ES WÄRE LEICHT ZU ZEIGEN, WIE DIE BESTEN
Gedichte hier verwahrlosen, gelassen
Im Untergrund in keine Gruppen passen:
Es hausen selbst in ihren kleinsten Resten
Soviel Magie und Tanz, daß sie gehaßt
Und unbeteiligt ausgesondert werden:
Ersatzteillager sind, niemand gefährden,
Nicht mal verstummen lassen könnten fast
Hat es den Anschein hier im Land, als hätte
Bemühter Bildungslack die Herrschaft inne,
Verkümmertes Gedröhn, kein Sprachverstehen,
Nur Anempfundenheit und Daseinsglätte,
Doch niemals Poesie in meinem Sinne:
In zwanzig Jahren wird man weitersehen.
(für Ulrich Zieger)
habe ich das Gefühl, daß sich die von mir seit über einem Jahr verwendete Gedichtform des Sonetts hoffentlich für mich erledigt hat. Aus einer Not und Müdigkeit heraus, scheinbar keine anderen Gedichte mehr schreiben zu können, ließ ich mich auf diese strenge und oft sehr eintönige Fortbewegungsart in Texten ein. Als gefährlich und einschläfernd erwies sich auf Dauer, all das Sehnsüchtige, Verwunderungswürdige, Überraschende, Bedingungslose, Wütende, Ängstliche, Verzweifelte, Besessene und Traurige im Leben nur noch als rhythmisches und jederzeit verfügbares Material zu begreifen. Das Material als wohltemperierter Eindringling. Aber im Sonett muß die Gastfreundschaft aufhören, hört die Gastfreundschaft auf.
Thomas Kunst, aus den Anmerkungen, 2007
Das Aufregende geschieht am Rand. Die Substanz gärt an der Peripherie. Formt sich charakterfest. Leise, autonom, kaum wahrgenommen. Edition Rugerup heißt der kleine Verlag der, angesiedelt in der ländlichen Idylle Südschwedens, sich in seinen Publikationen vor allem der Übertragung englischsprachiger Lyrik ins Deutsche widmet. Und was da bisher aus der skandinavischen Abgeschiedenheit still, aber stetig auf den heimischen, lautschreierischen Buchmarkt tröpfelte, wäre, würde es auf diesem mit rechten Dingen zugehen, eine literarische Sensation. Um es etwas lautschreierisch zu formulieren.
Tatsache indes: Rugerup ist ein Verlag, der für ein schlicht exquisites Lyrik-Programm verantwortlich zeichnet. Finden sich darin doch Bücher des potentiellen australischen Nobelpreisanwärters Les Murray ebenso, wie die wunderbaren Gedichte des Kanadiers Don Coles oder des Iren Gabriel Rosenstock- und jetzt, mit Estemaga, auch ein Band des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst.
Nun ist ein deutscher Autor bei Rugerup zwar keine Zäsur, aber bisher doch eher die Ausnahme. Eine Ausnahme indes, die sich bestens ins Rugerup-Œuvre fügt. Sowohl, was die literarische Qualität und künstlerische Eigenständigkeit der Texte betrifft, als auch dem − das darf man in diesem Fall mal spekulieren − gerade daraus resultierenden Umstand, dass Thomas Kunst in der deutschen Lyrik das Aufregende ist, das am Rand geschieht, die Substanz, die an der Peripherie gärt. Autonom − ergo, kaum wahrgenommen.
Beredtes Symptom dafür sind nicht zuletzt die zehn(!) Verlagswechsel die seit dessen Debüt 1991 bei Reclam (Besorg noch für das Segel die Chaussee) Kunsts publizistische Biographie charakterisieren. Ein Nomadentum, geschuldet einem Literaturbetrieb, in dem zunehmend Opportunismus, Mutlosigkeit und Marktzwänge für intellektuelle und stilistische Versandungen, für rapide qualitative Verwüstungen sorgen. Ein Nomadentum, das Kunst − um im Bild zu bleiben − zur Oase der Edition Rugerup führte. Womit sich ein kleiner Kreis schließt − denn auch Estemaga ist im Gesamtwerk des Autors eine Ausnahme, gar eine Zäsur.
