WIR DEZIMIEREN UNS AUF LEICHTE WEISE,
Zerkleinern Institute, kriegen Krebs.
Gelingen Nächte ohne Zieger-Tapes,
Gehören sie ans Ende einer Reise.
Klavier und Alkohol genügen Wolken
Für einen Übergang ins Uferlose –
Am Schreibtischbein verkümmert meine Hose.
Der Horizont hat einstmals mir gegolten.
In Unterführungen sind wir zu viert.
An meinem Fenster lehnt ein Eisenstab.
Wir haben unser Hoftor ernst genommen.
Beziehungsstatus: es ist kompliziert.
Ich will nicht hören was ich alles hab
Und weiß wohin im Dorf die Flaschen kommen.
Thomas Kunst und Lutz Seiler stellen auf dem Sommerfest der Verlage Suhrkamp und Insel 2017 ihre Lyrikbände Kolonien und Manschettenknöpfe und im felderlatein vor. Das Gespräch wurde moderiert von Doris Plöschberger.
durch einen Luna-Park: Wir treffen einen Wikinger an der 54. Straße, versuchen, aufblasbare Münzen durch die ihnen zugewiesenen Löcher zu quetschen, besteigen Barthelmes Ballon in der Nähe des Central Park, fliegen in einer Disziplin unserer Wahl zu den inoffiziellen Weltmeisterschaften nach Milwaukee, behalten einen Kaugummi während eines Kreditgesprächs im Mund. Alles in allem sind wir in diesen Gedichten keine Freunde von mittelmäßiger Gesellschaft. Eine letzte Arche Noah sticht in See, mit Walen, Salamandern und Ratten, wenn nur genügend Gewässer rund um den Ararat zusammengefunden haben.
Die neuen Gedichte von Thomas Kunst verlassen den Pfad des Fernwehs und der Liebessehnsucht. Sie geben sich regional, sind aber durch und durch international: Im Toom Baumarkt sammeln sich arabische Reiter. Zwischen Carports und Gartenmöbelauflagen tobt die Schlacht von Tours und Poitiers im Jahre 732. Das Ordnungsprinzip des Sonettenkranzes soll verbinden, was sich ausschließt. Prosagedichte und jambische Elfsilber. Disziplin und Ernüchterungsrausch.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2017
Ich ziehe vor Katzen den Hut und sieze Pferde, und mein Herz läuft über vor Liebe, ein anderes Mal wiederum sind meine Resignation und mein Pessimismus so groß, daß mir jeder Sonnenuntergang wie ein Versprechen erscheint, von den Millionen Namen, die ich mir für immer nicht gemerkt habe, konnte ich zwei nicht vergessen, ständig rufe ich sie, um sie endlich zu löschen, ihre Hautfarbe kümmert mich nicht, ihr Geschlecht läßt mich kalt, sie sind mir so nah wie sonst nur Paarhufer, Zehengänger, Glasflügler, Nachtblüher, ob ich nach der Arbeit mit dem geschossenen Fasan meiner durchnässten Jacke überm Arm in der Dämmerung an der Haltstelle stehe oder links und rechts die abgeschlagenen Köpfe zweier Einkaufstüten aus dem Supermarkt nach Hause trage, immer sind sie da, dabei will ich weder lesen noch schreiben, lieber stopfe ich blutgetränkte Wattebäusche in die Funklöcher der Bahnstrecken, wer seid Ihr, was wollt Ihr von mir:
Piwitt schrieb einmal über Böhmer, der Leser dieser Gedichte müsse sich fühlen wie ein Orinoko-Indianer bei Karstadt. Stimmte das Bild, träfe es auch auf Kunst zu. In Wirklichkeit ist aber der eine wie der andere selbst ein Wilder, veredelt von Lesehunger und Lebensdurst. Ich sehe ihn am Ufer stehen und aufs Meer schauen, aus dessen unsichtbarem Ende der Eroberer auftauchte, dem er all sein Gold gab für aufgeschwatzten Tand. Ich sehe ihn da stehen und lächeln. Mit einem Skalp in der Hand.
Inzwischen ist der zehnte Gedichtband von Thomas Kunst erschienen: Kolonien und Manschettenknöpfe. Es hätte auch der erste oder hundertste sein können, die inzwischen gönnerhafte Ignoranz des Hochfeuilletons wäre ihm naturgemäß sicher gewesen. Aber warum auf Gegenliebe hoffen, wo es keine Liebe gibt? Es ist das Privileg der groß Dichtenden, ihre Unterwerfungsgesten an die Schönheit der allein ihnen gehörenden Sprache anzuvertrauen, um sie dann freiwillig preiszugeben. Oder auch nicht. Wenn, dann schließen sie die Öffentlichkeit aus, nicht umgekehrt. Denn während die Lyrikmähroboter in den Vorgärten der Verlage die vorhersehbaren Alphabete auf Konsumierbarkeit stutzen, haben wir es hier mit der so raren wie gleichermaßen gering geschätzten Postulat-Umsetzung Schillerscher Provenienz zu tun: man muß die Leute inkommodieren!
In meinen Augen schreibt Thomas Kunst jene Gedichte, die Thomas Bernhard zu schreiben verpflichtet gewesen wäre, hätte es ihm, anders als Kunst, in diesem Genre nicht an fast allem gefehlt.
Thomas Kunsts Gedichte sind Prototypen einer endgültigen Setzung, die im Augenblick ihrer Serienreife von der Wirklichkeit ihres Entstehungsprozesses eingeholt werden. Insofern empfinde ich sie als Glücksfälle der Kontingenz. So zwingend wie austauschbar sind dabei ihre Realien – der einsame Animismus der Anbetungen, der kalte Barock der Tiraden und Parodien, der Sog der verlöschenden Mütter, die Wochenbettdepressionen der Kopfgeburten –, die liebevoll mit dem Zeigefinger des leidenschaftlich Lesenden, der Thomas Kunst unbedingt auch ist, in einem Formspiel aus Langgedichtkränzen und von den Schlacken der Tradition befreiten Sonetten über den Atlas der Wahlverwandtschaften geschoben werden, bis die Lesenden dahin gelangen, wo sie hingehören: überall und nirgends. Aber veredelt von Lesehunger und Lebensdurst.
Igor Samojlenko, trimaran-mag.eu
– Der Leipziger Thomas Kunst schreibt Gedichte außer Rand und Band. Auch ein alter Saporoshez kommt darin vor. –
Es gibt Kunstfertigkeit, Kunstgewerbe, Kunstfehler, und es gibt Kunst, Thomas, 1965 in Stralsund geboren, seit 1986 Leipziger. Er kann ein abgebrochenes Pädagogikstudium, eine Stelle als Bibliotheksassistent in der Deutschen Bücherei und gut ein Dutzend Veröffentlichungen vorweisen. Gern heißt es, Kunst und seine Lyrik seien Verkannte. Da sind Verkanntere bekannter. Immerhin hat Thomas Kunst mit dem Dresdner und dem Meraner Lyrik-Preis sowie dem Villa-Massimo-Stipendium schon wichtige Ehrungen für seine Gedichte erfahren. Nach einer branchentypischen Odyssee durch diverse Verlage versucht es nun Suhrkamp mit Kunst, was aufhorchen und genau lesen lässt.
Schon das erste Gedicht vereint vieles, was Kunsts Kunst ausmacht. Weit in die Ferne Gerücktes und weit Hergeholtes, kleine Unschärfen, gewollte Schrägheit zulasten genauer Formulierung. Vers vier und fünf heißt: „in der unteren Etage eines Kugelschreibers wurde die handfeste Stimmung auf den Feldern enthüllt“, etwas später folgt:
in der oberen Etage eines Kugelschreibers wurden die Fahrradgestelle knapp
Auch wenn sich diese Phänomene in Malawi „an den Ufern des Chilva-Sees“ ereignen und wir so gut wie nichts von Malawi wissen, ahnen wir doch, dass sie AkteX-artig „jenseits der Wahrheit“ liegen und fragen uns, „wie das wohl alles zusammengehört“. Auch springt uns schon auf der ersten Gedichtseite der Titel des Buches ins Auge. Von „Kolonien an Körpertemperatur / Unter den Manschettenknöpfen“ geht da die Rede, und uns ist sogleich „nach abgeflauter Zufriedenheit zumute“, denn das Bild hängt schief. Bekanntlich liegen „unter“ solcherart Knöpfen nichts als Manschetten. „Körpertemperatur“ findet andernorts statt.
Wer aber nach dem ersten Gedicht aufgibt, läuft Gefahr, die Höhepunkte zu verpassen. Da wären die „Hebebühne in Delitzsch-West“ oder das „Hunza Valley“, in dem man uralt werden kann, der Saporoshez SAS 966 von Herrn Dalewski oder die Schneekatastrophe auf Rügen von 1978, der Rülpsweltmeister Paul Hunn oder „Bessie, die SS-Mann werden wollte“, womit Thomas Kunst seinen US-amerikanischen Helden Donald Barthelme zitiert, der mit doppelbödigem Nonsens Erfolge feierte.
Auch die Briefe an seine Freunde Gaston Salvatore und Feridun Zaimoglu („Mein liebster Feri-San“) würde man versäumen, ohne etwas zu verpassen. Nicht überlesen sollte man, dass er bedauert, wenn „Jamben durch Verlage rinnen“. Was wirklich gut gesagt ist! Nicht zu vergessen die Kunst’sche Reimkunst
Die Dichter überleben Sprechartisten –
Sie täuschen, trauern, lösen Treffer aus
Wer jetzt nicht stirbt, behindert Bestenlisten
Betroffenheit ziert Nötigungsapplaus.
Als Kunstfertigkeit kann der ebenso exzessive wie explosive Sprachgebrauch erkannt werden, der von Kalauer bis Kauderwelsch alle Register zieht. Das Kunstgewerbe äußert sich vor allem in der Komposition des Buches, die auf die Regel eines Sonettenkranzes zurückgreift, indem immer ein Vers, eine Zeile an das nächste Gedicht weitergereicht wird. Der Kunstfehler wäre der, dass die im Buch enthaltenen acht Sonette noch keinen „Kranz“ ergeben und alle anderen Texte zumeist weit ins Fach langer Erzählgedichte schweifen.
Wieder einmal erweist sich der altväterliche Spruch als wahr:
Es genügt nicht nur zu blasen, man muss auch auf die Noten gucken.
– Tiere in Tüten: Neue Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst. –
Unter den Büchern, die der Leipziger Autor Thomas Kunst seit den neunziger Jahren veröffentlicht hat, gab es einen Gedichtband mit dem Titel Kunst.
Das war nicht nur ein Jux mit dem eigenen Namen, es war auch das Bekenntnis zu Form und Artistik. Kunst probierte seine Kunstfertigkeit vor allem an Sonetten und Sonettenkränzen aus – mit Paten wie Rimbaud, Rilke oder Brecht. Jetzt aber hat Kunst gewechselt.
