– Zu Erich Arendts Gedicht „Der Tänzer“ aus Erich Arendt: Feuerhalm. –
ERICH ARENDT
Der Tänzer
Gefangen im
Lichtkegel-
stumpf:
aaaaaaakernschwarz:
aaaaaaader Vereinzelte:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa(hauchdünne Spindel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaZeitweiligkeit)
aaaaaaaaus fernher aus
aaaaaaainnen den
aaaaaaaTodmond Geburt.
Traumwurzelnd
das Fernsein
Meer.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIm erd-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarundenden Atem
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Stille
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadein Strahl:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWirbel um Wirbel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain dir
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaerblüht die
wundgehärtete Kapsel,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund wehst,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFeder des un-
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaageblendeten Vogels
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaains
Einsamkeitshell.
aaaaaaaaaaaaaaaStummnarbiges
aaaaaaaaaaaaaaaSchön der
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahoch-
aaaaaaaaaaaaaaagemarterte Leib,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasteht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain die Steile gespannt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades Lichtfalls, ein
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchweben:
aaaaaaaaaaaaaaalautloser
aaaaaaaaaaaaaaaWindspruch
aaaaaaaaaaaaaaades Halms. Ein
Tasten und Ferse und –
schritthart:
aaaaaaaaaadu raffst die,
aaaaaaaaaagipfelgesegnet, all-
aaaaaaaaaamächtige Leere: dein
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa Szepter,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa und bist
Pulsschlag des
Eulendurchwachten,
des Tages, sein
aaaaaaaaaaaaaWiegen und Neigen,
aaaaaaaaaaaaader Baum.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie Hand seiner Hände
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazielt herzwärts:
schnellst,
aaaaaaaaunberührter das Aug,
aaaaaaaaspiralenden
Flug auf:
Auf-
sprengt er,
tod-
tötender Stoß,
das Lichtversteinte,
aaaaaaaaaaaaaaaaadem folgen
aaaaaaaaaaaaaaaaaSchritte, die
aaaaaaaaaaaaaaaaaIbisleichte,
aaaaaaaaaaaaaaaaadie Frühe, dein –
ichweit von
Alge und Schoß –
minoischer Stolz.
aaaaaaaaaaaaaaaZenith-hin
aaaaaaaaaaaaaaagemeißelter Aufschrei
aaaaaaaaaaaaaaanetzegejagter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Liebe, du
aaaaaaaaaaaaaaatanzt dich frei.
Unter des
Himmels Unstirn
aaaaaaaaaaaaaaazuckend auf einmal,
aaaaaaaaaaaaaaaphallusgeflügelter Blitz,
aaaaaaaaaaaaaaaein Sturz, und
Stummheit um
Lippe und
Schulterblatt –
aaaaaaaaaaaaaDer Kegelfang
aaaaaaaaaaaaaspürt es:
aaaaaaaaaatritt –
der andere in den
Magnetkreis,
aaaaaaaaaaagezweit nun
aaaaaaaaaaain sich, mit
aaaaaaaaaaavierfachem Tanzschritt, du,
das Einssein
einkreisend,
aaaaaaaaaaauntrennbar die
aaaaaaaaaaatrennbare Nähe des Mit- des
aaaaaaaaaaaGefährten:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchwirrholz zu
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchweigholz:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagepaart!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaein Erkennen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Leiber:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEbengeburt.
So fährt saturnisch
die Schneide, Schreck und Schrecken:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadu tanzt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakreuzweg –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagewärtig,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEntzweiung, das
vergebliche Nah- das Ent-
der andre ein
Anderer, un…
unerreichbar,
aaaaaaaaaaaaWiderpart, jäh, die
aaaaaaaaaaaaminotaurische Fremdheit
aaaaaaaaaaaaund du,
dich reißt es – ein Atemflug
aaaaaaaaaaaareißt ihn
in sich zurück –
aaaaaaaaaaaaaahin-
aaaaaaaaaaaaaaknieend gerafft springst und – zer-
aaaaaaaaaaaaaawirbelnd,
aaaaaaaaaaaaaaKnochen und Horn,
aaaaaaaaaaaaaastößt
aaaaaaaaaaaaaaaaaanieder den andern,
aaaaaaaaaaaaaaaaaain dir:
aaaaaaaaaaaaaaEntmannt
aaaaaaaaaaaaaasteht
aaaaaaaaaaaaaadas Licht.
