CD. DIE GEBRANNTE PERFORMANCE
Es gibt eine bedeutende, bekanntlich durch den Nationalsozialismus abgewürgte Tradition des literarischen Vortrags, an die man anschließen konnte und kann. Ich möchte nur vier prominente Namen des deutschsprachigen Raumes aufrufen: Für die Vorkriegszeit Karl Kraus; für die Rezitationskunst ab den 50er Jahren: Klaus Kinski. Hinzukommen, als Dichter, H.C. Artmann und der im Juni 2000 gestorbene, vom Jazz angeregte Ernst Jandl.
Allesamt einte diese von unterschiedlichsten Herkünften sich speisenden Sprecherpersönlichkeiten eines: das absolute Ernstnehmen dichterischer Sprache, das, in der Konsequenz, ein absolutes, lies: professionelles Ernstnehmen des Sprechens bedeutet. Wunderbare Rampensäue! Denn auch das muß klar sein, wir wollen hier nicht das knarrend-geschmeidige Burgtheaterdeutsch zurück; die geschriebene, wie die gesprochene Sprache müssen beide auch eine Spur Straßendreck unter den Nägeln haben. Unter zahlreichen anderen Kriterien muß das im Hörbuch, auf CD, rüberkommen. Es handelt sich um nichts weniger, als um den Geist der geschriebenen Sprache. Über Ton, Melodieführung, Rhythmizität, Stimm- und Schnittechnik und so fort kann an dieser Stelle nicht erschöpfend geredet werden. Nur dies: im Hörbuch – in der gebrannten Performance – trennt sich verdammt rasch die Spreu vom Weizen. Kurz und schmerzlos. Wer nicht „vorlesen“ kann, oder zu faul zum Üben ist – der soll den Mund halten, Schauspieler engagieren.
Die 90er (genauer: ab Mitte der 90er) haben bekanntlich ein neues Bewußtsein für den gut gelesenen (und besser geschriebenen) dichterischen Text gebracht – auf Leser/Hörer- wie auf Autoren- und Verlegerseite. Sonnenklar, das Hörbuch ist eine positive Erweiterung für alle Seiten, die es mit Literatur, mit Dichtung zu tun haben. Und es ist doch nicht schlecht, wenn es heißt:
Jetzt, wo ich Sie gehört habe, verstehe ich Ihre Texte viel besser!
Thomas Kling, 2001
UND
Die Komprimierung in die „Energie der Zeichen“, die Nietzsche so enthusiastisch in den Oden des Horaz begrüßt – „jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff“ –, dieses Zerlegen, um zu rekonstruieren, ist das brennstabmhafte der Sprache, von der ich rede.
Thomas Kling
Die Grammatik ist dazu da, um gebraucht zu werden, aber was sind zum Beispiel ihre Konjunktionen wert, sind sie wirklich im Sprachvorgang bloß dazu da, um zu verbinden, die Aussage, um die es geht (und um sonst nichts?), am Leben zu erhalten – eine Konjunktion wie:
UND
Thomas Kling strapazierte die Stimme, seine, nie nur zur Verstärkung von diesen Aussagen, die ja auch als diktierte erfahren werden können, sondern als gleichwertiges Instrument im Gesamtplan Gedicht – einer Partitur des geistig und körperlich Stimmigen, das, im Schreibenden und im Lesenden, also in ihm als Sprechenden, und in uns, als ihn Hörenden, ständig in Bewegung gebracht werden sollte:
Um die Bezüglichkeiten dessen herauszuarbeiten, was Sprache, Körper und Bedeutung im Zusammenspiel als erfahrendes Verstehen ausweisen könnten; deren Verknüpfungen und Verknotungen aufzurufen und vorzuzeigen – in Klings eigenwilligem Sprechen, das die Schrift nicht nur verlautete:
So kam es, dass in einer Lesung Thomas Klings während des steirischen Herbstes in Graz 2000 an unwirschen Stellen – weder Enjambement-verdächtig noch dramatisch unterlegungs- oder überhöhungsbedürftig – plötzlich, unverhohlen und unerwartet ein UND gebrüllt wurde, nicht (nur) um zu verbindende Inhalte und deren Wörter herauszustreichen, sondern (vor allem) um zu zeigen:
was Grammatik und Syntax für eine Kraft darstellen, die suggerieren kann, erheben und unterwerfen, ein Zeigen, das aber ohne deren wirklich in Augenschein genommene Partikel, Wörter eben, nicht möglich wäre:
Also zeigte es uns Kling, dass die „Stallwärme der Stimme“ (vgl. Ursula Andkjær Olsen, Schreibheft 78);
– wir danken es Heidegger, dass er vom Stall der Sprache spricht, als eine Art Heimat, na ja, der Stall, der ja auch, immerhin, im Begriff der Installation, der Sprachinstallation Klings anklingt –
dass also diese Stallwärme der Stimme, auch in ihrer Erhitzung durch den Rufer, etwas auslösen und vorführen kann: nämlich das Lösen von Knoten in uns, von dieser mächtigen Grammatik und Syntax geknüpft, die dennoch beibehalten, aber durch die Stimmlage in Schieflage, Höhenlage oder Unterlage gebracht wird:
in Lagen demnach, auf denen jene, die dieses UND sprechen, erfahren, was UND in ihrem Kontext bedeutet und mitbestimmt, UND: wie wir es selbst machen könnten, um frei oder bewusster zu werden
– also packen wir es an, sagen wir und rufen wir und schreien wir und flüstern wir:
UND und uu nn ddd
– bis es so weit ist, dass es STIMMT!
So erlebte ich damals und immer wieder bei Lesungen von Thomas Kling auch die Verwirklichung dessen, was Jakobson seiner Abhandlung über die „Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie“ als Motto vorausgeschickt hat, nämlich ein Zitat von Mandelstam:
„Und die Verb-Endungen winken uns in der Ferne den Weg“:
Diesen Weg des Erkennens von scheinbar nebensächlichen Elementen der Sprache, unter anderen, das ist klar, hat Thomas Kling damals und immer wieder in seinen Lesungen gezeichnet, gelegt, er hat dabei keine Spur angedeutet, sondern eine Furche des UND geschnitten, die nicht sofort im Wort- und Satzbau-Gedächtnis des Sprechers und der Hörenden balsamiert werden konnte:
dass es nur so gegenwärtig wurde, das UND und alles, also er und wir mit ihm, denn die Gegenwart war UND ist UND wird ein Beben sein UND, sage ich, sie wird auch nicht sein, UND vielleicht auch still, was ja der Schrei auch ist… ODER
Ferdinand Schmatz, 2014
– Auftritt: Thomas Kling. –
menschen gedenken eines menschen.
herz – brennendes archiv!
es ist erinnerung der engel;
erinnerung an alte gaben.
die formel tod, die überfahrt –
die wir zu übersetzen haben.
Thomas Kling, 1997
Wer die Auftritte Thomas Klings nur vom Hörensagen kennt, der muss das Gefühl haben, ihm sei Großes entgangen: „Legendär“ seien sie gewesen, „grandios“ die Wirkung des Vortrags und die Präsenz des Dichters – so die Erinnerung von Zeitzeugen.
Diese Lücke wird unsere „gebrannte Performance“ nicht schließen – im Gegenteil: Wer sie anhört, wird womöglich erst recht eine Ahnung davon bekommen, wie eindrucksvoll das Live-Erlebnis eines Kling-Auftritts gewesen sein muss. Denn Thomas Kling war ein Bühnenmensch, einer, dem der lebendige Vortrag seiner Texte vor Publikum nicht nur selbstverständlicher Teil seiner dichterischen Arbeit war, sondern eine „hochwichtige Angelegenheit“ .
