– Zu Salvatore Quasimodos Gedicht „Die Toten“. –
SALVATORE QUASIMODO
Die Toten / I morti
Mir schien, daß sich auftaten stimmen,
daß lippen nach wasser begehrten,
daß hände zum himmel sich reckten.
Was für himmel! Weißer als die toten
Die leise mich immer wecken;
Mit nackten füßen schaffen sie’s nicht weit.
Gazellen soffen aus den quellen;
durchsuchte wind die wacholder,
und zweige erhoben die sterne?
I
Ein Gedicht ist ein verknapptes Gebilde aus Sprache, dem das Ungesicherte, das Frag-Würdige allein als gesichert gilt. Jedes Gedicht verhandelt sein geistesgegenwärtiges „mir schien“, ist gewissermaßen Zeugenaussage, und somit vage – ein nichtlineares Produkt. Das Gedicht wäre also zunächst Beobachtung eines Ohrenzeugen? Aussage eines Augenzeugen? Eines Mitsehers und Mithörers von Welt? Es handelt sich um nichts weniger als um einen konzeptuellen, formatmäßig kleinen Erinnerungsmacher. Das Wahrnehmungsinstrument Gedicht scheint ein hochkomplex-sinnliches, intelligentes, abstrahlendes Sprachding zur Vergegenwärtigung zu sein; ein nicht kaputtzukriegender anthropogener Tast-Apparat.
Ich las und übersetze und lese ein Gedicht des 20. Jahrhunderts aus dem Italienischen. Salvatore Quasimodo hat es geschrieben. Es heißt „I morti“.
Die Toten / I morti
Mir schien, daß sich auftaten stimmen,
daß lippen nach wasser begehrten,
daß bände zum himmel sich reckten.
Was für himmel! Weißer als die toten
Die leise mich immer wecken;
Mit nackten füßen schaffen sie’s nicht weit.
Gazellen soffen aus den quellen;
durchsuchte wind die wacholder,
und zweige erhoben die sterne?
Durstmetaphern
Eingangs begegnen wir einem Gesicht, das aus „stimmen“ und „lippen“ – nicht aber aus Augen oder den anderen bekannten Wahrnehmungsorganen sich zusammensetzt; wir bekommen eigentlich halbe Gesichter zu sehen. Was für Gesichter treten in Erscheinung? Der Titel sagt es, wir haben es mit „den Toten“ zu tun. Aber: „In principio erat verbum“, am Anfang war das unverständliche Wort – die Sound-Erscheinung; steht/war schon das Erscheinen von Klängen, steht eine Vision aus Stimmenüberlagerung (Fading), steht nicht allein ein Wort – sind viele Worte, die ein unhörbares Wort – WASSER – bilden, zu hören. Das unhörbare Wort hat der Dichter nicht in sein Gedicht geschrieben. Er möchte, daß es mit-gehört wird. Und es ist für den Sprechenden nicht einmal sicher, daß er da „stimmen“ hört, die über „lippen“ kommen – unterscheiden kann (oder will) das Dichter-Gehör die Toten jedenfalls nicht. Handelt es sich um Vor-Worte, Prälingualität oder, hier, Postlingualität?
Dann erst sieht man die Toten-Geste: Sie recken ihre Hände in die Höhe, „zum himmel“. So bleibt vieles im ungewissen: „Mir schien, mir schien, mir schien“! So viel ist gewiß: die Toten dürstet und verlangen „nach Wasser“, nach Erquickung, denn sie befinden sich, nach römisch-katholischer Doktrin, im Fegefeuer, einem Zwischenort, Zwischenablage, Durchgangsstadium; dort aber stecken eigentlich: die Armen Seelen. Von denen hier bei Quasimodo nicht die Rede ist. Es wird also ein im katholischen Raum – der Dichter ist Südsüd-Italiener, er stammt aus dem Süden Siziliens – ein bekannter Topos durch dieses Bild der dürstenden Toten aufgerufen. Lukas 16,22ff. erzählt die Geschichte vom gestorbenen Lazarus und dem in der Verdammnis gelandeten Reichen, der erquickt werden möchte. Der Reiche „rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner, und sende Lazarum, daß er das Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche, und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme.“ Die Kunstgeschichte kennt ebenfalls die aus züngelnd gereckten Flammenfarben um Erquickung Flehenden, ein barockes Abschreckungsbild sonders gleichen und Anlaß für die Künstler zu ausdrucksvollen Gesichtsstudien, zumal wenn es in 3-D, geschnitzt, und 1:1 erscheint und durch den Einsatz der Laterna magica, ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, an Eindrücklichkeit noch vervollkommnet wird.
