Transistor 4 – Dossier: Elke Erb

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Transistor 4 – Dossier: Elke Erb

Transistor 4 – Dossier-Elke Erb

ACH, KÖNNTEN WIR. EIN PROTOKOLL

Ach .. sprach ich
Easy .. sagst du 

Ach .. würde ich es
baumeln lassen
die Waage nicht
aaaaaschalten 

Schabe mich am Wort
entlang und extrahiere
unterwegs 3,62g Schwingendes

 

1. Wir?
6.8.20 Weinbergpark.
Eine Handvoll Leute, alle Hände voll Erb.
Im Hintergrund Sonnenbadende, Picknickdecken, Kinder mit Boomboxen.
Einwand: Nur weil wir alle Bibliotheken ausgeliehen haben, sind wir noch keine Gelehrten. Gelehrtinnen. Werden es nicht mehr werden in diesem August.

Was haben wir zu sagen?

– (schüchtern) Tag, Elke Erb.
– Guten Tag, Frau Erb.

Ist das alles?

– Immerhin ein Anfang: Kastanienallee.
– Sagt mal, wo liegt die eigentlich?
– Entschuldige bitte?
– Ich meine: Wo liegt die Kastanienallee? Heutzutage. Was ist aus ihr geworden?

Sag mal, woher fragst du? Oder: Woher haben wir zu sagen?

– Ich frag mal: Wer von euch hat eigentlich „Ost-Hintergrund“?
– „Ost-was“?
– „Post-Gst“?
– ???
– Ich meine: über Erb zu sprechen. Was haben wir mit ihr gemein? So allgemein?
-Wir?
– Wir als … Nachwendekollektiv? Es war einmal. Ad Hoc. Ein Land?
– Die Stadt. Die teilen wir.
– Nur dass die Stadt nicht mehr geteilt ist. Das muss anders –
– Wir gehen die gleichen Straßen. Wer weiß, wir könnten ihr über den Weg gelaufen sein, bevor ihre Fotos im Feuilleton waren.
– Oder stellt euch vor, sie kommt hier vorbei.
– Sie wohnt gar nicht weit, steht so auf Wikipedia. Also, ich weiß nicht, ob das aktuell ist –
– Ob wir sie ansprechen?
– (alle zusammen. beherzt) Tag, Elke Erb.
– Herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung.

Ist das alles?

– Als wär’s an uns, sie anzusprechen.
– Kann sein: Sie ist uns schon zuvorgekommen. Im O-Ton so:

Ach, könnte ich

so reden, daß ich den Hintergrund halte
und 

nicht, was ich rede, als einziges meine,
die andern meine, die Waage halte,

daß ich ziele und halte soviel wie
noch bei mir sein – und bei ihnen so auch,

nicht nur
unterwegs gleich dem Schall. 

8.5.09 (Elke Erb)

 

2. Ach, könnte ich. Anhaltspunkte

Wunschkonjunktiv
Dieser Titel lässt mich anhalten. Das lyrische Ich wünscht sich, auf eine bestimmte Art agieren zu können, ist aber zumindest aus dem Stand nicht in der Lage dazu. Mit „Ach, könnte ich“ entsteht sofort ein Resonanzraum. Sich vorzustellen, was nicht ist, aber sein könnte, ist ein Akt der Phantasie und ein Akt des Menschseins. 

Programm
Es bleibt nicht bei einer schwermütigen Sprechblase „Ach, könnte ich“. Swär schade. Stattdessen ein Programm, das einem zielstrebigen „daß“ auf den Fersen ist. 

Ach, könnte ich

dass ich den Hintergrund halte
nicht
die rechte flanke eines auf links gedrehten säugetieres
nicht
unter sich sein sondern über sich
baumeln
in kurzen abständen vorm drive-in
verdrehte haare
ein saumsal
ein seichter rippenbogen ohne spreu

halte die wange schäle flau

orangen lassen sich auf 3628800 mögliche arten erzählen

ein leicht verbogener verfolgungswahn
dazwischen
myself, timeless, and i
mondän
hält sich im hintergrund
redet pillepalle
an der mimik entlang
ein schuss in den orbit
und nirgendwo schall

Hintergrund
Im Kommentar zum Gedicht schreibt Elke Erb: „Man kommt ja aus dem Hintergrund, wenn man zu reden beginnt, lässt ihn folglich hinter sich. Ich möchte den Hintergrund aber beibehalten, denn er hat noch die, an die sich die Rede wendet, in sich“.