Kunsts Poesie zu lesen glich immer auch einem Abenteuer. Da war ein assoziationsreicher Textstrom Wort- Wein- und Frauenverliebter, gleichwohl schwermütiger Lebenshymnen. Darin konnte man baden, ein − und untertauchten, durchaus auch mal absaufen. Zugleich trieben in diesem mäandernden Wortfluss immer auch Inseln einer lakonischen, trockenen Polemik oder die Eleganz kurzer, verspielt-filigraner Verse. Schöne Momente des Innehaltens, bevor, beim Umblättern, neue Wellen über einen fluteten.
„Estemaga“ indes zeigt sich, wie schon angedeutet, ganz anders. Nämlich mit 56 disziplinierten, akkurat gebauten Sonetten. Nun speist sich gerade die Schönheit eines Sonettes, so es gelungen ist, vor allem aus jener marmorierten Kühle und Reinheit, die dieser Gedichtform anhaftet. Faszinierend an Estemaga ist da also weniger, wie souverän Kunst diese Form beherrscht, als vielmehr, wie weit er den für ihn typischen Ton und Habitus seiner Poesie hier heruntergekühlt und in dieses strenge Korsett eingepasst hat. Gerade mit Blick auf die alten Texte darf man vermuten, dass die Distanz, die Disziplin die dieses Einpassen forderte, für Kunst nachgerade provozierend gewesen sein muss. Kunst:
Aus einer Not und Müdigkeit heraus, scheinbar keine anderen Gedichte mehr schreiben zu können, ließ ich mich auf diese strenge und oft sehr eintönige Fortbewegungsart in Texten ein.
Was jetzt in diesen aber zu lesen ist, ist von Müdigkeit freilich genau so weit entfernt wie von Eintönigkeit. Sicher, Estemaga ist ein Buch gezähmter Leidenschaft. Was aber eine reizvolle Reaktion provoziert: Wie nämlich diese Texte unter ihrer Oberfläche vibrieren, zittern, sich gegen die Zähmung stemmen auf eine Art, dass man beim Lesen glaubt, spätestens auf der nächsten Seite bekommt der schöne Marmor Risse um einen auf der übernächsten um die Ohren zu fliegen. Das zu Lesen ist pure Lust. Spannend, anrührend, abenteuerlich.
Kunsts Themen dabei sind die alten, die seinen: die Liebe, das Trinken, das Sterben. Die Literatur selbst und ihre heutige, hiesige Korrumpiertheit. Der Ton: eine eigentümliche, suggestive Mischung aus Nähe und Distanz, Resignation und Wut, Melancholie und Lebensgier. Und das alles in 56 mal 14 Zeilen, die, ginge es nur mit rechten Dingen zu, Thomas Kunst weg aus der literarischen Peripherie hinein ins Zentrum katapultieren müssten.
− Formenstrenge als Selbstverpflichtung: Der Lyriker Thomas Kunst hat einen Band mit Sonetten vorgelegt, in denen er traumhaft sichere Beherrschung des Handwerks mit kompromisslosem Ausdruckswillen verbindet. −
25. März 2009 „In Deutschland gibt es keine Dichter mehr“ – so apodiktisch hebt eines der neuen Gedichte von Thomas Kunst an. Es ist Wolfgang Hilbig gewidmet und betrauert mit dem 2007 gestorbenen Kollegen und Seelenverwandten auch den Verlust an existentieller Unbedingtheit und Ausdruckswillen in der zeitgenössischen Poesie.
Thomas Kunst, geboren 1965 in Stralsund, gehört zu jener Generation von sprachgewaltigen ostdeutschen Dichtern, die in den Neunzigern kurz für Furore sorgten, dann aber in Vergessenheit gerieten und beim aktuellen Lyrikrevival im Schatten von Jüngeren stehen. 1998 hatte Kunst mit Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd einen der tollsten Gedichtbände jener Jahre vorgelegt (nun zum Glück in der Lyrikedition 2000 wiederveröffentlicht).
Strenge Form als Halt
Sein neuer Band enthält ausschließlich Sonette, deren Gesetzesstrenge sich der Dichter zum Halt in einer Krise wählte, wie er im Nachwort schreibt. Verblüffend, wie sehr sich auch im ungewohnten Korsett aus Rhythmus und Reimpflicht sofort sein unverwechselbarer Ton einstellt, als sei das Sonett für diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und (vermeintlicher) Schnoddrigkeit eigens geschaffen worden: „Es ist ein Fest mit Schultern an den Wänden“ – leicht irritierend und doch ganz simpel beobachtet sind Kunsts Verse.
