BLINDE BIENEN
im rücken, im herbst steckt die ahnung, wir könnten
bleifarben bleiben, zweigeteilt himmelsfindling
aaaaagenannt,
versterbezahlen bekümmern uns kaum, wir gehen
aaaaaschlupflungenklamm
ins gehäuse, getöse, machen uns etwas aus derbem
aaaaaschuhlederklang,
verfahrensfehler geben den rahmen, vernageltes holz,
das auf nichts aus ist. ein reh schaut durchs fenster herein.
noch sind wir nicht sichtbar, ein mottenpaar, das kastanien
aaaaazusetzt.
verlarvte kinderpuppen haben wir eilig verlassen,
man minimiert uns, indem man das laub aufrafft,
das sommers schon fällt. wenn die bienen in ihrer blindheit
am himmel baumeln wie faules gezänk. wenn ein abgehalfterter ärmel
zurückbleibt. steh du ruhig auf, deine stimme ist milchkaffeefarben,
dein singen gelingt nicht. die blinden bienen haben pulver im pelz,
daß es stäubt, daß es juckt. betäubt taumeln sie zwischen den bäumen,
den sträuchern und meinen uns nicht. für den augenblick
laß ich sie fahren, die ahnung im rücken, im herbst.
Kathrin Schmidt
ZU BLINDE BIENEN
Im einundfünfzigsten Jahr kann es schon mal geschehen, dass mich eine Ahnung der Endlichkeit ankommt. Zuweilen spüre ich, dass etwas zwischen Hals- und Brustwirbelsäule steckt und schmerzt, irgendein bleifarbenes Ding, von dem ich nicht sagen kann, ob es sich um einen Brieföffner oder ein Messer handelt. Spürst du das auch? Wer weiß. Wir sind einsam im Aushalten von Krankheiten. Du nimmst meine, ich deine zum Anlass, den Raum auszumessen, der uns noch bleibt. Den Himmelsfindling hätten wir wohl am liebsten vorm Loch, damit der Ausgang versperrt liegt. Am Wochenende lese ich verstohlen die Todesanzeigen, tue aber so, als hätte ich das eben nicht getan, kommst du hinzu. Wir stürzen uns doch ins Leben! Ich aber habe unterdessen ein lustiges Hinkebein, man hört mich, ehe man mich sieht. Dreht sich um. In diesen Augenblicken bin ich geneigt, nicht zuzulassen, was nach Krankheiten aussieht. Und riecht … Keine Verfahrensfehler dürfen mir unterlaufen, damit das klar ist. Wer will, kann kommen und durchs Fenster hereinschauen. Wer will, kann einen Rehblick drauf haben, das macht mir nichts aus. Manchmal denke ich, wir sind Nachtfalter, aber wir schlafen eigentlich zu gut. Eher sind wir ein Mottenpaar, das in der Dämmerung ganz allein in die Luft geht. Für unsere vielen Kinder sind die Jahre der Larvenzeit, der Puppenruhe beinah vorbei, als Imagos fliegen sie eigene Wege, streifen aber immer wieder das Heimatgelände. Das tut uns gut. Dennoch ist es schön, wieder eigene Routen und Touren zu finden. Meinst du nicht? Ach so, das Altenteil … Nun ja, in der Werbung hat man uns lange vergessen. Auf Abstieg gesetzt, hatten wir nichts zu suchen. Der Rosskastanien-Miniermotte versucht man sich ja auch durch rechtzeitiges Sammeln des schon abgeworfenen Laubes zu entledigen. Aber es sind viel zu viele. Auch wir werden immer mehr werden mit den Jahren. Unsere (zum jetzigen Glück später einmal) altersschwachen Sinne bleiben unsere Sinne. Es lohnt nicht, darüber zu streiten, einander sogar an die Wäsche zu gehen, dass Hosen und Jacken zerreißen. Lieber sollten wir darauf zugehen, auch wenn der Kaffee wegen des Blutdruckes fortbleibt, die Stimme nicht mehr so will wie wir. Ja, ich gebe zu: Noch juckt mir der Pelz, und manchmal tu ich ein wenig zu viel des Guten und gerate ins Straucheln, ins Taumeln. Dann tue ich einen Moment lang so, als ginge ich mich nichts an. Als ginge sie mich nichts an: die Ahnung der Endlichkeit.
