BROCKES
Herr Brockes sitzt am Fenster.
Der Diener klopft an, bringt den Gottesbeweis,
im Wasserglas, einen Kirschblütenzweig.
Andere Zeiten, ein anderer Ast.
Vielleicht fliegt am Fenster ein Flugzeug vorbei.
Doch die Geschichte will fortgesetzt werden.
Lackschwarzes Baumgeknorpel.
Die Blüte schüchtern abgespreizt.
Staubfäden, insektenfüßig.
Gewimperte Seelenklaviere.
Kein Schnee, der genannt werden darf,
um nicht ihr Weiß zu verfinstern.
Aller Augen schauen dich an,
die je eine Kirschblüte sahn.
Bis deine Augen ebenfalls
durch fremde grüne Spiegel schwirren.
„Kirschbaumepistel“ („Herr Brockes sitzt am Fenster“) nennt er die Blütengedichte, „Pfingstgeistgebrumm“ die über Engel, „Ewigkeitsabrieb“ sind die Schneegedichte des neuen Bandes betitelt, den Schluß bilden „Rollschuh-“ und „Elbtalengel“. Wie immer man sich diese vorzustellen hat, Thomas Rosenlöchers Gedichte folgen ihnen, in der Natur („Im Garten wuchs schon Krokus“), stehen unter dem „Schutzengel“, lassen den „Kicherengel“ kichern, denn das ändert schon die Welt, aber der „Engel mit der Eisenbahnermütze“ vermag für Ordnung nicht mehr zu sorgen angesichts der Toten „im Schnee, wo alle Züge enden“.
Rosenlöchers Gedichte sind poetisch in einem so radikalen Sinn, hat man gesagt, daß Katastrophenmeldungen, daß apokalyptische Diskurse nicht ganz durchkommen können. Seine Gedichte schaffen Raum zum Atmen, Nachsinnen, Leben. Behutsame Annäherungen und groteske Begegnungen wechseln sich ab. Und so fragt man sich, ob das ein Engel sein kann, vielleicht ein „Bierengel“ gar, von dem hier die Rede ist:
Wer da? Ach der. Der ist bekannt.
Der schleicht jedes Jahr hier vorbei,
nachdem er im tiefen Grund zwei drei Bier trank.
Es ist zu befürchten, er dichtet.
Insel Verlag, Ankündigung
… ist dieser Lyrikband bereits, und das von sehr namhaften Leuten, also solchen, die sich auskennen in den Fi- und Ra-Fi-Nessen der Kritik und den Dingen, die sich, auf diesem Boden, Gedicht nennen dürfen. Ich staune, dass das hier bei Amazon noch keine/r getan hat und beeile mich, das aus der „La Main“ zu tun. Denn hier ist einer, der kein Durs Grünbein ist und doch das Höchste bietet, was das Glück des Lesens ausmachen kann. Auf dem weiten und weithin auch kläglichen Feld der modernen deutschen Lyrik ist dieser kleine, schmucke Band – der Dichter selbst übrigens auch mit dem Hölderlin-Preis sowie jüngst dem Hölty-Preis ausgezeichnet – das, was man als Fan des Klangs und der Worte, Gedanken, immer schon zu finden trachtete. Da kann ich, mit einem Zitat aus Rosenlöchers Gedicht „Rettender Engel“ nur noch dies zu sagen: Er IST dieser, „Und leuchtet vor auf seinem langen Weg / durchs Labyrinth der finsteren Systeme / die sich, von soviel Anmut rettungslos / verwirrt, entwirrn, und Friede, Friede flüstern“. Aufs Ganze gesehen: Rosenlöcher? Schöner, bedeutender geht’s nicht.
– Es macht ungeheure Lust, in den Fluss von Rosenlöchers Sprache einzutauchen, der uns sprudelnd mitnimmt und erfrischt. –
Insel-Bücherei – früher waren das Kleinode für Bibliophile, einstmals von Gotthard de Beauclair betreut und jahrzehntelang auf Linie gehalten. Heute sind die Bändchen in ihrem Erscheinen bloße Imitate der damaligen Buchkunst, die Titelvignetten sind aufgedruckt statt geklebt, das gemusterte Umschlagpapier sah weder Kleister noch Kartoffeln, deren Druck es mimikriert. Die Welt des Scheins hat also auch die heiligen Hallen der Bibliophilie erreicht, und das stimmt mich, trotz aller ästhetischen Harmonie des Outfits, traurig, noch bevor ich eines der hier versammelten Gedichte gelesen habe. Immerhin: Das Werkdruckpapier ist geblieben, eine schöne Garamond-Type im Satz, echte Fadenbindung und besseres Vorsatzpapier.
Und die Gedichte? Sie sind zusammengestellt aus Rosenlöchers früheren Gedichtbänden der Jahre 1998–2001, angereichert mit neun erstveröffentlichten und einem Nachwort, das uns Einblick gibt in den Grund für diese Auswahl: In Kleinzschachwitz, dem sattsam bekannten Zentrum der Welt, sorgten Blüten und Schnee für eine Sensation im Leben von Thomas Rosenlöcher, sie waren seine Engel im ostdeutschen Jahreslauf – und so scheute er sich nicht, jenen schief gewachsenen Apfelbaum aus dem Elbtal mit ins Erzgebirge umziehen zu lassen, der ihm frühjährlich treu ein unermüdlicher schneeweißer Blütenengel gewesen war und ihn, im Tausch mit Leiterwagen voller Äpfel, sogar mit Sekt der Marke Saxa Trocken versorgt hatte (und damit in einer spannenden Metamorphose auch noch zum Rauschgoldengel wurde). Das Flockenkarussell dreht sich also um Schnee, um Blüten, um „die Glücksbangigkeit beim Anblick eines blühenden Baumes oder von Schnee verwilderten Gartens“ und um Engel und versammelt prächtige Gedichte, in denen es west und zaubert und blüht, dass es eine Freude ist. Hochlebendig wie Frühjahrsatem und Schnee-Euphorie, angestoßen von tausenderlei Lichtwesen und „sakralen Insekten“, wie er die Engel manchmal nennt, zu Wunder, Freude, apokalyptischer Zuversicht (es wird schon alles selbst im Vergehen irgendwie noch wundervoll) oder trostreichem Witz. Es kann ja vieles ein Engel sein. Rosenlöcher benennt einige: der Engel der Beharrlichkeit, der Engel mit der Eisenbahnermütze, der Kicherengel, der Raumpflegeengel, der Riesenengel und auch:
DER MENSCH
Er sitze auf der Bank vor seiner Laube,
den Regenbogen häuptlings hingestellt.
Mit Laub und Äpfeln rings bestückt die Bäume,
Gänseblümchengezwitscher tief im Gras.
Indes der Wurm des umgebrochnen Beetes
den Kopf erhebt und stumm herüberblickt.
Sich fragend, ob der Mensch denn ewig lebe.
Silberne Tropfen fallen ins Wasserfaß.
Bei allem himmlischen Gewese: „es muß möglich sein, dass uns friert“. Das bleibt auch noch zu sagen, denn alle Himmel haben ihren Grund. Unter sich das Land, und die Ratten hängen von den Dächern. Rosenlöcher lügt uns nicht in poetisch ausgestellte Taschen.
… Denn Schönheit war
nur Lüge, die uns sanft macht bis zum Ende…
und Bitterkeit ein Wort, das fehlt, denn er lässt zu, dass die Momente ihn belehren:
Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit ist das Ende
… nachdem ihm nochmals Seraphim erschienen im lichtweißen Meer der Apfelbaumblüte. Da ist so viel Augenzwinkern wie Tiefe, gleich viel Humor wie melancholische Wahrheit. Und alles ist belebt wie lange nicht in deutschen Lyrikstuben. Der unverstaubte Georg Heym fällt mir ein, als bei Rosenlöcher ein Elbdampfer mit Rauch und Esse schief im Fluss hängt:
Flüssigsilber schaufelnd rackern
Sich die Räder flirrend fest
…, weil mir Heym immer einfällt, wenn einer mit der Sprache was kann, und zwar richtig. Fast schon unirdisch.
Rosenlöchers großartige Dichtkunst kommt aus dem Fabulieren, aus dem Zusammenbringenkönnen von Ichlust und Echtwelt, authentische Skizzen einer poetisch gelebten Anwesenheit. Die ist liquide und erotisch. Es macht ungeheure Lust, in den Fluss seiner Sprache einzutauchen, die uns sprudelnd mitnimmt und erfrischt, was Alltag und Routinen uns verebben ließen: perlende Augenblicke kindlichen Spieles mit der Wahrheit der Welt und ihrem Erscheinen.
