ABENDBLATT
Die allmählich erkaltende Welt wieder auf die
aaaaaTischplatte gelegt
Das Abendblatt mit einem Glas beschwert
Diesseits des runden Tisches sitzt ein alter Mann
Auf der anderen Seite die untergehende Sonne
Ihr glutroter Augenglanz rinnt auf den
Durchsichtigen Grund des Glases
Überfliegt ein paar geschwollene Lettern
Doch der alte Mann zieht die Zeitung hervor
Geht die Stufen hoch, den Uferpark entlang
Sucht einen Mülleimer für die in seiner Hand
zusammengerollte Welt
Ein dumpfer Laut
Die Sonne folgt wie ein Echo
In heuchlerischer Großartigkeit
Rosa Wolken zurücklassend, der Himmel
Von wildem Pinsel beschrieben
Bai Ling
übersetzt von Raffael Keller
– Ein Nachwort zur Gegenwarts-Lyrik aus Taiwan. –
Taiwans Literatur ist im europäischen Sprachraum nur recht schwach repräsentiert. Dies mag ähnliche, zum Teil auch berechtigte Gründe haben wie bei der modernen Literatur vom chinesischen Festland, die ebenfalls bis zum Ende der siebziger Jahre in Europa nahezu unbekannt war. Inzwischen haben sich auf Taiwan aber derartige politische und gesellschaftlich-kulturelle Wandlungen vollzogen, daß diese Inselrepublik nicht nur in die vorderen Ränge der entwickelten Industrieländer vorstoßen konnte, wo sie sich seit Jahren wachsender Wirtschaftserfolge erfreut. Vor fast anderthalb Jahrzehnten hat sich das Land auch vom autoritären Einparteiensystem Chiang Kaishek’scher Prägung verabschiedet, den vier Jahrzehnte andauernden Kriegszustand mit der Volksrepublik China für beendet erklärt und die Pressefreiheit eingeführt. Damit begann für die „Ilha Formosa“, die schon Jahrhunderte zuvor die ersten Kolonialherren aus Portugal entzückte, eine neue Ära, in der auch geschichtliche Tabuthemen ins Zentrum des öffentlichen Diskurses traten. Verbannte und ins Exil getriebene Intellektuelle und Oppositionelle wurden rehabilitiert, sie kehrten in ihre Heimat zurück und erhielten oft auch die Genugtuung, ihre alten Positionen in allen Ehren wieder einnehmen zu können. Alte Wunden wie das „Februar-Massaker“ (er’erba shijian) des Jahres 1947, die jahrzehntelang unterschwellig schwärten und das gesellschaftliche Klima vergifteten, konnten endlich offengelegt, das erzwungene Schweigen nach einem halben Jahrhundert gebrochen werden. Angehörige der älteren Generation berichteten nun von ihren Erfahrungen, und die Jüngeren erfuhren zum ersten Mal, wie die von Generalissimus Chiang Kaishek angeführten Nationalisten der KMT (Guomindang) 1947 Ärzte, Lehrer, Journalisten und Schriftsteller, also die Elite der taiwanesischen Gesellschaft, hatte hinrichten lassen. Die Zahl der Getöteten und Vermißten ging damals in die Zehntausende. Gleichermaßen Schmerz und Wut erschütterten die Menschen, wie bei ähnlichen Prozessen der Vergangenheitsbewältigung in Argentinien oder Chile, doch Taiwans Gesellschaft hielt den heftigen Ausbrüchen der Gefühle stand. Die Regierung des Staatspräsidenten Li Teng-hui, die all dies ermöglichte, hatte eine wichtige Mutprobe bestanden.
