine ganz persönliche Frage vorlegen. In Ihrem Werk sprechen Sie oft von Geburt. Haben Sie schon mal eine Geburt miterlebt?

Brasch: Ja.

Ester: Fanden Sie die Geburt Schön?

Brasch: Ich fand es eine Geburt.

Deutsche Bücher, Heft 2, 1979

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Karl Corino: Mord an Mitteleuro­pa
Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 12.8.1977

Heinrich Vormweg: Innenwelt der Auflehnung
Süddeutsche Zeitung, 12.10.1977

Wilfried F. Schoeller: Viele weiße Flächen
Frankfurter Rundschau, 15.10.1977

Fritz J. Raddatz: Versuche, aus der eigenen Haut zu kommen
Die Zeit, 11.11.1977

 

„Für meinen ersten Verleger“

Die Verbindung stiftete Heiner Müller. Vom Herbst 1973 an fuhr ich von der Potsdamer Straße in Tiergarten ungefähr zweimal im Monat zum Kissingenplatz nach Pankow. Wir, der Rotbuch Verlag im Westen Berlins, hatten mit Heiner Müller im Osten Berlins und mit dem Verlag der Autoren und dem Henschelverlag verabredet, nach und nach eine Werkausgabe herauszugeben. Ein kühnes Unternehmen in einer Zeit, als Müller im Westen bestenfalls als Geheimtipp und in der DDR als unspielbar galt. Nicht weniger kühn war der Vorsatz, das Büro für Urheberrechte, die Zensurbehörde der DDR für das Ausland, zu überlisten und die Bücher nicht anders als in der vom Autor gewünschten Weise zu publizieren. Als Lektor dieser Werkausgabe hatte ich den nicht gerade zuverlässigen Heiner ständig an die vereinbarten Termine zu erinnern, Bildmaterial zu beschaffen, Fahnen zur Korrektur zu bringen usw. Kurz, viel Arbeit und viele Gründe, immer wieder am Kissingenplatz aufzutauchen.
Ich erzähle das, weil das Wohnzimmer von Heiner Müller und Ginka Tscholakowa im Lauf der Jahre so etwas wie ein kleiner literarischer Salon wurde: Witze, Tratsch, Tipps und Ansätze ernsthafter Debatten. Es gab eine Reihe solcher Kreise in den Wohnzimmern Ostberlins, hier aber ließ sich nebenbei der Zellkern der Heiner-Verehrung beobachten. Konnten wir anfangs, beim Konzipieren und Redigieren der Bände Geschichten aus der Produktion 1 und 2 noch halbwegs ungestört arbeiten, begann sich das Zimmer seit 1975 immer mehr zu füllen mit jungen Dichtern und Theaterleuten, auch verdächtige darunter, mit Professoren und Studentinnen aus den USA, und bald mit den ersten Fans aus der Bundesrepublik.
Hier traf ich Thomas Brasch. Vom ersten Moment an überrascht von seiner tänzelnden, aggressiven Intelligenz, vom Pathos seiner Nüchternheit und der Schärfe seines literarischen Urteils. Es muss im Frühjahr oder Sommer 1975 gewesen sein. In jenem Jahr erschienen nach langem Hin und Her endlich einige seiner Gedichte, als Nummer 89 in der von Bernd Jentzsch herausgegebenen Reihe Poesiealbum. Das Bändchen von 32 Seiten genügte, um dem kritischen Lektor zu beweisen: Das ist ein Dichter! Thomas lud mich ein, zu ihm zu kommen, er wollte mir seine Prosatexte zeigen. Ich zögerte nicht – trotz der Enttäuschungen, die ich bei solchen Hausbesuchen erlebt hatte. Auch Heiner, den ich gelegentlich fragte, welche Autoren er unserm Verlag empfehlen könne, sagte: Brasch!
Bei Thomas und Katharina Thalbach in der Wilhelm-Pieck-Straße, sitzend in einem Ledersessel (es kommt mir heute vor, als hätte es in jeder Dichterwohnung die gleichen alten, wuchtigen, braunen Sessel gegeben), mit einem Bündel von Erzählungen und kurzen Texten in der Hand, war nach wenigen Minuten der Lektüre klar: Das müssen wir drucken! Eine so luzide, illusionslose, gestochene, mitreißende Prosa, besser als alles, was in den siebziger Jahren in der DDR auf diesem Feld geschrieben wurde, davon war ich überzeugt. Beglückt, verstört, kommende Schwierigkeiten ahnend, voll Entdeckerfreude las ich weiter und sah das Bündel durch, aus dem später der Band Vor den Vätern sterben die Söhne wurde. Keine Frage, sagte ich ungefähr zu Thomas, das machen wir.