Zunächst einmal den Verlag. Statt in einem Kleinverlag erscheint der neue Gedichtband in einem unserer ersten Häuser. Doch der neue Autor strebt nicht einen Platz im Olymp an, sondern eher im Parterre: Er gibt sich als hemdsärmeliger Pop-Autor. Der Buchtitel spannt so Heterogenes wie „Kolonien und Manschettenknöpfe“ zusammen, und als Cover erscheint das Farbfoto eines leeren Rummelplatzes. Der Band umfaßt sechs Kapitel mit doppelten Titelformulierungen wie „Disziplin der Idioten / Wasserkerne“, „Fingerwäsche / Konferenzen“ oder
„Sonett in den Bergen / Von all unseren Kameraden“. Dagegen bleiben die Gedichte titellos. Es sind meist Texte in rhythmisierter Prosa. Dazwischen finden sich, als Relikte früherer Produktionen, acht Sonette und einige gereimte Kurzgedichte. Es ist nicht leicht, in Kunsts neuen Texten thematische Kohörenz und strukturelle Konsistenz zu erkennen. Beides scheint nicht beabsichtigt. Der Autor überläßt sich lieber dem Fluß seiner Einfälle. Manchmal setzt sich aus Gedankensprüngen so etwas wie eine Geschichte zusammen. Etwa die von den Tieren in Tüten:
Unsere Tiere an der
Grenze in Tüten, aber unsere Tiere laufen an
Der Grenze in den Tüten nicht im
Kreis.
Zuletzt, wenn die Tiere bei Schräglage in der Luft nach Stufen tasten, heißt es:
Aber wir glauben nicht daran.
Was bringt diese Einsicht?
Gut, auch Salvadore Dali hätte keine Tiere in Tüten gemalt.
Thomas Kunst ist um extraordinäre Einfälle bemüht.
Etwa:
Den Kaugummi hätte ich während des Bankgesprächs
Getrost drinlassen können.
Oder:
Zuhause sind wir der Demenz näher als der Unregierbarkeit.
Wir bezahlen am Küchentisch mit aufblasbaren Münzen.
Das sind Einfälle, die weder provokativ noch poetisch sind.
Der Kaugummi im Mund ist allenfalls schlechtes Benehmen, die aufblasbaren Münzen schlechter Surrealismus.
Den Motiven fehlt, was Joyce die profane Epiphanie nannte, welche die Seele des gewöhnlichsten Objekts strahlen läßt.
Einmal ist er diesem Epiphanischem nahe, wenn er in einem Venedig-Sonett schreibt:
Die Schiffe demonstrieren hier verlegen,
Wie Häuser sich an Häusern lang bewegen.
Hier ist der Reim, der ironisch die Eindrücke zu einem Bild faßt. Und wenn Ironie an Selbstironie grenzt, stimmt man auch der folgenden Frage zu:
Wieviel
Verändert sich, wenn Jamben durch Verlage
Verschiedener Herkunft rinnen.
– Thomas Kunsts neuer, tänzerischer Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe lässt mithilfe der Worte verschiedenste Vorstellungswelten auf engstem Raum miteinander reagieren. –
Die La-Plata-Küste, Mozambique, das Hunza-Tal in Pakistan – und Thomas Kunst greift noch weiter aus. Bis auf den Mount Everest, ja bis hinauf in den Weltraum reichen seine Gedichte. Aber auch das nicht allzu ferne Rügen, die Hebebühnen von Delitzsch-West („an der Shell Tankstelle, Höhe Securiusstraße“), der Paupitzscher See und die Monheimer Allee tauchen hier auf. Wobei der Stadtplan von Delitzsch, einem Ort dreißig Kilometer nördlich von Leipzig, dem Wohnort des Autors, nur eine Monheimer Straße kennt, keine Allee. Ein Hinweis darauf, dass Kunst das wahre Delitzsch vielleicht genauso fremd ist wie das Hunza-Tal, der Chilva-See und Quelimane?
Ob Thomas Kunst tatsächlich einmal in Pakistan war oder gar im Weltraum, spielt für seine Gedichte dabei keine Rolle. Es geht dem 1965 in Stralsund geborenen Autor nicht darum, eigene Beobachtung in lyrische Sprache zu fassen. Ihn interessiert vielmehr, die verschiedenen Vorstellungswelten, die mit den einzelnen Worten verknüpft sind, auf engstem Raum miteinander reagieren zu lassen. Schon der Titel des Bandes, in dem ein konkreter Gegenstand mit einem politischen Konzept kollidiert, weist auf dieses Prinzip hin. Sucht man auf den folgenden Seiten nach dem entsprechenden Vers, tun sich gleich neue Fragen auf:
Makumba und
Matemba, Kolonien an Körpertemperatur
Unter den Manschettenknöpfen, die Beine in
den Flanken eines minuziösen Kontinents.
Wenn man sich fragt, wie es Thomas Kunst gelingt, so disparates Material auf so engem Raum unterzubringen, ohne dass das Ganze beliebig wirkt oder einem um die Ohren fliegt, so liefert eine Liste von Schallplatten am Ende des Bandes einen Hinweis: Kunst weiß wie ein guter DJ die Elemente seiner Versmusik gut zu mischen und nahtlose Übergänge dort zu schaffen, wo eigentlich gar keine Verbindung zu existieren scheint.
Auch Pferde, Flussdelphine und das Flachdach-Carport Arcadia 5000 tauchen in Kunsts Gedichten immer wieder auf. Gemeinsam mit den Ortsnamen bilden sie ein Reservoir an Klang- und Bildelementen und zugleich eine Art Privatmythologie. Doch Kunst arbeitet nicht allein mit der sanften Kollision von Wirklichkeitssplittern. So widmet sich das längste Gedicht des Bandes durchaus erzählerisch der Schneekatastrophe in Norddeutschland im Winter 1978/79:
als ich
dreizehn Jahre alt war, gab es auf Rügen sechs Meter
hohe Schneewehen, Flugsand, Eisregen und die maßlos
übertriebenen Regalauffüllungen aus Temperatursturz und
einigen bis an die Obergrenze verschmierten Wind-
Entgleisungen
Auch dem mit Thomas Kunst befreundeten Feridun Zaimoglu begegnet man in diesem Band mehrmals. Beide Schriftsteller teilen eine kindliche Begeisterungsfähigkeit, einen zuweilen euphorische Schreibgestus. Als Leser lässt man sich gerne davon anstecken und tanzt mit, wenn Kunst im vorletzten Gedicht des Bandes alle vorhergehenden Motive noch einmal neu remixt:
An der Delitzscher Küste, die nahe Großstadt
Leer und morsch, mit einem Luftgewehr wohl
kaum noch zu zerlegen
– Der Dichter Thomas Kunst schreibt in einem Begeisterungsstrom Gedichte und kämpft gegen das Verschwinden des Schönen an. –
Es gibt wohl keinen anderen lebenden Lyriker im deutschsprachigen Raum, der mit seinen Gedichtbänden eine weitere Reise unternommen hat. Sie haben ihn durch Kontinente, Orte und Zeiten geführt. Bereits als junger Mann, im Leipzig der 1980er Jahre, hört er Tapes mit Independent-Musik, die man sich gegenseitig überspielt, und schreibt erste Gedichte. Als gerade 25-Jähriger debütiert er, da war die sogenannte Wende schon Realität. In den knapp drei Jahrzehnten danach hat er dreizehn oder vierzehn Bände veröffentlicht in zehn oder zwölf Verlagen.
Thomas Kunst war immer unterwegs, ein Suchender, ein Hasardeur, wie man ihn sich in einem Roadmovie von Wim Wenders vorstellen könnte: Er war unterwegs zu Ruhm und Erfolg. Ein steiniger Weg für jemanden, der solch hohe Ansprüche an die Poesie lebt und an sich selbst stellt und diese auch von anderen einfordert. Die jetzt bei Suhrkamp erschienene Sammlung Kolonien und Manschettenknöpfe ist sein erster Gedichtband in einem grossen Publikumsverlag. Und was für ein Band!
Es ist ein fulminanter Ritt auf einem unbekannten Fortbewegungsmittel, halb Jeep, halb Fahrrad, halb Pferd und halb Kutsche, ein Ritt durch phantastisch-realistische Erschütterungslandschaften einer bedrohten Welt:
WIR HÄTTEN FRÜH UM SIEBEN
An der Grenze ankommen sollen, vielleicht wäre
Es ja gut gewesen, ein paar versuchte Schüsse
In die Dunkelheit abzugeben, die Bögen auszufüllen und
Auf der Stelle wieder zurück an die Theke zu
Bringen, ein paar verfluchte Schüsse in der Dunkelheit.
In den langen mäandernden Gedichten, die im Grunde ein sich immer weiter fortschreibender und repetierender Text sind, durchstreift man einen abgewandten Kontinent, der sowohl am Amazonas wie in Nepal, auf Coney Island oder direkt an einer Brache vor der eigenen Haustür liegen könnte. Eine irrwitzige Fahrt durch die Trümmer der Postmoderne, an denen sich Kunst abarbeitet, mit genügend Wut, Verzweiflung und sprachlicher Wucht:
Wie ein Wind in dieser
Höhe… das Wegfegen der
Tüten auf einer Plattform unserer Tiere an der
Grenze, unsere Tiere in Tüten, unsere Tiere an
Der Grenze in Tüten, wie der Wind
Stutzt, sich an Pflegewesen
Auskaspert, wir müssen uns verhört
Haben, beim Aufzug der Lasten, die Pfötchen nicht
Stabil, eher steif
Thomas Kunst wäre nicht, der er ist, wenn er nicht auch polarisieren würde, es ist diese Widerspenstigkeit, die ihn von vielen seiner dichtenden Kolleginnen unterscheidet. Eine Unangepasstheit, die mitunter unbequem sein kann und den Gralshütern des Kanons, die eine Deutungshoheit für sich beanspruchen, die Stirn bietet. Eine konsequente Haltung, die für sich in Anspruch nimmt, anders sein zu wollen als die Mediokren.
Seine Gedichte sind immer auch Liebesbeweise. Er ist der dichtende und empfindende Mensch, der den Dingen, der Kreatur, dem Licht und der Finsternis zugewandt ist. Wie in den Büchern zuvor erweist er sich als Meister des lässigen, kunstvoll-schrägen und manchmal polemischen Sonetts:
WER JETZT NICHT STIRBT, BEHINDERT BESTENLISTEN.
Familien, Türme, Tote, DDR.
Verkürzt gesagt, ein Plot muss ungefähr
Performancetauglich sein für Visagisten.
Ganz unrecht hat er nicht. Die Literatur, die im Kosmos des Dichters Bestand hat, ist immer auch die Poesie der vermeintlichen Aussenseiter, der Provokateure und die der untergründigen Stimmen.
Es wundert kaum, dass in Kolonien und Manschettenknöpfe seine Begleiter Paul Wühr und Donald Barthelme, Paulus Böhmer und Ulrich Zieger heissen. Und dann gibt es die Momente einer skeptischen Zärtlichkeit, die uns Gedichte anders verständlich machen, die uns begreifen lassen, dass es in einem Gedicht immer um alles geht, dass immer alles auf dem Spiel steht:
… wir
Wollten an der Küste immer
Weiter Geburtstag haben, aber die schönsten Dinge
Auf der Welt sind absolute Fehler, wir begannen, die
Vertrockneten Delfine in unseren stattlichen Pferden zu
Verstecken,
Criollos, ihr Mut zur Rempelei, die Reaktion
Am Rind, das Drücken dieser Viecher gegen Gatter und
Zäune, Kadaver, unter Sätteln, auf langen Strecken
In die Rücken eingelesen
Dass die Schönheit in Gefahr ist, weiter aus der Welt zu verschwinden, und dass es keine Schönheit ohne Gefahr gibt, kann man aus diesen Texten herauslesen. Dass in der Welt stetig Schönes zerstört wird und Gedichte davon sprechen, nicht wie etwas bewahrt werden kann, sondern wie Schönheit konstituiert werden kann, wie sie immer wieder imaginiert werden muss, um an das Verschwinden zu erinnern, es womöglich aufzuhalten – und sei es in einem Gedicht.