DIE HOFFNUNGSSTUFEN
Dass ich den Birnbaum vorm Haus wieder sehe.
Ich meine den, den ich jeden Tag sehe.
Dass mich eine Frau im Dunkeln entkleidet
und mit silbernen Fingern was Finstres vorfindet.
Dass wir, im Schlaf zu Staub entrückt,
des Birnbaums Blüten donnern hören.
Auch so geht die Welt, magisch und leise, über in ein großes Orchester. Rosenlöcher findet für seine Erinnerungen Töne, die mich sprachlos machen, um noch genauer hinzuhören. Ich werde das Büchlein noch sehr oft in die Hand nehmen und wünsche ihm breiteste Leserschaft, weil es sehr einzigartig ist. Aber das kennt man ja von Rosenlöcher – sollen es, bei allen Sendboten des Himmels Kruzifix, noch weitaus mehr kennen lernen.
– Das Idyllische ist politisch: Der Dresdner Schriftsteller liest und diskutiert an der Evangelischen Akademie in Wittenberg. –
Thomas Rosenlöcher bescheinigt sich selbst eine „Blüten-Schnee-Macke“. Offenkundig eine seltene Krankheit. Symptome? Zum Beispiel „Glücksbangigkeit beim Anblick eines blühenden Baumes“. Oder Erschrecken angesichts eines „vom Schnee verwilderten Gartens“. Erlebnisse, die dem Körper einen „Das kann doch nicht wahr sein!“-Seufzer entreißen. Die Ursachen dieser Erschütterung stehen Rosenlöcher vor dem Auge. Im Nachwort seiner jüngsten Gedichtauswahl Das Flockenkarussell zählt der Dichter auf:
Zu viele Kirschbaumalleen schon spurlos gen Himmel gezogen. Zu viele Winter schon schneelos vorbeigegangen. Zudem ist Schnee im Elbtal auch früher rar gewesen.
Rar ist der Schnee an diesem nasskalten Dienstagabend auch in Wittenberg, wohin der 63-jährige Schriftsteller als Gast der Lese- und Gesprächsreihe Texturen der Erinnerung an der Evangelischen Akademie gerufen wurde. Nicht aus dem Elbtal weg, aus dem der gebürtige Dresdner stammt, sondern vom hessischen Bergen-Enkheim aus, wo er ein Jahr lang als Stadtschreiber auszuhalten hat.
Den Schnee, der draußen fehlt, trägt Thomas Rosenlöcher im Flockenkarussell-Büchlein nach. Aus dem liest der kleine, ungezügelt grauhaarige Mann mit dem knielangen, kittelartigen schwarzen Sakko sofort. Blüten-Schnee. Flocken-Schnee. Engel-Schnee. Das pulvert, rieselt und glitzert im schönsten sächsischen Singsang. Rosenlöcher ist stets dort am besten, wo er leidenschaftlich ist, wo er staunt und streitet, das teilt sich immer mit. Eine Hingabe ans Weiße, Reine, Wahre waltet in den Versen, die als Obsession nicht falsch bezeichnet ist. Denn, schreibt Rosenlöcher:
Blüten und Schnee sind große Verwandler, utopisch noch im Moment des Erscheinens.
Das Anschauen der Welt geht da ins Weltanschauliche über. Das passt bestens, denn um zwei Stichworte soll dieser von dem Dichterkollegen und Mit-Dresdner Christian Lehnert moderierte Abend kreisen: das „Sächsische“ und das „Politische“ im Schaffen und Leben des studierten DDR-Betriebswirtschaftlers Thomas Rosenlöcher, der sich 1983 entschied, ein freier Schriftsteller zu werden – und der heute zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart zählt. Der debütierte 1982 im Mitteldeutschen Verlag in Halle mit dem Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz.
Die Welt hinterm Gartenzaun aber war immer übergriffig: 1976 tritt Rosenlöcher in die SED ein und 1987 wieder aus, er erlebt die Implosion der DDR und eine neue, bis heute fortdauernde Nachdenklichkeit. Gern wird Rosenlöcher als „Idylliker“ bezeichnet, was nur dann nicht falsch ist, wenn man das Idyllische als eine kunstvolle Dagegenhaltung begreift, die nie harmlos ist. Christian Lehnert sagt über Rosenlöcher, dass dieser sich unter den Zeitgenossen durch seine sinnfällige Herkunft heraushebe. Nicht, weil diese Herkunft im Osten liege, sondern weil es überhaupt eine kenntliche Herkunft ist. Das ist gut gesehen. Man will wissen, mit man es jeweils zu tun hat.
Ob er sich selbst als „sächsischer Dichter“ begreife, will Lehnert von Rosenlöcher wissen. Dem gefällt schon der hochtönende Begriff „Dichter“ nicht: „Aber man hört das Wort selbstverständlich gern“, sagt er. Was das Sächsische betrifft: Bis zu seinem 25. Lebensjahr etwa sei ihm kaum bewusst gewesen, dass es auch Menschen gibt, die nicht Sächsisch sprechen. Rosenlöcher schätzt an dieser Sprache das Zugewandte, auch Hochpathetische und Idyllisierende. Letzteres werde heute voreilig geschmäht, ganz so, „als wenn jeder Idylliker ein Trottel wäre“. Ihm erscheine es tendenziell als opportunistisch, wenn die Gegenwart nur als hässlich begriffen und beschrieben werden darf.
Idylle? Immer gern. Heimat? Weniger. „Mein Heimatgefühl ist seit den 80er Jahren ein widersprüchliches“, sagt Rosenlöcher. „Ich wollte immer auch weg von dort, wo ich noch heute bin. Heimat ist kein Gemütlichkeitsbegriff. Was in der Heimat geschieht, geht einen viel zu sehr an.“ Was die Sachsen betreffe: Diese seien sehr oft „Tüftler und Einzelheitenmenschen“, wie er selbst. Im Politischen kommt Rosenlöcher schnell auf die DDR zu sprechen und dass er damals „zu weich, zu ängstlich“ gewesen sei. „Das Opportunismusproblem beschäftigt mich sehr. Die Frage: Wie soll ich mich verhalten?“ Ja, wie? „Man muss sich fragen, was brauche ich wirklich?“ Fremden Zwängen solle man sich entziehen: dem Karriere-Zwang etwa, der Pflicht zum Konsum. Besser sei es, die Dinge zu beherrschen statt sich von diesen beherrschen zu lassen.
Wie das gelingen kann, trägt Rosenlöcher mit dem Flockenkarussell-Nachwort vor. Das beschreibt das Wende-Ende des Kleinzschachwitzer Gartenidylls und wie dessen Apfelbaum, die „alte Kracke“, fernab von Dresden neu eingewurzelt wurde. Ein gefälliges Stück poetisierender Prosa. Mit den Gedichten, sagt Rosenlöcher, habe es bei ihm „nachgelassen“. Zeit fehle, der sinnliche Zugriff. „Es war für mich günstig, dass man in der DDR so viel mit der Hand abwaschen musste. Diese Riesenberge! Dabei fiel mir immer etwas ein.“ Noch indem man sie wieder abschafft, kann eine Spülmaschine hilfreich sein.
Rückt sie erneut herauf, die Zeit der Troubadoure? Man ist geneigt, daran zu glauben, wenn man zwei edel gestaltete, in einer Auflage von nur jeweils dreihundert Exemplaren gedruckte Vorträge von Thomas Rosenlöcher in Händen hält, die im Verlag Ulrich Keicher in Warmbronn erschienen sind. Der Dresdner Dichter war als Reisender in Sachen Poesie unterwegs und hat 2001 in Freiburg in „freiem mündlichem Vortrag“ das Gedicht „Der Tisch“ von Karl Mickel interpretiert, nicht aus dem Stegreif zwar, aber ausdrücklich ohne Notizen. Und drei Jahre später ist er durchs Land gezogen und hat zu Mörikes 200. Geburtstag „an verschiedenen Orten“ einen Vortrag über den schwäbischen Dichter gehalten. Während Uwe Tellkamp wie Narziss in den Turm seines 972-seitigen Romantrumms über Dresden gestiegen ist, reist sein Kollege Rosenlöcher wie Goldmund im Mittelalter durch die Landschaften des Heiligen Römischen Reichs und spricht über Poesie. Romantisches Deutschland!