Dies sieht des weiteren der beobachtende Zeuge:
ein Zum-Himmel-Recken-der-Hände – die Evokationsgeste, die Bitte um Erbarmen, ein Herabflehen göttlicher Hilfe, könnte das sein? Dieser Himmel ist ein Hitzehimmel, nicht blau – weiß; und mehr noch: „weißer als die toten“ – weiß etwa wie Totenknochen, unbegraben, an der Sonne gedorrt, präpariert von ihrer Hitze. Meine Assoziation, angeregt durch meine Erinnerung, bewegt sich dem Totenmuseum der Kapuziner-Katakomben in Palermo entgegen, wo Hunderte von eingekleideten Verstorbenen, davon viele stehend, anzusehen sind. Nein – denn diese sind mumifiziert, nicht „weiß“, dort sind verschossene Farben und eben keine vom Fleisch entkleidete Skelette zu sehen.
Die leise Erinnerung des Quasimodo-Ich gilt anderen Toten, von denen es (nachts? Das wird so nicht gesagt) „immer“, also dauerhaft geweckt wird. Auch dies eher im katholischen Glauben verankert. Ein zu Anfang des 20. Jahrhunderts im ländlichen Sizilien Aufgewachsener, wie der Autor – er ist 1901 geboren –, ist in einer Umgebung groß geworden, die genau dies geglaubt hat und mit den Bildern Quasimodos auf der Stelle etwas verbinden konnte.
Ich erinnere mich an Ascona, an die weitläufige Casa S. Carlo, wo die beiden alten, sehr katholischen Schwestern Gästezimmer vermieteten, obwohl sie es nicht nötig gehabt hätten, und zuletzt überhaupt nur noch an uns vermieteten, jedes Ostern, aus beidseitiger Anhänglichkeit. Diese beiden alten Frauen, an denen ich sehr hing, hielten eine Zeitschrift, die ausschließlich den „Armen Seelen“ und dem Verkehr mit ihnen gewidmet war. Sie enthielt Erlebnisberichte mit den Verstorbenen und lag gestapelt auf einem Tisch aus, an dem niemals jemand saß. Ich glaube sogar mich zu erinnern, daß diese Zeitschrift Das Fegefeuer geheißen hat. Auf jeden Fall eines der gruseligsten Blätter überhaupt, die ich in die Hände bekommen habe. Sie könnte in Einsiedeln herausgegeben worden sein, wo ein Bruder von Tante Elsie und Tante Gritli, Pater Gregor, im Kloster bei den Benediktinern war. Die Großeltern sahen es nicht gern, wenn ich in dem kleinformatigen Blatt las, was ich gierig tat, war doch in der Fegefeuer-Zeitschrift, als sei es das Gewöhnlichste von der Welt, häufig und in jeder Nummer die Rede von Verstorbenen, die des Nachts durch die Zimmer der Hinterbliebenen gingen, die sie, die Armen Seelen, deutlich wahrnahmen, ihrer milchigen oder schattenhaften Erscheinungen gewahr wurden, gar kein Zweifel, das waren sie. Und die Berichtschreiber hörten vornehmlich die Schritte der Verstorbenen und beschrieben das, was sie gesehen und gehört hatten.