Thomas Kunst bringt sie zurück, die „mutwillig schönen Gedichte“, wie er es einst versprochen hat. Man wird in diesen Tagen wenig lesen, was die Intensität und Dichte, die bildliche Verzückung und Musik dieser Gedichte zu erreichen vermag.
Nehmen wir die „Anhaltinischen Delphine“. So betitelt Thomas Kunst den zweiten Zyklus seines Gedichtbands Kolonien und Manschettenknöpfe. Immerhin, ein Delfin rettete den Sänger Arion aus Seenot. Aber welche Spezies schwimmt in Anhalt herum? Sollte es nicht überhaupt „anhaltisch“ heißen? Jedenfalls geht es den argentinischen Artgenossen an den Kragen:
Delphin im Sand, vertrocknet, trotz der Rufer.
Touristen, Smartphones, Gier der Bildernetze
Lassen wir das.
Wer in Kunsts Gedichten nach Eindeutigkeit sucht, kommt nicht weit. Kunst arbeitet mit Anspielungen und Assoziationen, verknüpft Orte, Namen, Dinge, Eindrücke und Ideen, die – auf den ersten prosaischen Blick – nichts miteinander zu tun haben. Das geschieht nicht regellos: Kunst beherrscht die strenge Form des Sonetts ebenso virtuos wie das Prosagedicht. Und indem er einzelne Sentenzen an verschiedenen Stellen wiederholt und variiert, schafft er auch eine gedankliche Rhythmisierung, die alle Gedichte durchzieht und zueinander in Beziehung setzt.
Gerade „welthaltige“ Themen – Umweltzerstörung, Kapitalismuskritik oder die Klage über den korrupten Literaturbetrieb kehren immer wieder.
Und so könnte sich die berühmte „Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine“ durchaus auch bei Thomas Kunst ereignen. Aber seine Lyrik gleitet nie ins Absurde ab, wird niemals zur l’art pour l’art.
Denn Kunst glaubt nach wie vor an die schöpferische und weltverändernde Macht der Dichtung. Und der „Zauberstab der Analogie“ von dem Novalis sprach, hat seine magische Kraft keineswegs verloren. Alles Seiende ist einander ähnlich; es gibt einen Zusammenhang aller Zeiten, Räume, Gegenstände und Ideen, von materieller und geistiger Welt.
Der Dichter aber deckt die verborgene Verwandtschaft aller Dinge auf. Das tut Thomas Kunst.
Und erweist sich als Romantiker reinsten Wassers.
Olaf Schmidt, Kreuzer, Heft 9/2017
– Freiheit, Spiel und Sinnlichkeit: Der Schriftsteller Thomas Kunst legt einen überraschenden Lyrikband vor. –
Im vierten Kapitel hebt das Trio ab. Die Schriftsteller Barthelme, Zaimoglu und Kunst lösen die Leinen, die ihren Heißluftballon mit Manhattan verbinden. Kein Ballon wie viele andere, sondern einer, der einer Erdkugel gleicht. Ein Flugkörper, dessen Nylon-Haut voll ist von Wohnlandschaften.
In den Falten, der nur zu 70 Prozent aufgeblasenen Kugel läßt es sich leben. Die Autoren richten sich einen Vierseitenhof ein, was nicht so einfach ist. Bei Schieflage lösen sich Pferde und Kühe aus der Ballonhülle und stürzen herab auf New York. Zaimoglu mißlingt das Anbringen von Familienbildern. Barthelme alarmiert die Feuerwehr. Thomas Kunst faßt die Lage zusammen:
beides zusammen ging eben nie, Bilder
Aufhängen und über Amerika das
Gleichgewicht zu halten.
Donald Barthelme starb 1989. In schlanken, anekdotisch arrangierten Prosatexten brachte der Vater der „new fiction“ die Verhältnisse zum Tanzen. „The Balloon“ heißt seine berühmteste Erzählung. Es ist offenkundig, daß sich Kunst vor dem Amerikaner verneigt, den er mit dem in Kiel lebenden Kollegen Feridun Zaimoglu, seinem Bruder Feri-San, zu seiner poetischen Seilschaft zählt.
Die braucht er auch, denn Kunst ist ein Autor der Unruhe. Einer, den es heraus ins Gelände zieht. In die Ränder der Mitte. In Markthallen, Raststätten, Vergnügungswüsten. Diese Unrast mag nicht überraschen bei einem Dichter, der von der Küste stammt, der 1965 in Stralsund geboren wurde und dessen erster, 1991 bei Reclam in Leipzig veröffentlichter Lyrik- und Prosaband den schönen Titel trug: Besorg noch für das Segel die Chaussee. Aber heute, mehr als 20 Veröffentlichungen darauf, überrascht es eben doch.
Kolonien und Manschettenknöpfe heißt der erste bei Suhrkamp verlegte Gedichtband des Autors, der als Bibliotheksassistent im Hauptlesesaal der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig tätig ist. In sieben Kapiteln führt Kunst vom East River bis an die Wipper, von Malawi bis Markkleeberg. Fast durchweg sind es Expeditionen durch soziale und sinnliche Landschaften, zu denen der 52-jährige einlädt. Auf der Suche nach buchstäblichen Sensationen. Angefangen in Afrika, wo „Kolonien an Körpertemperatur / Unter den Manschettenknöpfen“ dampfen, in einer Gegend, der „die geringste Regierbarkeit“ nicht anzusehen ist. Bunte, sozial tiefenschwarze Wimmelbilder tun sich auf.
Die entfalten sich nicht in platter Weltanschaulichkeit, sondern in einer vor spielerischer Weltfreude summenden Sprache, deren Zeilen auf den ersten Blick nicht immer zusammenzupassen scheinen. Hier verlangt er nach Mitarbeit. Kunst holt den Leser in die Mitautorschaft. Er weckt die Wahrnehmungslust, die er selber beweist. Wer hier mitspielt, gewinnt viel.
Das Surreale ist ja nicht das Unwirkliche, sondern das vergrößerte Wirkliche. Gebäude, die Kugelschreibern gleichen. Das Interieur eines Baumarktes, das die Schlacht von Poitiers nachzustellen scheint, in der im Jahre 732 der Einbruch der Araber nach Westen gestoppt wurde. Wenn gelungene Literatur Subversion ist, liefert Kunst die Subversion der Subversion. Die Schräge noch einmal angeschrägt. Für ihn steht fest:
aber die schönsten Dinge
Auf der Welt sind absolute Fehler.
Von einem Mangel an sinnfälligen Reizen kann denn auch keine Rede sein. Aber es gibt Ordnungsanker. Nicht nur fügt Kunst in seine Langgedichte wiederholende Zeilen ein, die wie Weberschiffchen hin und her eilen, um die Texturen zusammenzuhalten, sondern er bietet auch überraschende Kontraste. Mitten im Globalgewimmel sind Verortungsgedichte zu finden. Verse wie: „VON ALLEN SEITEN IN SEIN ZIMMER GEHEN, / Wenn es die Statik zuläßt, alle Wände, / Die Türen, Fenster rausgebombt, die Hände / Gekrallt in sächsisches Gestein, zu stehen / Gelingt uns nicht…“ als „folgten wir dem Rückstau der Gewalten.“ Oder die literaturbetriebs-sarkastischen, die Lust an West-gefälligen Ost-Schmökern karrikierenden Zeilen:
Familien, Türme, Tote, DDR,
Verkürzt gesagt, ein Plot muß ungefähr
Performancetauglich sein für Visagisten.
Oder:
Wer jetzt nicht stirbt, behindert Bestenlisten.
Verse, die enden:
Wer sprechen übt, darf meine Sprache schätzen
Ich bin im Herbst das Volk und schreib in ganzen Sätzen.
Eine der Zeilen, die im Gedächtnis bleiben: „Der Tod läßt nach, mir bleiben Arbeitstage.“ Kunst, der Mann von der Küste, ist mit vielen Wasser gewaschen. Er ist nach 1989 der erste ostdeutsche Dichter von Rang, der keiner ostdeutschen literarischen Schule verpflichtet ist. Dieser Autor landschaftet nicht, belehrt nicht, klagt nicht, klagt nicht an. Kein Brecht, Huchel oder Hilbig funkt hinein. Stattdessen wird hier herübergewunken zu Barthelmes Witz, Zaimoglus Sinnlichkeit. Überall gilt: Leinen los! Das Gedicht: „Wir dezimieren uns auf leichte Weise“ endet:
Beziehungsstatus: es ist kompliziert,
Ich will nicht hören was ich alles hab
Und weiß wohin im Dorf die Flaschen kommen.
Verse, die man mit Ja unterzeichnet.
– Thomas Kunst liest im Paul-Huchel-Haus aus seinem neuen Gedichtband. –
Was scheinbar nicht zusammenpasst, gehört doch häufig zusammen. Eine Ameise auf dem Eis beispielsweise, oder Kolonien und Manschettenknöpfe. Natürlich will das „alltägliche Leben“ von solch kühnen Konstruktionen absolut nichts wissen, die Literatur schon – genauer die Lyrik. Noch genauer: Die Poesie. Erstere müht sich bekanntlich mehr um Weltbeschreibung. Die Poesie jedoch kann mehr, weiß mehr: Sie setzt scheinbar unmögliche Dinge zusammen, bis man’s glaubt. Ungefähr so, wie es der französische Dichter Lautréamont ganz programmatisch im 19. Jahrhundert formulierte:
Schön wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch.
Der Surrealismus hat gezeigt, wie gut das funktioniert.
Jeder Zufall gibt eben Sinn. Das weiß die Poesie, das scheint auch der Leipziger Dichter Thomas Kunst so zu handhaben, nicht nur wegen seines Namens. Nach weitaus mehr als zehn Veröffentlichungen, mehrere Bände Lyrik, Roman, Hörbuch, Musik-CD liegt ihm fast die gesammelte Kritik zu Füßen. Der gebürtige Stralsunder des Jahrgangs 1965 ist etwas Seltenes unter den Literaten, er ist ein echter Poet, und als solcher befugt, alle Unmöglichkeiten des Hiersein möglich und glaubhaft zu machen.