Kathrin Schmidt
… Neben diesen bemerkenswert erfolgreichen Autoren hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in Deutschland eine außerordentlich reiche Lyrikszene entwickelt, die allerdings, im Gegensatz zu ihren Kollegen von der erzählenden Zunft, noch nicht ausreichend wahrgenommen wird. Dabei gibt es nicht wenige Kritiker, die behaupten, dass die Professionalität der Arbeit am Text und vor allem der Grad der Reflexion über das Schreiben bei den Lyrikern höher sei als bei den Prosaautoren. Das allerdings liegt tief in der Gattung selbst begründet. Gedichte, die auf den ersten Blick so leichthändig verfasst erscheinen, und dabei, nicht nur wegen Reim und Rhythmus, hoch komplizierte sprachliche Gebilde darstellen, bedürfen größter Präzision. Zudem ist die Poesie die älteste der Künste und hat damit eine schier endlose Tradition, die zur Auseinandersetzung einlädt – und dies ist den zeitgenössischen Dichtern stets bewusst. Die Wertschätzung in der literarischen Kritik führte jedoch bislang nicht zu einer größeren Breitenwirkung, die Szene bleibt, mit wenigen Ausnahmen, unter sich. Das hat mehrere Gründe und oft kann man eine self-fullfilling prophecy beobachten. Da in den Verlagen davon ausgegangen wird, Lyrik würde sich schlecht verkaufen, werden kaum Lyrikbände in das Programm genommen. So bilden sich Nischen für Spezialverlage wie urs engeler editor oder kookbooks, die versuchen, sich unter schwierigsten ökonomischen Bedingungen diesem Trend entgegenzustellen, und damit, wenn auch ungewollt, den Marginalisierungsprozess weitertreiben. Da hilft es auch nicht sehr viel weiter, wenn in einer ganzen Reihe von Zeitschriften wie Akzente, Schreibheft, Neue Rundschau, Sprache im technischen Zeitalter oder in den Neugründungen wie Bella Triste, Edit oder Zwischen den Zeilen Gedichte wie selbstverständlich zum Programm gehören. Dass diese Zeitschriften den benannten Marginalisierungsprozess schon vor geraumer Zeit durchlaufen haben, schafft zwar einen Raum, in dem sich Dichter poetologisch austauschen können, aber Öffentlichkeit wird nur für eine kleine Leserschaft geschaffen.
Dass es aber andererseits ein Publikum für Lyrik gibt, kann man an den wahrlich nicht geringen Erfolgen von Lyrikfestivals von Rotterdam bis Medellin/Kolumbien, von Münster in Westfalen über Berlin bis Vilencia in Slowenien erkennen. Als der Westdeutsche Rundfunk und der Patmos Verlag um die Jahrtausendwende eine Umfrage veranstalteten, um nach den Lieblingsgedichten der Deutschen zu fragen, beteiligten sich immerhin 3000 Hörer. Dass bei den ermittelnden Gedichten die jüngsten von Paul Celan und Ingeborg Bachmann stammten, ist wiederum ernüchternder. Diese Beobachtungen – Marginalisierung einerseits, profundes Interesse andererseits −, beschreiben das Anliegen dieser Anthologie schon weitgehend. Laute Verse ist eine Einladung, diese merkwürdige Lücke von Zu- und Abgewandtheit zu schließen.
Seit den siebziger Jahren, als in der alten Bundesrepublik das letzte Mal, unter dem Stichwort „Neue Subjektivität“, Lyrikbände beträchtliche Auflagen erreichten, hat sich die Lyrik sehr verändert. Mit dieser Auswahl soll kein neuer Ismus, keine neue Strömung postuliert werden. Laute Verse versammelt selbstbewusst den ganzen Reichtum an verschiedensten lyrischen Schreibansätzen, die derzeit entwickelt und gepflegt werden. Die Anthologie ist ein Angebot neue Stimmen, andere Ansätze, in alten und neuen Formen zu entdecken. Von jeder Lyrikerin, von jedem Lyriker wurden cirka zehn Gedichte ausgewählt. Die Auswahl enthält im Regelfall nur Gedichte, die schon in eigenständige Lyrikbände aufgenommen worden sind. Dabei wurde darauf geachtet, möglichst Gedichte aus allen verfügbaren Gedichtbänden auszuwählen, um die einzelnen Autoren umfassend zu präsentieren und Entwicklungen innerhalb eines Werkes aufzuzeigen.
