– Zu Thomas Klings Gedicht „thüringer ton 2“ aus Thomas Kling: nacht. sicht. gerät. –
THOMAS KLING
thüringer ton 2
geräderte, dennoch fortgenannte
tonspur: radspur-geächz ausm
mittelgrund; steineichn, das
alter märzlicher lindn wo über
meilen, rangezoomt, di wartburg
herangekarrt wird, ächzend, und
wie. LUDWIG DER SPRINGER WÜTET
SANDSTEIN INS FAX / PUTZMUNTERES
FIRMENSCHILDERLICHT. „chaussee-
haus, gestrichn, wilhelminische
ausspanne“, „ordnerleere (gestrichen),
verwichene czerni-etüdn, staketn-
zäune stark vermorscht“, ein
bienencontainer unweit des straßn-
verkehrs, dahingeparkter stock; di
einfluglöcher: anstrich mehr als
abgeblättert, da in der wüstung di
gutes wasser hieß, der bussard
stillhockt; in spähweite (richtun’)
BP-areal.
Thomas Kling war einer der ganz großen deutschen Dichter um die Jahrtausendwende, er begann als Sprachzertrümmerer und seine wilden lauten Auftritte sind berühmt berüchtigt – und Gott sei Dank auch aufgezeichnet und nachhörbar. Er ist im Rheinland aufgewachsen und verkehrte im Umfeld des Ratinger Hofs, dem Zentrum des Düsseldorfer Punks. Thomas Kling gehörte zu den zornigen jungen Männern seiner Generation. Sein 1996 erschienenes Gedicht „thüringer ton 2“ ist ein schönes Beispiel für die Poetik und die Zeitgenossenschaft Klings, bei der sich im Wort „Ton“ Geschichte und Geologie mit Sprache und Klang überlagern und verschränken. Für ihn, den Westdeutschen, ist das Thüringen nach der Wende ein ferner Ort, den er als Autofahrer durchquert und sich als historisch interessierter aneignet. „thüringer ton 2“ ist eine der „Sprach-Installationen“ Klings, in denen er die Geschichte einer Region vom Mittelalter bis in die Gegenwart einfängt und zum Gedicht verwandelt, Natur zur sprechenden Kulturlandschaft macht. In Thüringen wird „über / meilen, rangezoomt, di wartburg / herangekarrt“, ihr Erbauer „LUDWIG DER SPRINGER WÜTET / SANDSTEIN INS FAX“. Das Gedicht überbrückt die Kluft zwischen der Geschichtsschreibung, die etwas als Vergangenheit ablegt und den modernen Medien, die unsere heutige Wahrnehmung und Kommunikation prägen. „thüringer ton 2“ führt uns von den weitverbreiteten Bäumen einer Region („steineichn“, „märzliche lindn“) über eine Immobilienanzeige („chaussee- / haus, gestrichn, whilhelminische / ausspanne“) hin zum „BP-areal“ des internationalen Ölkonzerns British Petroleum. Zwischen diesen Stationen erzeugen Klings kurze Zeilen, in denen ineinander geschnittene Bilder vorbeirauschen, einen Sog, der die Leser tief zwischen die Sprach- und Zeitschichten schickt, sodass sie in Zukunft „ihre Wörter“ und ihre Landschaft genauer – und ein wenig anders betrachten.
Thomas Geiger / Vincent Sauer, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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