Der Weg vom ersten Urteil bis zum fertigen Buch ist oft lang, im West-Ost-Literaturverkehr war er zudem höchst kompliziert. Erst musste ein befreundeter Journalist das Manuskript in den Westen schmuggeln. Dann stimmte der Lektoratsausschuss unseres Verlages zu, begeistert. Übrigens: Zwei anderen Lektoren aus dem Westen, ich nenne die Namen hier nicht, hatte Thomas vorher die Texte gezeigt, beide waren von der Qualität überzeugt, wollten es sich aber wegen der politischen Brisanz der Texte nicht mit der DDR verderben. Dass wir, ein so genannter linker Verlag, den Mut hatten, uns diesem Opportunismus zu widersetzen und uns bedingungslos auf die Seite des Autors zu stellen (wie mit Heiner Müller und Miklos Harasztis Stücklohn und anderen), hat Thomas erst ungläubig, dann mit größter Freude registriert. Es schien; als hätte er sich verliebt in den Rotbuch Verlag. Und wir vereinbarten weitere Bücher, mit Gedichten, Kurztexten, Stücken.
In den siebziger Jahren durfte nach den Gesetzen der DDR das Manuskript eines Autors nur dann westlichen Verlagen angeboten werden, wenn es zuvor bei zwei Verlagen der DDR abgelehnt worden war und wenn das Büro für Urheberrechte den Vertrag mit dem Verlag im Westen genehmigt hatte – die Lex Biermann. Thomas wollte seine Texte unbedingt in der DDR veröffentlichen und hoffte nach verschiedenen Ablehnungen bis zuletzt auf die Zusage des Hinstorff Verlags. Wir hofften mit, denn eine solche Kooperation wäre wesentlich einfacher gewesen als eine Konfrontation mit dem Büro für Urheberrechte. Aber schon Braschs Biografie war skandalös, Sohn emigrierter Juden, der Vater ein hoher SED-Funktionär, als Journalistikstudent 1965 exmatrikuliert wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“, als Filmstudent wegen Flugblättern gegen den Einmarsch in die ČSSR 1968 zu Gefängnis verurteilt, als Arbeiter in verschiedenen Berufen immer wieder angeeckt. Und seine Prosa war nicht weniger skandalös, sie zeigte, dass der Arbeiter in der DDR nichts zu lachen und die Jugend nichts zu hoffen hatte. Hinstorff hielt ihn und uns hin.
Thomas hatte eine klare Strategie: Wenn sie mein Buch nicht drucken, dann habe ich keine Arbeitsgrundlage mehr in der DDR, dann werde ich einen Ausreiseantrag stellen, und wenn ich ausreise, soll das Buch im Westen bei Rotbuch sofort veröffentlicht werden. Das deutete oder drohte er den Behörden an, allen voran dem für Literatur zuständigen Minister Höpcke. Damals erregten Die wunderbaren Jahre von Reiner Kunze in Ost und West die Gemüter, peinlich für die DDR-Zensoren. Von der größten Krise, der Biermann-Ausbürgerung im November 1976, der folgenden Protestwelle und den „Ausreisen“ von Sarah Kirsch, Günter Kunert, Jurek Becker und vielen andern war noch nichts zu ahnen.
Wir im Verlag stellten uns auf diese Strategie ein. Während Vor den Vätern sterben die Söhne lektoriert, gesetzt und korrigiert wurde, versuchte Thomas, als Sohn eines hohen Funktionärs und zweifach Exmatrikulierter so bekannt wie berüchtigt, für sein Werk in der DDR zu kämpfen. Nur 32 Seiten waren von ihm publiziert, und doch konnte er sich geachtet oder gefürchtet fühlen. Natürlich hat es ihm gefallen, den ängstlichen Haufen der Staatsvertreter vor die Wahl zu stellen: Entweder ihr duldet und fördert mich hier – oder ihr kriegt noch mal so viel Ärger wie mit Kunze – oder ihr lasst mich ziehen.
Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns am 17. November 1976, dem Protest-Brief aller wichtigen Autorinnen und Autoren dagegen und den Schikanen gegen die wachsende Schar der Unterzeichner veränderte sich alles. Selbstverständlich hatte auch Thomas unterschrieben. Er begriff sofort, dass er in der DDR keine Chance mehr hatte und stellte den Ausreiseantrag mit Katharina Thalbach und ihrer Tochter Anna. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Absage von Hinstorff schon vorlag oder nicht, sie spielte keine Rolle mehr.