Am Donnerstag ist er Gast im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus, um aus seinem Neuesten, Kolonien und Manschettenknöpfe, zu lesen. Sein erstes Buch im Suhrkamp-Verlag übrigens, was wohl für einen Autor glatt den Ritterschlag bedeutet. Es wird ja auch nicht jeder in den internationalen Autorenverband P.E.N. aufgenommen – ein so wunderbarer Sonette-Schreiber wie er natürlich schon. Er beherrscht sogar die hohe Schule des Sonetten-Kranzes, wo die Endzeile eines Gedichtes der Anfang des nächsten ist, und alles dabei in der Waage bleibt. Poesie schafft „Welt“. Thomas Kunst war 1995 bei der allerersten Lesung im Huchel-Haus dabei, als das Haus noch nicht einmal renoviert war. Vor drei Jahren las er, lebhaft und dabei bescheiden, aus Die Arbeiterin auf dem Eis, besagte Ameise eben.
Bei Kunst wird aus etwas ganz Kleinem oft etwas Großes, das ist seine Art. Bei dieser Lesung hatte man manchmal das Gefühl, als würde sich seine hohe Sonetten-Schule allzu sehr im Alltäglich-Anekdotischen verfangen. Vielleicht ist das bei Kolonien und Manschettenknöpfe anders, der Titel klingt nach mehr Welt-Erfahrung. Es soll sich irgendwo und irgendwie zwischen Milwaukee und der Arche Noah tummeln. Klingt das nicht wie Nähmaschine und Regenschirm in einer rein zufälligen Begegnung? Und da zu einer Lesung im Huchelhaus immer auch ein zweiter gehört, hat Hausherr Lutz Seiler diesmal den Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl als Moderator eingeladen. Literaturleute unter sich. Je mehr da über Poesie und Leben, je weniger über die Literatur geredet wird, um so besser.
In diesem Buch jedenfalls werden kurzerhand „sämtliche Pferde“ im Bürgerkriegsland Malawi beschädigt, obwohl einem eher „nach abgeflauter Zufriedenheit zumute“ war. „Gedichtverlauf mit Äpfeln an den Rändern“, Wasserkernenot – ein großes Gedicht aus Welt und Poesie gemacht. Thomas Kunst versteht es wie kein Zweiter – wehe, es wäre anders – beides in Eines zu gießen, mit ihren ernsten Dingen wie ein Kind zu spielen. Texte, die „Welt“ nur bedeuten – nicht Welt sind! Er dichtet, als hielte er Novalis’ „Zauberstab der Allegorie in Händen“, als sei alles nur immer Gleichnis. Dort ungefähr geht es wohl hin, auch wenn er noch immer einem bürgerlichen Beruf nachgeht. Wo? In der Deutschen Nationalbibliothek zu Leipzig.
(…)
Explosiver, bunter, heftiger jagt Thomas Kunst die Gedichte seines Bands Kolonien und Manschettenknöpfe von Markkleeberg und Unterzetzscha im Süden von Leipzig auf die Kopfreise nach Malawi und Madagaskar oder an die Sixth Avenue, Ecke 54. Straße, aber seine Sonette bleiben heil und reimen sich auch. Der Lyriker und Erzähler, geboren 1965 in Stralsund, mikroskopiert die Welt, seziert sie und setzt ihre Teile auf ganz eigene Weise neu zusammen. So fremd wird uns das Vertraute, dass wir es erstaunt anschauen, als hätten wir es nie zuvor gesehen. Das Werk von Paul Wühr, an den Thomas Kunst in seinen Anmerkungen erinnert, kennt diesen tiefen Kinderblick auf eine neu geschaffene Welt. Bei Kunst genügt oft eine geringe Brechung des Gewohnten, damit ein großes neues Bild entsteht:
Der Liebestaumel ist ein muskelfrischer
Gedichtverlauf mit Äpfeln an den Rändern.
(…)
– Ein guter Vorsatz fürs neue Jahr: Sich mal wieder viel mehr und viel intensiver mit Lyrik zu beschäftigen, mit dieser faszinierenden Kunst, in einem Vers all das und noch mehr zu sagen, wofür ein Gegenwarts-Roman mindestens 800 Seiten braucht. –
Einer der faszinierendsten Dichter aus unserem Sendegebiet heißt Thomas Kunst, geboren in Stralsund. Bei Suhrkamp ist vor Kurzem mit Kolonien und Manschettenknöpfe der zehnte Gedichtband von Thomas Kunst erschienen.
Komm, wir gehen auf eine Reise, und ich verrate dir noch nicht einmal, wohin! Dann, kaum hat er das ausgesprochen, packt der Dichter dich am Arm und lässt dich für ein paar Stunden nicht mehr los. Er ist verrückt, weil er das Verrücken von Sprachcodes, von Kausalitäten, von Maßstäben mit Hingabe betreibt – er ist verrückt, aber er ist kein Scharlatan: Sein Versprechen hält er. Wir wissen nie, wohin wir gerade mit ihm reisen.
… man wird sich ja wohl noch
Mal vor seinem Tod in einem nordpakistanischen Tal ein kleines,
Unrestauriertes Haus mit unverputzter Waschküche kaufen
Dürfen, um älter als der Rest der Menschheit zu werden…
Ja klar, das darf man, und niemand und nichts wird den Dichter daran hindern – außer vielleicht der wilde Strom seiner Gedanken, Bilder, Buchstabenbrocken. Der ist nicht zu zähmen, nicht zu bändigen – und wie sollte er das auch, wenn doch das Wichtigste, was wir haben, die Erinnerung, frei in uns herumwirbelt und alles mit allem vermengt. Man kann mit Thomas Kunst nach Afrika reisen und landet mit dem Wahl-Leipziger am Connewitzer Kreuz, man kann mit ihm die massive Gebirgslandschaft in Zentralasien erkunden und hat auf einmal die heimische Ostsee fest im Blick.
… seit über den Karakorum Highway
Ende der siebziger Jahre gezuckerte Getränke und Konservierungsstoffe
Nach Karimabad gelangten, kamen hier vor allem die
Osteuropäischen Lebenserwartungen in Mode, Fettleibigkeit,
Diabetes und Bluthochdruck aus Litauen und dem Kosovo, als ich
Dreizehn Jahre alt war, gab es auf Rügen sechs Meter
Hohe Schneewehen, Flugsand, Eisregen und die maßlos
Übertriebenen Regalauffüllungen aus Temperatursturz und
Einigen bis an die Obergrenze verschmierten Wind-
Entgleisungen…
Thomas Kunst zeigt sich in seinen formal sehr variantenreichen Gedichten immerzu gefechtsbereit. Mal trägt er hoffnungslose Kämpfe gegen Klimawandel und sonstige Katastrophen aus, mal zieht er in den hoffnungsvollen Wettbewerb um den Bau unserer Alterspyramide: Wie schnell, lautet die Preisfrage, lässt sich die Mutter in ein neues Pflegeheim, sagen wir von Lübbenau im Spreewald bis nach Milwaukee/Wisconsin überführen?
… die Getränke wurden mit einer
Westerneisenbahn an unseren Tisch
Gefahren, für meine Mom eine Cola mit Eis, für
Mich ein großes Alkoholbier, aber vor
Unserem Auftritt wären noch drei andere
Drangewesen, der Krankentransport
Wartete solange draußen, die Uhr lief
Weiter, ich entschuldigte mich
Bei den Preisrichtern, um durch den
Unkollegialen Einwurf meiner Mutter
Mitten im Wettkampf nicht disqualifiziert zu
Werden…
Thomas Kunst schreibt Gedichte, die unsere verstopften Denkapparate wieder freipusten und für jeden Gefühlsstau eine Umleitung finden. Ihn zum Freund zu haben müsste ein große Sache sein: Man dürfte, wie Feridun Zaimoglu, mit ihm eine lyrische Ballonfahrt unternehmen und dabei vielleicht etwas mehr Gleichmut, etwas Abstand von der anstrengenden Weltpolitik gewinnen; und man könnte hoffen, dereinst, wie der Dichter Gaston Salvatore, so wunderschön von Thomas Kunst verewigt zu werden:
Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß.
Und mag die ganze Welt dabei versinken
Ich liebe es zu toben und zu trinken.
Was ist am Glas mit deinen vielen Fingern los?
Ruppiger Realismus
In diesen Gedichten geht es immer um alles. Sie sind nicht nur in der gesamten Welt unterwegs, von Delitzsch-West bis Bombay. Sie versammeln auch die unterschiedlichsten Eindrücke, Gedanken, Gefühle in einem gemeinsamen Kosmos eines ruppigen Realismus. Beeindruckend, wie der Leipziger Dichter Thomas Kunst auf der Klaviatur der Formen spielt, Sonette schreibt, Brief- und Prosagedichte, Ungereimtes und Reimvollendetes.
Beeindruckend, wie Kunst dabei aus Kleinigkeiten und Einzelheiten Welten erstehen lässt, aus einem Tankstellenbesuch oder aus einem Kronkorken. Vor allem beeindrucken diese Gedichte aber durch ihre Widerborstigkeit und durch ihre hartnäckige Weigerung, einer schlechten Welt dennoch schöne Verse zu singen. Dass einzelne Zeilen in verschiedenen Gedichten auftauchen, dass sie sich ineinander verhaken und verfangen, dient hier nicht der Imagination einer heimlichen Harmonie: Diese Gedichte stürzen sich kopfüber in eine Welt, die im Innersten nichts zusammenhält.
– Über Thomas Kunsts neuen Gedichtband. –
Der 1965 in Stralsund geborene Dichter Thomas Kunst hat es endlich geschafft: Sein Traum, bei Suhrkamp einen neuen Gedichtband zu platzieren, ist im Herbst letzten Jahres wahr geworden. Dabei ist Kunst, der in Leipzig als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek arbeitet, in der modernen deutschsprachigen Lyrik längst kein Unbekannter mehr, zumal er seit gut dreißig Jahren publiziert.
Sein Debüt Besorg noch für das Segel die Chaussee, ein Band mit Gedichten und Prosa, erschien 1991 in Leipzig. Danach folgten viele Lyrikbände mit herzzerreißenden Titeln, die einem Schlager ähnlich leicht im Ohr hängen bleiben wie zum Beispiel Was wäre ich am Fenster ohne Wale (2005) oder Die Arbeiterin auf dem Eis (2013). Es folgten einige klassische Auszeichnungen: 1996 der Dresdner Lyrikpreis, 2003 das Villa-Massimo-Stipendium oder 2014 der Lyrikpreis Meran. Alles überschaubar und ordentlich.
In den Insiderkreisen gehört Kunst schon immer unter die ersten fünf wichtigsten deutschsprachigen Dichter, nur gibt es für einen Autor nichts Bedrückenderes als sein Leben lang als Geheimtipp zu gelten. Dies wird sich nun mit Kolonien und Manschettenknöpfe, einem bilderreichen und selbstbewusst daherkommenden Gedichtband, ändern. Mit anderen Worten: Thomas Kunst ist sehr spät, erst mit Anfang 50, erwachsen geworden.