Rosenlöcher besitzt die große Gabe, über Literatur mit augenzwinkerndem Ernst zu sprechen. Er holt sein Publikum zwar nicht dort ab, wo es steht (er ist ja Dichter, kein Busunternehmer), doch er begegnet ihm auf Rufweite und hat es im Handumdrehen so weit, dass es – Schuhe und Strümpfe in der Linken – mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch den Bach watet, der die Poesie vom Leben trennt. Wie er das tut? Indem er aus den Gedichten spricht, also nicht pädagogisch zu den Texten hinführt, sondern aus deren Mitte operiert. Und damit dies nicht in den salbungsvollen exegetischen Alleingängen der werkimmanenten Interpretation endet, erdet er die Gedichte in dem Alltag, aus dem sie erwachsen sind, in Mörikes oder Mickels Leben. Und er setzt sie in nur vordergründig abschweifenden Exkursen zu sich – dem Statthalter Robert Walsers auf Erden – in Beziehung, spricht etwa davon, dass er als junger NVA-Soldat ein „ins Leere dampfendes Rohr“ bei Eisenhüttenstadt bewachen musste, dabei Mörike in einer NS-Feldpostausgabe mit geschwärzten Hakenkreuzen las und sich dadurch schweren Ärger einhandelte; berichtet davon, wie es ist, mit 160 km/h auf der Autobahn an Cleversulzbach und den Gräbern von Schillers wie Mörikes Mutter vorbeizurasen und sich dabei wie nie zuvor in Cleversulzbach angekommen zu spüren; interpretiert auf sehr intime, mit dem Text trotz skurriler Distanznahmen (es ist von P1, P2, P3 sowie t1 und t2 die Rede) völlig verschmelzender und sogartig zu Herzen gehender Weise das Gedicht „Denk es, o Seele“, in dem „unter dem Leichthingesagten der Schmerz wohnt, als hätte es Mozart selbst komponiert“.
Rosenlöchers hoch entwickelte Gabe, vom Feld der Poesie aus und doch voller Selbstironie zu sprechen, befähigt ihn nicht nur dazu, das Publikum seiner Vorträge spätestens mit dem dritten Satz zu gewinnen und es erst mit dem letzten Satz beglückt wieder in die Welt zu entlassen, sondern sie kommt auch seinen Gedichten zugute, die oft von Gärten (nicht nur dem von Kleinzschachwitz) oder von Spaziergängen handeln, auf denen dem Dichter manche Vision, manch merkwürdige Gestalt begegnet, ohne dass das Beschriebene dem Leser je auf die unbedingte Tour zu Leibe rückt, da Rosenlöcher alles Feierliche als sein eigener Picaro bricht. Die Erhabenheitsunverdächtigkeit seiner nicht selten vollkommenen Gedichte gehört zu den schönsten Leseerfahrungen, die die Gegenwartsliteratur bereithält und für die als Beispiel das an der Pillnitzer Fähre angesiedelte Gedicht „Schneebier“ stehen mag:
Der Ausschank war geöffnet in das Dunkel
und leuchtete warm in den tiefen
von ferner Kindheit überglänzten Schnee.
Da ich mein Bier vom Brett nahm. Unten ging
riesig die Elbe, endlich als ein Strom
in Richtung Nacht. Und weit hinaus das Eis,
fast bis zur Mitte, wo, da sonst der Weg hinführte,
bei einer Bank vom Winter überwältigt
und einer Schar von schwarzen Stangen
an der Anlegestelle regungslos
die Fähre lag mit ausgelöschten Lichtern.
Eisschollen knirschten lautlos aneinander.
Gurgelnde Schwärze löschte alles Weiß,
und doch ganz draußen noch unwirklich wahr
ein Winterschwan einwärtsgebogenen Halses.
Kein Motor wagte sich durch diese Stille.
Indes in mich eiskalte Biere rannen
und ringsher um die Lampe Schneegeriesel
aus meinem Mund ans Holz des Ausschanks glitzernd
vorstöberte. Ich trank und trank und trank.
Dieses und weitere einundfünfzig, überwiegend zwischen 1998 und 2001 erstveröffentlichte Gedichte sind 2007 im Insel-Büchlein Das Flockenkarussell erschienen – begleitet von dem leichten und doch schwermütigen Essay „Engel hab ich mir abgewöhnt“, einem Requiem auf den Garten von Kleinzschachwitz mit seinem schräg stehenden und doch so tapfer blühenden Apfelbaum, der beim durch die neuen Besitzverhältnisse nach der Wende erzwungenen Umzug aus dem Elbtalparadies ins Osterzgebirge mitgereist ist. Rosenlöcher führt in diesem Text über das Abschiednehmen eine ganze Reihe seiner Gedichte in einer Selbstinterpretation zusammen, über der womöglich auch „Denk es, o Seele“ hätte stehen können. Wer etwas Neues ausprobieren will, tut mitunter gut daran, eine neue Bühne zu betreten oder sich eine kleine Werkstatt zu suchen, in der befreundete Künstler mit Leidenschaft und fast noch jugendfrischem Überschwang agieren. Wenn’s gut läuft, kann dann auch ein etablierter Lyriker die literarische Bühne noch mal gleichsam durch die Seitentür – abseits jeglichen Betriebs, der die Lyrik seit einiger Zeit ungut umschwirrt – betreten.
– Zur Verleihung des Hölty-Preis für Lyrik 2008. –
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
So richtig angefangen hat es, stelle ich mir vor, im Garten in Kleinzschachwitz.
Kleinzschachwitz – das klingt nicht eben poetisch, aber es ist jener Vorort von Dresden, am Elbufer gelegen, wo Thomas Rosenlöcher, in einem alten Haus mit einem verwunschen-verwilderten Garten lebend, endgültig zum Poeten geworden ist. Zuvor hatte er sich, 1947 in Dresden geboren, wenn auch auf Umwegen, zu einer ganz reputierlichen Existenz durchgekämpft: Lehre als Handelskaufmann, Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee, Abitur nachgeholt, Studium der Betriebswirtschaft, Job als Arbeitsökonom. Aber schon früh nebenbei geschrieben. Und als fast Dreißigjähriger noch einmal ein neues Studium, das der Passion: am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Danach erst, seit Anfang der 1980er Jahre, freier Schriftsteller. Wunderbare Kinder- und Kinder-Vorlesebücher hat er seither veröffentlicht, dazu nachdenkliche, witzige und polemische Essays, Erzählungen und Tagebücher zur und um die Wendezeit von 1989, vor allem aber, und darum geht es hier, sechs Gedichtbände. Rosenlöcher ist zuerst und vor allem Lyriker, ein Lyriker ganz eigenen, unverwechselbaren Gepräges, sowohl im Ton seiner Gedichte als auch in ihrem Problemgehalt.
I
Drei Themen- und Motivkomplexe sind es, um die Rosenlöchers Gedichte immer wieder kreisen. Den ersten formuliert er selbst im Titel seines ersten Gedichtbandes, der 1982 sogleich im renommierten Mitteldeutschen Verlag in Halle erscheint: Ich lag im Garten von Kleinzschachwitz. Und das erste Gedicht dieses seines ersten Gedichtbandes trägt den Titel „Der Garten“. Damit intoniert Rosenlöcher sofort die erste große Initialzündung seiner poetischen Ausdruckslust: die überwältigende und immer wieder staunenswerte Pracht des erwachenden Gartens, genauer: eines Baumes, noch genauer, eines Baumes mit seinem schneeweißen Blütenmeer.
Doch keine Angst: nicht um eine erneute Beschreibung solcher Naturschönheit geht es Rosenlöcher, sondern um die Vergewisserung dessen, was deren Anblick in ihm selbst, dem wahrnehmenden Subjekt, auslöst. Mit der inneren Befindlichkeit dieses Subjekts nämlich hebt das Gedicht an:
DER GARTEN
Im Garten sitze ich, am runden Tisch,
und hab den Ellenbogen aufgestützt,
daß er, wie eines Zirkels Spitze,
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Das ist die Pose des Nachdenkens, der Kontemplation, der Innenschau. Der Zirkel, das Requisit der exakten Vermessung, verbindet sich mit der Attitüde des souveränen Subjekts, das aus sich die ganze Welt entwerfen kann. Ein wenig erinnert die Figuration an Dürers Melancholie-Stich.
Dann aber drängt sich ihm gebieterisch und geradezu körperlich die ihn umgebende Natur auf, das Schauspiel des erblühenden Baumes:
Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün,
und langsam steigt das blütenreiche Meer
des frühen Jahrs. Die Vögel brülln wie irr.