Zeitlich erstreckt sich die Auswahl in etwa auf die Zeit seit der Wiedervereinigung bis heute. Neben dem politischen Zeitenbruch, begründet sich diese Wahl vor allem mit dem Auftritt zweier außergewöhnlicher Dichter auf der literarischen Bühne. Einerseits erschien 1989 mit geschmacksverstärker das erste Buch des aus dem Rheinland stammenden sprech- und stimmgewaltigen Thomas Kling im Suhrkamp Verlag. Etwas früher debütierte 1988 mit grauzone morgens der Dresdner Durs Grünbein in der edition suhrkamp. Bei Kling und Grünbein war sich nicht nur die engere Lyrikkritik sofort einig, dass da zwei außerordentlich kraftvolle lyrische Stimmen ertönten, die aus ganz unterschiedlichen Traditionen zu kommen schienen. Aus der sprachkritischen, sprachzerlegenden der eine, aus der Tradition der klassischen Moderne mit genauer Kenntnis der vormodernen Lyrik der andere.
Die Besonderheit dieses Projektes, über die Präsentation von 24 jüngeren Autoren hinaus, ist, dass alle eingeladenen Autoren um einen Blick in ihre Dichterwerkstatt gebeten wurden. Jeder Dichter schrieb zu jeweils einem eigenen, selbst ausgewählten Gedicht einen kurzen Text zur Entstehung. Diese Erläuterungen kann man als ein Patchwork von gegenwärtigen Minipoetiken lesen. Und so ist Laute Verse hoffentlich ein unterhaltsamer Zwitter geworden. Ein Zwitter, der einerseits einen Überblick über die jüngere deutsche Lyrikszene der Gegenwart bietet und es zum anderen erlaubt, den Dichter bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Im Fall des viel zu früh verstorbenen Thomas Kling haben wir aus seinem Werk einen kurzen, ganz grundsätzlichen poetologischen Text ausgewählt.
Jede Anthologie muß sich beschränken, so auch diese. Am fragwürdigsten ist sicher, dass nur deutsche und nicht deutschsprachige Autoren aufgenommen wurden, sonst aber wäre der Umfang des Buches einfach zu groß geworden. Die zweite Einschränkung betrifft das Alter der eingeladenen Schriftsteller. Sie sind mit ganz wenigen Ausnahmen alle in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie aktuell diese Sammlung sein kann oder sein will. Leitgedanke dieses Projekts war nicht vordringlich, die ausgewiesenen Lyrikspezialisten mit Neuentdeckungen zu überraschen, dafür gibt es Literaturzeitschriften, sondern vielmehr den Interessierten einen durchaus repräsentativen Überblick zu bieten, und verschiedene dichterische Temperamente zu offerieren. Deshalb wurden nur Autoren ausgewählt, die schon mindestens zwei eigenständige Gedichtbände vorgelegt haben – aber auch hier gilt selbstverständlich, dass es keine Regel ohne Ausnahme gibt. Die dritte Beschränkung liegt im Herausgeber begründet, der sich in Einzelfällen für oder gegen die Aufnahme eines Dichters zu entscheiden hatte. Aber das Vergnügen an der Auswahl übertraf alle Einschränkungen bei weitem.
Der Titel dieser Anthologie schließlich ist doppeldeutig. Man kann das „laute“ adjektivistisch oder substantivistisch lesen, dann bezieht es sich auf den Bauplan von Gedichten. Sie bestehen: aus Lauten, Wörtern, Versen, Strophen: Und der Inhalt des Gedichts? Dazu hat der große aus Belgrad stammende und in den USA lebende Dichter Charles Simic einmal geschrieben: „Himmel und Erde, Natur und Geschichte, Götter und Teufel sind alle auf skandalöse Weise in der Dichtung miteinander versöhnt.“ Und weiter: „In einem guten Gedicht verschwindet der Dichter, damit der Leser des Gedichts zum Leben erwachen kann.“ Durch die erläuternden Texte soll diese Auswahl dazu anregen, möglichst viele Gedichte durch das Lesen zum Leben zu erwecken, und außerdem erfährt der Leser, was alles Anlaß eines Gedichtes sein kann. Sie zeigen, wie Gedichte wachsen indem sie schrumpfen und erläutern, wie Lyriker sich auf Dichtung beziehen oder auf andere Kunstwerke. Himmel und Erde, Natur und Geschichte, Götter und Teufel, alles hat seinen Ort im Gedicht und natürlich spiegeln sich in ihm auch politische Vorgänge, verknüpfen sich Biografisches mit Religiösem oder Mythologischem. Und schließlich verbindet das Gedicht, wird es vorgetragen, auch das Sprachliche mit dem Körperlichen, dem Sinnlichen…
Thomas Geiger, aus dem Nachwort, Dezember 2008
Die Lyrik gilt derzeit als die Avantgarde der deutschen Literatur. So vital, so experimentierfreudig, so unterhaltsam, so klug wird derzeit nirgendwo sonst die Welt in Worte gefasst. Zwanzig Jahre nach der Wende hat sich eine neue Autorengeneration gebildet.