Doch in gewisser Hinsicht – in diesem Fall zum Glück – ist er ein fröhliches DDR-Kind geblieben, dem ein paar neue „Musikkassetten“, eine Flasche Rum und im Anschluss eine spontane Kurzreise nach Venedig, wo er 2010 Stipendiat im Deutschen Studienzentrum gewesen ist, vollkommen reichen, um glücklich zu werden. In den Anmerkungen zu seinem Gedichtband schreibt Kunst von Platten, die ihm beim Schreiben „unabdingbar“ gewesen seien, aber auch über seine schwierige Freundschaft zu dem 2015 verstorbenen chilenisch-deutschen Dramatiker Gaston Salvatore, dem Revoluzzer der westdeutschen Studentenbewegung. Salvatore ist in Kolonien und Manschettenknöpfe ein Brief gewidmet, und wer den exzentrischen und rechthaberischen Dramatiker aus Venedig gekannt hat, weiß, wie schwierig es war, mit ihm einen Abend ohne Streit durchzustehen, wobei es bei diesen Reibereien oft um die Dichtung gegangen war, spanischsprachige meistens, Luis de Góngoras oder Pablo Nerudas zum Beispiel. Kunst ließ sich auf den intellektuellen Ringkampf mit Salvatore ein, ein Ostdeutscher lasse sich niemals abweisen, ein Genie schmeiße man nicht raus – solche pathetischen Sätze waren genau die richtige Methode, um Salvatore zu zähmen, und gelang dies einem, zeigten sich auch schnell seine Herzensgüte und Wärme, die Kunst selbst ausstrahlt, nicht nur als Lyriker.
Doch zur Sache: Kolonien und Manschettenknöpfe setzt in gewisser Hinsicht Kunsts poetische Arbeit aus den letzten Jahren, zu der auch der erwähnte Gedichtband Die Arbeiterin auf dem Eis gehört, fort. Allerdings ist die neue Lyrikarbeit welthaltiger, distanzierter und vor allen Dingen selbstbewusster als die älteren Texte.
Kunst war nie ein politischer Autor, der die schwierige DDR-Geschichte wie auch die Zeit der Wende thematisch ausgeschlachtet hätte – er ging immer seinen eigenen Weg und passte auf, dass er unabhängig blieb. Deshalb versteht man auch, dass er Nicolas Born oder Rolf Dieter Brinkmann mag und die alte gute DDR-Soljanka nach der Wende eher selten weitergekocht und ausgeschlürft hat – im Gegensatz zu vielen seiner schreibenden Mitstreiter aus dem Osten. Es verwundert daher nicht, dass Kunst in seinem neuen Gedichtband solche ironischen Verse schreibt:
Wer jetzt nicht stirbt, behindert Bestenlisten. Familien, Türme, Tote, DDR.
Verkürzt gesagt, ein Plot muß ungefähr
Performencetauglich sein für Visagisten.
Kunst hat einen Gedichtband vorgelegt, der voller kritischer und sogar subversiver Zwischentöne ist und zwar gegenüber unserer heutigen modernen Epoche. Er misstraut nicht nur der Politik und den Regierungen, er misstraut auch der menschlichen Zivilisation per se, die sich aus dem Sterben der Delphine und Klimawandel letztlich wenig macht, die scheinbar nur einen Ausweg aus diesem technologisch-wirtschaftlichen Konflikt mit der Natur und der Überbevölkerung kennt: die Verlegung der Kolonien ins Weltall. Sobald der Konsum auf dem Planeten nicht mehr möglich sein wird, wird man andere Planeten und Welten erobern, um mit unserem teuren Lebensstil fortfahren zu können – diese kritische Bestandsaufnahme der menschlichen Kulturgeschichte auf der Erde filtert man nach der Lektüre von Kolonien und Manschettenknöpfe heraus und staunt: „schon während unserer / Ersten Mission im Weltraum teilte uns die Bodenstation / Mit, daß die Privatisierung des Raumschiffs durch einen / Nichtgenannten Investor endgültig gescheitert war “, heißt es im Poem „Unser Handwerk im Wasser der Tagesverzögerung“.
Diese unsere Welt, in der wir die Globalisierungsunsitten mittlerweile in so gut wie jedem Staat, insbesondere in ehemaligen Kolonien, vorfinden, ist voller austauschbarer Container, scheinbarer Zauberschätze, die sich jedoch zum Schluss als Müll entpuppen, auch als der geistig-digitale Müll. Kein Wunder also, dass Kunsts Dichterherz für die Schönheit der Delphine schlägt und um sie bangt, werden doch diese wunderbaren Tiere in ihrem Drang zum Überleben von unserer Zivilisation gehindert und bedroht – als Spezies, wovon das Gedicht „Der Horizont“ am Schädel eines Pferdes, Pontoporia erzählt.
Natürlich sind die Kolonien und die Knöpfe, die auf die Legende von Jemmy Button, den indigenen, nach England entführten Feuerlandeinwohner, anspielen, auch Symbole für Sehnsuchts- und Fernwehorte in der Kunst’schen Lyrik. Und natürlich ist der Leipziger Dichter ein Mythomane und Romantiker, der mitten in Leipzig-Markkleeberg nach Connecticut sucht, wo er am liebsten leben würde. Aber in dieser auf Assoziationen basierenden Dichtung, in der Zeitreisen in die DDR und in die Kindheit oder ein Kontinentenwechsel mit Leichtigkeit gemeistert werden, geht es vor allen Dingen um die Vielschichtigkeit unserer Welten, die wir geschaffen haben, und so spiegelt das scheinbare Chaos der Zeiten und Orte in diesen Gedichten auch den Zeitgeist unserer mobilen, globalisierten Gesellschaft wider – einer Gesellschaft, in der es scheinbar keine festen Grenzen mehr gibt.
Wenn man Thomas Kunst, was den Rhythmus und die Bilder seiner Sprache angeht, in eine Schublade stecken wollte, so passt zu ihm noch am ehesten die großartige, obgleich schwer verständliche Dichtung von Eugenio Montale, dem italienischen Nobelpreisträger von 1975. Denn beide, sowohl Kunst wie auch Montale, sind lyrische Maler, nur dass Kunst seine Porträts und Landschaften auch in der Heimatlosigkeit und im Fernweh findet. Großartig.
Artur Becker, Literaturblatt für Baden-Württemberg, Mai/Juni 2018
Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wurde im deutschsprachigen Literaturbetrieb heftig darüber debattiert, was denn alles Platz in einem Gedicht habe. Es war die Zeit der experimentellen Poesie, der Agitprop-Lyrik und der einsetzenden Woge der Alltagslyrik, und diese neuen lyrischen Töne bedurften der poetologischen Untermauerung. Gedichte sollten sein „wie Songs“, wie „vollgestopfte Schubladen“, sie sollten ganz nah ran an die Wirklichkeit und nicht mehr mit hohem Ton und hermetischer Bildlichkeit raunend Dunkles beschwören. „Wer Metaphern anfasst, verbrennt sich die Finger“, so die Warnung. Dass die daraus resultierende Neue Subjektivität vor lauter Alltag und Ich-Sagen häufig das Poetische aus dem Blick verlor, bewies nur, wie schnell aus Offenheit ein neues dichterisches Korsett werden konnte.
Heute steht außer Frage, dass alles Platz haben kann in einem Gedicht. Welch wilde Versgemenge daraus entstehen, deutet der Titel des Bandes von Thomas Kunst an: Kolonien und Manschettenknöpfe (Suhrkamp 2017). Geografisch umspannen diese Gedichte mehr als die halbe Welt. Von Afrika ist es einen halben Vers weit bis nach Sachsen, und hinter der Shell-Tankstelle in Delitzsch-West liegt die argentinische Küste.
Es gibt „Schwalben über dem Eriesee“ und „anhaltinische Delphin“”, zu den literarischen Bezugsgrößen gehören u.a. Rilke Donald Barthelme oder Kunsts Duz-Freund Feridun Zaimoglu. Es gibt sehr lange Gedichte, Prosagedichte und vorzügliche Sonette. Etwa die Rilke-Parodie „Wer jetzt nicht stirbt, behindert Bestenlisten“:
Gewöhnung an das meiste wird sich rächen.
Das Alter ist von jetzt an Heimat nur.
Die Lebenskreise sind erschöpft und hohl.
Es muß das Herz bei jeder Bindung brechen.
Nur wer bereit zu Abmarsch ist und Tour,
Dem sagt der Weltgeist leck mich doch, leb wohl.
Thomas Kunst gilt als geheimes verkanntes Genie. Er lebt in Leipzig und verdient sein Geld als Saalaufseher in der Deutschen Nationalbibliothek. Nun erschien er erstmals, musikalisch gesprochen, bei einem Major Label. Nach dem wilden Ritt durch diesen lyrischen Kosmos steigt man reichlich durchgerüttelt aus dem Lesesattel.
Wiener Zeitung, 13.5.2018
Zurück aus der nur halb versunkenen Welt der alten Ägypter, blieb mir tief in der Krypta von Dendera vor allem das wirkliche, nicht das abgebildete Bild, das Relief von der geheimnisumwobenen und angeblich kosmisch entsprungenen „ptolemäischen Glühbirne“, die wohl eher eine Wiedergeburt der Sonne darstellt. Aber eben genau diese Sonnengeburt begeisterte mich nun, und da wußte ich auch zugleich, wie ich es angehen mußte mit Gedichten, die den so seltenen einzigen Frischegrad ausströmen, den es nach Michail Bulgakow gibt, nämlich den ersten; mit Gedichten eines Dichters, bei dem ich mich schon lange mit Seamus Heaney frage:
Wie kommt das Wahre in das Ausgedachte?
Frag mich was Leichtres.
Es geht in diesem lyrischen Opus magnus von Thomas Kunst um Kontinentales, um Globales, ja Kosmisches und zugleich um Intimstes, Alltäglichstes, ja überscharfes und nur scheinbar Nebensächlichstes, um ein so noch nicht gesehenes Wechselspiel von Extrem Long Shot und Extreme Close-up. Dies ist das erste Konstrukt des Bandes, das mir auffiel und vor allem gefiel, aber das kannte ich schon bei diesem Dichter.
Das ist aber, wohl selbst für Thomas Kunst, kein gewöhnlicher Gedichtband. Wer in ihn eintritt, muß quasi gleich die ganze Tour von Kairo bis in den tiefsten Sudan machen, und dies am besten gleich mehrmals hintereinander. Der ganze Band, dem man als einer einzigen Komposition, einem Poem, einem einzigen Gedicht begegnen sollte, wie es ja auch T.S. Eliots The Waste Land ist, versetzte mich sehr schnell in eine Atmosphäre, wie ich sie auch von einem Hauptwerk der surrealistischen Malerei her kenne, nämlich von den beiden so unterschiedlichen Versionen von „Europa nach dem Regen“ von Max Ernst.
Das Werk von 1933 zeigt eine Art Landkarte von einem Europa wie nach einer Sintflut und beispielsweise nun ohne den Stiefel Italiens. Auf der Version von 1942 ist ein stockender bleicher Sumpf zu sehen, aus dem dies und das zunächst Undefinierbare aufragt, man erkennt dann etwa einige Frauentorsi wie Salzsäulen.