Wir hatten geplant, das Buch im Frühjahr 1977 herauszubringen. Thomas, der eine Ausreise Ende Dezember erwartete, brachte uns dazu, den Titel vorzuziehen. Den gemütlichen Rhythmus Frühjahr-Herbst-Frühjahr-Herbst bei Verlagen, Druckereien, Buchhändlern und Lesern durcheinander zu bringen, erfordert einige Energie – Thomas hat es geschafft, uns diesem Stress auszusetzen. Bis dahin galt bei uns im Verlag die Regel: Keine Autorenfotos auf dem Umschlag – Thomas hat es geschafft, mit einem Foto plus biografischen Daten statt eines Klappentextes gewürdigt zu werden. Die Presse musste außer der Reihe mit Fahnen und Büchern beliefert werden – auch diese Ausnahme wurde für Thomas gemacht.
Die Einzelheiten jener dramatischen Tage zwischen Mitte November und Ende Dezember sind in der Erinnerung zusammengeschnurrt zu dem Eindruck: Es ging um Stunden. Da wir ja nichts dem Telefon oder der Post anvertrauen durften, fuhr ich mehrmals in der Woche, kontrolliert am Übergang Heinrich-Heine-Straße oder Bornholmer Straße, in die Wilhelm-Pieck-Straße. Kurz vor der Ausreise wurde Thomas zu Erich Honecker vorgelassen – und hat mir sofort von dem vertraulichen Gespräch berichtet. Das gefiel ihm, vom Staatschef mit beschränktem Respekt und mit Handschlag verabschiedet zu werden. Der Termin stand fest – das genaue Datum weiß ich nicht zu nennen, in meinem Lektoratskalender von 1976, in dem 34-mal „Thomas“ oder „Brasch“ steht, ist der Tag seiner Ausreise nicht verzeichnet.
Die Packer rückten an, vieles wurde an Freunde gegeben, die Wohnung war leer, und am letzten Abend kamen Anne Duden und ich zum Abschiedsbesäufnis mit vielen Freundinnen, Freunden und Kathis Theaterleuten in die ausgeräumte Wohnung. Tränen, Flüche, Verwünschungen, Umarmungen, Küsse, Verabredungen, Neid, Verzweiflungen. Thomas hatte mich gebeten (oder ich hatte es angeboten), am nächsten Morgen die drei von der S-Bahn am Bahnhof Zoo mit dem Auto abzuholen. Thomas und Kathi wollten unbedingt die erste S-Bahn früh gegen halb sechs nehmen. Ich versuchte ihnen das auszureden, um bei den ersten Schritten im Westen halbwegs ausgeschlafen zu sein: Ihr könnt doch um sieben oder neun kommen, der Westen läuft euch nicht weg. Nein, auch hier setzte sich Thomas durch. Als wir uns kurz vor Mitternacht verabschieden mussten, kam er mit hinunter auf die Straße, ihm war nach Weinen zumute, wir umarmten uns fester denn je.
Am nächsten Morgen war ich früh um halb sechs am Bahnhof Zoo, da kamen sie mir schon entgegen, die S-Bahn-Treppe hinunter mit leichtem Gepäck, Thomas, Kathi und das Kind Anna. Die einzigen S-Bahn-Fahrgäste im Halbdunkel. Gehetzt sahen sie aus, erledigt von der langen Nacht. Wir brachten Kathi mit Anna nach Reinickendorf oder Tegel zu Verwandten, Thomas kam mit in meine Wohnung. Mir ist, als wäre er schon nach dem ersten Schluck Kaffee ans Telefon gegangen, um seine Westberliner Freunde zu benachrichtigen. Ich sagte: Die schlafen noch. Das war ihm egal, seine Freunde hatten nicht zu schlafen, wenn er anrief.
Bald kamen Jörg Mettke, der Spiegel-Redakteur, und ein oder zwei andere Bekannte, während Thomas begann, von uns umringt und beraten, eine Presseerklärung zu formulieren. Den ersten Entwurf schrieb er auf Packpapier. Bis zu einer befriedigenden Fassung dieser wenigen Sätze dauerte es wohl an die zwei Stunden, so müde, erregt und wild auf einen neuen Anfang war der Landwechsler. Er wollte sich auf keinen Fall zum Dissidenten machen, das musste sofort deutlich werden.
Auf den Zetteln, die in meinem Exemplar von Vor den Vätern sterben die Söhne aufbewahrt sind, lautet die letzte Fassung so:

Wie mir die zuständigen Staatsorgane der DDR mitgeteilt haben, ist es auf absehbare Zeit nicht möglich, den größten Teil meiner schriftstellerischen Arbeiten in der DDR zu veröffentlichen und zu verbreiten. Dabei handelt es sich neben Stücken und Gedichten vor allem um den Anfang 1977 im Westberliner Rotbuch Verlag erscheinenden Erzählungsband Vor den Vätern sterben die Söhne, in dem Erfahrungen mit dem Land beschrieben sind, in dem ich aufgewachsen bin und das mich geprägt hat. Weil für mich öffentliche Auseinandersetzung mit meiner Arbeit lebenswichtig ist, sah ich mich gezwungen, einen Antrag auf Ausreise aus der DDR zu stellen. Diesem Antrag und dem Wunsch, mit der Schauspielerin Katharina Thalbach zu übersiedeln, ist stattgegeben worden.

Ich tippte die Erklärung ab, Mettke gab sie an dpa, ein Spiegel-Gespräch, das wir vom Verlag aus angeregt hatten, wurde vereinbart. Jetzt erst wurde Thomas etwas ruhiger, das angebotene Bett aber lehnte er ab, wieder ging er ans Telefon, um andere Freunde für den Abend in ein Restaurant am Kudamm zu bitten. Ich staunte, wie viele Leute, prominente darunter, er bereits in seinen ersten Stunden auf Westberliner Boden zu mobilisieren verstand.
Wenige Tage später war das Buch da, das Spiegel-Gespräch, die Presse jubelte, die ersten 8.000 Exemplare waren im Nu vergriffen – und bereits an seinem dritten oder fünften Tag im Westen hatte Thomas in Frankfurt Siegfried Unseld getroffen und das nächste Buch bei Suhrkamp vereinbart.
Nie bin ich von einem Autor so verraten worden, anders gesagt: Nur diesen Verlagswechsel habe ich als Verrat empfunden. Wir hatten ihm zur Ausreise verholfen, und während unser ganzer Verlag daran arbeitete, ihm einen optimalen Start im Westen zu ermöglichen, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich sofort an den größeren und reicheren Verlag zu verkaufen. Überdies mit einem Manuskript (Grundlage für Kargo, 1977 erschienen), das wir mündlich vereinbart hatten. Was hatten wir in den letzten Wochen geschuftet, um ihn, den völlig unbekannten Autor, mit seinem Buch nach ganz oben zu bringen! Was hatten wir seinetwegen für Risiken, auch für die Fortsetzung der Heiner-Müller-Ausgabe, auf uns genommen! Was war das für ein Freund, der gestern noch unsere Freundschaft beschworen hatte und heute sagte: Sorry, so what? Es war bitter, seine faulen Entschuldigungen zu hören: Er sei kein linker Autor, was solle er in einem linken Verlag. Außerdem wolle er nicht mit Müller in einem Verlag sein, er müsse sich von Heiner emanzipieren.
Der Schock saß tief, wir gingen uns nach Möglichkeit aus dem Weg, während sein Buch immer besser verkauft wurde, sein Ruhm stieg, die Theater sich um ihn rissen. Erst nach einem halben oder einem Jahr wurde die Beziehung wieder besser. Ich versuchte meine Enttäuschung abzubauen mit der These: Er ist ein Genie, Genies sind Verräter, sie können nichts dafür, nimms ihm nicht übel. Nach anderthalb Jahren, mit Kathi, ein erstes versöhnliches Gespräch. So kamen wir, auch wenn wir uns lange Zeit kaum sahen, ganz gut miteinander hin. Die Lust und die Kraft, seinen Größenwahn ein wenig zu steuern und ihn zu kritisieren, wo er es brauchte, hatte ich nicht mehr.
Nie hat Brasch wieder solche Auflagen erreicht, nie wieder ein so gutes Prosabuch publiziert wie Vor den Vätern sterben die Söhne. Und in den neunziger Jahren, als er in verschiedenen Dingen meinen Rat suchte, schrieb er mir in seine Bücher, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Sentimentalität:

Für meinen ersten Verleger.