Laute Verse stellt 24 bedeutende junge Lyrikerinnen und Lyriker mit jeweils zehn Texten vor und bietet so einen profunden Überblick über die Lyrik der jüngeren Gegenwart. Zudem gibt jeder Autor mit der Interpretation eines seiner Gedichte einen Einblick in seine Schreibwerkstatt.
Mit Gedichten von Henning Ahrens, Marcel Beyer, Nico Bleutge, Nora Bossong, Ulrike Draesner, Daniel Falb, Matthias Göritz, Durs Grünbein, Hendrik Jackson, Thomas Kling, Christian Lehnert, Steffen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck, Hendrik Rost, Silke Scheuermann, Kathrin Schmidt, Sabine Scho, Lutz Seiler, Volker Sielaff, Ulf Stolterfoht, Anja Utler, Jan Wagner und Uljana Wolf.
Deutscher Taschenbuch Verlag, Ankündigung, 2009
– Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart” heißt eine bei dtv premium erschienene Gedichtanthologie. Herausgeber Thomas Geiger möchte mit dem Band vor allem eines schaffen: einen repräsentativen Überblick über die deutsche Gegenwartslyrik. –
Das Gedicht sei „mehr als Quitte und Qualle.“ Davon ist Monika Rinck überzeugt. Sie ist eine von 24 Lyrikern und Lyrikerinnen, die Herausgeber Thomas Geiger in seiner neuen Anthologie Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart versammelt. Zeitgenössische deutsche Autoren werden hier mit jeweils circa zehn Gedichten präsentiert. Die ausgewählten Dichter vertreten keine einheitliche Strömung. Die 360 Seiten umfassende Sammlung soll die große Bandbreite der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen deutschen Gegenwartslyrik darstellen, so Geiger in seinem kurzen Nachwort. Auffällig ist das durchweg starke Traditionsbewusstsein der jungen Schriftsteller.
Sie beherrschen das lyrische Handwerkszeug und ihre Texte zeugen von hohem Reflexionsgrad. Die überwiegend in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geborenen Poeten beziehen sich auf Susan Sontag oder Heiner Müller und gehen zurück bis Shakespeare und Gryphius. Kurzporträts am Ende des Bandes stellen die 15 Autoren und neun Autorinnen vor – unter ihnen Namen wie Marcel Beyer, Marion Poschmann, Jan Wagner oder Uljana Wolf, die zweitjüngste Lyrikerin der Anthologie, die gleich mit ihrem Debüt den Peter-Huchel-Preis 2006 gewann. Hören Sie jetzt das titelgebende Gedicht aus ihrem Erstling „kochanie ich habe brot gekauft“:
KOCHANIE ICH HABE BROT GEKAUFT
so bildet die fremde
gespräche aus
ich erkenne sie
mit warmem rücken
mit geschlossenen augen
in einem doppelbett
noch immer ohne muster
ohne richtige antwort
nur die gewöhnung
an berg und tal
wie sich was
zu hälften fügt
auf einer übersetzbaren
matratze
Leise Zeilen voll sanfter poetischer Subversion wie die von Uljana Wolf stehen in Laute Verse gleichberechtigt neben den wort- und stimmgewaltigen Gedichten von Thomas Kling, dem mit Jahrgang 1957 ältesten Autor des Bandes. Sein Einfluss auf die jüngeren deutschen Lyriker ist groß. Das zeigen auch die zahlreichen Verweise der Kollegen auf den großen Vortragskünstler in dieser Sammlung. „Poetik“ heißt das erste der für diese Anthologie ausgewählten Gedichte des schon 2005 verstorbenen Kling. Hier ein Ausschnitt:
Disiectio membrorum: die schamanistische Gliederverstreuung.
Eben auch: Die Wortauswerfung.
Sowie: die Wortverwerfung.
Die unausgesetzten, immer zu wiederholenden Arbeitsvorgänge: die des
Wortaufklaubens, nicht: Worteklaubens; die des Wortemachens, ja. Bei Be-
darf Anwerfen des Neologismus-Maschinchens.
(…)
Das unausgesetzte, das naturgemäß vollständige Ausgesetztsein im Schreiben, mit
der, und – haargenau – in der Schrift.