„… ich bin für die Wiedererkennung von Rudimenten / Auf einem abgewaschenen Kontinent…“ (93), lesen wir bei Thomas Kunst, oder: „… die Konferenzen der / Jahrhunderte, Starrsinn und / Bauchseite, Rest und / Geschichte.“ (94 und 95). Eines der wenigen kurzen Gedichte lautet: „Bootsreste am Strand von Buffalo, Schwalben / Und Schwalbenasche, faxen / Sie mir bitte die Namen von / Den Lebewesen, Lieutenant, die erst / Nachträglich auf die Gästeliste / Gekommen sind.“ (97), und der Band endet so:
Armenische Strände
Zwischen Felsen und
Gletschereis, Zypressen mit
Würmern an den Füßen
Rudimente auf
Einem abgewaschenen Kontinent, Rest und
Geschichte (112)
Wir fahren augenscheinlich auf einer gigantischen Arche, wohl der Erde selber, und „… dem Elend war nicht / Die geringste Regierbarkeit anzusehen“ (11), und es kommt einem das ganz große Gruseln, wenn man am Ende versucht ist, die vielen Leerzeichen auf Thomas Kunsts „Gästeliste“ mit Tier- und Pflanzennamen aufzufüllen, eine Gästeliste, die ja irgendwelche Hauptinsassen bedrohlicher Konvois aufgestellt haben müssen, Konvois in einer „Völkerwanderung / Beschämender Regierungen“ (79/82/83).
Die sind unterwegs in genau die Richtung, wo sich am Ende das lyrische Ich, besser ein lyrisches Wir – nämlich ein ganzer sehr tatkräftiger und zugleich verspielter Freundschaftstempel – in einer Art fragilem Utopia niedergelassen hat:
… dabei hätten wir uns dort oben so sehr
Sprachgewalt und Unabhängigkeit in einem
Eigenen Vierseitenhof gewünscht… (63/104).
Aber da sind augenscheinlich nun auch „in den Fels geschlagene Paläste“ entstanden, ja wo sogar das passieren könnte:
Die ganze Menschheit könnte man in Berge stopfen (83).
Der Gedichtband zeigt einige solcher mehr als fragilen Refugien, ihren Aufbau etwa in Großörner im Mansfeld, quasi zwischen Luther und Novalis; Großörner, wo auch Wilhelm von Humboldt grundlegende und bis heute weltweit reflektierte Staatsgedanken zum Liberalismus aufschrieb, oder ein paar Kilometer entfernt Gottfried August Bürgers Heimatdorf Molmerswende. Von dort mag nun auch Kunsts Kunst als völlig neuartige Münchhausiade daherkommen, sie beschreibt doch schon jetzt, wie ich inzwischen durch noch unveröffentlichte Beispiele weiß, in mancher Hinsicht „brennende“ Realität und Aktualität. Im Band gibt es zum Beispiel ein Dorfgedicht, das man sowohl im Himmel, möglicherweise auf dem Mars, als auch auf Erden, des Mansfelds etwa, verorten darf, und es mag sogar ein ähnliches Dorf sein, wo noch Niklas Luhmanns „Blubo und Brausi“, also Blut und Boden, Brauch und Sitte, vielleicht nicht gar so blöd gepflegt werden, etwa im ebenfalls sachsen-anhaltischen Schnellroda identitärer Geister-Ungeister.
Kleinidyllen jedenfalls, wie sie bei Thomas Kunst vielfach, aber überaus prekär und überhaupt augenzwinkernd heraufbeschworen werden, kennt man bereits aus der Anakreontik, aus der Voß- und Klopstockzeit, aber natürlich auch vom Apokalyptiker Arno Schmidt. „Ein Hausboot aufm Styx will Schmidt“, dichtete einmal Karl Mickel so schön wie treffend. Was der DDR-Sozialismus mit seiner Faust-Formel „Vom Ich zum Wir“ aber niemals schaffen konnte, das gelingt hier Thomas Kunst, nämlich spielend, indem er sein lyrisches Ich wie selbstverständlich in ein lyrisches Wir verwandelt, so als sei es Gleims gesamtem Halberstädter Freundschaftstempel doch noch gelungen, in die Gegenwart, ja in die Zukunft umzuziehen, wenn diese auch eher im Himalaya-Ararat von Pakistan-Armenien stattfinden sollte. Nur heißen bei Kunst die Anakreontiker, Vorklassiker, Stürmer und Dränger nicht mehr Uz, Stolberg, Gellert und Gleim, sondern der „liebste Feri“ Zaimoglu, Ulrich Zieger, Donald Barthelme, Gaston Salvatore. Was für ein Gegensatz zum einzigen und ganz alleinigen Narziss, dem Gott des Literaturbetriebs!
An dieser Stelle sei gleich ein zweites Konstrukt als ein wichtiger Spannungsbogen benannt. Dieser Bogen wird schon mit dem berückenden Motto von Fleur Jeaggy des Bandes aufgespannt:
Ich war dermaßen glücklich, dass ich mich aus Versehen in einer Mauer spiegelte.
Unglaublich, aber überzeugend, und nicht nur das. Die Sintflutteilnehmer und somit ja zugleich Refugienerrichter erleiden nämlich kein Schicksal, sie sind nicht passiv, sondern sie sind aktiv, sogar hyperaktiv, und sie lieben allermeistens, was sie tun. Der Band wimmelt von modernsten, wenn auch versteckten Balladen. Einer zuweilen Überfülle von Substantiven und Substantivkonstruktionen wird hier immer gekonnt gegenbalanciert durch Verben, wie sie zuletzt wohl so kräftig bei den besten Stürmern und Drängern wie Klopstock, Bürger oder Voß gebraucht worden sind.
Die Sintflut, Europa und die ganze Welt nach dem Regen bleiben dabei immer Thema, wenn es sich auch meist um eher kleine, probeweise Sintfluten handelt: Da gibt es etwa einen Erdrutsch am Südhang des Attabad in Pakistan, der zu einer Überflutung führt (38), aber das für mich schönste Beispiel dafür kommt aus dem Winter 1978/79 (30 – 37/103).
Die Sintflut tritt hier in der Form von Eis und Schnee auf und hat auch den beglaubigenden Drive, sehr autobiographisch zu sein. Nach dem Max-Ernst-Prinzip sind auch hier die pakistanisch-armenischen Ereignisse in den großen Fimbulwinter von 1978 zu 1979 in Deutschland, speziell an der Heimatküste von Thomas Kunst, in Stralsund, „verwaschen“ oder hier wohl besser: zu einer Eis-Variante erstarrt.
Ein drittes Konstrukt des Bandes sind hierbei Zeitmaschinen, die alle Ereignisse, ob nun aus den Siebziger Jahren oder aus der Zeit Karl Martells und der Mauren, aus Argentinien, Malawi oder Pakistan gleichwertig und gegenseitig reaktionsfähig in einen weltweiten Raum stellen, wie ihn nur die Poesie der Dichter, nicht die der, wenn schon nicht hirnlosen, so doch herz- und also ahnungslosen „Sprechartisten“ (72) in ihren Egokammern bereithält.
„Keiner, dem die Dichtung am Herzen liegt, muss sie studieren“, schrieb einmal John Ciardi, „er kann sich stattdessen in sie hineinleben.“ So macht es nämlich Thomas Kunst, er lebt sich wirklich und wahrhaftig und mit Haut und Haar in seine Gedichte hinein, besonders mit der Hilfe seiner Zeitmaschinen, und so sollten es auch wir als „erweiterte Autoren“ halten, wie Novalis die Leser nennt. Wir sind bei Thomas Kunst sogar noch mehr als nur Leser, die es sich im Sessel gemütlich gemacht haben, wir sind nämlich eingeladen, Mitspieler zu sein, Mittäter, Mitgegangene und Mitgefangene, – wenn`s sein muß Mitgehangene.
Das Fimbulwinterbeispiel aber zeigt wohl am besten, wie Thomas Kunst es vermag, wichtige Motive seiner Dichtung und vor allem Hyperrealismus mit Imagination untrennbar zu verbinden. „This world is a world of imagination“, wie es schon William Blake ausdrückte. Mitten in der erstarrten Eiswelt von Anfang 1979 gibt es Kleinidylleneinsprengsel, eine sowjetische Kinderraumkapsel, die zugleich ein teenagererotisches Liebesnest ist: „… ein gefrorenes Strumpfband von Denise Biellmann wäre mir / Lieber gewesen, aber das hätte in dieser winterlichen / Ausführung in keine Rhenaniadose gepaßt…“ (37) und „… solche Sehnsucht nach den Oberschenkeln, den / Knieverläufen und den Unterschenkeln von Denise / Biellmann gehabt…“ (104) Nein, für den Dichter Thomas Kunst geht das Jahr 1979 ebenso wenig vorbei, wie er immer bei der Schlacht Karl Martells gegen die Mauren zugegen ist, wenn die poetisch so überzeugend auf dem Baumarkt weitergeht angesichts des „Carport Arcadia 5000“. „Nachrückende Paletten“ (60) und „Nachrückende Reiter“ (109) unterscheiden sich da nur in ihrer jeweiligen historischen und poetischen Darreichungsform.
Denise Biellmann war übrigens, wie auch im Band angemerkt steht, eine berühmte schweizerische Eiskunstläuferin der 70er Jahre. Ich schalte, wie öfters beim Lesen in Kolonien und Manschettenknöpfe, auch allerlei Zeitmaschinen ein, in dem Fall Youtube, und ich habe Denise Biellmann inzwischen unter meine Daseinsgründe eingereiht. Warum? Hier feiere ich, neben konkreten Gründen, wie sie mir Thomas Kunst lieferte, auch das „Inkommensurabele für den Verstand“, wie Goethe das eigentlich Poetische bezeichnete, von dem auch hier natürlich nur drumherumgequatscht die Rede sein kann.
Das führt mich nun zum vierten Konstrukt im Gedichtband: Thomas Kunst ist im besten Sinne Kants ein „Bürger zweier Welten“, nur dass die intelligible Unterseite seiner ungeheuren phänomenalen Fülle eher den Gesetzen und der Logik musikalischer Kompositionen als dem reinen Denken folgt, wenn auch nicht streng und eher nach den Lebensgesetzen, die nach Novalis „krumme Gesetze“ sind. Hier ist jedoch eine Arbeitsweise gemeint, die ihr Material nicht nur aus den Wirklichkeiten selbst herantransportiert, sondern sich ebenso aus Sekundärquellen, digitalen Welten und virtuellen Räumen, ja vor allem aus der eigenen Münchhausen’schen Fantasie versorgt und beides, oft schon ununterscheidbar, vermischt. Münchhausiaden sind heute ja oft schon in ihrer zuweilen wirklichen Durchschlagskraft gar keine Lügenmärchen mehr. Wir alle reiten doch alltäglich auf noch ganz anderen Geschossen als auf den nahezu harmlosen Kanonenkugeln. Die heutige Realität funktioniert ohnehin immer mehr aus diesem Wechselspiel von virtueller und physischer Aktion. Alles, was geschieht, ist außerdem immer mehr und überall Recycling. Thomas Kunst ist nicht nur Stürmer und Dränger, er ist auch der barocke Typ, der alles auf zuweilen überraschendste und humorvollste Weise verwendet, was er nur in seine Finger kriegt. Er liebt seit langem schon die entlegensten Frauen- und geographischen Namen und setzt dabei, bei mir zu Recht, voll auf die Kraft des „Nomen est Omen“, und wenn bisher die Welten der Gebrauchsanweisungen, der Technikbeschreibungen oder gar der Bürokratiesprachen noch nicht poetisiert wurden, Thomas Kunst hat selbst davon noch Vieles für sich und die Literatur erobert. Dabei sprengt er auch den Rahmen üblicher Gedichtbände, schreibt mittendrin Briefe, wenn auch lyrisch-magische an seine Freunde, poetisiert selbst noch seinen Anmerkungsapparat und zählt uns zumindest die musikalischen Drogen auf, die er für seine Wortmusiken verwendet hat, sicherlich darauf setzend, daß auch wir Leser unsere Listen haben, nach denen wir uns in eine Stimmung versetzen können, die es, und zwar für eine ganze konzentrierte Weile, braucht, um an seinen Weltfahrten zwischen Großörner und dem Ararat teilnehmen zu können.
