BERLIN. TAGESVISUM
für andreas f. kelletat
akkurat drei lettern
akkurat drei lettern an einem drei-
zehnten, am himmelblauen heinrichstag
im 12. monat, lies heinrich dezember (,wir
halten das pulver, unsern pulli, trockn‘);
akkurat von akkurat
zwo grenzfüßn in pulver
schnee getreten, die drei
im übergang im über-
gang heinrich heine strasse wo
wir, kreuzbein bei prenzelbein, saßn
den wartefrost tratn und sahn, daß
berg bei berg stand
akkurat (wie wir)
und impressionen in uns fraßn
oder Die Vermeerung der Sprache bei Thomas Kling
Meer ist gleich Mehr (Überflutung), manche dieser Gedichte hätte ich selbst gerne geschrieben. Da hagelt es in Posterformat gegen die Stirn: ein kreischendes Grün, ein Dschungelgezeter, im zustechenden Schneeregen, eine Scherenschnittkindheit (gedellt), Saufeder am Kragenaufschlag (umwittert, umkohlt), ein Lichtzerhacker, ein Hirnstrudel. Dieser hinreiszende Argot, dieser den Atem verschlagende GLAMOUR-DRIVE, diese Tattoos des Thomas Kling!, diese Eternitstirnen, Lichtbegängnisse, Dezibelschübe, Limogläser, Schiebermützen, Infarktlippen!, diese zerschrammten Wortmarkierungen, diese türkischen Schlehengegen!: so dasz die Ketchupwunde am Schläfenbein platzt und wir als getroffen Betroffene, als Gezeichnete fortan uns ausweisen können.
Friederike Mayröcker, 1985
Momentaufnahmen werden scheinbar zusammenhanglos synchrongeschaltet, dabei die Wahrnehmung auf Randbereiche gelenkt bzw. diese Ränder fokussiert. In „Geschrebertes Idyll“ (geschmacksverstärker, S. 33/34) bildet eine Gartenparty, bei der zunächst „unerbittlich / urlaubsdias durchgejagt wurden, die Folie, auf der die Privatphantasmen („mit kettschuppfingern mit / karacho in irgendeinen feuchten neilon- / slip“), Kriegskameradennostalgie („rührseligkeitn! männertreu! mein lieber herr gesanxverein“) und Spießerallüren sich zuletzt zu einem Kollektivbesäufnis steigern: „da draußen weiter horrorvideo; g / gröhltes faßbier undundund, wildschwäne- rausch / aus allermund, dem schwulenwitzchen folgen (…) WER / HAT DAS GHETTO BOMBARDIERT?“, das dann allerdings nicht unamüsant wieder auseinander geht: „vor schluß die / stachelbeeren vorgereihert, (,irgendzwie / nach haus geeiert…‘)“.
Trotz dieser Sichtbarmachung latenter privater und öffentlicher Faschismen handelt es sich hier nicht primär um politische Gedichte im Sinne deutlicher Denunziation, auch wenn der Autor nicht vor Polemik oder klaren Positionen zurückschreckt. Beklemmender wirkt da jedenfalls jener globale Sarkasmus, mit dem der Lyriker einer aus den Fugen geratenen, widersinnigen Welt gegenübertritt: „UNSRE BELIEBTE KONVENTION / ELLE NAPALM- OPERETTE! INCLUDING / VÖLKERJACKPOT! / (,dochdoch, ganze arbeit‘).“
In demselben Gedicht („direktleitung“, S. 37–38) spricht sich Kling gegen die „dichterzombies“ aus: „rührendrührendrührend pflatscht / lehmanscher kompott in rilkes einmachgläser (…) schönge / strähntes sprachelchen im geibel-quast“. Namen (nicht nur) der deutschen Literatur figurieren, positiv oder negativ konnotiert, neben Zeitungsmeldungen und Gesprächsfetzen: grundsätzlich ist alles zitierfähig, dann wird es kräftig durchgeschüttelt und rhythmisiert, herauskommt „unser sprachfraß echt junkfood, echt / verderbliche Ware“ (S. 9).
Daß diese Gedichte, wie kaum etwas in diesem Jahrzehnt Gelesenes die Sprache der 80er, bald 90er sprechen, verdankt sich neben einem offensichtlich bewegten, an Erlebnissen reichen Leben einer äußersten Wachsamkeit der Sprache gegenüber, so wie einem genauen, sezierenden Blick auf die Wirklichkeit. Kurzweil kommt leicht in den Ruch von Trivialität, doch diese Gedichte setzen auch eine Unmenge an kulturellem und geistesgeschichtlichem Wissen voraus. Kling hat mit seinen beiden Bänden bewiesen, daß man sich nicht nur einer literarischen Tradition einverschrieben erklären, sondern diese sogar auf imponierende Weise fortschreiben kann.
Manfred Ratzenböck, Konzepte
Andreas F. Kelletat: Die Verklappung der Welt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1986
Dieter M. Gräf: Thomas Kling, „Erprobung herzstärkender Mittel“
Litfass, Heft 46, 1989
war ein heller, wacher, Junge mit blondem Haar, das er mit einem Ruck nach hinten war – eine Geste, die er wohl lange beibehalten hat.