– Zum Verhältnis von Körperbild und Identität in Arendts Spätwerk. –
Bei dem „verblüffend dramatischen“ Gedicht (Adolf Endler) „Der Tänzer“ aus Erich Arendts Gedichtband Feuerhalm1 handelt es sich um einen Extremfall des hermetischen Gedichts. Diese texterläuternde Untersuchung von „Der Tänzer“ will mit dem Gedichttext selber konfrontiert werden und geht nicht davon aus, daß der Schlüssel der Exegese auffindbar sei. Zwar sind die Interpretationen Schlüssel, wie Peter Szondi sagt,
aber es kann nicht ihre Aufgabe sein, dem Gedicht dessen entschlüsseltes Bild an die Seite zu stellen. Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung ,als‘ verschlüsseltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist. Es ist ein Schloß, das immer wieder zuschnappt, die Erläuterung darf es nicht aufzurechen wollen.2
Mich interessiert das Gedicht „Der Tänzer“, weil es als das verschlüsseltste gilt, das man von Erich Arendt kennt, und weil mir seine Analyse im Rahmen der Fragestellung nach dem Verhältnis von Körperbild und Identität produktiv zu sein scheint. Das Problem ist in diesem Fall abgesperrt durch die hermetische Sprache und wird erschwert durch eine private Auslegung der dem Gedicht zugrundeliegenden mythologischen Felder. Wiederum ist in „Der Tänzer“ die Rede von einer Suche nach Ursprung und Ganzheit. Das Gedicht scheint diesen Wunsch auch zu bestätigen, die Textpraxis ist aber eine dem entgegengesetzte: „Der Tänzer“ ist eines der Gedichte, in denen das Motiv der Körperverletzung soweit vorangetrieben ist, daß das mit dem Körperbild verbundene Moment der Identität ausbleibt. Dennoch bleiben die wichtigsten Fragen dieser Texterläuterung: Wer ist dieser Tänzer? Ist mit ihm eine mythologische Gestalt zu identifizieren? Oder fehlen ihm die festen Konturen dermaßen, daß er zu einer Projektionsfläche für mehrere Figuren wird?
In dem Gedicht sind meines Erachtens zwei entgegengesetzte Schreibbewegungen zu erkennen: im ersten Teil eine befreiende Bewegung (vom ersten Wort „gefangen“ bis zu „du / tanzt dich / frei“), die im dramatischen zweiten Teil des Gedichts von einer tödlichen Bewegung durchkreuzt wird, wobei es unklar bleibt, ob tatsächlich eine Entmannung stattfindet oder ob der Mann entkommt und das „Licht“ am Ende alleine übrigbleibt. Die Gestalt des Gedichts ist nicht so unmittelbar zu identifizieren wie zum Beispiel eine Statue wie die Venus von Archipenko oder Försters Neeberger Figur, sie ist nicht ein archaischer Kouros oder ein Indiogott von Tolú, auch kein Maler wie van Gogh oder Dichter wie Rimbaud, auch nicht die Gestalt des Homer oder die mythische Niobe: sondern ein eher anonymer Tänzer, eher das Prinzip von Tänzer und Tanz überhaupt. Trotzdem weicht das Gedicht in seiner Sprechweise kaum von anderen Gedichten Erich Arendts ab: nahtlos gehen lyrisches Ich, versteckt im Angesprochenen, und aufgeführte Gestalt ineinander über; gleichsam unbesonnen wie immer geht die a-lineare Beschreibung mit einer starken Reduktion des Sinnzusammenhangs aufs einzelne Wort oder einzelne Wortelemente einher; unzweifelhaft wird in den Anfangszeilen dem Tänzer die Menschheitsrepräsentanz zugesprochen; bekannte Motive wie etwa die Beständigkeit des Lichts oder der Sehnsuchtsbereich des Meeres werden erneut beansprucht; zugleich wird im Lauf des Textes wieder ein mythologischer Hintergrund sichtbar, wenn auch auf eine merkwürdige Art und Weise verwischt. „Der Tänzer“ verwendet zudem in erschreckend harter Weise das in Arendts Spätwerk oft auftauchende Motiv der Körperverletzung. Zur Konstituierung des Gedichtsubjekts bedarf es der Vermittlung über das Bild des Körpers, und es muß auch gefragt werden nach der Identität und der Gestalt des Tanzenden.