Nachvollziehen ließ sich das bisher kaum. Mitschnitte von Hörfunksendern verschwanden, einmal gesendet, in den Archiven; die frühe Publikation eines Auftritts von Thomas Kling und Frank Köllges aus den 1980er Jahren, in kleiner Auflage als Tonkassette erschienen, ist längst vergriffen; das mit dem Musiker Jörg Ritzenhoff produzierte und auf CD veröffentlichte Hörstück TIROLTYROL sowie die den späten Gedichtbänden Fernhandel (1999) und Sondagen (2002) beigelegten CDs mit Lesungen sind Studioproduktionen – es fehlt die den Performer hörbar inspirierende Anwesenheit eines Publikums.
Mit bewusstem Einsatz von Körper und Stimme und einer erhöhten Geistesgegenwart, die es ihm erlaubte, spontan auf sein Publikum zu reagieren, trat Thomas Kling den didaktischen, „sackartig schlackernden“ Auftrittsformen deutschsprachiger Poesie der 1970er Jahre entgegen. Aber auch von der multimedial ausstaffierten Performance, die später zunehmend in Mode kam, wollte er nichts wissen: „ohne requisiten und mätzchen“, gewissermaßen unplugged solle der Dichter auftreten, mit seiner Sprache, der geschriebenen wie der gesprochenen, als seinem Universalinstrument.
Die Sprache, so Klings Überzeugung, ist nämlich der (Hall-)Raum, den der Dichter forschend durchreisen muss, durch all ihre Schichten, Felder und Idiome hindurch, um Nachrichten von diesem „unerhörten“ Reichtum überbringen zu können – wie seinerzeit der Histrione, der Dichtersänger, in dessen Tradition Kling sich begriff. Der einzige Musiker, mit dem er deshalb bis zum Schluss immer wieder gemeinsam auftrat, war der Schlagzeuger Frank Köllges – ein artverwandter, kongenialer Abkömmling jenes „fahrenden Gesindels“. Beide hatten seit Mitte der 80er Jahre eine Auftrittsform entwickelt, die Kling „Sprachinstallation“ nannte: „Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten“.
Wer unsere Auswahl aufmerksam durchhört, wird auch in Klings Vortrag Schwankungen wahrnehmen. Je nach Publikum, je nach Raum, nach Zeit, nach Stimmung ändern sich Tonlage, Modulation und Tempo. Mag sein, dass sich dem einen oder anderen über das Hören die Gedichte Klings leichter – auch in ihrer Schriftform – erschließen. Mag sein, dass mancher einen Eindruck zu bekommen glaubt, was der Dichter selbst hörte, als er seine Texte schrieb. Aber das geschriebene und das gesprochene Gedicht ergänzen einander nicht, sie stehen gleichgewichtig nebeneinander.
Unsere Auswahl aus insgesamt 80 Stunden O-Ton-Material macht die prägnantesten Lesungen Thomas Klings aus den 1980er und 90er Jahren wieder hörbar, außerdem zwei Gespräche, wobei es sich beim zweiten, im Jahr vor Klings Tod aufgenommen, um eine Art Vermächtnis handelt. Alle wichtigen Texte Klings über seine Auftritte und den Vortrag von Texten, ergänzt um Fotos und Erinnerungen von Schriftsteller-Freunden, versammelt das Begleitbuch.
Für Rat und Tat danken wir Marcel Beyer und Ute Langanky.
Ulrike Janssen/Norbert Wehr, Vorwort, März 2015
setzt die typischen Kräfte einer Kling-Lesung wieder frei.