Die Augen leuchteten schon damals. Und er lachte schnell. Ein Jahr vor seinem Tod erzählte er mir noch Späße und Unvergeßlichkeiten aus dem Kunstunterricht, die ich mir geleistet haben. Ich wusste nichts mehr davon.
Er war prüfend in allem, was er tat und sagte, sehr lebendig und direkt. Was er sonst tat, habe ich nicht verfolgt.
Hörte manchmal seiner besorgten Mutter zu, die in die Schule kam, die Lehrer zu bitten, ihren Sohn zu verstehen und seine Sprunghaftigkeit nicht übel zu nehmen.
Er wollte Dichter werden!
Er sagte es sehr entschieden und leidenschaftlich. Und seine Augen – ich sagte es schon – leuchteten, soll heißen, er riß sie weit auf beim Sprechen, so, als sollten sie den Gedanken Nachdruck verleihen.
Jahre später – er studierte – traf ich ihn auf der Königs-Allee. Im langen, leichten Mantel, der so wehte wie seine Haare, kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, stach ab von all dem modisch-eitlen Volk, das seine Klamotten spazieren führte: Kling, der Dichter!
Niemand konnte seine Texte besser sprechen als er selbst. Suggestiv. Er las in einer großen Werkshalle. Die Akustik war schlecht. Ich rief ihm zu: „Thomas, bitte lauter.“ Er rief zurück: „Nein, Herr K., Sie bitte leiser!“
Bei Freunden sah ich ihn zum letzten Mal. Wieder die Erinnerungen, die schnellen Gedanken, die Zigarette, eine nach der anderen. Er war schmal, fast dünn geworden und machte lustige Sprünge auf der Straße, als wir uns verabschiedeten.
Die Tiefe, den Reichtum seiner Kunst begreife ich erst, seit ich nach seinem Tod begonnen habe, ihn zu lesen. Das heitere Jugendbild ist einem Zeitgenossen gewichen, der uns die Verantwortung für die Sprache, für unsere Sprache, zur Auflage gemacht hat.
Unvergeßlich.
Hans Walter Kivelitz, April 2007
ALP, ZU THOMAS KLING
steigeistern etwa – so bist angeturnt;
unstet die höhenmetrik im kletterbeat,
also auch bock- und rocksprünge;
kopfüber schafs- und wolkenwollen,
als künstlich uns beatmen schufst.
selbst warst hammelleiter, halsbrecherisch
und gipfelstürmisch, hochriskant starbeamend
verliesst uns durch freaklettern,
highlighter bis zum asterisk.
was für eine zitter- und zitierpartie,
nicht fell-, noch felsenfest,
doch frei- und auch hallsprecherisch
überm gewimmel, den tal- und trugschlüssen
im omenschlamm.
wir aber biwaken noch bei brandherden
unterm zelthimmel; uns nächtlich entgeisternd
zwiebacken, nämlich finsterlinks
im rammel-, längst auch im gammelfleisch.
Franz Josef Czernin
Unter dem Titel „New York. State of Mind“ richtete der Autor Marcel Beyer auf Einladung von Professorin Dr. Kerstin Stüssel einen Abend zu Thomas Kling aus. Die Lesung/Performance fand statt im Universitätsmuseum, wo parallel eine Ausstellung zu Thomas Klings Werk gezeigt wurde, welche Studierende der Germanistik erarbeitet hatten.
Marcel Beyer und Frieder von Ammon im Gespräch über den Lyriker und Essayisten Thomas Kling.
Hubert Winkels: Die zwei Körper des Dichters. Am Beispiel Thomas Klings und Peter Handkes zeigt sich die Art, wie Schriftsteller sich selbst unsterblich machen wollen.
„Am Anfang war die ‚Menschheitsdämmerung‘“. Interview mit Thomas Kling.
„Ein schnelles Summen‟. Interview mit Thomas Kling.
„Gegen die Lehrer-Lempelhaftigkeit‟. Interview mit Thomas Kling.
„Augensprache, Sprachsehen‟. Interview mit Thomas Kling.
Thomas Kling VideoClip. Der junge Thomas Kling äußert sich zur Literatur und liest Oh Nacht [aus der aspekte-Produktion 1989, gefunden im VPRO Dode Dichters Almanak]
Detlev F. Neufert: Thomas Kling – brennstabm&rauchmelder. Ein Dichter aus Deutschland
Julia Schröder: gedicht ist nun einmal: schädelmagie
Stuttgarter Zeitung, 4.4.2005
Thomas Steinfeld: Das Ohr bis an den Rand gefüllt
Süddeutsche Zeitung, 4.4.2005
Jürgen Verdofsky: Unablenkbar
Tages-Anzeiger, 4.4.2005
Norbert Hummelt: Erinnerung an Thomas Kling
Castrum Peregrini, Heft 268–269, 2005
Hubert Winkels: Sprechberserker
Süddeutsche Zeitung, 30.3.2015
Tobias Lehmkuhl: Palimpsest mit Pi
Süddeutsche Zeitung, 30.3.2015
Theo Breuer: „Auswertung der Flugdaten“
fixpoetry.com, 31.3.2015
Tom Schulz: Dichter auf der Raketenstation
Neue Zürcher Zeitung, 13.4.2015
Vertonte Faxabsage zur Vertonung seiner Werke zur Expo 2000 von Thomas Kling.
Thomas Kling liest „ratinger hof, zettbeh (3)“
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