Mit der Aufnahme des Gedichts in den Band Starrend von Zeit und Helle (1980) wird „Der Tänzer“ den Gedichten der Ägäis zugeordnet; in der gleichen Sammlung ist das Vorwort zu dem die Gedichte sehr erhellenden Bildband Säule Kubus Gesicht (1966) aufgenommen, in dem Arendt davon ausgeht, daß die Griechen den Tanz, neben der Jagd und dem Kampf, als eine Urform des Lebens betrachteten. Dort heißt es außerdem zum Tanz:
Nun ist alles Bewegung geworden, Ekstase, Leidenschaftlichkeit. Ausdruck und Formgebung sind gesteigert, übersteigerte Realität, diese aufeinanderschleudernd, sprengend.3
Es sind fast alles Formulierungen, die entweder der poetischen Verfassung des Tänzer-Gedichts zu entsprechen scheinen („übersteigert etwa wäre das / vergebliche Nah- das Ent- / der andre ein / Anderer, un… / unerreichbar“) oder dort sogar buchstäblich übernommen werden („Auf- / sprengt er“). Ein anderer Tanz ist es als bei den Völkern „hinter dem Atlantik, am Karibischen Meer, die mit ihren Songs, ihren Tänzen mir neue Rhythmen ins Blut und ins Gehör gegeben haben.“:4 denn die ausgesprochene, unverstümmelte Vitalität der Indios wird mit einer Entmannung konfrontiert, – ein Beleg für die anwachsende Skepsis in den siebziger Jahren, hier offenbar nicht so sehr als Ausdruck historisch verursachter Katastrophen,5 sondern von einem existentiell motivierten Katastrophenbewußtsein. Hier wird das Selbstbehauptungsvermögen des schöpferischen Subjekts, ein Grundmotiv der Ägäis-Gedichte,6 am heftigsten auf die Probe gestellt.
Zwischen der Introduktion des Tänzers im Licht – so abstrakt formuliert, so karg und schwarz in Weiß gemalt, daß die Existenz des Menschen als einer ,einsamen‘ und ,vereinzelten‘, zwischen ,Tod‘ und ,Geburt‘ ,gefangenen‘ Figur betroffen ist –, und seinem Abgang aus demselben Licht, in dem er aufgetreten ist, wird gesucht nach einem sprachlichen Äquivalent für die sprunghaften Tanzbewegungen. Die wirbelnden Pirouetten, der „in die Steile gespannte“ Spitzenstand, das „Wiegen und Neigen“, das „Schnellen der Schritte“, der „spiralende“ und der „auf- / sprengende“ Luftsprung mit der Leichtigkeit des „Vogels“, des „Winds“: sie bereiten den Weg für die Formulierung „du / tanzt dich / frei“. Das drucktechnische Abheben von „sich tanzen“ verstärkt das Bewußtsein davon, daß die Beschreibung des Tanzes dem poetischen Vorgang selber entsprechen möchte; in einer Fassung wird sogar noch „dich“ von den anderen Worten getrennt, sodaß die Assoziation mit der Suche nach eigener Identität intensiver hervorgerufen zu werden scheint; das Hervorheben von „frei“, das den tanzgeweihten Teil des Gedichts abschließt, ruft das erste Wort des Gedichts („gefangen“) wiederum in Erinnerung und artikuliert das ekstatische Überwinden der realen Existenz. „Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich.“, sagt auch Zarathustra im Rausch des Tanzes.
Es ist aber die Frage, ob der Tänzer tatsächlich bloß ein symbolisches Zeichen der Lust ist. Schon im Anfangsteil wird sein verletzter Körper angedeutet: „wundgehärtet, stummnarbig“ und „hochgemartert“ ist sein Leib, der schon Geschichte hinter sich hat. Der Auftritt, der von den Buchstaben in aller Naivität gefolgt wird (geht der Tänzer zur Seite, dann der Text auch), steigert sich im folgenden denn auch, und zwar auf eine äußerst dramatische Weise: ein „Sturz“, der für „Stummheit“ sorgt, folgt; eine andere Gestalt taucht auf, die zunächst für ,Nähe‘ („Einssein, gepaart, ein Erkennen / der Leiber“), dann für Trennung verantwortlich ist („Entzweiung, Schneide, das Ent-“). Der anfängliche Wirbel zerwirbelt, der Andere, der sich jetzt in dir befindet, wird niedergestoßen, das Ergebnis des leidenschaftlichen Tanzes ist eine Entmannung geworden. Der anti-illusionäre Grundzug des Spätwerks Erich Arendts bestätigt sich: der Tänzer hat sich von einem symbolischen Zeichen der Lust in eins des Verlustes gewandelt.