„Mit nackten Füßen schaffen sie’s nicht weit.“ Wer sind sie, die hier versuchen zu flüchten und denen wegen ihrer Bloßfüßigkeit nur geringe Chancen zu entkommen eingeräumt werden? Was kann das heißen, wenn die beiden letzten Verse vom Durchsuchen und Erheben sprechen und überhaupt andere Bewegungen zu meinen scheinen, wie zuvor? Diese Metaphern sind der Natur entnommen, die Substantive – „wind“, „wacholder“, „zweige“, „Sterne“ – sind gewöhnliche, traditionell zu nennende Gegenstände des Gedichts. Der Eindruck des Konventionellen ändert sich, wenn die unregelmäßigen Bewegungen der Windstöße, die durch Wacholderbäume oder -gestrüpp fahren, in die Nähe einer räuberischen oder möglicherweise polizeilichen Visitation (Slang: „Filzen“) geführt werden, wie in den als Frage formulierten Schlußzeilen; wenn, weitaus mutiger, irritierender, bebende Zweige Arme bedeuten können und die zitternden Lichter eines klaren Nachthimmels, die Sterne nämlich, gespreizte Menschenhände sein können, die sich auf Befehl („Hände hoch!“) zu heben haben. Es kommt auf den (filmisch-fotografischen) Blickwinkel des Gedichts an – schon finden sich die „zweige“ auf Himmelshöhe. Wenn, wie hier von Quasimodo, sozusagen die Froschperspektive gewählt wird.
An dieser Stelle möchte ich eine Übersetzungsmöglichkeit durchspielen, die dann auch etymologische Punkte berührt. Für den im Quasimodo-Gedicht pluralisch gebrauchten Wacholder, italienisch ginepri, habe ich im Deutschen, ausgestorbene Dialekte eingeschlossen, um die fünfundvierzig Möglichkeiten (laut Dornseiff, Deutscher Wortschatz) – und damit ist allein juniperus communis gemeint. Quasimodo benutzt das gemeinitalienische Wacholder-Wort, möglich und durchaus verständlich, wäre es, das alte niederdeutsche Wort, dann hieße es, klanglich auch schön:
Durchsuchte wind den machandel
Und sofort stellt sich der Bezug auf das Grimmsche Märchen vom Machandelboom ein, eines der wenigen schamanistischen Märchen im deutschen Sprachraum, und seiner geschwistermörderischen Knochen-Magie. Darüber hinaus… mit Reckolder, dem ins Althochdeutsche weisenden Wacholder-Wort, hätte ich zu den Hände-hoch-Szenen, zu der evokatorischen Gestik eine schöne Verbindung.
Wacholder-Wurzeln: noch einmal zu den ginepri, zum juniperus, der sprachgeschichtlich überraschenderweise mit dem Wasser verbunden ist; die lateinische Grundbedeutung ist „binsenartige Schößlinge treibend“. Und ebenso, ethnologisch gesehen, mit dem Feuer, der Hitze identifiziert wird: der Wacholder, als apotropäische Pflanze, wurde zu Räucherungen verwandt; in die Antike zurück reicht der Glaube, daß die Glut seines Holzes, mit Asche bedeckt, sich ein Jahr lang halten soll.
Mit den „gazellen“, die in Herden lebend, in trockenen, heißen Gebieten zu Hause sind, nicht aber in Europa, kommen Fremd-Körper, gleichsam Exoten, in das Gedicht. Diese Tiere, aus deren Leder in der Antike die Römer, die Gazellen züchteten, Luxus-Pergament gewannen, haben genug Wasser, sie laben sich (in paradiesischer Unschuld?) an der „quelle“. Quasimodo braucht sie und ihre beruhigende Versorgungslage, nach meiner Lesart, als krassen Gegensatz zu seinen durstgequälten, den „himmel“ berühren wollenden „toten“. Darüber hinaus gibt es Berührungspunkte bzw. Antinomien genug, ich erwähne die Trinkhaltung, eine zur wasserführenden Erde vornübergebeugte, der Tiere; und ich mache auf eine natürlich nicht nur formale Auffälligkeit aufmerksam, indem ich feststelle, daß (dem italienischen Original entsprechend) die Zeile
Mit nackten füßen schaffen sie’s nicht weit
im Gegensatz zu ihrer inhaltlichen Aussage, welche einerseits die prekäre Rettungs- und Schutzlosigkeit der „toten“ betont beziehungsweise unterstellt („Mit nackten füßen“), und andererseits für das „leise“, wie stete Wecken und Wach(sam)halten des sogenannten lyrischen Ich verantwortlich ist –, daß dieser Vers von allen Versen am längsten hinausreicht, das Auge am weitesten hinaustreibt nach rechts, ins Weiße des Papiers.
Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001
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