Verletzungen und Verbitterungen, reale und imaginäre Fluchten, sind ihre Themen, Süchte auch und Sehnsüchte, nach einer kompromisslosen und unverkopften Literatur etwa, nach Gedichten „die als Gäste taugen“, die sich nicht zu schade sind, „Drecksarbeit“ zu leisten, wofür neben Hilbig, Brasch und Born als Paten angerufen werden.
Verzicht auf totale Kontrolle
Thomas Kunst beherrscht sein Handwerk buchstäblich im Schlaf, doch viel wichtiger noch: Er weiß, dass das Gelingen eines Gedichts gerade den Verzicht auf völlige Selbstkontrolle verlangt:
Wo bleiben Wahnsinn und Verrücktheit, geile
Gesänge aus den Überlebensbüchern.
Ich will Gedichte, die ich bei mir trage,
Nicht kalkulierte Satzmodelle, Zeile
für Zeile doch schon längst in trockenen Tüchern.
Mein Lieblingsreim in diesem Band übrigens nietet „inzwischen“ auf „Joy Division“. Eine Wahrheit-oder-Pflicht-Lektüre.
In seinem neuen Gedichtband Estemaga sehnt Thomas Kunst sich fort. Wer die Seite lyrikzeitung.de liest, wird einige dieser Gedichte wiedererkennen. 2007 hatte der Leipziger Autor Thomas Kunst hier in Sonetten sporadisch Stellung bezogen, mal spöttisch gegen Kollegen gewettert, mal verzweifelt wild sein Ideal von Poesie gegen Literaturmacher und betriebsspezifische Diskurse verteidigt. Man durfte sich schon wundern über die Heftigkeit, mit der Kunst die Verwahrlosung der zeitgenössischen Lyrik anprangerte und etwa in einem seiner Sonette mindestens elf neuere Lyrikbände verbal in die Tonne kloppte. Mit dem Sonettbuch Estemaga kehren diese „Kampfsonette“ zurück mit anderen, komplementären Gedichten, in denen Kunst den Poesiesound anspielt, den er stattdessen haben will. „Wo bleiben Wahnsinn und Verrücktheit, geile / Gesänge aus den Überlebensbüchern. // Ich will Gedichte, die ich bei mir trage…“ Gegen Abgeklärtheit und Mittelmäßigkeit der zeitgenössischen Lyrik setzt Kunst die Sehnsucht nach Intensität. Diese Sehnsucht schwingt in beinah allen Gedichten aus Estemaga mit. In einem Redetext, der das Buch beschließt, benennt Kunst die Tugenden dafür: Besessenheit, Leidenschaftlichkeit, Intensität und Kühnheit. Und tatsächlich lassen sich mit diesen Attributen Kunsts Sonette beschreiben. Es sind Sonette, in denen der Sprecher sich an Sehnsuchtsorte wünscht, fort aus der trügerischen Sicherheit Deutschlands. Beirut, Afrika, der skandinavische Norden, um nur ein paar zu nennen, sind dabei Motivgeber an denen sich die Vorstellung entzündet. „Ich habe dir gesagt, am Meer zu leben / Ist gut für mich“. Und immer wieder kommt das Meer, das in Kunsts Geographie die zentrale Rolle spielt und von ihm als Gegenwelt und Inspirationsquelle beschworen wird. Dass er dafür die vermeintlich strenge Form des Sonetts gewählt hat, scheint nur auf den ersten Blick seltsam. Denn er füllt diese Form virtuos, kehrt ihre Strenge um und gelangt zu liedhaften Gedichten, die wie improvisierte Musikstücke wirken. Das kann man auf diese Weise selten so schön lesen wie bei ihm. Er geht sogar soweit und hat soviel Witz, ein Sonett zu schreiben, das wie ein ausgeleierter Pop-Song klingt und die mit Estemaga demonstrierte Sonettwut parodiert. Das hat nicht nur Humor, das ist auch notwendig, um Kunst von der Bildungshuberei anderer Dichter abzusetzen. Eigentlich bleibt nur zu sagen, dass Estemaga eines von den Überlebensbüchern ist, die Kunst haben will. Man könnte noch hinzufügen, dass Bücher wie Estemaga notwendig sind, weil sie am utopischen Wert von Poesie festhalten und das Leben zu verwandeln versuchen, auch wenn dieses Vorhaben fast aussichtslos erscheint.