Nicht nur Taiwans Gesellschaft, auch seine Sprache und Literatur sind nachhaltig von der ereignisreichen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts geprägt worden. Nach fünfzig Jahren Kolonialherrschaft durch den japanischen Militarismus mit seiner rigiden Assimilierungspolitik versuchten die Taiwanesen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Anschluß zu der fast schon verlernten Muttersprache Chinesisch wiederherzustellen. Doch nicht die Sprachbarriere, der Zwang zum Umlernen von der alten „Staatssprache“ (guoyu) Japanisch auf das neue Hochchinesisch, sondern die Repressalien der neuen Herrscher vom Festland führten zu einem abermaligen Verstummen. In der Phase des härtesten Anti-Kommunismus in den fünfziger und sechziger Jahren schwiegen die überlebenden einheimischen Intellektuellen, denn die Furcht vor dem „Weißen Terror“ (baise kongbu) im Gefolge des Februar-Massakers saß ihnen noch in den Knochen. Sie überließen das Feld den mit der KMT übergesiedelten Autoren vom Festland. Die Tradition der „Neuen taiwanesischen Literaturbewegung“ (xin Taiwan wenxue yundong) der zwanziger und dreißiger Jahre, die auch Lyrik hervorgebracht hatte, wurde nicht fortgesetzt. Lai He, Zhang Wojun, Yang Yunping, Wang Baiyuan, Chen Qianwu und Wu Yongfu sind bekannte Namen aus dieser Zeit. Mit Ausnahme von Zhang Wojun verfaßten alle ihre Arbeiten auf Japanisch, Lai He und Wu Xinrong schrieben sogar auf Taiwanesisch (Minnanhua)?
Es waren die vom Festland herübergekommenen jungen Leute – teilweise gehörten sie den sogenannten „Studenten-Soldaten“ (qingnianjun) an −, die nach dem Krieg als Unbekannte die Lyrikszene betraten und sie dann nachhaltig prägten. Am 5. November 1951 erschien die erste Nummer der Wochenbeilage Neue Lyrik (Xinshi zhoukan) im Feuilleton der Independent Evening News (Zili wanbao), mit der eine literarische Arena eröffnet wurde, in der zahlreiche Nachwuchsautoren Woche für Woche ihre oft noch ungelenken Kunststücke vollführen und der Öffentlichkeit zur Begutachtung preisgeben konnten. In den folgenden Jahren stolperten diese jungen „Dichter“ noch oft über ihren eigenen Enthusiasmus, waren doch die meisten von ihnen gerade mal Anfang zwanzig. 1953 gründete Ji Xuan die Zeitschrift Moderne Lyrik (Xiandai shi) und versammelte in seiner „Vereinigung für Moderne Lyrik“ (Xiandai shishe) binnen kurzer Zeit 102 Autoren, was sie zu einer einflußreichen und tonangebenden Gruppierung machte. Ein Jahr später riefen Tan Zihao, Zhong Dingwen und Yu Guangzhong die Lyrikergruppe „Blauer Stern“ (Lanxing shishe) ins Leben, die gleichzeitig im Feuilleton der Zeitung Offenes Wort (Gonglunbao) die wöchentliche Lyrikbeilage Blauer Stern (Lanxing shiye) erscheinen ließ. 1957 kam die Monatszeitschrift Blauer Stern-Lyrikauswahl (Lanxing shixuan) in Taizhong und 1958 die Blauer Stern-Lyrikseite (Lanxing shiye) in Taibei hinzu. Es folgten noch die Vereinsorgane Blauer Stern-Vierteljahresschrift (Lanxing jikan, Juni 1961 in Taibei) und das Blauer Stern-Jahrbuch (Lanxing niankan, Juni 1964 in Taibei).
Zwischen den Anführern der beiden Gruppen, Ji Xuan und Tan Zihao, kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen über Machart und Aufgaben von Lyrik. In der Nr. 13 der Zeitschrift Moderne Lyrik veröffentlichte Ji Xuan einen Artikel mit den sechs Prinzipien seines lyrischen Credos, worin er u.a. kundtat: „Wir sind der Meinung, daß neue Lyrik den Weg der horizontalen Fortpflanzung und nicht den der senkrechten Überlieferung einschlagen sollte.“ Damit wollte er sich von der chinesischen Lyrik-Tradition lösen und sich an freieren westlichen Strömungen und Autoren, allen voran Baudelaire, orientieren. Von diesen Äußerungen fühlte sich Tan Zihao prompt zu einer Erwiderung provoziert: Er betonte die subtile innere Gefühlswelt eines Lyrikers, der mittels Symbolik und Abstraktion Ausdruck verliehen werden solle. Außerdem zweifelte er die Imitation westlicher Vorbilder als fragwürdige Methode an, obwohl er nie bestritten hat, selber Einflüsse beispielsweise des Surrealismus (chao xianshi zhuyi) auf seine Arbeiten erfahren zu haben. Die Polemik wogte zwei Jahre hin und her, in denen Tan Zihao von seinen Mitstreitern unterstützt wurde, während Ji Xuan mehr oder weniger ein eigenwilliger Einzelkämpfer blieb, der sich oft im Ton vergriff.