Ich lasse hier eine nähere Textuntersuchung (nach den Gegensatzpaaren Licht und Schwarz, Anziehung und Abstoßen, nach den Motiven Einsamkeit, Traum und Stille) aus und wende mich unmittelbar der Frage nach der Gestalt des Tänzers zu, da sie es ermöglicht, eine andere Ebene des Textes aufzudecken. Ein paar ,Tänzer‘ würden in Frage kommen, etwa der phrygische Gott Attis, nach dessen Vorbild sich in Rom jährlich sogenannte Gallen in eine orgiastische Ekstase hinein tanzten, sich Schnittwunden zufügten und entmannten, oder auch etwa ein von Arendt in einem seiner Bildbände selber erwähnter blauer Affe, der kreiselt und tanzt auf einem frühminoischen Fresko. Der Text gibt aber bei einer genauen und intensiven Lektüre einige andere Hinweise, er ist überladen von mehr oder weniger stereotypen Symbolen und von Anspielungen auf Mythisches:
„Todmond Geburt“: eine zentrale Rolle in Arendts mythologischer Vision spielt die Doppelaxt, das mehrmals vorkommende Symbol aus der frühminoischen Zeit, „Herrschaftssymbol der Priesterin, das Wachsen und Vergehen des Mondes darstellend wie Leben und Tod“.7 Die Wortfügung „Todmond Geburt“ mißt wie die Doppelaxt die Spanne von Geburt und Tod aus. Bei einer solchen Wortfügung könnte man sprechen von einer sprachlichen Graphik.
„Szepter“: das Szepter gilt als Attribut eines Königs; das Bild wird überlagert von einem anderen symbolischen Netz, dem des Phallus, das auch „Baum, phallusgeflügelter Blitz“ und „Horn“ bedeckt.
„Die Frühe“ ist eine Metapher, die Arendt mehrmals. u.a. in seinem Vorwort zu dem Fotoband Griechische Inselwelt (1962), verwendet für den paradiesischen Urzustand der Welt, präziser für den ersten europäischen „Menschentraum Kreta“ und dessen festliche, minoische Kultur des Festes und des Friedens.8
Bei dem „Schwirrholz“ handelt es sich nach der Doppelaxt um ein weiteres Kultgerät aus dem Altertum. Es ist ein Stück Holz, das über dem Kopf an einem Tau herumgeschwungen wurde und bei religiösen Tänzen die Götter beschwören sollte.9
„Knochen und Horn“ sind Hinweise auf die Kulthörner des Stieres, wie sie etwa vor dem Knossos-Palast auf Kreta stehen. Der Stier ist das Tier, das anstelle des heiligen Königs zur Fruchtbarmachung der Erde geopfert wurde – Arendt deutet das mit George Thomson10 als ein Zeugnis der matriarchalischen Macht der Urkultur.
Die Symbole bestätigen erstmal, daß das griechische Altertum, insbesondere die frühminoische Urkultur, eine Rolle in dem Gedicht „Der Tänzer“ spielt, und weisen hin auf einen religiösen Kult, bei dem das Verhältnis von Männlichkeit und Weiblichkeit beansprucht wird. Es fällt auf, daß die Weiblichkeitssymbole (Doppelaxt und Schneide) unweit aggressiver verwendet werden als die von Männlichkeit. Die Hinweise auf den wirklichen Vorgang, wenn es den gibt, und auf die Gestalt des Tänzers werden aber genauer.