Der Auftritt vor Publikum war für Thomas Kling eine „hochwichtige Angelegenheit“, und drei Faktoren waren dabei entscheidend. Zuerst die Bühne: gutes Licht, ein Tisch, ein Stuhl, ein Mikro. Dann der Vortrag: „1. Kein Genuschel bitte. 2. Didaktik hat weder im Gedicht noch auf der Bühne etwas verloren. Also: bitte keine autoexegetischen Turnübungen. 3. Bittebitte keine Mätzchen (keine Performance) mehr! Und 4. siehe 1.: Kein Genuschel bitte.“ Und schließlich das Publikum: „Ein konzentriertes Publikum ist enorm wichtig. Dann wird man auch gut auf der Bühne. Es setzt noch einmal alle Kräfte frei …“ Für alle, die Thomas Kling verpasst haben, und alle, die ihn wieder erleben wollen, wird seine lebendige Wortmacht erfahrbar: auf vier CDs mit den prägnantesten Lesungen aus den 1980er und 90er Jahren sowie zwei Gesprächen.
Lilienfeld Verlag, Ankündigung
– Seine Lyrik ist ein gewaltiges Schall- und Bildarchiv. Nun kann man, wie der am 1. April 2005 gestorbene Thomas Kling mit Sprache umgeht, in einer aufregenden Höredition erleben. –
Wenn es um den Vortrag ging, verstand Thomas Kling keinen Spaß. In einem kleinen Essay schrieb er es allen dichtenden Zeitgenossen ins Notizbuch: Bloß keine „hingehuschten“ Sätze! Nichts war ihm ferner als die übliche Wasserglaslesung. „Piepsig und verdruckst“, nannte er das, „von peinigender Langeweile“ oder schlicht „eine Frechheit“. Kling erfand sich lieber seine eigene Idee:
Ich bezeichnete das, was ich unter Lesung verstand, schon früh als Sprachinstallation; auf einem copyzierten flyer taucht das Wort 1986 in Vaasa/Westfinnland auf, wo ich eine Zeitlang lebte und ein paar Auftritte hatte; Sprachinstallation, gleich dreisprachig, Schwedisch und Finnisch kamen dazu.
Thomas Kling war ein Dichter, für den die Arbeit an der Sprache, die Lust am Sprachmaterial zum eigentlichen Geschäft des Schreibens gehörte. Arbeit an der Sprache: Das heißt auch Feilen am Rhythmus, Feilen am Klang, vor allem aber an all den Jargons, Dialekten, Fachsprachen und Tönen, die man für das Gedicht wieder und wieder entdecken muss. Und in gleichem Maße führt es zurück zu dem, was man die oralen, präskripturalen Wurzeln der Lyrik nennen kann, zu ihrer Mündlichkeit und zu ihren darstellerischen Möglichkeiten. Obgleich der Begriff „Performance“ Thomas Kling bei seinen ersten Auftritten zu Beginn der 80er-Jahre schon nicht mehr brauchbar erschien, zu ausgefranst war er ihm, zu sehr geprägt auch von den „Aktionen“ der Wiener Gruppe um Konrad Bayer und Oswald Wiener, die es vorzogen, mal schnell ein Klavier vor dem Publikum zu zertrümmern, anstatt ihre Texte vorzutragen. Dann schon lieber: Sprachinstallation.
Die Entertainerqualitäten scheinen ihm von Beginn an nah gewesen zu sein. Auf einer Fotografie kann man sehen, wie er schon als Zwölfjähriger auf der Bühne stand und in Rollkragenpulli und Hochwasserhosen Theater spielte. Geboren wurde Thomas Kling 1957 in Bingen, er wuchs in Hilden auf und ging in Düsseldorf zur Schule, in einer „a-kulturellen Umgebung“, wie er immer wieder betonte. Gleichwohl stammte er aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt, mit dem geliebten Großvater als eigentlichem Lehrer, einem promovierten Historiker, der ihn, den „Allesfresser“ von Comics und Karl-May-Romanen, nicht nur mit Wissen über die Geschichte, sondern auch mit erster „richtiger Literatur“ versorgte. Der Menschheitsdämmerung zum Beispiel, jener Sammlung von Gedichten, die man später als „expressionistisch“ bezeichnete.