Da bin ich nun schon beim fünften Konstrukt: Magie und Beschwörungshandlungen, wie sie etwa die Lakotaindianer praktizieren beim Bau und Betreiben ihrer Schwitzhütten, in denen sie schließlich in den Kosmos reisen und dabei ihre Schlacken und Krankheiten entsorgen. Im Film Melancholia von Lars von Trier baut die schwer an Melancholie erkrankte Hauptheldin am Ende eine eher symbolische Schwitzhütte aus nur wenigen Weidenruten, in die sie dann beim Herannahen des erdzerstörenden Kometen die beiden Kinder ihres Bruders mit hineinnimmt. Die zweifeln natürlich etwas an dem, was ihre verrückte Tante sich da wieder ausgedacht hat. Aber die ist mehr mit sich im Reinen als je zuvor und spricht den letzten großen Satz des Films, der die Kinder noch wirklich beruhigt:
Tante Eisenbrecher weiß schon, was sie tut.
Der Gedichtband von Thomas Kunst wimmelt von ähnlichen merkwürdigen Ritualen, denn dem alleinig Kontemplativen traut Thomas Kunst, der Dichter der Aktion, nicht. Vielleicht zeigt sein Mönch Shi Yongxin am besten, worum es ihm eigentlich geht, der nennt dergleichen nämlich „glückselige Geringfügigkeiten“ (66). Mit denen kann man also die Welt wahrscheinlich kaum ändern, eher aber kann man noch sich selbst der Welt gegenüber als würdig, und zugleich oft augenzwinkernd, setzen und sich überhaupt ernsthaft aktionsbereit machen. Was da zum Beispiel an der Wipper, die durch Großörner fließt (68), geschieht, könnte man tätige Kontemplation nennen, oder weltliche Religiosität. Man kann dann beispielsweise, zusammen mit dem Freund Feri etwa, im agra-Park Leipzig Fahrräder, frische Schweinshälften und eine Drohne zum Zaubern verwenden (77), und selbst ein harmloser Kaugummi (z.B. 43, 108) hilft noch, sich beispielsweise gegen „Betroffenheitsnötigungen“ (92) wie im Gedicht „Ich spreche in Berlin KZ-Gedichte ein“ zu wappnen.
Ein sechstes Konstrukt schließlich ist noch fast jedem, meistens aber an Kunst bisher gescheiterten Kritiker von Kolonien und Manschettenknöpfe aufgefallen und betrifft das, was Ezra Pound „Melopoeia“ genannt hat. Es ist die Komposition des Ganzen aus Langgedichten und leichtfüßig kühnen Sonetten und ihren Geschwistern, die in einem so großartigen, aber nicht eben beruhigenden Finale eher in Ezra Pound’scher „Phanopoeia“ gipfelt.
Wer sich jedenfalls von diesen Strukturen leiten läßt, kommt immer tiefer hinein in diese mal schöne, mal sehr sehr häßliche neue Welt, die bei Thomas Kunst immer auch deren Phänomene zeigt, wie sie heute auch unter dem Begriff „Anthropozän“ betrachtet werden.
Christian Eger schrieb zu Kolonien und Manschettenknöpfe in der Mitteldeutschen Zeitung, Thomas Kunst sei „nach 1989 der erste ostdeutsche Dichter von Rang, der keiner ostdeutschen literarischen Schule verpflichtet“ sei. „Kein Brecht, Huchel oder Hilbig funkt hinein.“
Ich möchte dem hier noch ein wenig widersprechen. Hilbig ist zu groß, um als ostdeutscher oder sogar als deutscher Dichter festgelegt zu werden. Hilbig selber sah sich ja auch lieber als europäischen Dichter. Thomas Kunst nun knüpft nicht direkt irgendwo bei Hilbig an, wenn ich mir auch Hilbigs Großgedicht „das meer in sachsen“ mit seiner Schlußzeile „stürzt den ararat“ durchaus als geheime Riesenüberschrift über dem Gesamtgeschehen in Kolonien und Manschettenknöpfe vorstellen könnte, ich meine aber folgendes: Wolfgang Hilbig war wohl der erste Dichter der Weltliteratur, der gerade durch das vor- oder überwissenschaftliche Poe’sche Konzept des „poetischen Intellekts“ sich das Vermögen erwarb, konsequent „durch“ zu sehen ins eigentlich nicht Sichtbare. Dabei war Hilbig übergenau im Beschreiben dessen, was wirklich verschwand und dennoch in seiner Literatur noch zumindest existentiell wichtig erahnbar bleibt. Es dreht sich hier eigentlich auch um die erdgeschichtliche Formation des Anthropozäns. Eine so nüchterne Wissenschaft wie die Geologie könnte heutzutage den poetischen Visionen und Befunden eines Wolfgang Hilbig ohne Probleme und eher sich noch bereichernd an die Seite treten. Hilbig schrieb bereits 1989 in einer Urfassung zu seinem Roman Eine Übertragung über die „Umgegend“ seiner Heimatstadt Meuselwitz:
Es war ein Gebiet, das man der Hölle entrissen zu haben schien, und doch glaubte man, in diesen unzähligen Kubikmetern kalter toter Asche, die hier versenkt worden waren, versetzt mit allen Fäulnisresten und allem Überflüssigen aus der nahen Stadt, das symbolische Abbild einer künftigen Erde erblicken zu sollen.
Einen „Schandacker der Zivilisation“ nennt Hilbig das auch, ganz in der Poe’schen Diktion.
Thomas Kunst ist in seinem Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe auf seine so ganz besondere Weise ein würdiger Nachfolger Hilbigs, die im Gedichtband beschriebenen historischen Palimpseste, Katastrophen und Weltuntergänge geschehen meist auf die Baudrillard’sche Art, nämlich in quasi „homöopathischen Dosen“, und ein „verwaschener Kontinent“ ist ja auch schon so etwas wie das Abbild „einer künftigen Erde“.
Es gibt aber in dem Band, so ganz unhilbigsch, eher Konstruktives als Destruktives: „Der Tod ist kein Signal, das uns verbindet“ (87), aber alle, oft ja recht seltsamen Handlungen haben jene gesunde Beimischung von Verzweiflung, die das Leben nun einmal all denen abfordert, die auch noch für eine Weile lebendig bleiben wollen und im Prinzip sich an die Definition von „höchster Intelligenz“ halten, wie sie F. Scott Fitzgerald vorschlug, nämlich entschlossen zu sein, „zwei gegensätzliche Vorstellungen gleichzeitig zu verfolgen und dennoch handlungsfähig zu bleiben. … Man sollte zum Beispiel in der Lage sein, zu sehen, daß alles hoffnungslos ist, und dennoch entschlossen sein, dies zu verändern.“
Kunst ist weiß Gott kein Fortschrittsoptimist, er sieht „Halbstarke im Klimawandel“ (102) und ist da auch ein ebenbürtiger Bruder Volker Brauns, der jüngst gedichtet hat: „… ein paar (Hirnfort)- / Sätze mehr mußt du sagen in der Evolution / Mensch, als Mutter Natur diktiert…“, und Thomas Kunst seufzt auf, wenn er auch bei sich eine „Eingewöhnung in die Wachblödigkeit“ (69) feststellt.
Ich finde außerdem, daß Thomas Kunst in seiner quasi beinahe Performance doch auch ein Nachfahrender von Matthias BAADER-Holst ist, der vielleicht bedeutendste der deutschen Performancekünstler, dessen lyrisches Werk ja schon auf Thomas Kunst verweist, aber, auf sich allein gestellt in Buchform, höchstens einen, wenn auch faszinierenden, Abglanz dessen bietet, was er wirklich war, traut man den wenigen unscharfen Filmaufnahmen von ihm und seiner Kunst. Die Bücher von Thomas Kunst jedoch können von alleine gehen. Allerdings brauchen sie dringender als andere die Leser als „erweiterte Autoren“. Und eine Kritik, die endlich aufwacht.
Seinem Gedichtband Kolonien und Manschettenknöpfe möge allmählich ein ähnliches Bücherschicksal beschieden sein wie T.S. Eliots The Waste Land, einem Klassiker der Moderne, der allerdings, vielleicht ein Drittel vom Umfang der „Kolonien“, dem „erweiterten Autor“ bequemer entgegenkommt.
Ein Angler namens „Teiresias“ Stearns Eliot sitzt da nicht am Ufer der Wipper oder an den armenischen Stränden, sondern an der Themse, und ihm gehen auch so allerlei Wortfetzen durch den Kopf. Er kommt zu folgendem Schluß:
Mit diesen Bruchstücken stützte ich meine Trümmer
Warum auch nicht, paßt schon.
Dem möchte ich nur noch zwei Zeilen von Thomas Kunst hinzufügen:
Nur wer bereit zu Abmarsch ist und Tour,
dem sagt der Weltgeist leck mich doch, leb wohl. (73)
Wilhelm Bartsch, Ostragehege, Heft 87, 5.3.2018
Jean-Marie Georgieff: Du hast seit Deinem Debüt 1991, damals beim Reclam Verlag, eine geradezu irrwitzig anmutende verlegerische Odyssee hinter dir. In einem Vierteljahrhundert 17 Bücher bei 12 Verlagen. Ist man als Lyriker automatisch zu solch einem Nomadentum verdammt? Was erzählt das?
Thomas Kunst: Am Anfang dieser Odyssee stand 1990 neben dem Angebot des Reclam Verlages auch das Interesse von Suhrkamp, meinen ersten Gedichtband, der damals noch den Titel: „Die Elemente des Entfernens“ trug, zu veröffentlichen. Leider war ich in diesem Moment so idiotisch patriotisch, das Buch in meiner neuen Heimatstadt Leipzig drucken lassen zu wollen. Ein herrschaftlicher Fehler, wie ich heute weiß. Mein Dichterleben wäre sicherlich anders verlaufen, würden jetzt allein bei Suhrkamp diese 17 Bücher vorliegen.
Daran darf ich wirklich nicht denken. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch. Ich hätte diese elenden Kämpfe nicht führen müssen, die unbarmherzigen Zeiten der Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit und Wut anders überstehen können.
Jedes Mal aufs neue etwa 50 Exemplare des jeweiligen Manuskripts in die Verlagswalachai zu schicken: das machte mich unendlich müde. Nur selten Rückantwort.
Nur selten weniger Erwartung. Meinem Selbstbewußtsein, das ich aus dem hohen Norden mitgebracht habe, gepaart mit einer impertinenten Sturheit, hat das in den zurückliegenden 30 Jahren jedenfalls nicht geschadet.