Was heißt das, man kommt aus dem Hintergrund?

Die Differenz, die das Gedicht aufmacht, ist die zwischen Sprechen und Nicht-Sprechen. Der Hintergrund definiert sich dadurch, dass er nicht spricht. Er ist ein Raum voller Potenziale, die dieses Potenzial nicht ergreifen. Darin hat dieser Raum eine Gemeinsamkeit. Durch das Heraustreten verschiebt sich etwas. Ein Selbstbewusstsein, ein geordnetes Anderssein, stellt sich einem Hintergrund gegenüber, dessen Teil es vor dem Heraustreten war. Was gab es für ein Gefühl im Hintergrund? Kann es ein Wir im Hintergrund geben? Kann es ein Wir nach dem Heraustreten geben? In dem Gedicht taucht zumindest keins auf.
Der Hintergrund ist gleichzeitig Adressat und potenzielles Subjekt des Sprechens. Auch wir als Leser*innen im Moment des Lesens sind in einem Hintergrund organisiert, sind Hintergrund. Jedoch tut sich auch für mich, als Schreibende dieses Textes, das Dilemma des Gedichts auf. Ich kann kein Hintergrund mehr sein, da ich durch meinen Sprechakt in den Vordergrund trete und damit Vorder- und Hintergrund überhaupt organisiere. Dies steht für mich auch im Bezug zu den Fragen hinsichtlich der Arbeit des Kollektivs, dessen Teil ich bin, aber von dem ich mich auch absetze, indem ich mich auch in den Vordergrund stelle, indem ich diese Zeilen schreibe und folglich den Hintergrund hinter mir lasse.

Waage halten
Was erwidert das Gedicht auf diesen Konflikt? Der entgegengesetzte, wünschenswerte Zustand ist der des „Waage-Haltens“, der bedeutet, dass das lyrische Ich sowohl „noch bei [sich] und bei ihnen so auch“ ist. Der Wunsch ist, so sprechen zu können, dass die Differenz von Sprechen und Nicht-Sprechen, von Hinter- und Vordergrund nicht mehr relevant ist, da beide Seiten in der Bewegung des Sprechaktes verknüpft sind.
Also handelt es sich um ein Sprechen ohne Machtgefälle. Keine Seite schlägt aus. Die Waage halten zu können, ist dabei ein Balanceakt. Können Vorder- und Hintergrund je ausgependelt sein? 

Ach, könnte ich …

Doch Gleichgewicht bedeutet auch Stillstand. Um genau zu sein, beschreibt „die Waage halten“ eine Tätigkeit. Um „nicht nur / unterwegs gleich dem Schall“ zu sein, muss der Balanceakt immer wieder vollzogen werden, dessen Gleichgewicht ständig entspringt.
Und hier offenbart sich die Springkraft des Gedichts: Es beschreibt eine Suche, in der der Hintergrund nie ganz gefunden werden kann, der Sprech- oder Schreibakt ohne die Suche jedoch in einen Solipsismus verfallen würde. Mit jedem Wort muss sich aufs Neue um den Hintergrund und gleichzeitig um sich selbst bemüht werden.

Ach, könnte ich

10 Elemente lassen sich auf 3628800 mögliche Arten miteinander kombinieren.
Was davon übrig blieb:

– Bei
so bei sein.
Bei ihnen und mir und so.

Oder auch:
Sich besinnen
im Hihi-Chor
Beinbruch einsehen Idiome
bedienen
Diebin sein
Insider machen
Unsinn Beine machen.

 

3. Ach, könnte ich. Hintergrund mit Brueghel
Ich denke an Pieter Brueghel den Älteren, an seine Landschaften. Der Hintergrund ist keine Projektionsfläche für das, was im Vordergrund steht, sondern eine Einzigartigkeit, eine Tiefe, die sich nicht ausschöpfen lässt. Er sticht heraus.
Die Jäger im Schnee. Im Hintergrund gehen Kinder Schlittschuhlaufen. Im Vordergrund blicken Jäger und Hunde nicht zu uns, sondern wenden sich ab und schauen in den Hintergrund, Richtung unplausiblem Gebirge und Meer. Es ist nicht deutlich, worauf sie schauen, und wir schauen auch. 