Mit „minoischer Stolz“ wird wiederum hingewiesen auf die Frühkultur Kretas, die die Ägäis seit etwa 2.500 vor Christus beherrschte. Der legendäre Sohn von Zeus und Europa, Minos, gilt als der heilige, erste König der Insel. Daidalos baute für ihn den labyrinthischen Palast von Knossos, dessen Name mit der Doppelaxt, der labrys, zu verbinden ist.11
„Zu netzegejagter / der Liebe“ wäre Arendts eigene Mythenauslegung hinzuzuziehen:
Kreta, ein griechisches Wort, bedeutet die Herrschende Göttin. Ihre oberste Priesterin ging ursprünglich die Ehe mit dem Minos, dem König mit der Stiermaske, unter einer Eiche ein, die Verbindung des Mondes mit der Sonne symbolisierend. Der Heilige wurde mit dem Netz gejagt, eine Liebesjagd, die bis ans Ende des matriarchalischen Systems vollzogen wurde.12
Das sind alles Hinweise für den ersten, lebenszugewandten Teil des Gedichts: der festliche, stolze Tänzer scheint der König Minos zu sein, die Bühne für den ekstatischen, labyrinthischen Tanz müßte dann der glatt gepflasterte Hof in der Mitte des Knossos-Palastes sein, auf dem tatsächlich religiöse Feste gefeiert wurden. Der lebensabgewandte Teil des Gedichts durchkreuzt diese Bedeutungsebene jedoch entschieden: die mythologischen Hintergründe vermischen sich, gehen durcheinander, die festen Konturen des Tänzers verblassen, seine Eindeutigkeit erfährt ein Ende. Der Tänzer scheint sich in andere Gestalten aufzuteilen. Der Text formuliert zudem auch so, daß verschiedene Figurationen zugelassen werden können: so suggeriert die „minotaurische Fremdheit“, daß der ,vierfache Tanzschritt‘ des „untrennbar“ Vereinten der eines Stiers sein könnte, des Fruchtbarkeits- und Männlichkeitssymbols par excellence. Der Minotauros, der sich im Labyrinth versteckt hielt, entstand aus einer unnatürlichen Leidenschaft der Gattin von Minos, Pasiphae, zu einem heiligen Opferstier und war halb Tier, halb Menschengestalt (und kann so in sich „gezweit, der andere in dir“ genannt werden). Das Wort „gepaart“ scheint auch unmittelbar auf eine Gestalt weiblichen Geschlechts hinzuweisen, in diesem Fall wohl die Tochter von Helios, der Sonne: Pasiphae. Der Widerspieler des Minotaurus, der Mann, der für den Schluß des Tanzes sorgen sollte und den Stier in einem Kampf besiegt, Theseus in diesem Fall, fehlt diesem Text. Hat der Minotaurus sich im Tanz selbst entmannt, hat die Doppelaxt ihn getötet? Die „saturnische Schneide“, derer er sich dann bedienen würde, weist nicht auf den Theseus-Mythos hin, sondern auf den des Uranos (= Saturnus), dessen Geschlechtsteile von seinem jüngsten Sohn mit einer scharfzähnigen Sichel abgeschnitten wurden, zur Erringung der Weltherrschaft. Obwohl Uranos der Großvater von Sonne (Helios) und Mond (Selene) ist und so auf die Patriarchat-Matriarchat-Thematik und die Licht-Motivik des Gedichts anspielt, obwohl er zugleich der Großvater von Zeus, Minos’ Vater, ist und so die Familiengeschichte der Tänzer auf eine merkwürdige Weise dicht macht, scheint der Uranos-Mythos keinen weiteren Bedeutungshorizont zu evozieren. Daidalos, den Arendt als Urbild eines frühminoischen Künstlers sieht, Erbauer des Labyrinths und der hölzernen Kuh, in die sich Pasiphae versteckte, um sich mit dem heiligen Stier zu paaren, der erste fliegende Mensch, ist schon zu den Figuren, die sich im Tänzer verbergen, zu rechnen. Der Tänzer stirbt, wie Daidalos’ Sohn Ikaros, geblendet vom Licht, oder überlebt, wie Daidalos selbst, als „un- / geblendeter Vogel“. Daidalos, dessen ,Flug‘ die ,Leere‘ ,raffen‘ will, ist aber wiederum eine Konstituierung der Tänzer-Gestalt, die flüchtig ist und in dem unheilvollen zweiten Teil des Gedichts untergeht. Festzuhalten ist nur, daß das Gedicht in drei Momenten versucht, das Verhältnis Körperbild und Identität eindeutig zu machen: in dem kultischen Tanz, der von dem Mann mit der Stiermaske Minos vorgeführt wird, in der tänzerischen Paarung von Minotaurus und Pasiphae, und in dem Stierkampf zwischen Minotaurus und seinem Töter (Theseus? Doppelaxt?)13 Eines scheint festzustehen: Die Weise, in der Erich Arendt den klassischen Mythos auslegt, scheint es zu verbieten, zu einem nicht-fragmentarischen Bild der Gedichtgestalt zu kommen.