Georgieff: Dein neuester Band ist jetzt bei Suhrkamp erschienen. Hat sich dadurch etwas verändert? Wenn ja, was? Ist der Verlag nur eine weitere Station, oder vielleicht doch eine Art Hafen, Heimat?
Kunst: Ich hoffe dringlichst, daß der Suhrkamp Verlag mein neuer Hafen wird und ich jedes künftige Buch dort veröffentlichen kann. Es ist noch zu früh, zu sagen, ob sich schon was verändert hat. Das Buch ist erst seit einem Monat auf dem Markt. Ich bin allerdings überrascht, wieviel Neid und Mißgunst mir inzwischen um die Ohren fliegen. Die Ahnung, daß meine Ausgrenzung aus dem Literaturbetrieb durch eine ignorante Aufhebungslässigkeit jetzt noch vehementer betrieben werden könnte, hat nichts mit paranoider Sentimentalität zu tun. Als ich noch in kleineren Verlagen veröffentlichte, war ich ohnehin leichter zu übersehen. Vielleicht spielt jetzt auch die Angst eine Rolle, die Angst, ich könnte zum ersten Mal im Leben dichterisch so wahrgenommen werden, als wenn ich im weißen Ballett von Real der Mittelfeldregisseur im Übergewichtstrikot wäre.
Georgieff: Im letzten Jahr hielt hier Karl Heinz Bohrer seine Leipziger Poetikvorlesung und sprach von der Gegenwartsliteratur als einer, die von der „bloßen Existenz und nicht der Essenz“ handle, die die „Imitation zugunsten der Phantasie“ präferiere und damit im „Verfehlen des Imaginären“ schlichtweg „keine bedeutende Literatur“ sei. Würdest Du diese Einschätzung teilen?
Kunst: Ach herrje. Gewaltige Begriffe. Ich stand mein Leben lang auf der anderen Seite jeglicher Literaturdefinition, würde nie versuchen, Existenz gegen Essenz oder Imitation gegen das Imaginäre auszuspielen. Es ist so zum Trend geworden, Texten ihren Drang nach Freiheit zu nehmen, sie kleiner oder größer zu machen. Natürlich ist mir persönlich das Imaginäre viel näher als die pure Abbildung des Vorhandenen. Aber wie kontert Handke zusammen mit Ludwig Hohl diese zuweilen unerträgliche Konkretheit des Gesagten aus? Indem er behauptet, daß die Phantasie die herzliche Erwärmung des Vorhandenen sei…
Mehr gibt es dazu wohl nicht zu sagen.
Georgieff: 2015 erschien dein Roman FREIE FOLGE, eine Verrücktheit in mehrfacher Hinsicht, ein wildes, souveränes Spiel des Imaginären und ein Buch, in dem auch sonst alles zu finden ist, was Bohrer z.B. vermisst. Wie waren die Reaktionen auf das Buch?
Kunst: Der Roman Freie Folge, an dem ich 5 Jahre schrieb, war meinerseits mit den größten Erwartungen verknüpft. Eine atemberaubende Zumutung sei dieses Buch, schrieb ein Kritiker.
Ich wollte damit auf die Longlist, auf die Shortlist, und dann sollte es erst richtig losgehen. Die Besprechungen in den großen Zeitungen blieben komplett aus.
Ein Totalversagen des Feuilletons, dem ich vorwerfe, sich immer lieber im Schatten der Etablierten aufzuhalten. Ich war am Boden zerstört, hatte keine Lust mehr, weiterzuschreiben. Nicht mal die eigenen Selbstermunterungen, daß dieses Werk einfach zu gut, zu verrückt, viel zu eigenständig sei, brachten mir das Lächeln zurück.
Nach der großen Niedergeschlagenheit, die ein, zwei Jahre anhielt, kam meine Wut, einen Gedichtband zu schreiben, an dem man nun wirklich nicht mehr einfach so vorbeisehen konnte, wie das vorher bei allen anderen Büchern fast immer der Fall war. Ich hatte das Gefühl, nichts mehr verlieren zu können. Allerdings hatte ich die Ahnung, noch so einen Niedergang wie den der Freien Folge mental und seelisch nicht ein zweites Mal zu überstehen. Deshalb wollte ich noch einmal von ganz oben angreifen.
Ich bat meinen langjährigen Freund Lutz Seiler, mir beim Übergang behilflich zu sein. Dabei hatte ich ja gerade ein Buch in meinem absoluten Wunschverlag veröffentlicht, bei Jung und Jung. Absurd. Aber es ging nicht anders. Ich mußte leider Abschied nehmen.
Drei Lesungen mit dem Roman in zwei Jahren.
Die Premierenlesung in Dresden fiel aus, weil niemand kam. Alles keine guten Zeichen.
Die Aufnahme bei Jung und Jung war höchst familiär. Sie erfüllten mir alle Wünsche, was Gestaltung, Schrift und alles andere betraf. Ich hatte einen außergewöhnlichen Lektor, der mir zum Freund geworden ist: Günther Eisenhuber.
Als ich nicht auf die Longlist kam, schrieb er mir eine Nachricht, die in jedes Handbuch des leidenschaftlichen Geschmacks und jedweden Gerechtigkeitsempfindens gehören würde.
Ich warte also noch immer darauf, daß dieses Buch entdeckt wird, weil ich weiß, daß ich solch einen Text nicht noch einmal schreiben werde. Dieser Roman ist keine bloße Spielerei, sondern eine Musik, die das lineare Erzählen verläßt, um den handelsüblichen Vergewisserungen über System und Nachahmung den Standstreifen zu entziehen.
Vermutlich halte ich es also doch mit Bohrer und könnte womöglich behaupten, daß ohne die kühnen Konstruktionen aus leidenschaftlicher Sachlichkeitsüberschreitung und frenetisch angehimmelter Intuition keine überragende Literatur möglich sei.
Das tue ich aber nicht. Es gibt zum Beispiel schließlich auch die Literatur von Gerhard Amanshauser oder Walter Kappacher, die mit großer poetischer Genauigkeit und sachlicher Raffinesse der Prosa ihre irritierende, zerstörerische Beruhigung anvertrauen, ohne sich dabei in die Abhängigkeit zu eingenwilliger Imagination zu begeben.
Georgieff: Die Art und Weise, wie Gegenwartslyrik/Literartur heute vornehmlich aussieht und vor allem auch kommuniziert und rezipiert wird: Kann ich dich dazu verleiten, das auf eine „gesamtgesellschaftliche“ Folie zu projizieren? Das meint: kann man darin etwas über die Mental-Struktur unserer Gegenwart oder Gegenwartskultur erfahren? Was lässt sich ablesen an der Art, wie und was man heute liest; oder auch nicht liest?
Kunst: Es gibt ja im herrschenden Feuilleton so eine Eitelkeit des Dechiffrierens. Arbeitest du intertextuell, beziehst dich auf soziologische, linguistische, philosophische Randgebiete und bist germanistisch und literaturtheoretisch mit denen auf einer Augenhöhe, die sich mit dir das Hellerwerden des eigenen Dunstkreises erhoffen, wirst du eher hofiert, als wenn du darüber schreibst, wie du mit einem Stein einen Bierdeckel plattschlägst, um zu ergründen, ob die Zacken im Anschluß an diese bewußt herbeigeführte körperliche Veränderung nach innen oder nach außen zeigen. Oder du liest von Anfang an gleich Julia Engelmann und all die anderen deutschen Sprechwunder des 21. Jahrhunderts.
Der Gebäude Energieberater: Fachzeitschrift für Energieberatung, Heft 2, 2017
Timo Brandt: Wie man noch zu einem freien Umgang mit den Dingen vorstößt
signaturen-magazin.de
Jonis Hartmann: Die Bundesstraße hat am Wochenende kaum Geschwister
fixpoetry.com, 8.8.2017
Niels Beintker: Lyrik von Thomas Kunst: Kolonien und Manschettenknöpfe
BR24, 7.8.2017
Haus für Poesie: Gespräch des Monats 1.11.2017 – Kolonien und Manschettenknöpfe. Buchpremiere mit Thomas Kunst
Thomas Kunst und Lutz Seiler stellen ihre Lyrikbände Kolonien und Manschettenknöpfe und im felderlatein vor. Das Gespräch auf dem Sommerfest der Verlage Suhrkamp und Insel 2017 wurde moderiert von Doris Plöschberger.
WIEDERBEGEGNUNG
(für Ulrich Zieger und Thomas Kunst)
die liebsten Doppelgänger sind Gedichte
mein Déjà-vu ein Déjà-lu wer schreibt
da mit meiner Hand in meiner Sprache
die mein Mund nur kennt bin ich schon
geschrieben die Kongruenz verstörend
wenig Aufhebens um Auflösung gehörig
besitzlos und doch mein erfasst bis in
die Innenwölbung der Worte wo sie
ausweichen üppigwerden (und Mandel-
brotmengen verteilen an Apfelmännchen
Kerne und Fremdgetier) ausfransen ins
Grinsen meiner nicht vorhandenen Katze
(ohne Halsband versteht sich so strande
ich hier) die ihre Tatzen ins Spiel bringt
um Bilder zu fangen zu foppen (ist An-
teilnahme Enteignung oder Entfremdung?
kippt oder kappt Anspruch Ansprache
oder kehrt sie sich um?) mir gehen die
Nebengänger über wie Mitfreude eifriger
Überschwang die zu teilen auferlegt
Angabe Aufschlag Antwort Zuspruch dir
euch uns (traute ich mich so traute ich
mich) weiter nur so nur noch (den Falter
lebendig machen über der Tür –)
Kristin Schulz
Gespräch des Monats: Seilers Shortlist. Am 17.2.2015 stellte er die von ihm gelobten Lyriker Thomas Kunst, Farhad Showghi und Nadja Küchenmeister in der literaturwerkstatt berlin vor.
Der Schriftsteller und Lyriker Thomas Kunst im MDR KULTUR Café. Eine Sendung von Thomas Bille.
Schriftsteller Thomas Kunst: Jedes gelesene Buch ist ein Bildungserlebnis.
„Für Gedichte und Romane nehme ich Urlaub oder Überstunden.“ Thomas Kunst, Schriftsteller auf dem Lande 14.9.2021. Onlineinterview am 18.7.2021 mit Walter Pobaschnig in der Reihe Literatur outdoors – Worte sind Wege.
Erich-Fried-Preis-Verleihung 2023 an Thomas Kunst im Literaturhaus Wien am 19.11.2023. Dankesrede von Thomas Kunst und Laudatio von Monika Helfer
Peter Kühne und Thomas Kunst im Interview: Erich-Fried-Preis 2023 für Thomas Kunst
Kleist-Preis-Verleihung 2023 an Thomas Kunst im Deutschen Theater Berlin am 26.11.2023. Dankesrede von Thomas Kunst
Werkstatt-Residenzen-Gespräch mit Thomas Kunst und Zsuzsanna Gahse – edierte Fassung. Aufzeichnung der Livesendung vom 11. Januar 2021
Lyrik-Poetikvorlesung von Thomas Kunst am 12.1.2022 im Aargauer Literaturhaus
Thomas Kunst liest aus Die Arbeiterin auf dem Eis
ME AND OCEANS spielt „Lost Tapes: German Songs“
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