All dem kann man jetzt in einer Hörbuchedition nachtasten, die zum zehnten Jahrestag von Thomas Klings Tod erschienen ist. Auf vier CDs haben die beiden Herausgeber Ulrike Janssen und Norbert Wehr Mitschnitte von Lesungen Klings versammelt, die von einem Auftritt in der Stadtbibliothek Lüdenscheid 1984 über Sprachkonzerte im Rundfunk bis zum Bremer Poesiefestival Poetry on the road 2001 reichen. Dazu gibt es zwei großartige Gespräche zu entdecken, die bis jetzt nur in gedruckter Form zugänglich waren. Ein Interview mit der Autorin Gabriele Weingartner, in dem Kling – eine Seltenheit! – Einblicke in seine Kindheit gewährt. Und ein zweites mit dem Lektor und Übersetzer Hans Jürgen Balmes, das Kling, schon deutlich vom Lungenkrebs gezeichnet, als einfühlsamen Poetologen zeigt – und das tief in die Hintergrundschichten seiner Texte führt.
Wer mit Thomas Kling ins Gedicht geht, der taucht ein in ein gewaltiges Schall- und Bildarchiv. Hier kann man hören und sehen lernen, was die Kreidezeit uns an Nachrichten hinterlassen hat, hier kann man in der Sagenwelt Beowulfs Halt machen oder dem Zirpen der Falken lauschen, hier kann man Bilder des Barock bewundern und die ausgebrannten Schützengräben von Verdun wie in einem Film aufflackern sehen. Mit genauem Ohr und scharf gestelltem Blick tastet Thomas Kling die Gegenstände ab, entziffert Schriftreste aus verschiedenen Zeiten und Weltgegenden oder zeigt uns flimmernde Monitore.
Schallarchiv, Bildarchiv: Das meint zuallererst ein Gefüge aus Sprachstoffen und Rhythmen, die so eigen getönt sind, dass man ein Kling-Gedicht schon nach den ersten Takten erkennt. Es ist oft beschrieben worden, jenes Idiom, das mit phonetischer Schreibung arbeitet, mit Synkopen und Einsprengseln aus Dialekten und Fachbegriffen. Dazu findet man Techniken, die sich an die Verfahren des Films und anderer Aufzeichnungssysteme anlehnen: harte Schnitte und Gegenschnitte, Mehrfachbelichtungen, Schwenks und langsame Kamerafahrten. All die haarfeinen Spuren der Augen, Ohren und Zungen in diesen Gedichten haben es mit einer sehr genauen Form zu tun. Und über das inszenierte Sensorium ruft Thomas Kling auf, was er einmal das „Wahrnehmungsinstrument Gedicht“ genannt hat.
Es ist spannend zu hören, dass Kling trotz dieser Liebe zu medialen Spurenelementen bei seinen Lesungen auf jeden technischen Schnickschnack verzichtete und ganz auf die eigene Stimme setzte. Keine Sphärenmusik, keine synthetische Aura, allenfalls ein Piano oder ein „Alleinunterhalterörgelchen“ tauchen einmal auf. Noch entscheidender aber ist: Anders als in den tatsächlichen Archiven sind es keine staubigen Materialien, auf die der Leser oder Hörer stößt. Der Dichter müsse „die alten Wortschichten miteinander zum Glimmen bringen“, sagt Kling im „letzten Gespräch“ mit Hans Jürgen Balmes. Das Aufglühen und Aufglimmen verdanke sich dem poetischen Moment, dem „Metaphernmoment“, der es einem gleichsam erlaube, „dass man in den Berg hineinschauen kann“.
