Timo Brandt: Nicht nochmal Legenden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Timo Brandt: Nicht nochmal Legenden

Brandt-Nicht nochmal Legenden

DREIMAL POETISCHES

I
Gesteht mir zu: Ich sage, dass die Dichtung
ein von Gewichten betriebener Aufzug ist,
die wir selbst nicht anheben, selbst nicht
sein könnten. Was wir darin verstauen, rauf und
runter schicken, wie wir diesen Aufzug bei
Nacht und Tag verwenden, beides lässt sich
knicken, in der Mitte, um zu leuchten an den
Enden, den zwei Punkten eines Weges. Poesie
ist die schlanke Version einer Unzahl von Stufen.

II
Erlaubt mir zu fragen, ob vielleicht Poesie,
wenn sie verlangt, dass wir ein Wort neben
das andere setzen, damit nicht hemmt, was
ankommt, wenn wir uns auseinandersetzen.

III
Gestattet mir einen Gedanken, dahingehend:
vom einen zum anderen führt nichts, außer
jene Form von Sinnhaftigkeit, die stimmt,
beides, aber selbstbezüglich ist, gerinnt,
bevor wir wirklich sagen können, was
sinnvollster Weise davon verbleibt.

 

 

Nachwort

Der aus Deutschland stammende, in Wien lebende Timo Brandt verkörpert jene rare Lebensform des Lyrik-Afficionados, der mit jedem Atemzug Verse anderer Dichterinnen und Dichter einsaugt und wahlweise Buchbesprechungen, Lyrikzitate oder eigene Verse ausatmet. Man vermutet bei ihm entsprechende organische Sonderbildungen im Respirationstrakt, vielleicht einen Poesiesack vergleichbar den dünnhäutigen, blasebalgartigen Luftsäcken der Vögel. Über die deutschsprachige Lyriklandschaft zieht Brandt jedenfalls seit einigen Jahren eine unübersehbare Flugspur aus beinahe täglich geposteten poetischen Lesefundstücken erster Güte, Rezensionen, Zeitschriften- und Anthologiebeiträgen und nicht zuletzt eigenen Gedichtbänden – sein vierter Einzeltitel binnen drei Jahren erscheint nun in der Reihe keiper lyrik.
Brandts Belesenheit verschafft ihm ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Traditionslinien und Stilmittel der Lyrik, mündet aber niemals in epigonale oder überforcierte Schreibweisen, sondern vielmehr in eine spielerische Versiertheit und einen entspannten, mitunter geradezu kolloquialen oder widerständigen oder, stellenweise, gar anarchisch-chaotischen Tonfall. Schon im Titel Nicht nochmal Legenden bemerken wir die umgangssprachliche Schreibweise des Wortes „nochmal“. Brandt holt die Lyrik mitten ins Leben und lebt mitten in einer Lyrik, die alles kann und alles darf; die Legenden des Lyrischen, die von Exklusivität, Hermetik und ästhetischen Regelwerken handeln, lässt Brandt entschlossen hinter sich, ohne deswegen immer alles Exklusive, Hermetische und Regelhafte aus seinen Gedichten zu verbannen. Es sind polyglotte, umfassende, antielitäre und doch anspruchsvolle Verse, die wir bei Brandt finden, Gedichte einer postmodernen Vielsprachigkeit, oft sprunghaft in ihren Gedankengängen wie auch im Gebrauch der Gestaltungsmittel, ganz wie das Leben sie schreibt. Nur wer die Legenden kennt, weil er sie alle gelesen oder erfahren hat, kann sie mit solcher Lässigkeit dekonstruieren, sich ihrer Autorität entziehen und auch mögliche Regeln des eigenen Schreibens brechen, noch ehe sie sich formulieren und in Kraft treten. Jedes dieser Gedichte tritt mehr als Möglichkeit (des Denkens, Wahrnehmens, Sprechens) auf denn als Behauptung, und gerade darin liegt ihre Ehrlichkeit. „Die Gedichte sind nicht wahr“, schreibt Brandt unverblümt an einer Stelle, „doch alles andre ist gelogen.“ Ungeachtet ihrer Anklänge an das Alltagssprachliche zeichnet Brandts Gedichte ein hohes Maß der Finesse, um nicht zu sagen Raffinesse aus. Wo wir uns der Sprache gewiss zu sein meinen, tänzelt Brandt gerne einen Schritt weiter und führt uns auf das glatte Parkett unverhoffter Bedeutungsnuancen und dezenter, manchmal auch greller Neologismen, auf dem er sich tritt- und stilsicher zu bewegen weiß. „Das Ich, ein Fittich, / gerät zum Fit-Ich“, lautet eine dieser Pirouetten, in „partykuläre pläsiere“ oder „deuzungen“ (auf der Zunge liegenden, von ihr ausgesprochenen Deutungen) drehen sich andere ein. Und an weiterer Stelle das beinahe – aber eben nur beinahe – kalauernde Wortspiel: „Bisschen Gezieltes. / Ein gezielter Biss“, das wiederum durchaus eine programmatische Lesart zulässt. Denn während die Gedichte Brandts in ihrem unangestrengt flanierenden oder zügellos kursierenden Duktus gerne auch das notwendigerweise Unvollkommene (so ein Gedichttitel Brandts) in den Blick nehmen, sind sie doch immer im richtigen Moment auf Präzision getrimmt: zielen ein bisschen und beißen gezielt.

Helwig Brunner, Nachwort

 

 

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