Ein anderer Streit entzündete sich zwischen den Vertretern der „alten“ und der „neuen“ Lyrik: Der Anglist Yu Guangzhong (geb. 1928), Mitglied der Lyrikergruppe „Blauer Stern“, wurde Sprecher einer neuen „Avantgarde“, der die Anhänger des „Traditionalismus“ zum Teil recht unversöhnlich gegenüberstanden. Mit dieser Beschreibung soll allerdings nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte in den fünfziger Jahren die Lust der Vierte-Mai-Bewegung am kritischen Wettbewerb der Ideen neue Triebe auf dem fruchtbaren Boden der subtropischen Insel sprießen lassen, im Gegenteil: Die KMT-Regierung der Republik China, die kurz zuvor das riesige Festlands-Territorium Mao Zedongs Kommunisten überlassen mußte, wußte nur zu gut, daß ein Streit über Ideen schnell umkippen kann in politischen Skeptizismus. Daher wollte sie derartige Auseinandersetzungen strikt auf die rein geistige Ebene, d.h. die Welt des Papiers beschränkt wissen, wobei die Grundvoraussetzung aller Diskussionen die Ablehnung der kommunistischen Ideologie zu sein hatte. Dennoch waren die intellektuellen Bewohner der Insel in einer glücklicheren Lage als ihre Kollegen auf dem chinesischen Festland, wo Literaten und kritische Intellektuelle während der „Anti-Rechts-Kampagne“ Ende der fünfziger Jahre wegen ihrer Äußerungen im wahrsten Sinne durch die Hölle gehen mußten.
Im Jahr 1954 wurde ein anderer wichtiger Verein, die Lyrikgesellschaft „Schöpfungszeit“ (Chuangshiji shishe), von jungen Autoren in den Diensten der Armee wie Ya Xuan, Luo Fu und Zhang Mo gegründet. Ihre gleichnamige Zeitschrift erschien vierteljährlich. Die lebhafte Atmosphäre in der Lyrik-Welt Taiwans wurde 1964 mit der Gründung der Lyrikvereinigung „Bambushut“ (Li shishe) durch einheimische (bentu), d.h. Taiwan-stämmige Autoren um eine weitere Façette reicher. Die bis dahin im kulturellen Abseits stehenden taiwanesischen Lyriker hatten damit ihren Anspruch auf Mitsprache erhoben und sich mit der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift Bambushut (Li shikan) eine Plattform geschaffen, wo sie ihre Arbeiten veröffentlichen und ihre Ansichten äußern konnten. Eine 20-bändige Werkausgabe taiwanesischer Autoren, herausgegeben von dem Erzähler Zhong Zhaozheng (geb. 1925), und der Aufsatz „Taiwanesische Heimat-Literatur“ (Taiwan de xiangtu wenxue) von dem Kritiker Ye Shitao (geb. 1925), beide 1965 erschienen, manifestierten ebenfalls das gesteigerte „Taiwan-Bewußtsein“ (Taiwan yishi) all dieser Autoren. In diesem Geist schrieb Chen Qianwu z.B. die Gedicht-Serie Die Göttin Mazu (Mazu shi xilie), um literarisch am politischen Monopol der KMT zu rütteln. Lyriker wie Lin Zongyuan, Zhan Bin, Zhao Tianyi und andere versuchten darüber hinaus, den taiwanesischen Dialekt für ihre Verse fruchtbar zu machen.