„Dichten – Schinden – Gerben“ lautet eine weitere Zeile aus diesem Gedicht; „Die Schrift – Die Heilung“ ein anderer Vers. Poesie als Handwerk und Fronarbeit oder Dichtung als heilende Handlung? Welches Selbstverständnis haben die jüngeren Kollegen von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit? Thomas Geiger hat alle im Band präsentierten Lyriker gebeten, in einem kurzen Text ein von ihnen selbst ausgewähltes Gedicht zu erläutern. Das Ergebnis: 24 persönliche Einblicke in die Dichterwerkstatt; vielfach eine kleine Poetik im Taschenformat. So vielfältig die individuellen Stile und Schreibweisen, so unterschiedlich die Herangehensweise an die poetologische Selbstauskunft. Die am Anfang zitierte Lyrikerin Monika Rinck zum Beispiel ergänzt die Endfassung ihres Gedichts durch eine „work-in-progress“-Version. In einer Art „Making of“ legt sie dann die Zutaten offen, aus denen sie das „fertige Gericht oder Gedicht“ in „voller Absicht bis zur Unkenntlichkeit zubereitet habe.“ Ergebnis ihrer Selbstanalyse:
die Bestandteile selbst sind nicht wegweisend, aber auch nicht beliebig. Es wäre auch ein ganz anderer Weg denkbar, durch das Gedicht, der mit seinen Zutaten in keiner Verbindung steht. Denn das Gedicht ist mehr als Quitte und Qualle.
Das ist ihr Bild für die Unauflösbarkeit der Frage nach dem Wesen von Gedichten. In einer beinahe mystischen Definition des Gedichts als einer „Leere, die, umgeben von Worten, zu Offenheit wird“, sucht Christian Lehnert nach einer Formel für Poesie. Während Nora Bossong in ihrem persönlichen poetologischen Glaubensbekenntnis schlichtweg bekennt:
Ich glaube, es gibt keine Gedichte. Es gibt sie nur zufällig.
Marcel Beyer schließlich konstatiert nüchtern:
Gedichte sind, unsentimental betrachtet, immer auch einfach: In Vibration gesetzte Atemluft.
Vom Dichter bleibt also am Ende nicht mehr als ein „Atemwölkchen“? So jedenfalls sieht es Durs Grünbein hier in seiner kleinen Poetik. Hören Sie die letzte Strophe aus Grünbeins „Schädelbasislektion“ – eine Einübung in die Sterblichkeit, eine Etüde der Nichtigkeit:
Unterm Nachtrand hervor
Tauch ich stumm mir entgegen.
In mir rauscht es. Mein Ohr
Geht spazieren im Regen.
Eine Stimme (nicht meine)
Bleibt zurück, monoton.
Dann ein Ruck, Knochen, Steine.
… Schädelbasislektion.
Zehn Gedichte und ein kurzer Text für jeden Lyriker sind nicht viel; und doch genug, um eine Sprachmelodie anklingen zu lassen und ein Thema heraus zu hören. Thomas Geigers Anthologie Laute Verse bietet einen guten Überblick über die deutsche Lyrik seit der Wiedervereinigung. Die handlichen Taschen-Poetik-Texte machen den besonderen Charme der Sammlung aus. Der Band vermittelt ein Gespür für die Vielfalt individueller Stimmen innerhalb der gegenwärtigen deutschen Lyrik. Und er öffnet das Ohr auch für zeitgenössische Lyriker, die nicht in diese Sammlung aufgenommen werden konnten. Es ist schön, so viele junge Autoren die poetische Tradition fortschreiben zu sehen. Manchmal wünscht man sich, sie wären gelegentlich etwas respektloser gegenüber ihrem literarischen Erbe und würden in ihre Gedichte ein bisschen mehr von der Welt hineinlassen, in der sie heute leben.