Über mich hin spazieren schöne Schatten,
und Blütenblätter fallen auf den Tisch
Mit diesem Fallen der Blätter kündigt sich auf dem Höhepunkt der Blüte zugleich das Verblühen, der Verfall an, der den Betrachter abrupt aus seiner Versenkung reißt und zu einer plötzlichen Selbsterkenntnis veranlaßt:
und Blütenblätter fallen auf den Tisch
und schmelzen, Schnee! Die Äste triefen schwarz,
und von der Straße her kommt ein Geräusch,
das war mein Leben. Plötzlich bin ich Luft
Unwillkürlich fühlt man sich an Rilkes Gedicht vom „Archaischen Torso Apollos“ erinnert mit der umwerfenden Schlußzeile: „Du mußt Dein Leben ändern.“ Eine solche kathartische Erfahrung in der Betrachtung des Schönen auch hier. Sie besteht in einer Umkehr der Betrachter-Perspektive: nicht das souveräne Subjekt schaut das Schöne an, sondern umgekehrt: es wird vom Schönen angeblickt und eben dadurch im Innersten getroffen und verändert. Sein Traum von der Weltmittelpunktexistenz löst sich buchstäblich in Luft auf. Demütig geworden wendet das Ich sich nun an den Baum mit einer eigenartigen Bitte:
und sitz noch hier und rede zu dem Baum,
ob er nicht doch die Länder wechseln könne,
sein unerhörtes Blühen aufzuführen,
wo einer noch mit seinem Ellenbogen
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Der Baum soll seine Pracht noch einmal inszenieren, in einem anderen Land, wo es das souveräne Subjekt wirklich gibt, nicht nur als geträumte Allmachtsphantasie.
„Blüten und Schnee“, sagt Rosenlöcher einmal über diesen Motivkreis seiner Gedichte, „sind die großen Verwandler, utopisch selbst noch im Moment des Erscheinens. Botschaften aus einer anderen Welt, zumindest solange sie unsereiner noch mit einem ,Das-kann-doch-nicht-wahr-sein‘ quittiert.“ Auf diese letzte Pointe kommt es an: der Mensch muß das Unglaubliche an diesen Erscheinungen erkennen, empfänglich sein für ihre Zeichen- und Mahnfunktion. Wir müssen, so lautet die Lehre, immer wieder staunen können.
Damit erweist sich Rosenlöcher auch als Nachfahre einer Naturauffassung, die wir aus der Lyrik am Übergang des Barock zur frühen Aufklärung kennen. Bei dem Hamburger Ratsherrn und Poeten Barthold Hinrich Brockes etwa, der in seiner Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott im Anschauen der irdischen Natur die Gewißheit einer Wohlgeordnetheit und Wohleingerichtetheit der Welt durch einen vernünftigen Schöpfer erkennt. Kein Zufall, daß Rosenlöcher diesem seinem wahlverwandten Vorfahren Brockes ein vielsagendes Gedicht widmet.
II
Nach dieser Lektüre können wir auch einen zweiten Motivkreis in Rosenlöchers Lyrik besser verstehen, über den viel gerätselt und vielleicht auch ein bißchen gelächelt wird: nämlich seine Engel-Gedichte.
Es ist ja wahr: Rosenlöchers zweiter Lyrikband Schneebier von 1988 ist geradezu durchflattert von Engeln aller Art, von einem „Nachwuchsengel“ ist da die Rede, von einem „Schutzengel“, einem „Engel mit der Eisenbahnermütze“, einem „Riesenengel“, einem „Rettenden Engel“ und so weiter.
Was es aber mit dieser lyrischen Engelei auf sich hat, versteht man am besten, wenn man das Gedicht liest, in dem, wenn mich nicht alles täuscht, zum ersten Mal die Engel auftauchen, wenn auch nicht im Titel. Ich meine das Gedicht „Die Einkehr“, das ebenfalls schon in dem Kleinzschachwitz-Band steht. Das Gedicht beginnt folgendermaßen:
DIE EINKEHR
Eines Nachmittags, als sich der Hof endlich füllte
mit Kindern und Spatzen, als Leute mit Aktentaschen
heimwärts liefen, das Abendbrot zu bereiten,
war in der Luft ein Schwirren
und zwei geflügelte Männer berührten mit ihren Füßen die Erde.
Da standen die Leute starr. Aber der alte Herr Lot
fuhr gleich im Fahrstuhl stockab,
begrüßte die Männer voll Furcht, lief in den Konsum um Wein,
und etliche Anwohner schleppten dampfende Schüsseln herbei,
setzten sich mit an die Tafel, aßen und sahen einander
mit anderen Augen. Dann kam auch der Abend.
Und siehe, die Flügel der Männer
erstrahlten in den Farben der Maler
als wäre ein neues Meer angekommen,
duftend von Himmelschlüsseln. Da sie nun gegessen hatten,
standen die Engel auf, dankten und segneten alle,
denn sie hatten noch nie an einem irdischen Ort
so viele Gerechte gesehen.
So weit, so schön, so friedlich, so wundersam selbstverständlich, so harmlos, möchte man meinen. Doch dann kommt auch hier ganz unvermittelt ein harter Bruch:
Dann kamen noch einige Herrn,
und ihre Mützen changierten im letzten streunenden Glanz,
als sie die Fremden mitnahmen.
Da standen die Leute starr. Aber der alte Herr Lot
haderte mit Gott,
der seine Engel noch immer zu früh
auf die Erde gesendet hatte
und nun, als wäre nichts geschehen,
die Felder des Himmels jauchte.
Was Rosenlöcher hier erzählt, in hohem Ton, gemischt aus epischem Hexameter und lutherischer Gleichnisprosa, ist, darauf verweist unüberhörbar der Name des alten Lot, die aktualisierende Variation einer Episode aus dem 1. Buch Mose, Kapitel 19.
Diesen Lot, den Neffen Abrahams, hat es in das sündige Sodom verschlagen, dessen Einwohner Gott bestrafen will. Es sei denn, so handelt ihm Abraham in einer harten Verhandlung ab, es fänden sich auch nur zehn Gerechte in der Stadt: dann wolle er alle Einwohner verschonen. Und also schickt er Gott zur Inspektion zwei Engel nach Sodom. Lot, der Wissende und Besorgte, empfängt sie. „Er bereitete ihnen ein Mahl, ließ ungesäuerte Brote backen, und sie aßen“, heißt es. Die notorisch sündigen Sodomiter aber wollen mit den Engeln nur, wie es bei Luther heißt, „verkehren“. Lot versucht sie mit aller Macht daran zu hindern. Vergeblich. Gott schüttet Pech und Schwefel über Sodom. Nur Lot kann sich retten.
Bei Rosenlöcher nun sind die Bewohner der Stadt nicht allesamt gleichermaßen sündhaft, sie trennen sich in zwei Gruppen von Sündern: in die ahnungslosen und gedankenlosen Mitläufer, die nach der Episode in ihre habituelle passive Starre zurückverfallen, und in die Sicherheitskräfte, die kurzen Prozeß mit den Engeln machen. Nicht die Stadt wird bestraft und eingeäschert, sondern die verhafteten Engel selbst sind die wahren Opfer, die Opfer nicht nur der Sicherheitskräfte, sondern auch der „Leute“, die weder begreifen wollten, mit wem sie da schmausten, noch irgendeinen Widerstand leisteten, als die Engel abgeführt wurden. Auch sie haben sich letztlich als schuldig erwiesen, weil sie die Engel nicht in Schutz genommen haben vor der rohen Gewalt.
„Ein Schutzengel“, sagt Rosenlöcher einmal, „ist kein Engel, der dich beschützt, sondern ein Engel, den du beschützen mußt.“ Darum hadert Lot mit Gott: weil dieser nicht sieht, daß die Menschen einfach nicht (oder noch nicht) empfänglich sind für das unvermutete Eindringen seiner Boten in ihren Alltag, weil sie die Augen verschließen vor den zarten Zeichen einer anderen, möglichen Welt, für die latenten Impulse des Utopischen, die aber allererst von den Menschen erkannt werden müssen, damit sie sich entfalten und unter ihnen wirksam werden können.
III
Daß es tatsächlich einmal die Wende von 1989 geben würde und wie sie sich vollzog, das hat auch Rosenlöcher und das haben auch seine Gedichte nicht wissen können. Immerhin haben für ihn nach 1989 die Engel konsequenterweise ziemlich ausgedient. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß er diese Wende vor allem in der Prosa verarbeitet. Desto mehr bleibt ihm in der Lyrik ein dritter, weniger schwerblütiger und bedeutungsschwangerer Themenkreis, der ihm schon immer behagte und dem er sich nun mit desto größerem Vergnügen und desto feinerer formaler Virtuosität widmet: ich meine die kleinen Nebensächlichkeiten und Requisiten des banalen Alltags, die er nun mit dem hohen Ton der lyrischen Tradition traktiert, um aus diesem Kontrast zwischen dem trivialen Gegenstand und seiner kunstvollen Versprachlichung den Funken seines ganz eigen parodistischen und selbstironischen Humors zu schlagen.