Die Gruppe „Bambushut“ lehnte von Anfang an sowohl die Arbeiten der an der westlichen Moderne orientierten Lyrikergruppe um Ji Xuan, als auch die der eher an der Tradition ausgerichteten Vertreter von „Blauer Stern“ ab. Die mehrheitlich aus einheimischen Autoren zusammengesetzte Vereinigung betonte demgegenüber in ihren Texten das Lokalkolorit und die Heimatgefühle der Taiwanesen. „Die Vierte-Mai-Bewegung bedeutet nicht mehr viel für uns. Wir betrachten sie als ein Kapitel aus der Vergangenheit, so wie wir auch die Dynastien der Tang und der Song als Vergangenheit ansehen. Wir wagen dies zu sagen, weil wir schon eine eigene Lyriktradition haben, die vollständig anders ist als diejenige vorangegangener Epochen“, lautete das provokante Bekenntnis der Gruppe in der ersten Ausgabe ihrer Zeitschrift Bambushut vom Juni 1964. Heimatliebe und Bodenständigkeit sollten Merkmale ihrer Lyrik sein – wobei der Begriff „Heimat“ natürlich für Taiwan steht, nicht für Festlandchina. Die Spur der 1977 ausgebrochenen „Kontroverse um die Heimat-Literatur“ (xiangtu wenxue lunzhan), in der Yu Guangzhong eine prominente Rolle auf Seiten der Regierungstreuen spielte, führt ganz sicher auch auf diesen Ausgangspunkt zurück. Eine Fortsetzung fand der Regionalismus (diqu zhuyi) in der Lyrik durch die Gründung der Vereinigung „Drachenvolk“ (Longzu) 1971. Diese Gruppierung der jüngeren Lyriker-Generation (xinshidai) setzte sich hauptsächlich aus Universitätabsolventen und -angehörigen zusammen wie etwa Ku Ling, Yang Ze, Luo Zhicheng, Chen Li, Xiang Yang und anderen. Ihre Einstellung zur Literatur war ausgeglichener und weniger ideologisch: „Wir respektieren die Vergangenheit, himmeln sie aber nicht an. In die Zukunft haben wir Vertrauen, sind jedoch vorsichtig“, heißt es in einem ihrer Manifeste. Unter diesem Aspekt gründete Xiang Yang im Dezember 1979 in Taibei eine weitere Lyrikzeitschrift mit dem Titel Sonnenlicht (Yangguang xiaoji). Taiwan befand sich zu diesem Zeitpunkt in erheblichen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten: Nachdem die Volksrepublik China 1971 den bis dahin von der Republik China eingenommenen Sitz in der UNO und damit den Alleinvertretungsanspruch für ganz China übernommen hatte, verlor Taiwan international immer mehr an diplomatischer Anerkennung. Die Nervosität der KMT-Regierung hierüber fand ihren Ausdruck in verstärkter Unterdrückung der Oppositionellen (dangwai). Der „Meilidao-Zwischenfall“ (Meilidao shijian) in Gaoxiong, bei dem die Spannungen zwischen Regierung und Opposition, Festlandchinesen (waishengren) und Taiwanesen (bendiren) nach Schließung der Redaktion der Zeitschrift Meilidao und der Inhaftierung ihrer Redakteure gewaltsam auf der Straße ausgetragen worden waren, geriet zur historischen Zäsur. Die Staatsmacht griff zu, es gab Tote, und eine neue Welle des „Weißen Terrors“ brach aus.
Doch das Bewußtsein der Taiwanesen für ihre besondere Situation war längst erwacht, sie reagierten mit noch regeren Aktivitäten im Bereich der Kultur und Literatur. Zahlreiche politische Gedichte, Erzählungen und auch Romane sind in den darauffolgenden Jahren verfaßt worden – oder anders ausgedrückt: Die Wut überstieg die Angst der Menschen. Auch in unserem Band ist diese Protesthaltung nicht zu übersehen. Die Süßkartoffel, auch Batate (janshu) genannt, ist ein anspruchsloses Gewächs, das zum selbstgewählten Symbol der einheimischen Taiwanesen für ihre Genügsamkeit wurde. „Landkarte unserer Vorfahren“ von Wu Cheng und „Sie heißen dich Batate“ von Lin Zongyuan widerspiegeln deutlich die verletzten Gefühle und die Erniedrigung der Taiwanesen durch die herrschende KMT. In „Viehmarkt“ und „Das stumme Gräslein“ dienen Ochsen und Gräser als Sinnbilder für die sich rechtlos fühlenden Taiwanesen. Doch Intellektuelle wissen schon seit Alters her, gegen die Gewehre der Machthaber ist der Pinsel auf Dauer noch immer die wirksamste Waffe. Das war und ist so in der Volksrepublik China, und dies galt auch für das Taiwan der Kriegsrechtsära. Ob bei Fei Ma, Li Kuixian, Du Pan Fangge, Chen Fangming oder anderen, ihr verdeckt oder offen ausgetragener Protest gegen Obrigkeit und Machtorgane ist überall in und zwischen den Zeilen zu spüren.