Friedrich Christian Delius, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004

Brecht

(…)

Von dem Dichter und Dramatiker Thomas Brasch, einem, dessen Gedichte mit das Beste sind, was lyrisch aus den Verhältnissen in der geschlossenen Gesellschaft hervorging, ist ein Vorgang überliefert, der in die gleiche Richtung, auf dieselbe Verquickung weist wie Wolf Biermanns inszenierter Abschied aus dem Osten. Brasch stellte seinen Ausreiseantrag unmittelbar nach der Biermann-Ausbürgerung, Ende 1976. Der wurde denkbar schnell genehmigt. Auf wessen Schreibtisch er lag, ist ein offenes Geheimnis. Einen Tag vor seiner Ausreise gemeinsam mit Katharina Thalbach und Tochter Anna wurde Brasch Audienz gewährt. F.C. Delius, erster West-Lektor des Dichters, erwähnt den Vorgang in dem Text „Für meinen ersten Verleger. – Wie es zu Vor den Vätern sterben die Söhne und Thomas Braschs Ausreise kam“:

Kurz vor der Ausreise wurde Thomas zu Erich Honecker vorgelassen – und hat mir sofort von dem vertraulichen Gespräch berichtet. Das gefiel ihm, vom Staatschef mit beschränktem Respekt und mit Handschlag verabschiedet zu werden.

Auch Sie also, Thomas Brasch!
Die Details aus dem Leben des Barden und aus dem Leben des Dichters zitieren die späte Welt Brechts. Dazu gehört die Verbundenheit mit ihr, der Zugang zur Nomenklatura sowieso. In den Fällen Biermann und Brasch gab es auch familiäre, auch private Gründe zu den politischen, insbesondere zu den literatur- und kulturpolitischen. Biermann war einst als junger Kommunist mit jüdischer Abkunft in die DDR eingereist und hatte neben denen zur FDJ und zur Partei rasch Zugang zu den Kreisen um das Berliner Ensemble gefunden. Thomas Brasch wiederum gehörte einer jüdischen Familie an, die für das ostdeutsche sozialistische Experiment optierte. Sein Vater Horst Brasch kehrte 1946 aus der englischen Emigration zurück und machte eine Parteikarriere, die ihn u. a. zum stellvertretenden Kulturminister aufsteigen ließ. Die Karriere brach 1968 ab durch Thomas Braschs Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Vater Brasch verblieb auf untergeordneten Nomenklatura-Posten. Volksmund wusste mit Orwells Wort aus der Farm der Tiere, dass Thomas Brasch wie auch seine Brüder Klaus und Peter bis zu ihrem jeweils frühen Tod sowie die viel jüngere Schwester Marion „gleicher“ waren als andere. Dass sie es nicht nur hinnahmen, sondern aus der Position dieser Nähe zur Macht wie Biermann, Robert Havemann, die jeweiligen Frauen, Geliebten, Kinder und Kindeskinder wider den Stachel löckten, lag auf der Hand. Dass sie dabei nie wirklich in Gefahr gerieten, auch. Das meinte jedenfalls derselbe Volksmund. Der Autor dieser Zeilen genoss auch fühlbaren Schutz vor härterem Zugriff der „Organe“, dessen Ursachen bis heute nicht ganz klar sind. Andere waren nicht so gleich und gingen vielleicht für das Kopieren von Tonbandaufzeichnungen mit Liedern Wolf Biermanns oder für das Abschreiben und Weitergeben von Reiner Kunzes nur im Westen erschienenen Buch Die wunderbaren Jahre ins Gefängnis. Wolf Biermanns „Selbstporträt für Reiner Kunze“ ist in diesem Sinne mit seinem Refrain eine wohlfeile Behauptung:

Ach du, das ist dumm:
Wer sich nicht in Gefahr begibt
– der kommt drin um.