Thomas Geiger lässt 24 Dichter sich selbst kommentieren. „Ich weiß nicht, wie ein Gedicht entsteht“, gibt der Dichter Hendrik Jackson freimütig zu. Doch vermutet er immerhin, dass Übung dahinter steckt. Viel wichtiger auch erscheint Jackson die Frage, wann es denn fertig ist, das Gedicht. Auf die richtige Balance kommt es seiner Meinung nach an: Nicht zuviel „Geschwirre“ darf es sein, und nicht zuviel an „Aussage“. Daniel Falb dagegen fährt große Geschütze auf: Leibniz’ „Theodizee“ und ein Text Hannah Arendts müssen herhalten, um Falbs eigene Anverwandlung von Emily Dickinsons „I dwell in possibility“ zu erläutern. Darum nämlich geht es in dem von Thomas Geiger herausgegebenen Band Laute Verse: 24 Dichter kommentieren jeweils eines ihrer eigenen Werke. Manchmal ist das ganz schön harter Tobak. Nicht weniger ausgreifend als Daniel Falb fährt etwa Sabine Scho (auf bloß einer halben Seite) Carl Friedrich von Weizsäcker, Holger Meins und Jackie Kennedy als Bezugsgrößen auf. Ulf Stolterfoht wiederum erzählt ganz schlicht von seinem „Gnadenwinter“ 1994, als er das erste Gedicht seines immer noch nicht abgeschlossenen „Fachsprachen“-Zyklus empfing. Nico Bleutge berichtet von den biographischen Elementen seines Gedichtes „nicht farbe“: Die Geschichte seiner Großmutter, die irgendwann realisieren musste, dass das Krankenhaus, in dem sie sich wähnte, ihr Altenasyl bleiben würde, und daraufhin, um ihre Familie zu strafen, das Sprechen einstellte: „stumm, / unnahbar, ihre kinderlippen, man sieht / das haarnetz, ihre müden augen. / es nimmt nicht farbe an, das gesicht.“ Hilfreich in einem pädagogischen Sinn oder besonders nützlich für das Verständnis des einzelnen Gedichts sind die Erläuterungen selten. Interessant sind sie dennoch oder gerade deswegen: Weil sich die 24 Dichter und Dichterinnen nicht als Philologen ihrer selbst versuchen. Sie geben vielmehr etwas von dem Umfeld preis, aus dem heraus Gedichte entstehen, dem konkreten Lebensumfeld manchmal, in der Regel aber von dem prosaischen, ungefügten Denkraum, aus dem heraus ihre Gedichte entwachsen. Über diese Beigaben hinaus hat Thomas Geiger, Mitarbeiter im Literarischen Colloquium Berlin, von jedem Dichter etwa zehn Stücke ausgesucht, die im besten Fall einen Querschnitt durch sein Werk darstellen. Wobei die meisten der hier vorgestellten Dichter erst ein relativ schmales Oeuvre vorzuweisen haben: Thomas Kling, Jahrgang 1957, ist der älteste in Geigers geschmacksicherer und abwechslungsreicher Auswahl. Der wohl schönste Begleittext stammt von Kathrin Schmidt, die ihrem Gedicht „blinde bienen“ eine Art Prosaversion gegenüberstellt, eine Prosafantasie vielmehr, in der die Dichterin selbst am Ende wie eine weise Biene erscheint: „Ja, ich gebe zu: Noch juckt mir der Pelz, und manchmal tu ich ein wenig zu viel des Guten und gerate ins Straucheln, ins Taumeln. Dann tue ich einen Moment lang so, als ginge mich nichts an. Als ginge sie mich nichts an: die Ahnung der Endlichkeit.“
Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 8.7.2009
Die deutschsprachige Lyrik erlebt gerade eine Blütezeit. Zahlreiche neue, höchst eigenwillige Stimmen sind zu vernehmen und haben auch für eine verstärkte Beachtung von älteren Autoren gesorgt, mit denen sie – in Zeitschriften oder auf Festivals – in einen intensiven poetischen und poetologischen Dialog getreten sind. Eine hervorragende Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, bietet eine von Thomas Geiger herausgegebene Anthologie, die vierundzwanzig Dichter mit jeweils etwa zehn Texten versammelt. Zusätzlich gibt es jeweils einen Kommentar der Autoren zu einem eigenen Gedicht. Gerade in diesen Selbstanalysen – deren Formen und Ansätze so individuell wie die literarischen Texte sind – wird auch der Kenner manches Neue erfahren. Etwa wenn Christian Lehnert darlegt, wie eine Erfahrung als Bausoldat im Leuna-Werk mehr als zehn Jahre später die Hohlform eines Kirchenliedes ausfüllt, und den „Augenblick des Gedichts“ so definiert, dass in ihm „Leere, umgeben von Worten, zur Offenheit wird“. Den Transformationen des Autobiographischen spüren einige nach, Hendrik Rost, Nora Bossong oder Steffen Popp etwa, der auf die wunderschöne Definition kommt: „Das Sprechen verhält sich zur Situation wie Schaum zum Meer.