Und Bergwelten gibt es häufig unter Klings glimmenden Stoffen. Dazu gehören der Niederjochferner in den Ötztaler Alpen, auch Similaungletscher genannt, die „Mergelgrube“ der Annette von Droste-Hülshoff oder das „lawinenlicht“ Tirols. Kling war ein begeisterter Erforscher solcher realer wie imaginärer Gegenden. Im Gestein vereinten sich für ihn beispielhaft die drei Hauptstränge seines poetischen Interesses: Erdschichten, Lebensschichten und historische Schichten. Immer gefasst als Sprachschichten, die er für seine Gedichte abtrug. Und die er im Vortrag miteinander reagieren ließ. In einer Lesung des Zyklus „TIROLTYROL“ aus dem Jahr 1993 erprobt er alle Register, flüstert und schreit, beschleunigt die Verse und bremst sie wieder ab, um am Ende Amtsdeutsch und Tirolerisch in einem „geschnetzelten Idyll“ zu verschränken. Trotzdem wirkt seine Stimme hier seltsam distanziert, auch ein wenig selbstverliebt, als wolle er Menschen und Dinge, mal ironisch, mal kraftmeiernd, auf Abstand halten.
Viel anziehender war Thomas Kling, wenn er gemeinsam mit dem befreundeten Schlagzeuger Frank Köllges auftrat. Mit Köllges inszenierte er Texte aus den 80ern wie die berühmten Gedichte über den „Ratinger Hof“, das geheime Zentrum der Düsseldorfer Szene jener Zeit. Vorlaute Zwischenrufe wusste er gut zu kontern:
Hast du da noch immer Hausverbot?
Aber auch die klassischen Autorentreffen bestritten die beiden Freunde. Eine der intensivsten Lesungen gilt dem fünfteiligen Zyklus „Actaeon“ aus dem Band Fernhandel von 1999. Wie Kling da mit der Stimme Spannung erzeugt, ohne doch je in Kitsch abzurutschen:
die luft voller späne, wie späte loops aus der antike
Während Köllges mit dem Jazzbesen auf den Trommelrand klopft oder mit Metallblättern Töne hervorruft, als hinge das Geräusch einer Säge in der Luft – das ist eine Kunst für sich.
Das Fading, die Wellengeräusche der sich überlagernden historischen Schichten, war Kling bis zuletzt wichtig. Nur dass sich der Blick von der äußeren in die innere Landschaft verlagerte. „Es sind langsame Kamerafahrten durchs Innere, durch die innere Raumstruktur“, sagt Kling im „letzten Gespräch“ über die späten Gedichte aus dem Band Auswertung der Flugdaten. Die Bildwelt der Gletscher, Moränen und Hänge verwandelt sich nun in eine Metaphorik des Bergwerks, mit der Kling den eigenen, von der Krankheit angegriffenen Körper durchleuchtet. Sein „Gesang von der Bronchoskopie“ verbindet romantische Sprachspeicher mit dem Vokabular der Krankenhausrituale und mit Dialektsplittern:
als heckenpennes im krankehus:
mit sechs mann hoch, op bahre,
in eine reihe: jong –
So war dat aber
bestemmp! Schwester!
Häär Dokteer!
Thomas Kling ruft in diesem Zyklus mit H.C. Artmann und Ezra Pound nicht nur zwei Traditionen auf, die er in seiner ganz eigenen Art fortzuschreiben suchte. Im Schlussgedicht des Zyklus macht er auch klar, welche Bedeutung das Gedicht für ihn hatte, und welche Rolle er seinem Verfasser zumaß. Wie in einem Inhalator wird hier ein flatterndes „atemtelegramm“ in die Luft entlassen. Eine „salzbarke, die in see sticht“, um sich sofort aufzulösen. Doch so flüchtig dieses „wölkchen“ aus Salz auch sein mag – seine Wirkung könnte größer kaum sein:
atemmail, wie metal aim
gezähnte lüfte. so lautet inhalt, kurz hall-mail,
so inhaliert uns der dichter.
– Vor zehn Jahren starb der Dichter Thomas Kling. Eine Edition erinnert an den einzigartigen Vortragskünstler. –
Er selbst hat es 1992 so formuliert:
seine ganze konzentration gilt einzig dem auswendig-gesprochenen bzw. abzulesenden text – der ist nun seine partitur.