Nie wieder in die Küche: diese Riffe,
Das Meer, der Wille und die weißen Schränke.
Ich hab schon vorher am Regal verloren.
Um wirklich Sonette zu schreiben, bedarf es des Mutes, die Regeln zu verletzen, nicht stumpf zu verletzen, sondern so wirkungsreich, dass innerhalb der Strophen das Reglement akzeptiert wird. Und es gibt im deutschsprachigen Raum nur wenige Dichter/Übersetzer, die souverän Sonette bauen können, ohne dass in den Versen ein Bemühen uns anblitzt. Thomas Kunst zähle ich dazu, und das umso mehr nach Erscheinen seines neuen Gedichtbandes mit dem schönen Titel Estemaga, der wie der Name einer untergegangenen Zeitenfähre klingt. Oder steht er für eine Assoziation aus dem Spanischen für das einsame Zaubern? Klingen – ja, das sind zum Teil schon Melodiebilder, mit besessener Wut, aber nicht leichtfertig komponiert, wie die Haltung zum Endecasillabo in den Gedichten beweist. Es stellt sich das Gefühl ein, trotz des Schemas, in den Wortebenen zu schweben, die andererseits gefährlich am Mahlstrom kippeln. Die Art, Wortüberschäumung in Textgebäuden zu verdichten, betreibt Thomas Kunst in der Versform Sonett seit geraumer Zeit. Schon in seinem ersten Band besorg noch für das segel die chaussee (1991), der leider in der Ereignisdichte damaliger Jahre nicht genug Beachtung fand, sind Sonette zu lesen, und in seinem dritten Buch Medelotti findet sich als Eingangstext „ES IST EIN FEST MIT SCHULTERN AN DEN WÄNDEN“, welcher auch in seinem neuen Band der Edition Rugerup steht. Der variierte Text steht nicht für Veränderung oder Verbesserung der Zeilen, sondern kann als ein eigenständiges Weitertreiben des Gedichtes gesehen werden. In einigen Sonetten allerdings enden die so (verständlichen) dichterischen produktiven Zornattacken auf geglättete Poesie in Zeigepauschalisierung (S. 56). Wenn auch solche freak waves beeindruckend wirken, lassen sie mich nach der Sturzflut nicht einmal nachdenklich zurück, zu eindimensional wirken die Zeilen. Aber immer ist, ausgesprochen oder nicht, das Meer anwesend. Es bestimmt die meisten Texte des 1965 in Stralsund geborenen Autors.
(…)
Doch zurück zu Thomas Kunst, der in seinem kurzen Essay sehr akzentuiert Grenzen für sich in der Umsetzung der Poesie zieht, markante Stellen, die sich genussvoll lesen, aber mir manchmal ungerechtfertigt erscheinen. Wahrscheinlich hat das Schweigen des Literaturbetriebes auch seinen Anteil daran. Schlägt sich Zornesarroganz als Statement in der Poesie nieder, so mag es zwar eine Notwendigkeit bezeugen, rächt sich aber in jedem Vers, der veröffentlicht wird. Sei es in Heidelberg oder anderswo.
Zu danken sei den Verlagen, der Edition Rugerup für ihren Mut auf Lyrik zu setzen – sind hier doch auch unter anderem Bücher des australischen Dichters Les Murray und des Schotten Iain Crichton Smith erschienen –, sowie dem Sonderzahl Verlag aus Wien, dessen Spezialität essayistische Veröffentlichungen sind und der sich mit bemerkenswerten Texten ein Tor zur Lyrikwelt öffnet.
Thomas Ernest, Ostragehege, Heft 55, 2009
Frank Milautzcki: Muß die Wahrheit seltsam klingen?
fixpoetry.com, 26.6.2009
Gespräch des Monats: Seilers Shortlist. Am 17.2.2015 stellte er die von ihm gelobten Lyriker Thomas Kunst, Farhad Showghi und Nadja Küchenmeister in der literaturwerkstatt berlin vor.
Der Schriftsteller und Lyriker Thomas Kunst im MDR KULTUR Café. Eine Sendung von Thomas Bille.
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„Für Gedichte und Romane nehme ich Urlaub oder Überstunden.“ Thomas Kunst, Schriftsteller auf dem Lande 14.9.2021. Onlineinterview am 18.7.2021 mit Walter Pobaschnig in der Reihe Literatur outdoors – Worte sind Wege.
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