“ Erfreulich ist auch, dass Geiger neben jungen Stimmen wie Marion Poschmann, Jan Wagner oder Nico Bleutge auch die wichtigsten Vertreter der Generation davor einbezieht, neben Grünbein und dem 2005 verstorbenen Pionier Thomas Kling die als Lyriker noch viel zu wenig wahrgenommenen Henning Ahrens, Marcel Beyer und Kathrin Schmidt. „Jeder Dichter tut gut daran, sich als das zu begreifen, was er zuletzt sein wird, ein Häuflein Worte auf einer Buchseite plus einiger Satzzeichen“, schreibt Grünbein. Nehmen wir also schon einmal probehalber die Perspektive der Nachwelt ein: Was in diesem Buch steht, wird bleiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.7.2009
– Zwei Dutzend poetologische Selbstauskünfte zu zeitgenössischen Gedichten hat Thomas Geiger in seiner Anthologie Laute Verse versammelt. –
Ohne eine Zeile, die überraschend den Verstand durchzuckt und etwas aufblitzen lässt, das man so bisher nie zu sehen wagte, braucht man mit dem Lesen von Gedichten gar nicht erst anzufangen. Das gilt für Hölderlin wie für Gottfried Benn, aber auch für einen jungen Berliner Lyriker wie Steffen Popp. „Tannen im Grenzland, sie brüllten / wie eine Herde, im Sperrdraht“ schreibt er etwa über eine Nachtlandschaft, und schon betritt man „freies Feld, urweltlich ragte / unter dem Mond eine Garage / ein Zwergwürfel, unversöhnt“. Das Leseerlebnis beginnt mit einer Faszination – und es kehrt nach allen Etappen dessen, was man Verstehen nennt, im besten Fall wieder zu ihr zurück: Was Gedichte sagen, sagen sie nur, indem sie Gedichte sind.
Auf dem Weg dazwischen aber sind Erklärungen hilfreich. Zwei Dutzend poetologische Selbstauskünfte zu zeitgenössischen Gedichten hat Thomas Geiger in seiner Anthologie Laute Verse versammelt. Ihr jeweiliger Ehrgeiz, von der autobiografischen Rahmung über die Materialanalyse bis zur Prosaparaphrase, ist so unterschiedlich wie der lyrische Ton, dem die beteiligten Autoren verpflichtet sind, wie ausführliche Werksproben beweisen.
Thomas Kling, Jahrgang 1957, den ältesten – und früh verstorbenen – Dichter, verbindet fast nichts mit der Jüngsten, der 1982 geborenen Nora Bossong. Vielleicht könnten sie sich dennoch auf einen Satz von Max Bense einigen, den Ulf Stolterfoht für „unangreifbar“ hält: „Literatur ist Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand.“ Was daraus folgt, nimmt in Stolterfohts ganz dem Eigensinn von Wörtern und Wortpartikeln gehorchender Sprache ganz andere Formen an als bei der mit erzählenden Elementen spielenden Bossong. Die Schönheit des perfekten Gedichts, erläutert er, vereine maximale Ordnung und Unordnung. Sie zeigt sich für ihn in einem Text, „in dem jedes seiner Glieder mit jedem anderen auf jede erdenkliche Weise verbunden wäre; ein so dichtes Geflecht, dass der ursprüngliche Text hinter einem schwarzen Gitter aus sich kreuzenden Bezügen verschwände – Struktur pur.“ So leuchten einem auch Stolterfohts sonst erst einmal gar nicht einleuchtende Gedichte ein. Laute Verse bietet wertvolle Lesehilfe: Für die junge Lyrik hat es das so bisher nicht gegeben.
– Laute Verse: Thomas Geiger vom LCB versammelt lauter neue deutsche Gedichte. –
Mit anderer Leute Wespe anzubändeln, das ist schon ziemlich toll. Einerseits aus moralischen Gründen, andererseits wegen der Folgen. Laute Verse, die von Thomas Geiger sorgfältig herausgegebene Präsentation zeitgenössischer deutscher Lyrik, ist kein Freudenhaus und trotzdem tut es der Dichter Marcel Beyer darin, und zwar mit vampirischer Ungezügeltheit. Erst ruft er die Wespe, das „Stichwort“-gebende „Leitinsekt“, seines zu früh verstorbenen Kollegen Thomas Kling (an), dann betört er sie auch noch, sie solle in seinen Mund kommen. Er will sie also verschlingen. Und das, was dabei herauskommt, diesen stacheligen Kuss im Hals, dieses Schwellen, Kratzen, Wund- und Heißsein, das nennt er dann im Hinblick auf die 80er-Jahre („Als wir jung / und im Westen waren.“) Dichtung.