Mit dieser inneren Haltung gestaltete Thomas Kling seine Gedichtlesungen und machte sie dadurch zum Ereignis. Denn der 1957 geborene Lyriker nuschelte mitnichten introvertiert seine Verse vor sich hin oder stotterte leise seine Reime vor andächtig einschlafendem Publikum. Nein, Partiturgebrauch, das bedeutete für Kling den ausdrucksvollen Einsatz seiner Stimme bei einem fesselnden Vortrag: präzise und deutlich, mit durchdachten Tempo- und Lautstärkevarianzen, vom Flüstern bis zum Brüllen, jede Sekunde durchchoreografiert, aber durchaus mit Raum für die spontane Eingebung – wie ein professioneller Schauspieler, nur genauer, besser, klüger. So wurde er nach seinen ersten, viele noch irritierenden Auftritten Mitte der achtziger Jahre vom Geheimtipp zur Legende unter Deutschlands Dichtern. „Es war, als hätte ein kräftiger Raucherhusten Einzug gehalten in die wohlbehütete Kleinkunst der Gegenwartspoesie“: So erlebte ihn Durs Grünbein. Im Alter von 47 Jahren starb Kling 2005 an Lungenkrebs.
Jetzt erscheint zu seinem zehnten Todestag eine Hör-Edition, die den Meister des Bühnenauftritts in Aufnahmen zwischen 1984 und 2001 präsentiert, dazu zwei Interviews, das letzte mit schon schwer gezeichneter Stimme aus dem Jahr 2004. Es ist eine Großtat der Herausgeber Ulrike Janssen und Norbert Wehr, die aus 80 Stunden O-Ton-Material, seien es Rundfunkaufzeichnungen oder private Kassettenaufnahmen, markante Beispiele herausgesucht haben, darunter auch einen grandiosen Auftritt mit dem Schlagzeuger Frank Köllges 1988 in Köln vor begeistertem Publikum.
Das Überraschende an diesen Aufnahmen ist zunächst immer noch der typische Kling-Mix: Das Vokabular des klassischen Bildungsguts wird kontrastiert mit Jargon und Dialekten, Hohes mit Niedrigem, antike Verse mit Zeitungsnotizen – die diversen Sprachstile sind für den eminent gebildeten Dichter nur Material für den allergenauesten Ausdruck. So tauchen schon mal in seiner Catull-Adaption die „thessalischen Kids“ auf. Und es klingt stimmig, gar nicht gewollt.
„Seine Texte waren graphischer Gesang und Wahrnehmungsaggregat, gemixt von einem orphischen DJ“, so hat es Aris Fioretos einmal beschrieben. Ziemlich genau kann man das anhand jener drei Gedichte nachvollziehen, die Thomas Kling nach einer Russlandreise 1991 schrieb und die er ein Jahr später im Berliner Literarischen Kolloquium vortrug: „russischer digest 1“, „russischer digest 2“ sowie „zweite petersburger hängung“. Es sind die akustischen Bilder eines chaotischen Landes im Umbruch, wild schaltet Kling hier seine russischen Eindrücke zu einem Konzert zusammen, öffentliche Debatten, Weltkriegsveteranen, Stalin, Kant und Huren und vieles andere, alles derart präzise verdreht („restaurantkatze – miliz, miliz, miliz“), dass ein Daniil Charms seine Freude gehabt hätte. Diese drei Gedichte schauen genauer hin, als es die allermeisten Reisereportagen tun.
Kling selber hat sich immer vom abgegriffenen Begriff Performance für seine Auftritte distanziert; er nannte das, was er da auf der Bühne trieb, Sprachinstallation.
In den Texten und Interviews des Begleitbandes entsteht das Bild dieses in Düsseldorf aufgewachsenen Dichters, der prägende Jahre während seines Studiums in Wien verbracht und dort die großen Rezitatoren H.C. Artmann und Ernst Jandl erlebt hatte. Man staunt über die Präzision, mit der Thomas Kling auch sein poetologisches Programm formulieren konnte:
Die geschriebene wie die gesprochene Sprache müssen beide auch eine Spur Straßendreck unter den Nägeln haben.