Die mit der Dichterhaltung nach Brechts Art jedenfalls begaben sich nicht wirklich in Gefahr, und sie lebten oder leben gut bis ans Ende ihrer Tage. Nicht jeder in der DDR hatte einen österreichischen Pass wie Brecht, Helene Weigel, Hanns Eisler oder einen dänischen seines dänischen Vaters wegen wie ein Berliner Dichterszene-Spitzel, der seine oppositionelle Frau an das MfS auslieferte, damit er weiter in den Westen reisen konnte.
1977 schrieb Heiner Müller für den Spiegel eine Kritik zu dem ersten Buch, das Thomas Brasch nach seiner Übersiedlung und seinem Wechsel zum Suhrkamp (Brecht-)Verlag veröffentlichte. Das Buch bietet zusammen mit den Erzählungen Vor den Vätern sterben die Söhne und dem Gedichtband Der schöne 27. September das Beste von Brasch. Es heißt „Kargo“. Müller wird deutlich, benutzt eine einfache Sprache, so wie er mündlich klarer war als in vielen seiner Stücke. Zu dem aus Gedichten, Szenen und Prosa wohlkomponierten Buch heißt es: „Daß die Texte fast ohne Ausnahme symptomatisch sind, d.h. ihre historischen Bedingungen der Kritik ausliefern, macht ihre Qualität aus.“ – Das ist formuliert in Brechts Manier, diese „historischen Bedingungen“ der Texte, diese Auffassung des Dichtens als definiertem Produktionsprozess. Man sieht Majakowskis Zug mit dem Gestein für die Produktion von ein paar Gramm Radium (sprich: Versen) vorbeifahren. Weiter heißt es bei Müller über Braschs Texte:

Ich lese sie auch als Kritik an meiner Arbeit, soweit sie die Versteinerung einer Hoffnung darstellt.

*

Was Heiner Müller in dem Text noch schreibt, wirkt wie eine frühere Zusammenfassung des hier von mir Gesagten in seinem erratischen Stil. Es erübrigt damit aber auch seine eigenen Bemühungen auf der Wolokolamsker Chaussee, das schlechte Gewissen des Hitlerjungen, der in den Trümmern steht, das Lesen des sowjetischen Großen Vaterländischen Kriegs durch die immer stärker werdende Brille eines deutschen Gewissens. Jedenfalls schreibt er in Sachen Thomas Brasch vom „Utopismus der Opposition“, von derjenigen, die ich hier umkreise, ihn einschließend, der von sich selber redet, dabei aber „über Biermann, der immer noch die Auferstehung eines Kommunismus herbeisingen will, der nur noch im Manifest umgeht, zu Havemann, eingesperrt in seinen Traum von der Rückgewinnung der Jungfernschaft für den Sozialismus in einem dritten Brautbett unter südlichem Himmel“.
Das Folgende gehört, von der Jahreszahl angefangen, dazu: Am 4. November 1989, auf der letzten zentralen Großveranstaltung der DDR, die zugleich ihre erste dezentral organisierte war, auf dem Ostberliner Alexanderplatz sagte Heiner Müller drei persönliche Sätze. Zum Anfang der vier Minuten Redezeit verlautete er, ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik sei die Trennung von Künstlern und Volk durch Privilegien, und folgerte:

Wir brauchen Solidarität statt Privilegien.

Das war pro domo gesagt, aber Müller hätte es wohl besser genauer formulieren sollen, etwa:

Pässe für alle! Solange bleibe ich im Osten!