Man höre nur, wie er die getragene Suada des Hexameters, die Rhetorik eines Homer, Klopstock oder Hölderlin an ein Objekt wie die Seife heranträgt:
AN DIE SEIFE
Seife, dich an mich verschwendend schwindest Du an mir. Verschwistert
sind meine Poren dem Schweiß täglicher Feigheit. Ich rieche.
Neu wirst du mich nie gebären, Schäumende, aus deinem Schaum
tritt mir der alte und trällert, ja ja, die Gedanken sind frei.
Am liebsten aber ist mir persönlich in diesem Zusammenhang Rosenlöchers lyrisches Tagebuch über seinen Stipendien-Aufenthalt in dem Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf, dem alten Landgut von Bettina und Ludwig Achim von Arnim südlich von Berlin. Ein Ort umweht von großer literarischer, gerade auch lyrischer Aura. Peter Huchel etwa oder Sarah Kirsch haben diesem Ort mit den Arnimschen Gräbern unsterbliche Gedichte gewidmet.
Was aber macht Rosenlöcher: er verweigert mit Fleiß die Referenz vor dem genius loci und begibt sich in eine heiter ironische Distanz zu all dieser selbstverliebten Poesie- und PoetenWichtigtuerei. Er schreibt Verse über die holprige Anfahrt, den Tratsch in der Küche, die Mühen der Gärtner.
Auf eine wunderbare Formel gebracht ist diese Haltung gleich in dem Einleitungsgedicht „Wiepersdorf“, in dem die unsterbliche Zeile steht, die zurecht auch dem ganzen, 2001 erschienenen Band den Titel gibt:
Am Wegrand steht Apollo
In der Tat, in dem kleinen Park des Guts steht eine Reihe von Statuen aus der griechischen und römischen Mythologie, darunter eben auch eine auf den Gott der Poesie, der Schönheit des Lichts. Für den Poeten Rosenlöcher aber steht er, wo er steht: am Wegrand eben, beiläufig, nebensächlich. Nicht etwa despektierlich, eher als ein Apropos. Die Heimholung des ganz Alltäglichen in die Poesie durch die Kraft der künstlerischen Form, das ist das Programm dieser Gedichte.
Selbst die artifiziellste, festgefügteste Form, die die abendländische Lyrik kennt, das Sonett, geht Rosenlöcher locker über die Lippen, auch und gerade dann, wenn er nach nichts Alltäglicherem sucht als einer bequemen Sitzgelegenheit.
Hören wir also zum guten Schluß, wie das ausgeht:
DER KLAPPSTUHL
Im Schuppen ein Klappstuhl, letztes System.
Aufklappen klappt. Abklappen glückt.
Nur daß er, ehedem bequem,
jetzt Riefen in den Hintern drückt.
Komfort, Tortur! Die Wirkungsmacht
der Gegenwart? Galt, gilt nichts mehr.
Und wer was gilt, heißt easy chair.
Hat ihn das derart hart gemacht?
Der Klappstuhl diskutiert die Frage:
so er – ich hart? Dein Weichgesäß
entwickelte sich zeitgemäß –
als knarrende Personenwaage
sacht unter mir zusammenkracht.
Im Gras noch lange nachgedacht.
Martin Rector, aus: Gegenstrophe Nr. 1. Blätter zur Lyrik, Werhahn Verlag, 2009
I
Hölty, nicht Hölderlin, meine Damen und Herren. Das wird oft verwechselt. Vor allem von denen, die Hölderlin auch nicht kennen.
„Nehmen Sie den Hölty-Preis an?“, fragte mich eine wohlmeinende Stimme am Telefon.
„Sagten Sie Hölty?“, erwiderte ich. – Daß da nur keine Verwechslung vorlag. Nicht in Bezug auf Hölty, sondern in Bezug auf mich.
„Ach, Sie wollen den Hölty-Preis gar nicht?“
„Doch, doch“, beeilte ich mich zu rufen, um die Verwechslung unumkehrbar zu machen. Dennoch hielt ich die Nachricht geheim. Schon, um mich hin und wieder mit der Mitteilung zu überraschen, daß ich den Hölty-Preis bekäme. Auch die Familie erfuhr vorerst nichts. Las ihr zur Probe nur schon einmal paar Gedichte vor; von Hölty versteht sich. Auch das eine Gedicht war dabei, das als einziges Hölty-Gedicht in jeder deutschsprachigen Sammlung von Meistergedichten steht.
„Na, wer hat denn das geschrieben?“
Nicht, daß sie Hölderlin sagten. Hölderlin hätte noch von einem gewissen Verständnis gezeugt. Und bei Klopstock wären sie sogar gerettet gewesen. Auch wenn Hölty dort am besten ist, wo er sich schon wieder von Klopstock entfernt. Nicht einmal Mörike hätte ich für dumm gehalten, nein, überhaupt nicht für dumm, denn selbstverständlich sind die Dichter quer durch die Zeiten verwandt und lange vor dem Biedermeier gibt es auch bei Hölty einen Zug ins Kleinteilig-Banale und Lebensfreundliche.
„Goethe“, sagten sie.
Immer sagen sie Goethe, wenn etwas wie von früher klingt. „Wir sind dem Preis nicht gewachsen!“ rief ich. Und wollte in Hannover anrufen und um einen anderen Preisträger bitten.
Allerdings war da noch meine Tante. Bibliothekarin alten Schlags. Sprich: eine, die noch selber las. Vom Hölty-Preis hatte sie aus der Zeitung erfahren. Abgesehen von Ehre und Geld ist doch das Herrliche an solchen Preisen, daß sie in der Zeitung stehen. Und alle, die dich auch nicht lesen, bekommen nun in der Zeitung zu lesen, daß du einen Preis bekommst, denn die drei Zeilen lesen sie alle. Und mancher fragt sich vielleicht sogar, ob nicht doch etwas an dir dran ist, wenn sie dir eine solche Menge Geld sogar freiwillig geben.
Jedenfalls schickte die Tante eine Glückwunschpostkarte. In der sie mich daran erinnerte, daß so ein Preis nicht nur Ehre und Geld, sondern auch Verpflichtung war. „Du weißt ja“, hatte sie geschrieben und in feiner Karteikartenhandschrift unter das „Du weißt ja“ einen Doppelvers gesetzt:
Üb immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab.
Von wem war denn das nun wieder? Von Hölty hoffentlich nicht. Zwar hatte der Hainbund es mit der Tugend, aber im Gedicht bevorzugte Hölty doch eher Nachtigallen. Oder sollte das etwa Goethe geschrieben haben? „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, klang schließlich auch so ähnlich.
Es war aber von Hölty.
„Junge, das mußt Du doch kennen“, sagte die Tante. Als Bibliothekarin alten Schlags glaubte sie nun einmal, daß Schriftsteller noch selber lesen.
„Ich bin dem Preis nicht gewachsen“, rief ich. Und wollte in Hannover anrufen und um einen anderen Preisträger bitten.
Nun hatte aber der Preis schon in der Zeitung gestanden.
Und alle, die mich auch nicht lasen, würden nun in der Zeitung lesen, daß ich den Preis nun doch nicht bekäme, denn die drei Zeilen lasen sie alle. Und alle hätten schon immer gewußt, daß eben doch nicht so viel an mir dran war, um mir einen derartigen Batzen Geld hinterherzuwerfen.
Ohnehin: welcher Preisträger war schon seinem Preis gewachsen. Schien doch geradezu eine Voraussetzung für alle diese Hölderlin-Preise zu sein, mit Hölderlin nun aber wirklich nichts zu tun zu haben. Während die Börne-Preise von vornherein so angelegt waren, daß sie vor allem die bekamen, die im wirklichen Leben Börnes Todfeinde gewesen wären.
„Der Hölty-Preis paßt wunderbar zu Ihnen“, hieß es plötzlich von allen Seiten.
Was hieß denn das nun wieder? Wußten sie, daß Hölty dieser Idylliker war? Hainbündler zumal? Einer von denen also, die sich laut Voß zur Gründung des Hainbunds „bey den Händen“ faßten und um eine Eiche tanzten? Nachdem sie zuvor in einer „Bauerhütte eine Milch“ gegessen hatten? Wobei eine solche Begeisterungsfähigkeit nach dem bloßen Verzehr einer Milch doch eigentlich nur bewundert werden konnte.