Kristoffer Cornils: Den Toten erleben
fixpoetry.com, 17.6.2015
RADIOPHONEME
(für Thomas Kling)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSprichst
Ohm, in Ohm (vier) über Ahn-
ungen, O-Ton: Kontemplation;
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(Schein)
widerstand man deinem Kreis?
Vielleicht
Nennimpedanz, vielleicht (ein)
Laut;
aaaaaaaaaaaaaaaaaa& Rausch ein
Strom. Hell/heilig, Kabel ein
Signalquell: Welle: Schall: du
also sprichst, leise über Ahnen
(Lungen ach, so heiser)
Wahrnehmungen, über Äther
Wörter (Heinrich Hertz z.B.)
& Herzverzerrungen bis zu
BASS BOOST,
Herr, & klingst (in Mono), du
klingst (die Monodie so
irdisch)
klingst du nach so Resonanzen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(Rhein)
& Rauschen
täuschend, echter Rauch/Ohn-
mächtig schwacher Speicher –
Ohr – & sprichst in Zungen zu
& zusprichst deiner Stimme
eine Stimme (Schrei, vielleicht)
& die zerfällt & hält & strahlt
in
Funken (Engel) rund & endlich
stumm.
Mara Genschel
Unter dem Titel „New York. State of Mind“ richtete der Autor Marcel Beyer auf Einladung von Professorin Dr. Kerstin Stüssel einen Abend zu Thomas Kling aus. Die Lesung/Performance fand statt im Universitätsmuseum, wo parallel eine Ausstellung zu Thomas Klings Werk gezeigt wurde, welche Studierende der Germanistik erarbeitet hatten.
Marcel Beyer und Frieder von Ammon im Gespräch über den Lyriker und Essayisten Thomas Kling.
Hubert Winkels: Die zwei Körper des Dichters. Am Beispiel Thomas Klings und Peter Handkes zeigt sich die Art, wie Schriftsteller sich selbst unsterblich machen wollen.
„Am Anfang war die ‚Menschheitsdämmerung‘“. Interview mit Thomas Kling.
„Ein schnelles Summen‟. Interview mit Thomas Kling.
„Gegen die Lehrer-Lempelhaftigkeit‟. Interview mit Thomas Kling.
„Augensprache, Sprachsehen‟. Interview mit Thomas Kling.
Thomas Kling VideoClip. Der junge Thomas Kling äußert sich zur Literatur und liest Oh Nacht [aus der aspekte-Produktion 1989, gefunden im VPRO Dode Dichters Almanak]
Detlev F. Neufert: Thomas Kling – brennstabm&rauchmelder. Ein Dichter aus Deutschland
Julia Schröder: gedicht ist nun einmal: schädelmagie
Stuttgarter Zeitung, 4.4.2005
Thomas Steinfeld: Das Ohr bis an den Rand gefüllt
Süddeutsche Zeitung, 4.4.2005
Jürgen Verdofsky: Unablenkbar
Tages-Anzeiger, 4.4.2005
Norbert Hummelt: Erinnerung an Thomas Kling
Castrum Peregrini, Heft 268–269, 2005
Hubert Winkels: Sprechberserker
Süddeutsche Zeitung, 30.3.2015
Tobias Lehmkuhl: Palimpsest mit Pi
Süddeutsche Zeitung, 30.3.2015
Theo Breuer: „Auswertung der Flugdaten“
fixpoetry.com, 31.3.2015
Tom Schulz: Dichter auf der Raketenstation
Neue Zürcher Zeitung, 13.4.2015
Vertonte Faxabsage zur Vertonung seiner Werke zur Expo 2000 von Thomas Kling.
Thomas Kling liest „ratinger hof, zettbeh (3)“
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