Ein Schornstein brennt. Daneben eine Kirche. Eine Wassermühle mit eingefrorenem Rad. Punkte, die wie Menschen aussehen. Menschen, die wie Punkte aussehen. Links, neben dem Wirtshaus mit schrägem Schild, neben den schauenden Jägern, brennt ein Feuer. Die Einzelheiten gehen nicht in der Entfernung verloren; wir können sie nur nicht immer sehen. Das Gemälde befindet sich in ständiger Bewegung.

Die Heuernte. Im Hintergrund ein Bergkloster. Eine Windmühle. Im Vordergrund Arbeiter*innen mit Körben auf den Köpfen. Es handelt sich, laut Wikipedia, um eine „nicht reale Gegend“. Unser Blick ist in der Schwebe. Allerdings wird unser Blick erwidert von einer Frau, die nicht im Zentrum steht, die nicht alleine aus dem Hintergrund herausdrängt.
Alles, was zum Hintergrund gehört, ist das Bild, eingerahmt und hängend im Lobkowiczký palác in Prag (Die Heuernte) oder im Kunsthistorischen Museum in Wien (Die Jäger im Schnee). Diese Bilder gehören einem Zyklus an: Die Jahreszeiten, die sich nicht nur klimatisch auszeichnen, sondern durch das, was der Mensch tut. Was die Menschen zusammen tun. Die Bilder sind gleichermaßen an Individuen als auch an Konstellationen interessiert. Das ist das „Ach, könnte ich / so reden, daß ich den Hintergrund halte“. Wie hält man einen Vogel fest? Oder Schlittschuhlaufende?
Kunsthistoriker*innen – und nicht Brueghel – haben die Titel bestimmt, die dadurch wiederum auch unsere Wahrnehmung der Bilder mitbestimmen. Was, wenn Die Jäger im Schnee oder Die Heuernte sich anders auszeichneten? Sich auszeichneten als ein „Nicht-als-Einzelnes-Gemeintes“, als ein „Plurales-Gemeintes“? Im Unterschied zum Sprechakt lässt das Bild mehr Gleichzeitigkeit zu.

Ach, könnte ich

so reden, dass ein Grund uns hält
oder

nicht, was du redest, veräußern als meins
das Meine ändern, die Schräge gewähren,

dass wir wegen und fallen, d.h.
nicht immer zu uns kommen- zu euch

also auch,
wo immer wir zur Rede gestillt sind.

 

4. Ach, könnte ich. Wann & wo war noch mal der Hintergrund?
„Ach, könnte ich / so reden, daß ich den Hintergrund halte“, sagt Elke, denke ich, und ich frage: Welchen Hintergrund? Einen DDR-Hintergrund? Die Hintergründe? Ich kann nie alle Hintergründe halten (noted). Nur zwei Leute aus unserem Kollektiv haben DDR-Hintergrund, lese ich in einer ad-hoc-E-Mail. Was heißt das? Ich frage Sie, Frau Erb, ich frag dich was, Elke, haben wir eine DDR gemeinsam? Jemand schreibt ins Google-Doc über 

das Anklopfen an der Mauer, die Suche nach einem Verständnis der DDR, die Suche nach Elke Erb in der DDR und auch die Überforderung und das Sich-nicht-vorstellen-Können. Das gehört aber auch zu einer Mythisierung. Überhaupt was dazu zu sagen, überfordert mich, und ich habe Angst, was Falsches zu sagen.

In einem Zoom-Meeting sage ich: Doch, das könnte ich machen, ich könnte was zur DDR schreiben, also vielleicht, ich habe schon von vielen DDRs gehört und hätte da eine, eine, die mir durch Zeit und Raum durchgereicht wurde.

Ich öffne also ein Word-Dokument, mache mir Notizen (noted):
– „Ich such’ die DDR und keiner weiß, wo sie ist / Es ist so schade, daß sie mich so schnell vergisst“, singen Flake & Co von der Band Feeling B, 

und hinter jedem anstimmen
steckt ein anderer klang1
ein anderer
und keiner weiß, wo sie ist

(& ach E., kanntest du auch die Jungs von Feeling B oder garnicht, garnicht, Majestät?) 