Oder wollten die Gratulanten mir zu verstehen geben, daß Hölty dieser Dichter mit dem nur einen Gedicht war? Abgesehen von jenem sowieso nur noch rudimentären „Üb immer Treu und Redlichkeit“? Das – wußte das meine Tante? – so treu und redlich gar nicht war, sondern eine Gruselsatire auf „Treu und Redlichkeit“? Allerdings sollten die Gratulanten das dem Hölty erst einmal nachmachen, nach über zweihundert Jahren noch ein Gedicht von sich selbst in allen maßgeblichen Gedichtsammlungen vorzufinden:
II
Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Todtenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.
Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem rothen Band,
Das, an der Harfe festgeschlungen,
Unter den goldenen Saiten flattert.
Ein Gedicht, auf das Ende zugesprochen. Ohne sich als Sterbegedicht dessen, was war oder ist, zu versichern. „Spät im Herbste 1774 fing Hölty an, des Morgens Blut auszuwerfen“, berichtet Voß. Und der Leihschein der Göttinger Universitätsbibliothek, auf dessen Rückseite die beiden Strophen zu finden sind, ist eben auf diesen Herbst datiert: 9. November 1774. Da hatte der Fünfundzwanzigjährige also noch knapp zwei Jahre. „Ich gehe aus der Welt, wie ich über Feld gehe,“ lautet Höltys – auf Verse von Voß zurückgehende – Trostformel (an Charlotte von Einem, 24.2.1774). Was Todesangst natürlich nicht ausschloß: „Wenn mir nicht bald geholfen wird, so werde ich wohl in Mariensee meine letzte Ruhestätte finden…“ (an Boie, 2.5.1775). Und doch setzt er, offenkundig bemüht, den Freunden durch Klagen nicht allzusehr zur Last zu fallen, weiter seine anmutige, in Anbetracht der Vorstellungen, die man sich von einem Hainbündler macht, erstaunlich spielerische und humorvolle Korrespondenz fort: Weiterhin zeigt er sich an den Belangen der Freunde interessiert; so wenn er sich ausdrücklich nach den Einzelheiten der Liebeswerbung des Grafen zu Stolberg um eine Engländerin erkundigt: „ich möchte gern alle im Himmel der Liebe wißen“. Auch verfolgt er nach wie vor allerlei Projekte, bis hin – sieben Sprachen beherrscht er – zu Geldverdienversuchen durch Übersetzungen. Nicht der Krankheit, sondern sich selber pflegt er die Schuld zu geben, wenn er zu wenig zustande gebracht zu haben meint: „Der schöne May ist mir so weggeschlüpft“ (an Voß, 26.5.1775). – „Ich habe kein Kopfweh mehr, fühle beym Atemholen keinen Schmerz in der Brust mehr, und werfe beim Aufstehn nur wenig Blut mehr aus. Nun fängt meine Hoffnung, die vorher die Flügel sinken ließ, wie ein Huhn das den Pip hat, wieder an sich ein bischen zu erheben, und zu ermuntern“ (an Charlotte von Einem, 10.4.1775).
Herzzerreißende Tapferkeit. Dieselbe, mit der Höltys Gedicht von vornherein auf das Ende zuspricht: wann ich gestorben bin. – Eine alkäische Ode; ohne daß der meiner Tante nachstrebende, sprich: sogar Gedichte lesende Leser unbedingt bemerken muß, daß es sich hier um eine alkäische Ode handelt. Schon das macht das Gedicht zu einem Ausnahmegedicht. Klopstocks Oden etwa sagen, neben dem, was sie sagen, auch: „Achtung, eine Ode von Klopstock!“. Was Klopstocks eigentlich kaum zu schmälerndes Verdienst, dergleichen Formen durch Nachempfindung antiker Verse für die deutsche Sprache erfunden zu haben, leider doch etwas schmälert. Erst bei Hölderlin ist die Ode wirklich der Sprache verschmolzen – meist natürlich im hohen, im Hölderlinton. Und vielleicht wäre es Höltys Weg gewesen, den hohen Odenton etwas zu erden und auch Banaleres der Spannung dieses Aufmerksamkeit heischenden Metrums auszusetzen: wenn, ach, wenn ihm der „schöne May“ nicht einfach so „weggeschlüpft“ wäre und auch er wenigstens noch „einen Sommer“ gehabt hätte. Auch seine anfänglichen, erstaunlich gut gearbeiteten, nur in der Fabel etwas bemühten, mythologischen Grotesken und Balladen deuten – auch wenn er sich als Hainbündler davon distanzierte – in diese Richtung.
Jedenfalls durchlaufen in diesem Ausnahmegedicht die beiden – je eine Strophe ausmachenden – Sätze das Metrum schon ganz selbstverständlich; Gedanke und Vers gehn in eins, transportieren und stützen einander. (Keinerlei Redundanz gibt es da; selbst wenn nach den Todtenkränzen der Hinweis auf die verstorbenen Mädchen mehr nur der Taktfüllung zu dienen scheint, ist das Attribut doch unverzichtbar durch seine Parallelität zu „wann ich gestorben bin“).
Bei aller Beiläufigkeit lädt der antikisierende Taktschlag die Worte mit Bedeutung auf. Erst das Metrum ermöglicht symbolisches Sprechen, das heute vielleicht auch deshalb kaum noch möglich erscheint, weil wir wieder in odenloser Welt leben als hätte Klopstock niemals gelebt. Dabei hätten wir dergleichen wohl nötig. Wenn sich auf der „Blümelwiese“ unserer Begräbnisanlagen das Vergessen schon selbst ritualisiert – was allerdings auch etwas Rührendes hat.
Jedenfalls rät meine Tante, daß man, um Klang und Rhythmus zu erspüren, jedes Gedicht sowohl mehrmals als auch laut lesen sollte, wenn man nicht gerade im Lesesaal sitzt:
III
Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Todtenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.
Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem rothen Band,
Das, an der Harfe festgeschlungen,
Unter den goldenen Saiten flattert.
„Na und?“, war die Reaktion der Familie. Auch nach mehrmaligem, lautem Vorlesen. Und vielleicht hat auch in Ihren Reihen, meine Damen und Herren, mancher heimlich „Na und?“ gesagt? Mutet das Gedicht nicht vielleicht doch etwas dürftig an – für ein Gedicht, das angeblich in allen Meistersammlungen steht?
– Nun, auf die Art kommt es wenigstens lapidar genug daher für einen letzten Willen: wann ich gestorben bin. Der Nachwelt nur nicht allzuviel zumuten. Und auch einen Adressaten benennen, damit sich hernach nicht wieder keiner für zuständig hält: Ihr Freunde. Viel zu vererben scheint es ohnehin nicht zu geben, von der Harfe einmal abgesehen, aber auch die ist symbolisch. Nur die Form des Gedenkens wird geregelt, ein ebenfalls symbolischer Akt. Doch wenn das Gedicht auf das Ende zuspricht, eröffnet es damit auch einen Anfang. Und wer meiner guten Tante nachstrebt und selber dergleichen zu lesen versucht, merkt, daß solches Sprechen in eine Zukunft hinein, auf eine Hoffnung hin, viele Gedichte Höltys ausmacht. Auch das Imaginierte wird bei ihm kaum zur Gedichtwirklichkeit. Um sich der gedachten Liebsten zu nähern, muß er sich auf Anakreontikerart in „Daphnes Kanarienvogel“ versetzen. Oder er denkt sich die Liebesbegegnung in manchmal recht aufwendiger Mechanik („Der Bach“, 1. Fassung) – in ein, vom Quell des Horaz durchplätschertes, Jenseits aus ewiger Diesseitigkeit.
Doch der Irrealis ist real, entspricht Höltys Situation. „Ich habe ihr niemals meine Liebe merken lassen, noch merken lassen können“, bekennt er Voß. Da war sein einstiger Schwarm längst mit einem Amtmann verheiratet: die Laura manch eines, meist auch durch den Fachbegriff „Empfindsamkeit“ kaum zu rettenden Gedichts. Noch in dem einige Jahre später geschriebenen Bekenntnisbrief weiß er nach wie vor allein ihr Traumbild zu beschwören:
Es war ein schöner Maienabend, die Nachtigallen begannen zu schlagen… Rote Bänder zitterten an ihrem schönen Busen… (13.12.1773).
„Wer Hölty zum erstenmal sah, hielt ihn nicht für das, was er war. Stark von Wuchs, niedergebückt, unbehülflich, von trägem Gange, blaß wie der Tod. …“, berichtet Voß über den schon als Kind an den Blattern erkrankten Freund. Und noch die über sechzigjährige Charlotte von Einem – einst unter dem Namen „Das kleine Entzücken“ die Muse der Hainbündler – berichtet, daß man fast die Augen habe schließen müssen, „so widrig war sein Äußeres. … in dem allerhäßlichsten Körper die schönste Engelsseele“.