Dagegen sind die Themen der Autoren festlandschinesischer Herkunft doch sehr anders: Heimweh, Sehnsucht und Identitätssuche in chinesischer Geschichte und Tradition beschäftigen Lyriker wie Luo Fu, Luo Men, Guan Guan, Yu Guangzhong oder Zheng Chouyu – sie alle Angehörige einer Generation, die in jungen Jahren die Heimat verlassen mußte und Zuflucht auf der Insel Taiwan fand, diese aber nie wirklich als neue Heimat akzeptierte. Diese beiden Stränge, die sich auch in unserem Band wiederfinden, verlaufen parallel in Taiwans Gesellschaft und sorgen noch immer für Spannungen und Machtkämpfe zwischen den Gruppierungen. Hinzu kommen in den letzten Jahren die zunehmend ihre Rechte einfordernden Ureinwohner (yuanzhumin), die bis vor kurzem noch herablassend „Bergbewohner“ (shandiren) genannt wurden. Mo Naneng, ein Autor aus dem Stamm der Paiwan, steht hier stellvertretend für diese Gruppe. In seinen Gedichten erhebt er die Stimme gegen die Diskriminierung, Benachteiligung und nicht zuletzt sexuelle Ausbeutung der ethnischen Minderheiten Taiwans.
Seit 1987, dem Jahr der Aufhebung des Kriegsrechts, hat Taiwan sich mehr und mehr zu einer offenen, multikulturellen Gesellschaft entwickelt. Der Zugang zur Außenwelt ist nicht nur gewährleistet durch die nunmehr freien Medien, eine große Anzahl von Einwohnern hat auch Familienmitglieder im Ausland, zu denen eine rege Reisetätigkeit besteht. Die insgesamt entspannteren Beziehungen zur Volksrepublik China auf dem Festland haben ebenfalls die isolierte Insel-Mentalität der Taiwanesen verändert. Die Beschäftigung mit der Identitätsfrage im Vergleich mit China ist nicht von oben angeordnet, sondern sie wird, wie andere empfindliche Themen auch, in einem offenen Diskussionsklima kontrovers erörtert. Seit dem 20. Mai 2000 gibt es mit Chen Shuibian erstmals einen gebürtigen Taiwanesen aus der Oppositionspartei als Hausherrn im Präsidentenpalast von Taibei. Damit ist die von Chiang Kaisheks Sohn Chiang Ching-kuo eingeleitete und von dessen Nachfolger Lee Teng-hui vollzogene Demokratisierung Taiwans mit einer Machtverschiebung von der KMT auf die DPP an ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Nun hat die Bevölkerungsmehrheit der einheimischen Taiwanesen endlich das Sagen, die Lyrik endlich ihre lang ersehnte Freiheit – vorausgesetzt, die Volksrepublik greift weder ein noch an. Doch der neue Feind lauert schon längst nicht mehr nur jenseits der Taiwan-Straße: Die Kommerzialisierung der Gesellschaft und der Einbruch des elektronischen Zeitalters auch in den Kulturbetrieb führen dazu, daß die Bücherleser immer weniger werden und diese Wenigen sich immer öfter von der lyrischen Kunst fernhalten. Auf dem Umweg über die Globalisierung kehrt so unverhofft die Einsamkeit zu den Dichtem zurück.
Der hier vorliegende Band ist durch die Zusammenarbeit mit dem Lyriker Li Minyong in Taibei zustandegekommen. Als früherer Vorsitzender des taiwanesischen PEN-Clubs (Taiwan bihui) und einer der Wortführer der einheimischen Literaten ist er nicht nur ein Kenner, sondern auch eine tragende Säule der Gegenwarts-Lyrik in seiner Heimat. Die Autoren der jüngeren Generation und ihre Texte sind von ihm ausgewählt worden. Der Auswahl von Arbeiten der Autoren aus der älteren Generation habe ich mich gewidmet. Unser Bestreben war es, den deutschsprachigen Lesern mit dieser Anthologie einen angemessenen und ausgewogenen Eindruck vom lyrischen Schaffen auf der Insel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln. An dieser Stelle sei allen Übersetzern herzlich gedankt für die Unterstützung unseres Projekts und nicht zuletzt für ihre Toleranz gegenüber unserer Redaktionstätigkeit. Wolf Baus, Charlotte Dunsing, Christiane Hammer, Britta Jubin und Lee Shr-jie sei Dank für ihre Redaktions- und Layoutarbeit. Bewundernswert war der Einsatz der Mitherausgeberin Ricarda Daberkow, die trotz ihrer Pflichten als junge Mutter die Redaktion bis zum Abschluß weitergeführt hat. Ihr gilt hier mein besonderer Dank. Die Tatsache, daß wir uns in diesem Buch zur Anwendung der Pinyin-Umschrift entschlossen haben, hat allein technische, nicht jedoch politische Gründe. Gleiches gilt für den Gebrauch der alten Rechtschreibung.