– DDRs sind „die beste Zeit meines Lebens“; „man hat einander halt unter die Arme gegriffen“; „die Schweine, die einem erzählen, wir sind alle gleich, und sich in Wannsee ’n Fetten machen“; DDRs sind das Museum am Checkpoint Charlie und das Stasi-Museum bei mir um die Ecke; DDRs sind die Fluchtgeschichten an der Ostseeküste. (Also: Menschen werden in Meeren verfolgt und sterben an Grenzen.)
– Von 1996 bis 2015 waren wir nicht da. Bleibt die Zeit eines Raums nicht stehen, wenn man den Raum wechselt?
– „Immer wieder wächst das Gras“, sang früher Gerhard Gundermann im Auto von CD und jetzt auf Spotify, und meine Tante sagt: „Ich will meine Stasi-Akte nicht sehen“,2 und eine andere Tante: „Es war schon schlimm … aber ein paar Sachen warn och jut, und ick frage mich, warum se die nich übernomm ham.“

Deine DDR und meine DDR, Elke, die haben nur ihr Vergangensein gemeinsam, wie soll ich also darüber schreiben? Sodass ich „die andern meine, die Waage halte“? Ist das Schreiben dann noch eine Befreiung, wenn das Wort nicht frei ist? 

Anonym
14:23 Gestern

Ich kann die Fragen gut nachvollziehen. Frag mich aber schon, ob das nicht DDR-Kitsch ist? Die Gedichte Elke Erbs sprechen ja nicht aus einer leidenden Position. 

Anonym
15:05 Gestern

Das stimmt, etwas Leidendes lässt sich nicht heraushören. Ich habe in dem Moment nicht unbedingt an eine leidende Lyrikerin gedacht, sondern eher an eine Person, die sich innerhalb eines unterdrückenden Systems einen Freiraum sucht, um sich auszudrücken. Für mich bleibt die Frage hängen, inwieweit / ob sich das Schreiben in der DDR zum Schreiben danach unterscheidet „wie es das Arbeiten beeinflusst ..

Und ich frage mich, Elke, ist unsere Sprache heute freier, als deine es mit der Mauer war?

Anonym
Gerade eben

Derweil ist das Redenlassen als Ruhigstellungsstrategie zu einem beliebten Kniff geworden. Ich höre reden davon, wie es war, als Gewisses nicht gesprochen werden durfte (ach, was ich gestern im Westfernsehen gesehen hab), oder so stell ich mir das vor. Heute redet man alles Mögliche, meterweise Literatur, Systemkritik, Staatskritik, vollkommen FREI.

Anonym
Gerade eben

Wobei sich das Lyrische besonders eignet, um im Verborgenen zu bleiben, und Sätze, die Platz lassen, kommen dann allen entgegen. Es könnte sein, dass sich dabei herausstellt, dass mit anderer Stimme gesprochen wird, eine Stimme aus dem (Hihi-)Chor herausfällt, weil sie nicht weiß, wo man lacht.

Ach, könnte ich

so reden, daß ich selbst verständlich
bin

nicht Waage halte, sondern wage
die andern meinen, mein Meinen meint anders.

Daß ich im Zwischen er_sie oder jenseits davon
als Beispiel bei mir sein – und ach könnten sie auch

nicht nur
könnte. Kann im Widerhall

 

5. Ach, könnten wir. Fürwörter
In Erbs Gedicht tritt kein ,Wir‘ auf. Ohnehin ist es selten in ihren Texten. „Nur dann (glaube ich), wenn es um jene Dichtergemeinschaft aus der DDR geht.“ (Olga Martynova, Text und Kritik). Möchte mal wer nachzählen? Pro Kilo Erb auf dem Schreibtisch – wie viel Gramm ,Wir‘?
Wieso ist in unseren Gedichten kein ,Wir‘ zustande gekommen? Liegt es daran, dass der Konflikt ums Sprechen, den Erb aufwirft, ein individueller ist? Ein Konflikt, der jede Einzelne zurückwirft auf sich selbst? Kann ein ,Wir‘ nicht vorkommen, weil es den Konflikt für überwunden erklären oder überspielen würde, der sich uns nach wie vor stellt?
In einer früheren Fassung der „Anhaltspunkte“ steht: „Ein ,Wir‘ ist keine fragende, sondern eine Haltung, die bestimmt und die für einen Hintergrund spricht und ihn versucht zu rahmen. Das Gedicht setzt dieser Geschlossenheit die Offenheit einer fragenden Haltung entgegen.“ 

Anonym 1
Aber ein ,Wir‘ kann sehr wohl fragend sein, muss keinesfalls geschlossen sein. 