„Liebe lächelt mir nicht“, lautet eine Grundformel seiner Gedichte („Sehnsucht“). Und gewiß auch aus biographischen Gründen vollzieht sich bei ihm der Schritt vom eigentlich noch Barocken: „Alles liebt, also auch wir.“ – zum nun schon Romantischen: „Alles liebt, nur ich nicht.“ So heißt es zwar im „Maylied“ noch: „Küße geben, Küße rauben / Ist der Welt Beschäftigung“. Aber in der (auf Klopstock fußenden) „Maynacht“ wendet sich der Sprecher angesichts kosender Nachtigallen und girrender Tauben ins „dunkle Gesträuche“ ab: „und die einsame Thräne rinnt.“
Hölty hat sich selber ironisch als der „berühmte Traumbilderdichter“ bezeichnet. Und so gesehen ist das Idyll nicht idyllisch, sondern Ausdruck von Mangelerfahrung. Das nicht zu habende wird herbeigedichtet, um es wenigstens als Traumbild zu haben:
hänget…
Die kleine Harfe… auf,
Wo an der Wand die Todtenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.
Die Harfe gehört zum Gesang des Dichters (ja, damals sangen die Dichter noch). Und der Gesang des Dichters steht für den Dichter selbst (wollten die Dichter doch nichts anderes sein als ein einziger Gesang). Die kleine Harfe verweist dabei auf den Idylliker, Anakreontiker. Und wenn er darum bittet, sie in der Nähe der Kränze der Mädchen aufzuhängen, wird nicht nur gesagt, in wessen Nähe er im Tod sein möchte, sondern auch, wovon er im Leben sang. Überflüssig zu sagen, daß die Todtenkränze für die Mädchen stehen. Der Totenkranz, der den Brautkranz ersetzte: nun ist er Erinnerungsstück; Zeichen der Vermählung mit dem Tod in der Hoffnung auf ewiges Leben. In anderen Friedhofsgedichten Höltys sind solche Kränze mit Flitter und roten Bändern geschmückt. Und demgemäß erscheint das am Ende der Strophe auch rhythmisch prominente schimmern wie ein im Altardunkel vor sich hin glimmender Lebensrest.
IV
Auftrag ausgeführt und Schluß? Was, wenn auf dem Göttinger Leihschein nur die erste Strophe gestanden hätte? Hätte auch sie sich im Kanon gehalten? Nun, das „Na und?“ wäre dann wohl berechtigt. Auch die Ewigkeit braucht Augenblicke, um einigermaßen spürbar zu werden. Selbst Erinnerungstücke erinnern irgendwann nur noch an Gedächtnisverlust. Bis schließlich sogar die kleine Harfe nicht mehr recht weiß, warum sie hinter dem Altar herumhängt.
Aber da tritt – Strophe zwei – der Küster in Aktion. Damals, meine Damen und Herren, waren die Kirchen noch nicht verrammelt. Als eine Art Fremdenführer führt er dem Besucher das Instrument als lokale Sehenswürdigkeit vor. Wer aber rauscht mit dem rothen Band? Jenem Band von den Bändern, die im Bekenntnisbrief an dem „schönen Busen“ Lauras „zitterten“? Das Rosenband der Anakreontiker, Klopstocks – und, jawohl, auch des jungen Goethe, der das allzuoft benutzte Requisit schon ein wenig abtut: „Sei kein schwaches Rosenband.“
Band – binden; bereits im Barock gab es den Brauch des „Bindens“: wer gebunden war, mußte sich losbinden, indem er sich erkenntlich zeigte. Und allenthalben trug man es als Liebespfand. Kurz: wie die Kränze für die Mädchen stehen, hat nun auch das rote Band die Konnotation Liebe, Mädchen.
Wer aber rauscht mit dem rothen Band? Der Küster… rauscht heißt es, denn hinter der Harfe steht ausdrücklich ein Komma. Doch nicht nur, weil dem Komma der Versfluß entgegensteht, sondern auch, weil rauscht, personal gebraucht, recht ungewöhnlich ist, wird unter der Hand auch die Harfe zum Subjekt des Rauschens: realistische und mystische Lesart gehen ineinander über und ergänzen sich. Und während Harfe und Todtenkränze in Strophe eins beieinander verharrten, ist nun das Band (Liebe, Mädchen) an der Harfe (Lied, Dichter) festgeschlungen. Und während der vorletzte Vers, zwischen Kommata gezwängt, als Erläuterungsvers ausdrücklich retardiert, wird im letzten Vers – kontrapunktorisch zu „festgeschlungen“ – das Band ausdrücklich losgelassen, so daß es tatsächlich wie von selber Unter den goldenen Saiten flattert. So kommt – in der Synoptik von Rot und Gold, sprich: Liebe und Ewigkeit – ins Gedicht Bewegung, das Bildchen belebt sich, wird sichtbar. Im unmittelbar vor Augen Geführten entkommt aber das Gedicht dem Bloß-Symbolischen, das Nur-Erwünschte erscheint als Tatsache. Was eben Kommunikation (rauscht) war, ist in Kommunion umgeschlagen, so sich das Band im Nu verlebendigt: Ein siegreich aufwehendes Fähnchen; die Liebe, meine Damen und Herren, ist dem Tod davongeflattert.
V
Hier könnte das Gedicht zu Ende sein. Hier ist das Gedicht zu Ende. Und solche Betrachtungen haben den Nachteil, der Vollständigkeit halber auch noch zu erwähnen, was jeder ohnehin weiß. Denn natürlich geht es in diesem Gedicht nicht nur um das Aufgehobensein in einem Jenseits erotischer Einfärbung, sondern auch um das Aufgehobensein in der Erinnerung. Gerade der Hainbund war ein Zweckbund zur gegenseitigen Unterstützung beim Aufstieg zum Dichterruhm. Nur daß im norddeutschen Tiefland – in Anlehnung an ein Klopstockgedicht der Parnaß eben nicht „der Achäer Hügel“, sondern „Teutoniens Hain“ war: vaterländische Eichen, umtanzt nach Verzehr einer Milch.
„Welch ein süßer Gedanke ist die Unsterblichkeit. Wer duldete nicht mit Freuden alle Mühseligkeiten des Lebens, wenn sie der Lohn ist! Es ist eine Entzückung, welcher nichts gleicht, auf eine Reihe künftiger Menschen hinauszublicken, welche uns lieben, sich in unsere Tage zurückwünschen, von uns zur Tugend entflammt werden“, schreibt Hölty an Freund Voß (April 1774). Und natürlich fällt es schwer, darüber nicht auch ein wenig zu lächeln. Wer könnte heute so etwas noch sagen, geschweige denn, dem Dichterfreund mitteilen, falls man als Wortmonade noch über Freunde verfügt. Schon die Wendung Ihr Freunde würde heute antiquiert wirken. Soweit ist das Gedicht bereits aus der Wahrnehmung gefallen, daß es sich nur schwer noch an andere zu wenden vermag. Dem Nichtwahrgenommenwerden vorauseilend, neigt es schon selber zur Dissoziation. Als Neuerscheinung registriert zu werden, scheint ihm von vornherein zu genügen, wenn es durch ein bis ins Private hinein individualisiertes Sprechen freiwillig auf Zukunft verzichtet. Um überhaupt Gedicht zu sein, muß das Gedicht altern können. Auch für heute ist nur gültig, was auch für morgen gilt. Weshalb man ja erst hernach wirklich weiß, ob ein Gedicht gültig war oder ist. Je irrwitziger der hölderlinsche Imperativ, desto dringlicher ist er: Da, wo nichts bleibt, Bleibendes zu stiften. Unausweichlich ist daher auch für den neueren Dichter gelegentlich über sich selber zu lächeln. Insofern er insgeheim vielleicht doch an der Hoffnung festhält, auch nach zweihundert Jahren noch ein Gedicht von sich selber in allen maßgeblichen Sammlungen vorzufinden.
