– Zu Georg Heyms Gedicht „Aus Thüringen“ aus Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Band I: Lyrik. –
GEORG HEYM
Aus Thüringen
1
Vom goldnen Grün der Wiesen in dem Tale,
Von Erlenbüschen und den Blumenhängen
Steigt auf der Felsen Rund zum Himmel-Saale,
Wo oben Eichen in das Blaue drängen.
Das Wasser rinnt aus kühler Grotten Moose
In blassem Strahl zum Trog der Schneerinnen.
Sie sehn den Faltern zu, die im Gekose
Sich fangen in dem Netze großer Spinnen.
2
Der weiten Buchen Tanzsaal zieht zu Tal
Auf Silbersäulen von der Waldung Kamm.
Im toten Laube glüht die Sonne fahl
Aus Regenwolken fort auf gelbem Stamm.
Die grünen Halden ziehn, an Büschen reich,
Und Dornenhecken, Feldern im Geviert,
Ins Land hinaus, wo sich der Abend weich
Das Götterhaupt mit blassen Kränzen ziert.
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.
So spricht Mephisto bei Goethe belehrend zum Schüler. Gleich in der ersten Zeile seines Gedichts „Aus Thüringen“ zieht Georg Heym diese Klassiker-Karte, wenn er das „goldne Grün“ der Thüringer Wiesen beschwört. Heyms Gedicht wandelt kundig und leise auf Thüringer Träumen. Zu Beginn beschwört er Thüringen als eine Idylle mit Blumenhängen, blauem Himmel und Wasser, das aus kühlen Grotten springt. Doch die Idylle ist nur auf den ersten Blick ein Naturparadies. In Wahrheit führt den Dichter der Weg hinab. Und es ist der Buchstabe „G“, auf dem Heym abwärts schwebt: vom „goldnen Grün“ bis dahin, wo „im toten Laube glüht die Sonne fahl“, Immer wieder „G“: goldnes Grün, kühle Grotten, Gekose, glühen, grüne Halden, Geviert, Götterhaupt. Allerdings ist das Götterhaupt mit „blassen Kränzen“ geziert. Das Lied, welches hier angeschlagen wird, ist in G-Moll geschrieben. Harmonie war dem Expressionisten, 1887 geboren, unheimlich. Zu Hause erlebte der Sohn eines Militärstaatsanwaltes einen depressiven Vater, auch seine Schwester neigte zur Schwermut. Thüringen hat Georg Heym als Jura-Student in Jena kennengelernt. Er hasste die Rechtswissenschaften, er fühlte sich in diesem Fach, das auch sein Vater studiert hatte, eingezwängt, vielleicht gefangen im „Netze großer Spinnen“, wie es im Gedicht heißt. Kein Wunder, dass Heym als Jurist schließlich scheiterte. Verschlüsselt erzählen seine Verse immer wieder davon: sie sind voller Grazie und Grau. Nicht nur im Thüringen-Gedicht ist das Leben reich an „Büschen und Dornenhecken“, auch in den vielen Versen, die der Großstadt gewidmet sind, scheitert der sensible Einzelne an der Gewalt der Masse. So endete auch das kurze Leben des Vierundzwanzigjährigen: Georg Heym ertrank 1912 beim Eislaufen, als er einen eingebrochenen Freund retten wollte.
Torsten Unger, aus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018
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