Mit diesem Text finden wir wieder eine eigenartige Schreibbewegung Arendts vor. Sie spielt auf mythologische Gestalten an, das Subjekt des Textes scheint ihr zu entsprechen, verbietet es aber, sich mit dieser mythologischen Gestalt zu identifizieren. Es scheint tatsächlich eine Eigenart der Spättexte Erich Arendts zu sein, das lyrische Subjekt jederzeit zugleich zu verdecken als auch in verschiedene Identifikationen aufzulösen. Ähnliches war schon erkennbar in den Ägäis-Gedichten (1967), etwa in dem Gedicht „Ankunft“.14Vgl. Ton Naaijkens: „Maskenmundiges Sprechen. Zu Erich Arendts Metaphern in Ägäis“, in: Zur Literatur und Literaturwissenschaft in der DDR, vor allem S. 142–146. Seit dem Band Feuerhalm bildet das Bild des Körpers nicht nur die Fläche, auf die verschiedene Identifikationen projektiert werden können, seit Feuerhalm wird dieser Körper auch verletzt und inkomplett dargestellt; seit Feuerhalm verwandelt sich der Wunsch nach ungebrochener Identität immer mehr in eine Angst vor dem Fehlen von Identität. Diese Angst äußert sich in einer stets stärker sich vergewissernden Erkenntnis des verletzten Selbst von sich selbst. Die Gedichte Erich Arendts lassen sich leichter lesen, wenn man davon ausgeht, daß sich diese Angst vor gebrochener Identität ständig in Bildern vom verletzten Körper wiederzufinden versucht. Das Neue an diesen späteren Gedichten, im Unterschied zu den früheren, ist, daß es hier im Grunde keinen Boden mehr gibt für den symbolischen Heroismus, der in dem Bauern Sebastian, in einem stolzen Neger oder kämpferischen Kommunisten, oder in einem wunderbaren griechischen Kouros noch von Arendt wahrgenommen und genossen wurde. Wenn man mit Lacan davon ausgeht, daß sich die Identität über das Bild des Körpers vermittelt, bedeutet das, daß, wenn nur noch zerstückelte Körper vorkommen, Identität nicht mehr gelingt. Die Brüche im Text, der auch gerade graphisch betonte Riß im Gewebe, bilden ein mimetisches Abbild dieser Erfahrung. In dem Moment, wo das Körperbild gestört wird, schlägt sich eine Verunsicherung nieder, kommen textuelle Brüche vor, werden Wörter mehr isoliert, erscheinen wie im „Tänzer“ Textlücken und verschwinden die festen Textkonturen. Die These, daß die Griechenland-Gedichte Arendts sowohl Ausdruck der visuellen Erfahrung von fragmentarischer Landschaft als auch eines zerstörten Verhältnisses zur Geschichte sind, bedarf einer Ergänzung: sie sind auch Ausdruck eines verletzten Selbstbewußtseins. Eine Möglichkeit, dieser Einsicht nachzugehen, liegt in der Beschreibung der Körperbilder im Spätwerk. Im Gedichtband Zeitsaum (1978) sind die Bilder des unaufhaltsamen Körperverfalls überall präsent:
Leib- / durchbohrend, enthauptet alle, blickzerfaserte wir, rankenwelk die Zöpfe, Wunden am Leib, der Blutgehärtete, ins schreiende Fleisch / Loch um Loch, wie lose / auf den Leibern / doch der Kopf!, greifen / tief tiefer / ins Eingeweide, das Bild der Wund- / wunden,
das schon in Feuerhalm vorkommt, abzustreifen das Fleisch, du liegst unterm Schafott. Im Band entgrenzen (1981) häufen sich die Bilder vom verletzten Körper, die Vorherrschaft der Verben mit dem Präfix ,ent-‚ zeigt den Schnitt dessen, was vormals als Einheit gedacht war. In dem neuesten Odysseus-Gedicht heißt es:
ihm fehlt
links rechts
die Rippe
Wunde die nicht
blutet nicht
bluten will
Vollkommenheit sprach
GEWESEN!.
Die Logik in der Entwicklung der Gedichte Erich Arendts ist fatal: sie führt vor, daß die Rückkehr zum paradiesischen Urzustand des Körpers, den die antiken Bilder vorzuspiegeln scheinen, unmöglich geworden ist, daß Tänzer unwiderruflich um ihre Glückserfahrung gebracht werden, daß Tanz überhaupt ein heilloses Unterfangen geworden ist.
Ton Naaijkens, aus: Text+Kritik – Erich Arendt Heft 82/83, edition text+kritik, Juli 1984
Schreibe einen Kommentar