Wer wie der Lyriker Lutz Seiler im Osten war oder wie in einem seiner Gedichte aus „vierzig kilometer nacht“ vor Madagaskar lag und „die welt / und das thema verfehlt“ hatte, zu dem krochen die Insekten von selbst hinein. Eher erleichtert als verbissen, stellt sich dann aber die Erkenntnis ein, dass sie „kleiner als ihr geräusch waren“.
Ob Ost oder West: Auch ein halbes Jahrhundert nach Adornos pessimistischem Diktum, das beinahe zum Verdikt geworden wäre, brauchen Gedichte noch die einverleibte Gefahr, um überhaupt bestehen zu können. Was sie aber verloren haben, ist die Angst davor, in einer gescheiterten Welt nicht bestehen zu dürfen. Oder sie setzen sich darüber hinweg, wie Nora Bossong, die in einem ihrer schönsten Gedichte den Geliebten mit seinem Celan-Blick verlässt, in dem sie sagt: „Ich bin zu leicht für deine Mythen“. Dieses Gebräu aus Gefahr und abfedernder Leichte gibt es wieder. Es gibt das sinnliche Gedicht. Die kokette Melancholie bei Uljana Wolf, den verorteten Wortschmerz bei Lutz Seiler, die zündelnde Lautmalerei bei Anja Utler, die aleatorische Berechnung bei Ulf Stolterfoht, die klassische Konstruktion bei Durs Grünbein, die wie ruhige Inseln aus der zugigen Gegenwart gefilterte Naturlyrik bei Nico Bleutge und vieles mehr.
Thomas Geiger, der Herausgeber der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter im Berliner Literarischen Colloquium, weiß das natürlich schon lange. Wer literarische Fachzeitschriften liest, weiß es auch, aber da selten die Verlage, und noch seltener der Buchhandel mithelfen, diese Kunde zu verbreiten, bleibt sie eine Flüsterpost. Darum nennt Geiger das Buch programmatisch Laute Verse.
Darin sind 28 deutsche Lyriker mit je zwei Handvoll Gedichten vertreten und einer (oft detektivisch spannenden) eigenen Analyse eines ihrer Gedichte. Manchmal wird daraus auch eine spiegelbildliche kleine Prosa wie bei Ulrike Draesner. Wörter springen zwischen den Texten hin und her, werden einmal Poesie, einmal Poetologie. In einem herbstlichen „Hälfte des Lebens“-Gedicht von Jan Wagner leuchten die gelierten Quitten, Monika Rinck vertauscht Quitte mit Qualle, und Silke Scheuermann findet in der Qualle wie im Beziehungsproblem die „Fähigkeit hässlich und dennoch durchsichtig zu sein“.
Die Auswahl des Bandes beschränkt sich bewusst. Die junggebliebene ältere Generation von Sartorius über Krüger zu Böhmer mit ihrer gesättigten Wortaura hat dabei das Nachsehen. Und die junge Leipzigerin Ulrike Almut Sandig wurde (mit einigen Gefährten) wohl etwas fahrlässig am Wegrand vergessen. Das Lyrikvehikel wird aber hoffentlich beim Leser ankommen, ihm – wie Jan Wagners Frösche – das neue Codewort durchgeben und dann eine weitere Fuhre einsammeln.
Am 05. Mai 2009 im Literarisches Colloquium Berlin Buchvorstellung und Lesung von Nora Bossong, Lutz Seiler, Ulf Stolterfoht und Jan Wagner
Moderation: Thomas Geiger
EINFÜHRUNG
Thomas Geiger stellt die Anthologie Laute Verse vor.
LESUNG UND GESPRÄCH I
Jan Wagner erklärt die Bedeutung seiner Tätigkeit als Lyrikübersetzer und liest einige seiner Gedichte, die in Laute Verse enthalten sind.
LESUNG UND GESPRÄCH II
Ulf Stolterfoht sprich über sein „Fachsprachen“-Projekt und liest einige seiner lyrischen Beiträge, die in Laute Verse enthalten sind.
LESUNG UND GESPRÄCH III
Lutz Seiler kommentiert die Auswahl seiner Gedichte für die Anthologie und liest einige davon.
LESUNG UND GESPRÄCH IV
Nora Bossong spricht über den Unterschied zwischen dem Lyrik- und dem Prosaschreiben und liest einige ihrer Texte aus Laute Verse.
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