Anonym 2
Warum kommt dann kein ,Wir‘ in dem Gedicht vor, obwohl der Wunsch des Gedichts in einem ,Wir‘ gelesen werden kann? Ich komme immer wieder dahin, dass in einer Gruppe die Auseinandersetzung immer zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen Ich und Ihr (oder ,ihnen‘) verläuft. In einem ,Wir‘ kann demzufolge nur in einer Form von Repräsentation gesprochen werden. Gleichzeitig ist das ein unangenehmer Gedanke in Bezug auf die Arbeit im Kollektiv. Oder?

Anonym 3
Dass im Gedicht ein Wunsch nach dem ,Wir‘ besteht, finde ich eine erstaunliche Aussage. Das ,Ich‘ ist zuallererst beschäftigt mit dem Sprechen als solchem. Nur hat es keine Wahl: Es kann ja gar nicht, wie man sagt, in luftleerem Raum sprechen. So wie der Schall sich im Weltall nicht ausbreiten kann, weil das ein Vakuum ist, könnte ein Ich nicht sprechen ohne ein Du, Ihr, Sie. Selbst für sich selbst – vermeintlich evident aus dem eigenen Sprechen – braucht es ein Fürwort. Ich – auch Repräsentation. Aber ein implizites ,Wir‘ wird gesucht, da stimme ich zu. 

Und wir, explizit? Die wir keine Wahl haben, als ,wir‘ zu sagen, zu welchem Anlass kommt uns „Ach, könnten wir“ über die Lippen? [Oh Gott, ständig]. Wie setzen wir, was Erbs Gedicht vom Ich her wünscht, mit dem Schreiben in und zum Kollektiv hin in Bezug? Was wird aus „nicht, was ich rede, als einziges meine“, wenn ,Ich‘ nie als einzige rede? Wie meine ich mit den anderen, wenn ich kaum weiß, wer spricht. Siehe Arbeitsweise: Ein offenes Dokument, das gesamte Kollektiv hat Zugriff darauf, Textpassagen sind keiner bestimmten Person zuordenbar. Es wird kommentiert, verändert und entfernt. Mehr und mehr entsteht ein gemeinschaftliches Resultat. 

Anonym
Hier würde ich streichen. 

Anonym
Wer ist anonym?

Anonym
Ich 😀

Wir bewegen uns miteinander; es wird an einem Netz gewoben, in dem sich alle verstricken und alle alle Fäden in der Hand haben. Der Wunsch aus dem eigenen Subjekt herauszutreten – eine kollektive Erfahrung? 

Ist das jetzt Kollektiv-Kitsch?, fragt Anonym.
Der Wunsch aus dem eigenen Subjekt herauszutreten, na ja, eine Verschmelzung ins ,Wir‘ – romantisch. Wie jeher ein Seufzen: gierig, horny, schnaubend, irgendwo müde. Es ist eine Farce, aber es ist eine schöne. Wo seid ihr, versteht ihr, wo, wo steht ihr?
Immer wieder die Frage: Wo stehst du und du und du? Wie ist Verwobenheit aufgestellt? Wenn alle Fäden auf den Tisch gelegt sind, und nirgendwo Verknüpfung. Ermüdung. Und manchmal doch schön, wenn du merkst: Es wird gestrickt, es wird verstrickt.

Ach, könnte ich

so reden, daß [es rauscht bei dir]
und

nicht, was ich rede, [immer noch] meine,
[ich] meine, [ich versteh kein Wort]

daß ich [bist du noch –] so viel wie
noch bei mir sein – und bei ihnen so auch,

nicht nur
[bist du] unterwegs [ruf lieber] gleich
[…]

 

6. Ach, könnten wir / unterwegs gleich dem Schall
P N. is inviting you to a scheduled Zoom meeting.
Topic: Ad Hoc
Time: Sep 1, 2020 02:00 PM Amsterdam, Berlin, Rome, Stockholm, Vienna
Join Zoom Meeting
https://us02web.zoom.us/j/5113205126