Das jedenfalls war von vornherein klar, daß dieses Harfengedicht auch von Erinnerung handelt. Und daß es uns nicht allein wegen seiner altertümlichen Requisiten recht fern sein muß, sondern auch, weil wir unterdessen sogar das Erinnern den Maschinen überlassen. Bereits das Aufhängen der Harfe ist ein Ritual des Gedenkens. Und die Freunde sind das erste Glied in einer Erinnerungskette. Etwas Zeit ist ja schon vergangen, von der Niederschrift des Gedichts bis hin zum: wann ich gestorben bin; recht wenig Zeit, wie wir wissen. Wenn aber nun der Küster in Aktion tritt, kann sehr viel Zeit vergangen sein. Die Freunde, längst verstreut oder gestorben; Hölderlin längst im Turm; Mörike in Cleversulzbach; sogar Goethe schon merklich gealtert dem Schreiber John diktierend. Gut, daß da dieser Fremde daherkommt, womöglich ein durchreisender Philologe oder Göttinger Bibliothekar, so daß er die Erinnerungskette vielleicht fortzusetzen vermag. So wie wir jetzt hier in Hannover eine kleine Erinnerungsinsel bilden, meine Damen und Herren. Ähnlich jener, größtenteils von gedächtnislosen Häusern umstandenen, Verkehrsinsel, auf der sich – mitten in Hannover! – tatsächlich ein Hain befindet: Mit der Pestkirchenruine und Höltys Nicolaifriedhofsdenkmal, auf dem der junge Mann sogar zweimal zu sehen ist: Einmal als Konterfei am Sockel, einmal als idealer Jüngling daneben stehend – ein lendentuchtragender Genius seiner selbst. Mädchen sind leider nicht beigefügt, doch die kleine Harfe lehnt durchaus am Sockel. Und, mitten im Verkehrsgedröhn, darf er, wer hätte das gedacht, nun tatsächlich „auf eine Reihe künftiger Menschen…, welche uns lieben“ blicken. Ich selbst habe vor kurzem noch dort gestanden und meine Gedichte lesende Tante war ebenfalls dabei. Kurzum, auf die Gefahr hin, nun auch schon wie ein Hainbündler zu reden: Ich hab diesen Hölty lieb. Den lebensdankbaren Vielleser, dessen Meistergedicht sich aus gutem Grund ausgerechnet auf dem Leihschein einer Bibliothek befand. So er, wie Voß berichtet, bereits als Junge „von allen Enden“ Bücher „zusammen schleppte“. Sich, weil ihm die Mutter nach elf Uhr fürsorglich nur wenig Licht mitgab, des Tages mit Öl versorgte und Rüben aushöhlte, um sie als Lampe zu benutzen. Eigens erfand er sich einen Wecker, der als „Höltyscher Wecker“ in die Annalen eingehen sollte. Denn um nach langem Lesen gleich früh weiter lesen zu können, band er sich – das ginge sogar meiner Tante zu weit! – „um den Arm einen Bindfaden“, „woran“, so Voß, „ein Stein befestigt war; diesen legte er auf einen Stuhl vor das Bette, damit, wenn er sich gegen Morgen umwendete, der Stein herabfallen, und ihn durch den Ruck am Arm aufwecken möchte.“ –
Ja, selbst wenn Hölty nur ein einziges gültiges Gedicht hervorgebracht hätte, so hätte doch auch das einer vollständigen Dichterexistenz bedurft. Unmöglich, sich nicht geehrt zu fühlen, wenn einen die Gratulanten mit der Bemerkung zu kränken versuchen, daß der Hölty-Preis wunderbar zu einem passe.
Na Und?
– Nachtrag –
Obwohl das Gedicht hier zu Ende ist, ist das Gedicht hier nicht zu Ende. Bitte, schauen Sie zu Hause in Ihren Bücherschrank. Fehlt in Ihrer Sammlung von Meistergedichten der Hölty, ist es keine Sammlung von Meistergedichten. Stehen – statt der bei den Strophen plötzlich gleich drei Strophen da, bitte nicht die Nerven verlieren, es handelt sich hier nicht um einen Fehldruck, sondern hat folgende Bewandtnis: Voß hängte die Harfe in dem Sinne auf, daß er eine Ausgabe von Höltys Gedichten veranstaltete. Doch ausgerechnet beim Leihscheingedicht hat er: „Na und?“ gesagt. Und hierauf noch eine dritte Strophe hinzugedichtet. Im Hainbund gab man einander ohnehin die Lizenz, sich auf dem Weg zur Unsterblichkeit gegenseitig zu verbessern oder, wie Hölty sich ausdrückte, „einige Fehler ab- und einige Schönheiten“ anzufeilen.
Der Küster – um Strophe drei vorerst nur anzudeuten – liefert dem Reisenden noch einen kurzen Bericht. Dahingehend, daß die Harfensaiten im Rot des Abendhimmels von selber ertönen würden: Leise wie Bienenton. – Die Kinder, auf dem Kirchhof spielend, hätten es gehört und gesehen: wie die Kränze bebten.
Der auch schon so gut wie vergessene Karl Mickel – ach, daß die vergessenen Dichter der Nachwelt ihre Harfen an die Köpfe schmissen! – Karl Mickel also hat in seiner Lesart dieses Gedichts hier „das unterirdische Gebumse“ der Toten herausgehört; die Kinder, so er, erleben „die Reflexe der postumen Defloration“. Das ist grobianisch genial. Bringt unterschwellig Angelegtes tatsächlich auf den Punkt. Selbst Engel dachte sich Hölty als Wesen, mit deren Brust man „tändeln“ könne – was, so direkt ausgesprochen, sogar peinlich wirkt („An die künftige Geliebte“, 1. Fassung). Gleichwohl scheint es mir ein Irrtum zu sein, zu meinen, daß die Alten immer nur dachten, was auch wir immer denken, nur, daß sie es sich nicht zu sagen trauten. Natürlich gab es auch Grenzen des Sagens. Doch auch die Sublimation war gewollt. Und verdecktes Sprechen sagt oft mehr, als das verdeckte Sprechen verdeckt. Nicht umsonst kommt mit Bienen in dem Wort Bienenton das barocke Motiv heidnisch-göttlicher Liebe hinzu, und im Rot des Abendhimmels wird die Liebe ins All erweitert. Harfenton und Kränzebeben: Zusammenklang von Allem in Allem. Ein Ewigkeitsmoment.
Jedenfalls hat der Übersetzer Voß sich den Freund genial übersetzt. Etwa wenn er die Reihe der jeweils am Ende der Strophe stehenden Erweckungsworte Höltys noch um das Wort bebten erweitert. Als hätte ihm der Freund Strophe drei persönlich aus dem Jenseits zugeflüstert. Oder standen die Verse doch auf einem anderen Zettel? – Schwerere Taktung, stockendere Syntax weichen zwar vom Vorherigen ab, sind aber doch richtig als Summe des Staunens. Der Kreis der Zeugen wird nochmals erweitert, mit den Kindern geht die Erinnerungsstaffel bereits in die nächste Generation. Untergründig wird Analueon zum Orpheus, mit der Harfe einen Harem von Eurydiken erweckend. Aber auch das scheint schon wieder zu grob, das Gedicht lebt weiter vom Hörensagen, die Stimmung bleibt traumhaft und zart.
Und doch bedeutet die dritte Strophe auch eine Theatralisierung des Ganzen, eine Finalisierung auf den Transzendenzpunkt hin. Dadurch wird die vormals letzte Strophe natürlich zur Durchgangsstrophe, fällt etwas aus der Wahrnehmung – und: mit dem eschatologischen Beben verliert das Geflatter denn doch sein halbrealistisches, schwebendes Vielleicht.
Eigentlich haben wir jetzt zwei Meistergedichte. Und es sei Ihrem Urteil überlassen, welches von beiden Sie in den Kanon übernehmen wollen: Das Gedicht von Hölty, oder das von Hölty und Voß. Nutze meinerseits die Gelegenheit, mich nach dem Gebot meiner Tante zu richten, Gedichte stets mehrmals und laut zu lesen. – Denn sich im Gedicht verlebendigend, verlebendigt der Dichter uns.
AUFTRAG
Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Todtenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.
Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem rothen Band,
Das, an der Harfe festgeschlungen,
Unter den goldenen Saiten flattert.
Oft, sagt er, staunend, tönen im Abendroth
Von selbst die Saiten, leise wie Bienenton;
Die Kinder, auf dem Kirchhof spielend,
Hörtens, und sahn, wie die Kränze bebten.
Thomas Rosenlöcher, aus: Gegenstrophe Nr. 1. Blätter zur Lyrik, Werhahn Verlag, 2009
Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017
Allein ein Kichern ändert schon die Welt – Ahmad Mesgarha liest in Hoppes Hoftheater Lyrik und Prosa von Thomas Rosenlöcher
ELBNOT
für Thomas
Daß du Rose nicht erlischst
krall dich in die Dornen
Blutflut dich nicht erstickt
duld den Luftspalt vorne
was du nicht zu träumen wagst
schwitz es in die Häute
Lockenbruder im Glockenbett
Grindwal im Sandgebäude
Richard Pietraß
Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017
Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017
Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017
Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017
Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.
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