Bekanntlich hätte er nicht mehr lange warten müssen. Nun verlas er einen offenen Brief, den er offenbar nicht selbst geschrieben hatte, worin die Rolle des Gewerkschaftsbundes in der DDR in Frage gestellt wurde und der mit einer von Müller lauwarm vorgetragenen Forderung nach Gründung unabhängiger Gewerkschaften endete. Die mit leiser Stimme gesprochenen Worte gingen schon fast unter in dem Wunsch von einigen der ansonsten unerhört respektvollen Demonstranten, die nach Hunderttausenden zählten, er möge „aufhören!“ Die seltsam stellvertretende Lesung dieses Briefs, dessen Forderungen am gleichen Tag schon obsolet waren, zeugte davon, dass die Vereinigung von Geist und Macht (auch durch die angesprochenen Privilegien) im Sozialismus weitestgehend stattgefunden und als staatstragender Dialog funktioniert hatte. Nur zwischen der auf dem Papier herrschenden und von Heiner Müller, Biermann, Volker Braun und, ihnen allen voraus, von Bertolt Brecht auf die Bühne gestellten, durch ihnen in den Mund gelegte Worte heroisierte Arbeiterklasse einerseits und den Dichtern andererseits gab es keine Verbindung. Mit den Privilegien hatte das vielleicht am Rande zu tun. Diejenigen mit schämten sich weitestgehend vor denen ohne, soweit ihnen ein Gewissen eignete. Sonst herrschte vor allem einvernehmliches, schweigendes Geben und Nehmen.
Heiner Müller stand dort, an jenem Tag, vor dieser Menschenmasse, als ein Papier- und Theatertiger. Er war in der privat-politischen Welt von Theater und Literatur ein umschwärmter Freund vieler Freunde, vorrangig linker, vorrangig intellektueller, in Ost und West. Seine Stücke, Gedichte, Einwürfe und seine Erscheinung waren ein guter Teil des künstlerischen, jedenfalls Theater-Mainstreams der 197oer und 198oer Jahre, der sich als Avantgarde verstand. Nicht anders sah der Theaterbesitzer Brecht sich in der Zeit nach dem Krieg. Sie waren da jeweils nicht allein mit ihrer vermutlich gar nicht versteinerten, sondern nur eingeschreinten, im Alltagsgeschäft immer wieder zur Schau gestellten Hoffnung. Müllers letzte Inszenierung war fünfzig Jahre nach Hitlers Selbstmord Brechts Arturo Ui. Der Spiegel zitierte damals „kühne Thesen“ des Regie führenden Dramatikers. Eine davon lautete, „Hitler habe gute Aussichten, ein Idol der ,No Future‘-Generation zu werden, weil auch für ihn die Zukunft keine Rolle, spielte.“ Eine These, die mit ihrer kurzen Reichweite auf den Urheber zurückfällt. Alles Schindluder mit der Zukunft war von der Seite seines Geistes und der Ideen, die ihn leiteten, schon getrieben.
1994, ein Jahr vor seinem Tod, hatte Heiner Müller in einer Art Gedicht seinem Meister eine Zeile ins Jenseits mitten in einem weißen Rauschen von Reimen geschickt, nachdem es vorher in dem leider ziemlich langen Text Klosett-Graffiti, Privates, Kulturinterna und poststalinistische Szenen gehagelt hatte:

Reime sind Witze im Einsteinschen Raum
Des Lichtes Welle sondert keinen Schaum
Brechts Denkmal ist ein kahler Pflaumenbaum

Mehr nicht. Mehr ist da nicht.
Die Fron in den Ketten, die Brecht zwar nicht geschmiedet, aber in seiner Werkstatt gehärtet hat, zuletzt verrichteten sie ein paar alte Männer. Ohne ihre Treue hätte es die DDR überhaupt nicht so lange gegeben. Das letzte Wort gehört deshalb Thomas Brasch, 1945 geboren als Kind der Emigration. Gestorben ist er 2001, vorher noch ausführlich gespiegelt in Zimmern, die auf den Bertolt-Brecht-Platz gingen, wie es der Dokumentarfilm Brasch – Das Wünschen und das Fürchten von Christoph Rüter zeigt. Thomas Brasch wurde ein Opfer des Kalten Krieges. Als Dichter riss er an den Ketten so sehr, dass Funken flogen und Blut in seinen Sätzen und Versen gerann. Ich bin nicht sicher, von welchem Kollektiv er spricht. Damals, als ich sein Gedicht las auf der letzten Seite im Poesiealbum Nr. 89, herausgegeben von Bernd Jentzsch, sprach ich es Zeile um Zeile mit. Es muss da von uns die Rede gewesen sein:

WIE VIELE SIND WIR EIGENTLICH NOCH.

Der dort an der Kreuzung stand,
war das nicht von uns einer.
Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt.

Wie viele sind wir eigentlich noch.
War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte.
Jetzt soll er Ingenieur sein.
Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.

Wer sind wir eigentlich noch.
Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
Welchen Namen hat dieses Loch,
in dem wir, einer nach dem anderen, verschwinden.

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

 

 

In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.

 

Christoph Rüter: Brasch – Das Wünschen und das Fürchten

 

Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)

 

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.

 

 

Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.

 

 

Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.

 

 

 

 

Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will

Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders

Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015

 

Kai Pohl liest Thomas Brasch zu dessen 70. Geburtstag am 19. Februar 2015 in der Rumbalotte Continua.

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020

Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020

Zum 20. Todestag des Autors:

Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021

Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021

Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021

Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021

Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021

 

 

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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
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Nachrufe auf Thomas Brasch: Berliner Zeitung 1 + 2 ✝
literaturkritik.de ✝ Der Freitag ✝ Neues Deutschland

Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der große Brasch“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Brasch, der“.

 

Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).

 

Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.

 

Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.

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