– Hört ihr mich?
– Geht. Die Verbindung hängt mal wieder –
– Ich mach mal das Bild aus, vielleicht wird der Ton so besser.
– So. War kurz raus. Musste den Router resetten.
– Wo seid ihr gerade?
– … meinte nur: Ich komm immer noch nicht klar, dass sie das sagt:
– Was sagt?
– „Nicht nur / unterwegs gleich dem Schall.“ Dass ihr Schall nicht genug ist. Ich meine: SCHALL. Setzt sich in Wellen fort. Nicht linear. In Luft. Unter Wasser. Meilenweit. Und Hunderte Meter pro Sekunde.
– Sie meint nicht die Rekorde, sie meint den Unterschied von Schall und Rede. Es stört sie, dass der Schall so unbestimmt ist. Keinen Unterschied macht, ob er an deine Ohren kommt oder Echo spielt im nächstbesten Treppenhaus.
– Mit „toten, selbstvergessenen Mäusen“.
– Ohnehin: Gedruckter Text geht auf Distanz zum Schall.
– Und hat als Plus: den Hintergrund im Griff. Wie kommt sie darauf, dass der Hintergrund gehalten werden muss. Sich nicht selber hält?
– Im-Griff-Haben hat sie nicht gemeint. [Ton: Geht das vorne los?] Hörst du sie nicht? https://www.youtube.com/watch?v=SKMhSqFQLtM. Wie aus „Hintergrund“ „Umgebung“ wird. Verstehst du jetzt?
– Vielleicht. Ich fühle mich ihr näher, wenn sie spricht. Als nur zum Text.
-Als ich das Gedicht zum ersten Mal lese, lese ich: „unterwegs gleich dem Schall“, lese es wie einen Imperativ. Sei nicht engstirnig, lese ich, nicht zu geradlinig, bleib beweglich, sei vielzählig.

Im Chat:
Verbindung hängt grad wieder, bin raus, sry.
Aber lest mal unter Schall nach:

„Druck- und Dichteschwankungen in der Luft“.
„Es treten wie bei allen Wellenvorgängen
Brechungs-, Beugungs-, Reflexions- und Inter-
ferenzerscheinungen auf.“
„Ist ein Kollektivum. Wird als Singular benutzt“.

das ad hoc

 

 

 

Liebe Leserinnen,

um sich einer der viel besprochensten, oft geliebtesten und erst kürzlich maximal ausgezeichneten Dichterinnen der Gegenwart zu nähern, muss man in Bewegung kommen. Denn, wie es in diesem Heft heißt, Erb: Das ist ein Verb. Dass es zu Elke Erb noch viel zu sagen gibt und noch viel mehr zu sagen geben wird, zeigen die Autorinnen im Dossier dieser Ausgabe auf ihre je eigene Weise. Zu Wort kommen dabei Weggefährtinnen Erbs, die sich aus jahrelanger dichterischer wie persönlicher Nähe in das Universum Erb vertieft haben und dem „elkischen“ Idiom einfühlsam nachspüren. Und so erfahren wir: Auch zum Adjektiv eignet sie sich.
Doch nicht nur langjährige Gefährtinnen, auch Vertreterinnen einer jüngeren Generation setzen sich im Dossier dieser Ausgabe reflektierend, aneignend, sich selbst mit dieser Sprachwelt infizierend mit Elke Erb auseinander und loten ihre Tiefe und Nachhaltigkeit aus. Und so lernen wir schließlich: Erb, das ist nicht zuletzt ein Hauptwort. 

Die Herausgeberinnen, Vorwort

 

Inhalt

– EDITORIAL

– Ulrike Draesner: HOW TO DO TE TINKERING

– Urs Engeler: FÜNF BEMERKUNGEN ZU E. E.

– das ad hoc : ACH, KÖNNTEN WIR

– Jana Maria Weiß: HERE WE LIE TO PLAY

– Olga Martynova: SELBSTVERGESSENE MÄUSE

– Alke Stachler: KOHÄRENZ & KOHÄSION

– Eva Maria Leuenberger und Gabriella Disler: WO WORTE EIN ECHO

– Rike Scheffler: ERB IST EIN VERB

– Norbert Lange: GEDICHTE

– Ilma Rakusa: IM DIALOG – EIN BRIEF AN ELKE ERB

– Hannah Schraven: ENTSCHULDIGUNG, WÜRDEST DU BITTE EINE WEILE AN MIR RIECHEN?

– Jan Kuhlbrodt: VERSUCH, ÜBER GRENZEN ZU GEHEN

– Ulf Stolterfoht: RÜCKKEHR VON KRÄHE

– AUTORINNEN

– IMPRESSUM

 

Fakten und Vermutungen zur Zeitschrift

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