Tienchi Martin-Liao, Nachwort, 30.7.2000
welche die „Ilha Formosa“ seit dem 17. Jahrhundert zunächst mit Portugiesen, Spaniern und Holländern, von 1895 bis 1945 dann mit den Japanern machen mußte. Die Übersiedlung von mehreren Millionen Festlandchinesen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gefolge des Generalissimus Chiang Kaishek vor den Kommunisten auf die Insel flohen, hatte erneut die Dominanz einer auswärtigen Elite über die einheimische Bevölkerung zur Folge. Die aus diesen Erfahrungen resultierenden Spannungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen spiegeln sich auch in der Lyrik wieder, die im Laufe des 20. Jahrhunderts auf Taiwan entstanden ist. So finden sich neben Texten älterer Autoren in japanischer Sprache seit den fünfziger Jahren Arbeiten im modernen Hochchinesisch sowie in jüngster Zeit verstärkt Versuche im Taiwan-Dialekt (Minnanhua). Der vorliegende Band präsentiert Gedichte von 46 Autoren unterschiedlicher Generationen und Herkunft, unter ihnen Yu Guangzhong, Luo Fu, Yip Wailim, Yang Mu, Luo Qing, Bai Qiu, Li Minyong, Li Kuixian und Zheng Jiongming. Er legt ein Zeugnis ab von der thematischen und stilistischen Vielfalt der Lyrik, die Taiwans ständig sich wandelnde Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.
projekt verlag, Klappentext, 2000
Nach wie vor sind die europäischen Karten der modernen Weltliteratur reich an Gebieten, über denen „Hic sunt leones“ steht. Eines dieser Gebiete ist der Inselstaat Taiwan, das Formosa der portugiesischen, spanischen und holländischen Kolonialmächte. 1895–1945 herrschten hier die Japaner; dann kam Tschiang Kai-schek, dessen Guomindang die taiwanische Elite brutal dezimierte und das zunehmend von geflohenen Festlandchinesen bewohnte Land mit eiserner Hand regierte. Bis 1987 blieb es ein Einparteienstaat; die seither auf den Weg gebrachte Demokratisierung steht unter dem Damoklesschwert der übermächtigen Volksrepublik China. Die bewegte neuere Geschichte der Insel spiegelt sich auch in der Lyrik, die nun erstmals in grösserer Auswahl einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt wird. 46 Dichter präsentiert die durchgehend zweisprachige Sammlung Phönixbaum, an der unter der Federführung von Tienchi Martin-Liao und Ricarda Daberkow 32 Übersetzerinnen und Übersetzer mitgewirkt haben. Das Spektrum der Anthologie ist breit: Sie schliesst Arbeiten älterer Autoren ein, die sich noch des Japanischen bedienten, sodann Gedichte in modernem Hochchinesisch, aber auch Texte im Taiwan-Dialekt (Minnanhua); der älteste übersetzte Autor ist 1912 geboren, der jüngste 1956. Traditionalistische Gedichte stehen neben modernistischen, solche, die westliche Einflüsse begierig aufgesogen haben, neben anderen, die sie nicht kennen oder ablehnen. Während Gedichte ursprünglich taiwanischer Autoren oft durch den politischen Protest motiviert sind, dominieren Heimweh und Reflexion der eigenen Geschichte jene der Immigranten. Der Band, der seinerseits eine Auswahl aus einer 30-bändigen taiwanischen Anthologie darstellt, erweitert den Zugang des westlichen Lesers zur Weltsprache der Poesie – auch wenn er leider keine Auskunft über die formalen Eigenschaften der Texte und über die Übersetzungskriterien gibt.
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